Das Erscheinen des Dionysos - Karl Heinz Bohrer - E-Book

Das Erscheinen des Dionysos E-Book

Karl Heinz Bohrer

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Beschreibung

Wurde Dionysos erst in der Moderne dionysisch? Dionysos, Sohn des Zeus, Gott der Ekstase, wurden viele Eigenschaften zugeschrieben. Aber nur eine unterscheidet ihn von allen anderen Göttern: sein plötzliches »Erscheinen«, jene mysteriöse Ereignishaftigkeit, die mit seinem Auftreten verbunden war und schon in den griechischen Texten thematisch wurde. Karl Heinz Bohrer begibt sich in seinem neuen Buch auf die Spuren dieser Eigenschaft des Dionysos und zeigt, wie sie sich sukzessive vom Mythos abgelöst hat und nach 1800 zum Signum der romantisch-modernen Literatur und Philosophie wurde. Hölderlins dionysischer Augenblick, Nietzsches dionysische Ästhetik und die mythopoetische Metapher der modernen Lyrik bei Pound, T. S. Eliot, Rilke und Paul Valéry sind die wichtigsten Stationen, an denen das Dionysische des modernen Dionysos erkennbar wird: als Ausdrucksform des »Ereignisses« und des »Erscheinens«, die zu zentralen Kategorien der zeitgenössischen Kunst- und Literaturtheorien werden. Die Diskussion der Theorie des »Ereignisses« im Surrealismus sowie prominent bei Martin Heidegger und Jean-François Lyotard schließt diese fesselnde Studie zum dionysischen Diskurs der Moderne ab.

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Wurde Dionysos erst in der Moderne dionysisch? Dionysos, Sohn des Zeus, Gott der Ekstase, wurden viele Eigenschaften zugeschrieben. Aber nur eine unterscheidet ihn von allen anderen Göttern: sein plötzliches »Erscheinen«, jene mysteriöse Ereignishaftigkeit, die mit seinem Auftreten verbunden war und schon in den griechischen Texten thematisch wurde. Karl Heinz Bohrer begibt sich in seinem neuen Buch auf die Spuren dieser Eigenschaft des Dionysos und zeigt, wie sie sich sukzessive vom Mythos abgelöst hat und nach 1800 zum Signum der romantisch-modernen Literatur und Philosophie wurde.

Hölderlins dionysischer Augenblick, Nietzsches dionysische Ästhetik und die mythopoetische Metapher der modernen Lyrik bei Pound, T. S. Eliot, Rilke und Paul Valéry sind die wichtigsten Stationen, an denen das Dionysische des modernen Dionysos erkennbar wird: als Ausdrucksform des »Ereignisses« und des »Erscheinens«, die zu zentralen Kategorien der zeitgenössischen Kunst- und Literaturtheorien werden. Die Diskussion der Theorie des Ereignisses im Surrealismus sowie prominent bei Martin Heidegger und Jean-François Lyo-tard schließt diese fesselnde Studie zum dionysischen Diskurs der Moderne ab.

Karl Heinz Bohrer, geboren1932, war von 1968 bis 1974 verantwortlicher Redakteur des Literaturblatts der FrankfurterAllgemeinenZeitung sowie ab 1975 für sechs Jahre ihr Korrespondent in London. Von 1982 bis zu seiner Emeritierung 1997 war er Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Ästhetik an der Universität Bielefeld. Seit 2003 lehrt er als Visiting Professor an der Stanford University. Von 1984 bis 2011 war er Herausgeber des Merkur. Karl Heinz Bohrer lebt in London.

Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt von ihm erschienen: Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin (stw 2102), Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit (stw 1055) und Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne (es 1551).

Karl Heinz Bohrer

Das Erscheinen des Dionysos

Antike Mythologie und moderne Metapher

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Karl Heinz Bohrer

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74018-7

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

Siglenverzeichnis und Hinweis zur Zitierweise

Prolog: Wie dionysisch war, wie dionysisch wurde Dionysos?

I. Poetische Erfindung im dionysischen Feuer: Hölderlin

1. Der dionysische Augenblick

2. Die poetologische Identifikation

3. »Das Heilige sei mein Wort«

4. Mythologie, Mythos, Metapher

5. Götterferne Mythologeme: Keats, Shelley, Kleist

II. Ästhetik des dionysischen Affekts: Nietzsche

1. Schrecken, Schein, Maske

2. Das »Wunder« des »aesthetischen Zuschauers«

3. Die neue Maske des Dionysos

4. Das Dionysische nach der Tragödie

5. Mythisch-Machen statt Mythos

III. Avantgarde mit dionysischen Wörtern: Pound, Eliot, Valéry

1. Das Ereignis dionysischer Wörter bei Pound

2. Eliots melancholische Aktualisierung der Mythologie

3. Valérys mythopoetische »Erregung«

4. Kanonisierung des Mythos bei Rainer Maria Rilke

5. Fazit: Neue Sichtweisen brauchen ästhetische Argumente

Epilog: Warum Ereignis?

Namenregister

Vorwort

Das Thema »Dionysos und die Ästhetik der Moderne« ist aus einem Seminar der Universität Stanford im Herbst 2012 hervorgegangen. Die schon früher erörterte Kategorie des Scheins ist nunmehr unter dem Kriterium seines Scheinens ins Zentrum gerückt. Die Frage nach der Entwicklung des dionysischen Motivs in den Werken Friedrich Hölderlins und Friedrich Nietzsches, die ich in verschiedenen Aufsätzen stellte (etwa in »Die Stile des Dionysos«), ist hier unter Einbeziehung der modernen europäischen Lyrik zu beantworten versucht worden. Vor allem auch die damit zusammenhängende Frage nach der Differenz von Mythologie und Metaphorik, von theologischer Bedeutung und poetischem Ausdruck.

Ohne die Gespräche mit Jürgen Paul Schwindt und seiner Lektüre des Manuskripts wäre die Veröffentlichung in dieser Form nicht möglich gewesen. Dankbar bin ich Ina Andrae für das umsichtige Erfassen des komplexen Diktats und ihre zusätzliche redaktionelle Hilfe. Für das nachdrückliche Interesse, das Eva Gilmer und Philipp Hölzing dem Thema entgegengebracht haben, sowie für den kritischen Dialog danke ich beiden. Eva Gilmer danke ich für die Durchsicht des Manuskripts.

Karl Heinz Bohrer im Mai 2015

Siglenverzeichnis und Hinweis zur Zitierweise

Eliot CP T. S. Eliot, Collected Poems (1909-1934). New York 1936 (1934).

Eliot WL T. S. Eliot, The Waste Land.Das öde Land. Englisch u. Deutsch. Übertragen und mit einem Nachwort versehen von Norbert Hummelt. Frankfurt/M. 2008.

Hölderlin Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Drei Bände. Herausgegeben von Jochen Schmidt. Frankfurt/M. 1992.

Nietzsche Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980.

Pound C Ezra Pound, The Cantos. New York 1998.

Pound C (H) Ezra Pound, Die Cantos. In der Übersetzung von Eva Hesse. Zweisprachige Ausgabe. München 2014.

Pound PM Ezra Pound, Personae. Masken. Der ausgewählten Werke erster Teil. Englisch/Deutsch. Autorisierte Übertragung von Eva Hesse. Zürich 1959.

Pound SP Ezra Pound, Selected Poems 1908-1969. London 1975.

Rilke Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke. Herausgegeben vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt/M. 1955.

Valéry Paul Valéry, Œuvres I/II. Edition établie et annotée par Jean Hietier. Paris 1957.

Valéry W Paul Valéry, Werke. Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden. Herausgegeben von Karl Alfred Blüher und Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt/M., Leipzig 1992.

Den Siglen folgen in den Fußnoten die jeweilige Bandzahl (bei mehrbändigen Ausgaben) sowie die Seitenzahl. Die Hervorhebungen, die in der Kritischen Studienausgabe der Werke Nietzsches gesperrt gegeben werden, sind hier kursiv.

Prolog: Wie dionysisch war, wie dionysisch wurde Dionysos?

Warum hat Dionysos in der modernen Literatur- und Kunsttheorie Apollon vertrieben? Die Antwort scheint einfach: Apollons Eigenschaft, das Apollinische, musste der Eigenschaft des Dionysos, dem Dionysischen, weichen, weil diese Eigenschaft einer romantischen Ästhetik entsprach, welche die idealistische Norm, die Apollon seit Platons Deutung vertrat, um 1800 endgültig überholt hatte. Das ist die kurze historische Erklärung. Sie wird aber erst wirklich sprechend, sieht man sich die ästhetische Ursache der modernen Karriere des Dionysos und des Dionysischen genauer an. Sie beruht auf dem spezifischen Erscheinungsmodus des Gottes, der nicht einfach dem Begriff der Epiphanie gleichzusetzen ist, die seit Walter F. Ottos Dionysos-Buch1 ohnehin als Definitionsmerkmal dem Gott zugeschrieben wird, nachdrücklich dargestellt von Marcel Detienne2 und inzwischen durch Albert Henrichs’ Arbeiten erläutert.3 Von einer solchen epiphanen Eigenschaft, die auch den anderen olympischen Göttern, vornehmlich Zeus, Apollon, Athene und Aphrodite, zukommt, ist aber das spezifische Erscheinen des Dionysos zu unterscheiden:4 Es hat die Qualität eines opaken Ereignisses, die über das Identitätszeichen des Göttlichen definitiv hinausgeht und eben hierin – das ist das Thema des Buches – die moderne Adaption der Dionysos-Mythologie in der Literatur und ihrer Theorie begründete und fortschrieb. So in der romantischen Literatur (Hölderlin, Kleist), so in der nachromantischen Ästhetik (Nietzsche), so in der klassischen Moderne (Ezra Pound, T. S. Eliot, Paul Valéry, Rainer Maria Rilke). Das Interesse der modernen Dionysos-Thematik geht nicht auf den Mythos selbst aus, sondern auf jene mythologischen Eigenschaften, die ästhetisch besonders wirksam sind.

Und da ragt die Ereignisqualität des plötzlichen Erscheinens5vor allen anderen heraus, insofern sie nicht mehr nur begründet ist in der Epiphanie des Gottes, also einer theologischen Figur, sondern in einem Sichtbarwerden, das rätselhaft bleibt und nicht identifizierbar ist. Man kann das opake Ereignishafte des Erscheinens des Gottes das Dionysische nennen, das nicht allen Darstellungen des Dionysos eignet. Gerade die für seinen Mythos zentrale Charakteristik der Gabe des Weins enthält das Ereignishafte nicht, eher eine gewisse bukolische Ruhe. Andererseits ist der dem Wein zugeordnete Zustand der mania (»Wahnsinn«) der mythologisch wichtigste Ausdruck des dionysischen Ereignisses. Die mythologisch verbürgten Eigenschaften des Dionysos zeigen eine Gegensätzlichkeit, die umso mehr das Opake des Erscheinungsereignisses, den eigentlich ästhetischen Effekt, zum Ausdruck bringt.

Wie »erscheint« Dionysos in der altgriechischen Mythologie? Genrebedingt zeigt die bildliche Darstellung mythologischer Motive in der griechischen Vasenmalerei zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr. nicht eigentlich das dionysische Erscheinen, sondern narrativ reichhaltige und sehr unterschiedliche Motive der einzelnen Mythen des Gottes.6 Man hat wegen der Tatsache, dass die Mythologie des Dionysos den Gott in so vielen unterschiedlichen Formen darstellt, von den »Masken des Dionysos« gesprochen – ein Aspekt, der in diesem Buch noch zentral werden wird.7 Nimmt man das Dionysos zugeordnete Opferritual8 hinzu, dann hat man die für die Ästhetik des Erscheinens wichtigsten drei Ausdrucksformen: Maske, Opfer, mania. Im Folgenden geht es nicht um die Geschichte des Dionysos-Motivs,9 sondern um dessen Rolle als ein Zeichen des ästhetischen Diskurses in der modernen europäischen Literatur.

Es sind vor allem drei klassische griechische Texte beziehungsweise Textsammlungen, in denen die Gestalt des Dionysos in der besonders epiphanen Form auftritt: die sogenannten Homerischen Hymnen, deren älteste Stücke bis in das 7. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen, zwei Chorlieder aus Sophokles’ Tragödie Antigone von 442 v. Chr. und schließlich und vor allem Euripides’ Tragödie Die Bakchen (um 406 v. Chr.).10 Euripides’ Drama hat neben Ovids Darstellung der Pentheus-Sage und der Charakteristik des Dionysos selbst im dritten und vierten Buch der Metamorphosen sowie der Darstellung des Gottes im zweiten Buch der Oden von Horaz die spezifische Auffassung des Gottes im dionysischen Diskurs der modernen Literatur und Ästhetik geprägt. Auch beide römischen Dichter stellen die faszinierende Erscheinung des Gottes heraus.11

I

Der erscheinende Dionysos in den Homerischen Hymnen: Das älteste literarische Dokument ist die siebte der Homerischen Hymnen. Sie ist, wie die erste Hymne, an Dionysos gerichtet, und zwar innerhalb eines Hymnenzyklus, der die wichtigsten olympischen Götter beruft, zu denen Dionysos ursprünglich nicht gehört. Die siebte Hymne erzählt das Abenteuer des Gottes mit den tyrrhenischen Seeräubern.12 Wie aus dem Nichts kommend, sehen diese vor sich einen schönen Jüngling mit schwarzen Haaren und verführerischem Lächeln. »Erblicken« und »Erscheinen« ergänzen sich. Euripides wird dreihundert Jahre später das Motiv des effeminiert-romantischen Typus zum Thema der Täuschung, des nichtidentifizierenden Sehens steigern, aus der die Tragödie des Pentheus erwächst. Für das nachdrücklich betonte Aussehen des Gottes und seine Verwandlungsmacht entscheidend ist, dass von ihm im ersten Satz der siebten Hymne explizit gesagt wird, dass er »erschien« (ἐφάνη [epháne]).13 Das ist keine selbstverständliche Attribuierung. Im Falle von allen anderen Göttern wird das Wort »erschien« nicht benutzt, sondern es ist dort immer vom »Kommen« die Rede. Dass des Dionysos mythologische Identität auch als die eines »Kommenden«, nämlich aus fremden, exotischen Gegenden Nahenden, bestimmt ist, steht in keinem Widerspruch dazu, dass dieses Kommen in Differenz zu den übrigen Göttern als ein Erscheinen emphatisiert wird. Die szenarische Charakteristik erklärt, warum es ungenau wäre zu sagen, das Wort »erscheint« drücke eben die göttliche Epiphanie aus. Es steht außer Frage, dass dagegen die Beschreibung des Apollon in der dritten Homerischen Hymne an Apollon als Darstellung einer Epiphanie zu verstehen ist. Apollons Äußeres ist auch eklatant: »[E]in Glänzen umstrahlt ihn. Leuchtend funkeln die Füße«,14 aber er »erscheint« nicht. Seine verschiedenen Attribute, die des Python-Töters, des Herrschers, des Weissagenden, des Kunstspendenden und vor allem des Fernhintreffenden und des Leierspielers bilden zusammen seine Identität, die innerhalb des etablierten Kultursystems aufgeht, während des Dionysos »Erscheinung« befremdet. Zwar weiß man seit geraumer Zeit, dass sich die Mythologien Apollons und Dionysos’ überschneiden, dass Delphi ihre gemeinsame Kultstätte ist,15 aber der tradierte Mythos und seine aktualisierte literarische Form sind zweierlei. Diese Einsicht ergibt sich aus der Hermeneutik des »Erscheinens«: Diese bezeichnet das Fasziniertsein dessen, der das »Erscheinen« wahrnimmt, nämlich als etwas Fremdes, nicht als das mit dem Göttlichen Identische, nicht als Epiphanie, sondern als Phänomen.

Die Ästhetik des Phänomens lässt sich an einer dem Erscheinen des Dionysos verwandten Ausdrucksgestalt besonders gut erläutern: dem »Erscheinen« der Gorgo und ihrer Geschichte in der europäischen Kunst als Variation des Faszinosums einer »Maske«.16 Allerdings wird an dieser Verwandtschaft auch die bald einsetzende Differenz deutlich, nämlich die Differenz zwischen einer Maske des Schreckens, die im »Heiligen« begründet ist, und einer Maske des Schreckens, deren Faszination im intensiven Erscheinungsmodus selbst liegt, worauf zurückzukommen sein wird.

Der erscheinende Dionysos in Sophokles’ Antigone: Die kurze, aber nachdrückliche Erwähnung des »Erscheinens« im fünften Stasimon der Antigone ist keine Darstellung, sondern eine Berufung und Benennung des Gottes als Erscheinender, im Zusammenhang mit weiteren Charakteristika seiner Mythologie, darunter nicht zuletzt die für die ErscheinungsQualität wichtigste Charakteristik, nämlich der Jubelruf an den Sohn der »blitzgetroffenen Mutter«17 und an den Chorführer der »feuerhauchenden Sterne«.18 Des Chors Worte lauten: »Zeusentsprossenes Kind, erscheine [προφάνηθ᾽ (propháneth’)], o Herr.«19 Das Wort »Dionysos« ist in Sophokles’ Drama nur einmal benutzt: Das zitierte Stasimon spricht zunächst von ihm als »Jakchos«,20 dann in der unmittelbaren Anrede als »Bakcheus«.21 Die Ergänzung der Anrede »erscheine« durch den Hinweis auf die ihn begleitenden Bacchantinnen nimmt dem Anruf nichts von seiner spezifischen Evokationsform. Die erste Erwähnung im Einzugslied der Antigone fordert den Gott auf, als »Bakchios«, als »Erschütterer Thebens«, der Siegesfeier der Stadt (nämlich über den feindlichen Bruder) voranzugehen.22 Denn die Begleiterinnen drücken selbst in ihrem Tanz den Geist des Gottes aus, das heißt seine »dionysische Wirkung«, die durchweg als »bakchisch« bezeichnet wird.23

Auch die dem Gott unmittelbar zugeschriebenen Ereignisse oder Personen können die Qualität der Ekstase enthalten, sofern sie das psychologisch Konventionelle und Bekannte überschreiten. Des feindlichen Bruders kriegerischer Elan wird im Einzugslied der Antigone als »bakchisch taumelnd« charakterisiert24 und dem brüderlichen Feind in dem Wort »Feuerbringer«25 ein Name gegeben, den Dionysos selbst trägt und mit dem die dionysische Qualität ursprünglich mythologisch angezeigt ist. Und weil die Anrede an Dionysos /Bakchos dem »Erscheinenden« gilt, sind hier auch die einzelnen genannten mythologischen Charakteristika von dieser Qualität des Epiphanen geprägt, wobei die Reverenz an den »Blitz« bei Dionysos’ Geburt und die Reverenz an die »feuerhauchenden Sterne«, deren Weg Dionysos anführt, die repräsentativen sind. Der Name des Gottes fällt nach dem ersten Einzugslied noch einmal, nunmehr »Dionysos« genannt,26 als Strafender: Er hat den Lykurg, König der Thraker, in ein steinernes Gefängnis, einen Berg, eingeschlossen, weil der König Dionysos geschmäht hatte und die »begeisterten Frauen« und das »bakchische Feuer« eindämmen wollte.27 In diesem Zusammenhang wird der göttliche »Wahn« (mania) genannt, seine »furchtbare und blühende Stärke«.28 Hier dient die namentliche Nennung des Dionysos nur der mythologischen Kontextualisierung von Antigones Schicksal, indem weitere Beispiele von bei lebendigem Leib Eingeschlossenen genannt werden.

Der Umstand des »Erscheinens« des Dionysos ist in den Homerischen Hymnen und in den Chorliedern der Antigone noch immer mythologisch verbürgt, vielleicht geglaubt.29 Die unterschiedlichen Mythologeme werden erzählt, und dabei ist die Aufzählung der mythologischen Fakten, vor allem der göttlichen Zeugung im Blitz des Zeus oder der Herrschaft über Theben, entscheidend. In der ersten Hymne an Dionysos (in den Homerischen Hymnen)sind die Umstände seiner Geburt ebenso differenziert wie sein äußeres Erscheinungsbild als »Weiberbetörer« oder »Bocksgestalteter«.30 Vor allem ist hier schon des Dionysos Inspiration für den »heiligen Sang«31 betont, eine Qualität, mit deren Erwähnung auch die siebte Hymne an Dionysos abschließt32 und die im späteren dionysischen Diskurs, vornehmlich in den Hymnen Hölderlins, zentral werden wird.

Der erscheinende Dionysos in Euripides’ Die Bakchen: Zu einer Verschiebung des mythologischen Attributs zum Phantasma des faszinierenden Ereignisses kommt es in Euripides’ Tragödie Die Bakchen. Hier werden alle mythologischen Bilder und Szenen des Dionysos, die der Dichter aus den beiden genannten und anderen, uns nicht überlieferten Texten sowie aus Motiven der Vasenmalerei kannte, zu drei Zeichen des dionysischen »Erscheinens«, wie man es nun nennen sollte, erhoben: der Maske, dem Schrecken und dem Opferritual. Alle drei Zeichen sind nunmehr Erscheinungsformen des Dionysischen: Sie zeigen, wie Euripides die Reverenz an den Dionysos-Mythos schon im Interesse einer metaphorischen, mythopoetischen Sprache, das heißt aus einem ästhetischen Ausdrucksinteresse benutzt, das der attischen Tragödie im Unterschied zum reinen Mythosbericht von Anfang an eignete, nunmehr aber noch stärker entfaltet ist. Wie der Erfinder der Bakchen zu den olympischen Göttern, zur olympischen Religion im Allgemeinen stand, speziell aber zu Kult und Ritus des Dionysos, diese bis heute nicht ganz geklärte Frage wird im Folgenden erweitert werden: anlässlich von Hölderlins Verständnis der Götter, im Bezug auf Nietzsches dionysischen Diskurs und schließlich hinsichtlich des Götterverständnisses in der mythologisierenden Lyrik der klassischen Moderne.

Euripides’ Drama Die Bakchen beginnt mit Dionysos’ Erscheinungszeichen, der Selbsterklärung des Gottes: Er komme als Zeus’ Sohn, den des Kadmos Tochter Semele einst »in eines Blitzes Feuerstrahl zur Welt gebracht«.33 Dionysos behauptet seine Abkunft, ausdrücklich sagt er, dass er sich als Gott »zeige«.34 Die bakchische Begeisterung, die Euripides durch den Chor entfalten lässt, steigert auch der zitierte Chor von Sophokles’ Antigone: Nunmehr, in den Bakchen, werden aber die böse Mythologie, der Schrecken des Dionysischen, die Lust am Blut zerrissener Tiere35 betont – ein Vorzeichen dessen, was dem Körper des Königs Pentheus widerfahren wird. Diese Evokation von Dionysos’ überlieferter Macht durch seine unterschiedlichen mythologischen Bilder ist stilisiert zur Rhetorik eines »Erscheinens«. Vor allem seines ersten »Erscheinens« vor den Augen Pentheus’, das im täuschenden36 Gegensatz zu den vom Chor berufenen Bildern der Hoheit und der Macht steht. Der Dialog zwischen dem als Gott unerkannten Dionysos und Pentheus kreist charakteristischerweise um das »Sehen« und »Nichtsehen«, um das Thema des Wahrnehmens der »Erscheinung«. Pentheus fragt Dionysos, da dieser den Gott »gesehen« habe, wie er ausgesehen habe.37 Pentheus verschärft die Thematik des Erkennens beziehungsweise Erblickens und fragt schließlich: »Wo steht er denn? Er ist nicht sichtbar meinen Augen«,38 worauf Dionysos die Unfähigkeit, richtig zu sehen, als Ausdruck von Pentheus’ Unfrömmigkeit deutet.39

Die Nachdrücklichkeit des richtigen Sehens und Erkennens nimmt den tragischen Schrecken vorweg, der ebenfalls durch das Thema des Sehens und missverstehenden Sehens eingeleitet und schließlich vollzogen wird durch das vom Sehen und Gesehenwerden verursachte Opferritual, das die »Erscheinung« zum blutigen Höhepunkt bringt, nämlich dem Schrecken des Pentheus-Opfers als »Erscheinung«. Ihm geht der Schrecken von Dionysos’ »Erscheinen« nach Ausbruch aus seinem Gefängnis voraus. Das geschieht in der dritten Szene unter den dionysischen Zeichen des Feuers und des Blitzes, die selbst die asiatischen Mänaden, die des Dionysos Kommen erwarten, aber im Gefangenen, der sich selbst befreit, noch nicht den Gott erkannt haben, bis ins Innere »erschreckt«, sodass ihre Körper zittern. Die Szene zeigt eine Akkumulation der Wahrnehmungszeichen, bei der die wahrnehmenden Anhängerinnen umschlägig in die entgegengesetzten Zustände des Erschreckens und des Jubelns verfallen. Sie zeigt auch eine Akkumulation der sich täuschenden Wahrnehmung von Pentheus, von der Dionysos seinen Anbeterinnen erzählt. Wenn Pentheus nach der Zerstörung seines Palastes den aus dem Gefängnis ausgebrochenen Fremden, den er noch immer nicht als Gott erkennt, wieder erblickt, benutzt er das Wort »erscheinen«.40

So vollzieht sich die Tragödie, indem sie die mythologisch überlieferten Ereignisse der langsamen Zerstörung von Pentheus’ königlicher Macht nennt, vor allem als eine Folge von erschreckenden »Erscheinungen« epiphaner Natur,41 die nicht Epiphanien im theologischen Sinne sind. »Erscheinung« ist hier das Überraschende, das alle psychologische und pragmatische Erfahrung übersteigende In-Erscheinung-Treten von etwas, das man so noch nicht gesehen hat. Warum ist auch die Darstellung von Pentheus’ Zerrissenwerden durch die mänadischen Frauen eine »Erscheinung«? Sie ist Höhepunkt des dionysischen Schreckens, gipfelnd im Anblick von Pentheus’ Haupt auf dem Thyrsos-Stab seiner mänadisch-wahnhaften Mutter Agaue. Der Schrecken des Anblicks beruht nicht allein auf einem physiologisch aggressiven Effekt. Vielmehr auf dem über den Effekt hinausgehenden Ausdruck eines unfasslichen Ereignisses, das keine moralische oder psychologische Erklärung anbietet, es sei denn, man akzeptiert das Ritual als Bestrafung des gegen göttliche Gebote handelnden Königs. Stattdessen ereignet sich die »Erscheinung« des Hauptes als Ausdruck einer »Maske«.42

Dieser Entzug pragmatischer Verständigung zugunsten einer »Erscheinung« wird durch verschiedene Entrealisierungen vorbereitet: durch Pentheus’ Verkleidung in mänadischer Frauentracht, durch Dionysos’ ironisch-prophetische Rede bezüglich des bevorstehenden Todes und schließlich durch die Sprache des Boten, der den Zerreißungsakt schildert. Durch den Verkleidungsakt vollzieht sich eine zeremonielle Vorbereitung der Opferfigur, die ihre Identität ändert. Dadurch erhalten die nachfolgenden Szenen schon den Charakter einer ästhetischen Stilisierung, was die Erscheinungsrhetorik begünstigt. Die ironische Rede des Dionysos, dessen furchtbaren Sinn das Opfer nicht versteht, erfährt am Ende eine erhabene Wendung, wodurch Pentheus’ Tod buchstäblich mythopoetisch erhoben, das heißt erhaben wird. Denn was Dionysos hier sagt43 – selbst wenn er die Grausamkeit der Rede auf die Spitze treibt –, ist gleichzeitig des Dichters sozusagen selbstreferentieller Hinweis auf Pentheus’ literarische Größe in der mythopoetischen Dichtung.44 Der mythische Dionysos hätte so nicht sprechen können, nur der mythopoetische Dionysos kann es und verwandelt den König von Theben, wenn auch ironisch, in eine »Erscheinung« des Ruhms. Schließlich die Zerreißungsszene als Erscheinungsereignis: Sie wird im Botenbericht durch Bilder des Sehens und Gesehenwerdens erzählt. Denn das ist Mörderinnen und Ermordetem gemeinsam: dass sie sich mit Inbrunst sehen. Indem Pentheus die mänadischen Frauen sieht, wird er gesehen, und des Lesers Phantasie bekommt die Folge davon zu sehen: Die Details der abgerissenen Körperteile ergänzen sich zur Symmetrie eines Gemäldes des Schreckens, das nachfolgende große Dichter inspirierte. Es ist ein literarisch hergestellter Schrecken, nicht ein moralisch begründeter, der die literarische Nachfolge – vor allem durch Ovids Metamorphosen und durch Kleists Penthesilea – erklärt. Wenn Nietzsche bei der Charakteristik des dionysischen Moments die Metaphorik des Zerreißens variiert, dann ist Pentheus’ letzter Moment die Präfiguration dazu. Dionysos, der Verursacher des Schreckens, wird, nachdem Pentheus’ imaginatives Weiterleben prophetisch ausgesprochen ist und noch bevor der Bote Pentheus’ physisches Ende erzählt hat, vom Chor der Dionysos-Begleiterinnen emphatisch als »Erscheinender« ausgerufen: »Zeig dich als Stier, als Drache mit zahlreichen Köpfen, als Löwen, den Flammen umsprühen!«45

Euripides’ Darstellung des Mythischen als Irrationales, sei es das Böse im Menschen oder im Gott,46 ist a priori ein Anlass, solche Elemente als »Erscheinungen« hervorzukehren. Was als Charakter eigentlich Langzeitwert besitzt, wird in Euripides’ Darstellungsform szenarisch punktualisiert – das stilistische Merkmal, das Nietzsches Kritik provozierte. Auch dadurch entsteht der Effekt der »Erscheinung«. Deren Priorität vor einem moralischen Statement zeigt sich gerade in Pentheus’ Verhalten.47 Die Schuldzuschreibungen, die dem jungen König angehängt werden, sei es durch die Vorwürfe des Sehers Teiresias und des alten Herrschers Kadmos, Pentheus sei »unvernünftig«,48 indem er die Götter nicht ehre, sei es durch des Chors Rachegesang,49 werden vom Dichter nicht bestätigt. Schließlich: Die Darstellung der furchtbaren Zerstückelung des dem Kult des Gottes nicht folgenden Königs spricht, sofern hier ein moralisches Urteil enthalten ist, gegen die Gerechtigkeit des Dionysos. Der Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit ist schon den zeitlich älteren Dramatikern eigen. Aber in Euripides’ Bakchen ist er so deutlich und selbstverständlich präsent, dass die Erscheinungsform der Grausamkeit ausgenutzt ist für das Interesse des Dichters, das man mythopoetisch nennen darf.

In der ekstatisch-metaphorischen Beschwörung der Mythologie des Dionysos, die der Chor der asiatischen Bacchantinnen entfaltet, artikulieren sich die mänadischen Motive der »bakchischen« Verzückung zu Bildern der Suggestion. Deren exotische Wildheit überschreitet die mythologisch-religiösen Referenzen an den Dionysoskult im Chorgesang der Antigone bis ins Extreme der Raserei und der Lust nach dem »Blut des getöteten Bockes«.50 Hier kommt die »Erscheinung« des Dionysos und des Dionysischen zu ihrem literarisch signifikantesten Ausdruck. Dadurch wird der Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit in der schönen Selbstdarstellung seiner Anhänger gedämpft.51 Wenn die historisch-zeitgenössische Feier der Mythologie gezeigt wird, dann ist gleichzeitig, wie immer der Dichter dazu steht, die Überschreitung in die Metapher, in das ästhetische Konstrukt, zu erkennen. Was man immer schon als die poetische Schönheit und rhetorische Größe des Chors der Tragödie des Aischylos und Sophokles erkannte,52 ist im Falle von Euripides’ Bakchen zu präzisieren: Die genannten mythologischen Details erfahren eine autonome Ausdifferenzierung und Prägung, die unabhängig von ihrer rituellen und kultischen Symbolik als Ereignis-Metaphern wirken. Wenn der Theologe nicht mehr an Dionysos glaubte, dann umso mehr der Dichter.

Das Opferritual an Pentheus hat eine doppelte Bedeutung. Es enthält einerseits die objektiven Details der überlieferten Mythologie und produziert andererseits das Faszinosum der »Erscheinung«, das nicht mehr religiös, sondern ästhetisch überwältigend ist. Dann ist es nicht mehr die Opferkultkrise im Sinne René Girards,53 nämlich das Fest, das schlecht ausgeht. Es wird im Gegenteil zum Widerspruch der Krise. Die Zerfleischung Pentheus’ wird als ästhetisches Konstrukt umso mehr erkennbar, als die paradigmatische Parallele, das Schicksal des Aktaion, im Anfang der Tragödie erwähnt ist und auch der Tod des Orpheus unter den Händen mänadischer Anhängerinnen des Dionysos wohl bekannt war. Zum anderen als Opfervorgang, dem das theatralische Moment genuin von Beginn an innewohnt54 und der den Charakter eines enigmatischen Zeichens behält, nachdem seine ursprüngliche Funktion erlösender Reinigung aufgehoben ist.

II

Zweierlei ist für die moderne dionysische Thematik zu betonen: Zum einen besitzt der Gott Dionysos in Euripides’ Drama eine erhaben-dämonische Aura. Zum anderen besitzt er sie, obwohl die olympische Theologie ihn nicht mehr trägt. Diese Aura kommt zustande durch Erscheinungselemente, die in dieser Form in den Chorliedern des Sophokles erstmals angedeutet sind und sich auch in einem Gedichtfragment des Archilochos finden, wo es heißt, der Dichter wolle von dem Gotte Dionysos ein schönes Lied anstimmen, einen Dithyrambus, weil der Wein »wie ein Blitz« in ihn eingeschlagen sei.55 Nietzsche wird die Sprache des Archilochos ins Zentrum seiner Bestimmung des Dionysischen rücken. Das Blitz-und-Feuer-Zeichen, die Geburtsmetaphorik und die im mänadischen Wahn sich vollziehenden Schrecken sind die aus Euripides’ Tragödie hervorgegangenen Charakteristika des »Dionysischen« in der modernen Literatur. Fügt man das in der ersten Homerischen Hymne an Dionysos erwähnte Propium des »heiligen Gesangs« hinzu, das in den Bakchen ebenfalls durch die Reverenz an Orpheus erwähnt wird, sowie die Emphatisierung der Nacht als heilige Sphäre des Dionysoskults,56 dann hat man jene Merkmale beisammen, die die Kategorie des Dionysischen für seine moderne Karriere begründen. Nicht dazu gehören die zahllosen Einzelmythen, von denen im Anfang die frühgriechische Vasenmalerei erzählt sowie Nonnos in den Dionysiaka: die Abenteuer des Dionysos, sein Kampf gegen die Inder oder die Affären mit verschiedenen Frauen. Selbst das Abenteuer mit Ariadne auf Naxos57 wird erst durch Nietzsches Kommentar zur »dionysischen« Erscheinung.

Wenn denn das Dionysische des antiken Dionysos auf dem »Ereignis« und der »Erscheinung« beruht, dann lässt sich der moderne Diskurs des Dionysischen hieraus verstehen. Hierzu gehört auch die Anziehung des »Heiligen« und Mythischen. Beide Elemente sind schon in der griechischen Tragödie ästhetisch begründet, waren nicht nur Affirmation kultischer und ritueller Frömmigkeit, denn die griechische Tragödie war nicht mehr Mythologie.

Zum Verständnis der modernen literarischen Adaption der Dionysos-Mythologie ist noch ein Wort über psychologische Lesarten zu sagen. Die Verkleidung Pentheus’ in Frauenkleider und des Dionysos effeminiertes Äußere hat Auffassungen begünstigt, die die heute enorme Wirkung der Tragödie58 im Hinblick auf die Psychologie des ambivalenten Geschlechts lesen. Danach liegt die subversive Kraft der Bakchen in der Aufdeckung bis dato unbewusster sexueller Kräfte, die das männliche Herrschaftsprinzip, für das Pentheus’ Verfolgung des Dionysos und der Bacchantinnen steht, in Frage stellen. Diese psychoanalytisch und politisch motivierte Deutung zielt auf eine realistisch-aufklärende Version des Dramas, wonach die anthropologisch-historische Bedingung Kern seines Appeals ist. Andererseits enthält die geschlechtliche Ambivalenz des göttlichen Aussehens, der sich die geschlechtliche Ambivalenz des Königs in Mänadenkleidung anschließt, ein unheimliches Element, das die Struktur plötzlicher »Erscheinung« stützt: Im Wechsel der geschlechtlichen Identität59 zeigt sich ja die reziproke Identität von Gott und König, die außerdem in ihrer Mythologie Vettern sind, nämlich Söhne der Kadmos-Töchter Semele und Agaue. Solch eine unterschwellige Beziehung wird schon vorbedeutet, wenn Pentheus im Monolog droht, dem effeminierten Fremdling den Kopf vom Rumpf zu trennen,60 also eben das, was seinem eigenen Kopf geschehen wird. Die Vermischung von Gegensätzen, die vornehmlich in der von den Gender Studies inspirierten Lesart betont worden ist, bedarf aber, wie das letzte Beispiel zeigt, nicht solcher Erklärung, um in ihrer Erscheinungstheatralizität markiert zu werden. Die angedeutete Vermischung der Geschlechter zeigt sich schon in der permanenten Korrespondenz von Sehen und Gesehenwerden.

Erscheinungsgestus und moderne Epiphanie: Die angedeutete psychoanalytische und anthropologische Lektüre von Euripides’ Bakchen hat im ästhetischen dionysischen Diskurs der romantischen Moderne, bei Hölderlin, Nietzsche und in der Lyrik der klassischen Moderne, keine Rolle gespielt. Wenn man sich fragt, warum die Literatur der klassischen Moderne – nicht nur in ihrer Lyrik – sich durch die beiden Darstellungsformen des Ereignisses und der Erscheinung besonders auszeichnet, dann muss man die paradoxe Spannung dieser Literatur zwischen materiellem Gehalt und spirituellem Wahrnehmungsgestus in den Blick nehmen. Diese Spannung ist beispielhaft in Walter Benjamins Formel von der »profanen Erleuchtung« ausgedrückt.61 Sie hat strukturelle Parallelen in Robert Musils Rede von der »taghellen Mystik«,62 in James Joyce’ Metapher der epiphanies,63 die immer alltäglichen Szenen zugeordnet werden, und in Virginia Woolfs Begriff der ecstasy,64 der ausdrücklich keinen transzendenten Bezug hat. Das sind zentrale Vorstellungswörter von vier herausragenden Schriftsteller(inne)n der gleichen Epoche, keine zufälligen Eingebungen. Sie belegen eine paradox-utopische Perspektive auf eine transreale Sphäre der Phantasie, die imaginatives Neuland im Realen entdeckt nach der Epoche des psychologischen Gesellschaftsromans, der mit Flaubert das vom Kontext eigentlich gebotene Ereignis in Ereignislosigkeit aufgelöst hatte.65 Allerdings stimulierte die Ereignislosigkeit gerade die Imagination des Ereignisses. Die ambivalente Ereignis-Metaphorik der klassischen Moderne ließe sich als Antwort auf die Konsequenz des Realismus im 19. Jahrhundert verstehen. Auch deshalb spielt die oben wiedergegebene psychoanalytisch-anthropologische Diskussion von Euripides’ Pentheus in den modernen literarischen Adaptionen des dionysischen Motivs keine Rolle. Woolf und die anderen drei genannten Schriftsteller der klassischen Moderne haben das Dionysosthema nicht gewählt, wohl aber eine partiell »dionysische« Prosa geschrieben. Die hier zu erörternden Dichter und Theoretiker des Dionysos haben mit ihnen die spirituelle Wahrnehmungsgeste gemeinsam.

Schaut man auf die »profanen« Begründungen der »Erleuchtung«, von der Benjamin anlässlich des frühen Surrealismus André Bretons und Louis Aragons sprach, die sowohl den Begriff des Ereignisses als auch den der Mythologie neu fassten, dann hilft auch die Erkenntnis weiter, dass die Erfahrung der »Sensation« sowohl soziopsychologisch als auch philosophisch-literarisch in der modernen Gesellschaft auffällig wird.66 Die Sensation impliziert Merkmale, die für das dionysische »Erscheinen« zu nennen waren: das »Heilige« und das »einzigartige Hier und Jetzt«.67 Es war Maurice Blanchot, namhafter Analytiker der Literatur der klassischen Moderne, der jenseits der Soziologie der Sensation durch eine mystische Terminologie des »Heiligen«68 und des »Jetzt«69 die Merkmale des Kunstwerks zu fassen versuchte, wobei er allerdings die paradoxe Spannung zwischen erleuchteter und profaner Rede zugunsten ersterer einseitig aufhebt. Wenn Blanchot vom »Schweigen der Götter« und von der Sprache der »abwesenden Götter« spricht,70 dann bezieht er sich unmittelbar auf Hölderlins dionysische Hymnik. Aber im Unterschied zu diesem hypostasiert er Götter als Wesenheiten, ohne dass dabei die historische und mythologische Begründung klar würde. Die neomystische Tendenz, die auch im sakralsoziologischen Vokabular Georges Batailles und Michel Leiris’ angesprochen wird,71 darf nicht verwechselt werden mit der Sprache der dionysischen Erscheinung des dionysischen Ereignisses, von der im Folgenden gehandelt wird.

Hölderlin, Kleist, Nietzsche: Von den genannten dionysischen Erscheinungsformen hat Hölderlin das emphatische »Jetzt« und die poetische Inspiration im Zeichen der Blitz-Geburt des Dionysos thematisiert. Das war sein Anschluss an die frühromantische »Neue Mythologie«, wie sie von Friedrich Schlegel im Unterschied zu Schellings idealistischer Fassung des Konzepts gedacht worden ist. Damit trat die Ästhetik endgültig ins Zentrum einer neuen Zeitlichkeitsvorstellung (»Achsenzeit«72) und löste die traditionelle Geschichtsphilosophie ab, auch wenn Hölderlin unter deren Einfluss zu denken begann. Heinrich von Kleists Drama Penthesilea beruft nicht den Gott Dionysos, aber den dionysischen Schrecken, in unmittelbarem Bezug auf Euripides’ Bakchen, und vertieft ihn psychoästhetisch. Hölderlins poetologisch inspirierte Epiphanie und Kleists grausam-atavistischer Schrecken bieten die entgegengesetzten Pole der dionysischen Tradition auf. Die Polarität des epiphanen Erhabenen und des blutigen Schreckens treffen sich in der Metaphorik des Ereignisses und der Erscheinung, ohne dass ein intertextueller Zusammenhang zu Tage treten würde. Dass es sich dabei um die beiden Dichter der Romantik handelt, die im frühen 20. Jahrhundert erst entdeckt worden sind, aber als paradigmatische Vorläufer der europäischen Moderne gelten – nicht zuletzt auch in der internationalen literaturtheoretischen Rezeption –, gibt der Kategorie des Dionysischen ihren aktuellen Diskurswert.

Nietzsches zentrale Stellung im dionysischen Diskurs und der in ihm enthaltenen Kulturdiagnose der Moderne ist ebenso wenig ableitbar aus den Innovationen Hölderlins und Kleists, wie diese nicht, wie schon festgehalten, ableitbar sind aus der Dionysosthematik des 18. Jahrhunderts,73 in der »das Dionysische« noch nicht eigentlich auftritt, weder es im Sinne des Befunds bei Sophokles und Euripides, noch im Sinne der modernen Adaption bei Hölderlin und Kleist. Das gilt auch für den als Anreger Hölderlins genannten Wilhelm Heinse, dessen Emphatisierung von Wille und Grausamkeit wohl pränietzscheanische Züge hat, dessen Sprache aber an keiner Stelle eine Metaphorik aufweist, die dionysisch genannt werden könnte: Dionysos-Motive sind noch kein dionysischer Diskurs. Gewiss war Heinse derjenige, der den Klassizismus Winckelmanns und der apollinischen Norm vor Nietzsche in Frage stellte. Aber der dionysische Mythos ist bei ihm noch nicht entfaltet.74

Nietzsches sogenannte Erfindung des Dionysischen75 besteht, wie wir sehen werden, darin, dass er den Klassizismus der apollinischen Norm, seine plastische Kapazität, noch einmal voll zur Geltung brachte,76 aber daraus ein anderes Erscheinen des Dionysischen gewann. Die dionysischen Motive der romantischen Vorläufer, vornehmlich Creuzer, sind allerdings schon nicht bloß motivisch-historisch, sondern strukturell angelegt.77 Aber das Erscheinen hat erst Nietzsche ästhetiktheoretisch als ein dionysisches benannt: Es überlebte seine ursprüngliche Fassung dergestalt, dass es in Form einer allegorischen Stilkonzeption wieder auftrat, in welcher die eingangs erläuterte Erscheinung der Maske neu begründet wurde.78 Was man als Vorläuferschaft im Argument der Sinnlichkeitspriorität erkennt, zunächst bei Wilhelm Heinse,79 dann eindeutiger noch bei Heinrich Heine, unterscheidet sich schließlich in der geistesgeschichtlich bedingten unterschiedlichen Motivation und in der Auffassung des Tragischen. Nietzsche verwandelte eine ursprünglich noch aus dem Idealismus stammende Kategorie in eine neue Denkform, die er »ästhetisch« nannte und die den Anspruch der Innovationserklärung der Tragödien-Schrift erst wirklich erfüllt hat. Die Kategorien der »Oberfläche« und des »Großen Stils«, die er in Menschliches, Allzumenschliches der Anschauungsfigur der »Maske« abgewann, haben die ursprüngliche Definition des dionysischen Augenblicks aus dem Weltanschauungstheater der Tragödien-Schrift mitsamt seinem teutonischen Pathos in den modernen Diskurs hinübergerettet. Dem folgten der Aphorismus über Ariadne, die Schrift Der Fall Wagner und die Dionysos-Dithyramben. Das wurden nach dem Dionysischen der Tragödien-Schrift die Manifeste der späteren dionysischen Ästhetik, in denen die Kriterien »Erscheinung« und »Ereignis« nicht mehr so sehr des Schreckens bedurften, obwohl dieser nicht verschwand. Nietzsche hat ihn nicht ausgeschlossen, sondern unter der Bedingung des »Großen Stils« eingeschlossen: »[D]er große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.«80

Diese Formel lässt sich im Rückblick auf das Pentheus-Opfer verstehen. Zunächst ist sie eine Variation des den Schrecken mit der Schönheit verbindenden Begriffs des Erhabenen, der den Schönheitsbegriff der traditionellen Ästhetik des 18. Jahrhunderts ersetzt hatte. Dann aber wird auch die in Die Bakchen zu ihrem spezifischsten Ausdruck gekommene Ästhetik des Schreckens der griechischen Tragödie wieder erkennbar. Das Ungeheure der Pentheus-Zerreißung und seines Kopfs auf dem Thyrsos-Stab der Mutter ist durch die Schönheit von Euripides’ Sprache zur mythopoetischen Erscheinung geworden. Wäre es nicht so, dann bliebe die Tragödie Dokument der Mythologie. Dass Nietzsche ausgerechnet den Autor der Bakchen aus seiner Konzeption des Dionysischen strich, gehört zu den Widersprüchen der Tragödien-Schrift, die er später korrigierte, auch wenn er Euripides als Tragödiendichter nicht rehabilitierte. Denn gerade die Figur des Zerrissenwerdens, die das Pentheus-Schicksal mit Dionysos’ eigenem Mythos (zagreus) verbindet, benutzte Nietzsche als zentrales Bild seiner ersten Definition des Dionysischen als Verlust des »Principii individuationis«, das den dekonstruierten Subjektbegriff vorausdachte, der sich Ende des 19. Jahrhunderts andeutet.

Hölderlins, Kleists und Nietzsches historisch versetzten Evokationen des Dionysischen ist gemeinsam, dass sie die Moderne über den literarisierten Mythos neu definieren. Kleists atavistische Wiederholung des Pentheus-Opfers ist bezüglich des Vernunftprinzips der Aufklärung zweifellos ambivalent.81 Von einer Wiederherstellung des Mythos für den Diskurs der Moderne trennte sie jedoch die Semantik des »Ereignisses«, die als ästhetische Epiphanie der beiden Protagonisten Achilles und Penthesilea charakterisiert werden könnte. Ein psychotischer Affekt steht bei Kleist allerdings immer den aufklärerischen Impulsen zwischen Utopie und Idylle im Wege. Aber die plötzliche Potenz der dionysischen Figur verhindert regressive Identifikationen mit einer archaischen Mythologie. Hölderlins Darstellungsform des mythologischen Vokabulars in dem hymnischen Spätwerk hat aufgrund seiner geschichtstheoretischen Reflexion ohnehin kein Interesse an den »Origines«, sondern ist gegenwartsbestimmt. Auch hier liegt der Akzent der mythopoetischen Referenzen auf deren metaphorischer Funktion als einem Ereigniszeichen. Hölderlins mythologische Metapher stimmt hierin überein mit der Idee einer »Neuen Mythologie« bei Friedrich Schlegel, die Vernunft und Phantasie trennt, um Letztere in ihrer Ausdrucksvielfalt dem »bunten Gewimmel der alten Götter«82 zu vergleichen, ohne sie jedoch als existenzielle Kräfte wieder einzusetzen, wohingegen Hölderlin Dionysos als eine neue Erscheinungsform des Göttlichen für die Gegenwart denkt. Dies wiederum im Unterschied auch zur Evokation der griechischen Götter in der englischen Romantik, vornehmlich bei John Keats, der die dionysischen Motive definitiv als vergangene und als Ausdruck artifiziell abgetöteter Schönheit versteht (Ode on a Grecian Urn).

Nietzsche setzt die griechische Tragödie zunächst mit dem Mythos gleich, hat jedoch diese enorm nachwirkende Identifikation in den Begriffen »Oberfläche« und »Maske« zehn Jahre später neu formuliert, indem er beide Ausdrucksphänomene, wie schon angedeutet, als den Stil des »Mythisch-Machens« erklärte:83 Aus Mythos wurde das, was als Erscheinung fasziniert, nämlich Ästhetik. Man kann diese gedankliche Revision als das Kriterium für die nachfolgende moderne Option für Mythologie und Mythos bezeichnen. Dort, wo die ästhetische Wendung eintritt, kommt es nicht zu der weltanschaulich motivierten Tendenz zu Neureligionen, die auch noch in der Wiederentdeckung des Dionysos durch Walter Friedrich Otto zu erkennen ist.84

Breton und Aragon, Pound, Eliot und Valéry: Der ästhetische Diskurs des Mythos ist in der klassischen Moderne zum einen gegeben in André Bretons und Louis Aragons surrealistischer mythologie moderne und deren Kategorie des Ereignisses als nicht erklärtem »Zeichen«.85 Hierin, im ästhetischen Interesse, unterscheidet sich die frühsurrealistische Mythologie prinzipiell von einerseits Hugo von Hofmannsthals, andererseits Georges Batailles Emphatisierung des Opferkults. Beide Autoren sind nämlich entweder poetologisch (Hofmannsthal) oder kulturtheoretisch (Bataille) auf eine buchstäbliche Wiederherstellung des mythischen Denkens aus. Zum anderen ist die mythopoetische Darstellungsform dionysischer Motive charakteristischerweise zu finden bei den beiden angelsächsischen Dichtern, die repräsentativ sind für die Avantgarde der modernen Lyrik: Ezra Pound und T. S. Eliot. Dass beide Dichter partiell ultrakonservative oder präfaschistische Phantasmen entwickelten, ist keine notwendige, wenngleich aus dem mythopoetischen Diskurs erklärbare Konsequenz und hat Parallelen in dem Interesse der Pariser Sakralsoziologie an faschistischen Ritualen. Thomas Manns 1912 veröffentlichte Erzählung Der Tod in Venedig zeigte das Grausen des dionysischen Schreckens im Traum seines Helden als eine moralische und politische Drohung; Mann bedient sich in seiner Distanznahme gegenüber jeder Form von literarischem Modernismus des dionysischen Motivs als dessen gefährlichstem Ausdruck. Pounds und Eliots moderne, partiell ironische Fassung des dionysischen beziehungsweise mythologischen Motivs erzielte Darstellungseffekte, die sich prinzipiell unterscheiden von Valérys mythopoetischem Verfahren, das aber ebenso keine Remythisierung sucht, sondern die literarische Sprache selbst als »mythische« versteht. Die Lyrik Rilkes dagegen, an Hölderlins Berufung der griechischen Götter anknüpfend, sucht den Mythos noch immer als Kanon, worin sich eine prinzipielle Differenz zu Pounds, Eliots und Valérys Sprache des Ereignisses zeigt.

Wenn in den unterschiedlichen modernen Evokationen des Dionysos-Mythos seit 1800 dessen ursprünglich wichtigstes Merkmal, das »Erscheinen«, wiederkehrt, ja als der Erklärungsgrund seiner modernen Präsenz verstanden werden kann, dann erklärt sich dies aus dem dem »Erscheinen« immanenten Moment des »Ereignisses«. Denn das »Ereignis«, das schon den dionysischen Diskurs der Bakchen des Euripides kennzeichnete, wurde seit der Romantik als nichtreferentielles neu begründet und ist in der Ästhetik der Moderne und der Postmoderne ein wesentliches Moment geworden.86 Jean-François Lyotard hat das nichtreferentielle Ereignis als Definitionsmerkmal in seiner Theorie des Erhabenen als Avantgarde herausgestellt,87 diesbezüglich von der surrealistischen Bildtheorie vorbereitet. Man kann im Rückblick auf das oben erwähnte Benjamin’sche Wort von der »profanen Erleuchtung« vermuten, dass die Dominanz des Ereignisbegriffs für den nichtabgeschlossenen Diskurs der Moderne ohne Gott steht. Wenn Nietzsche eher vom Dionysischen denn von Dionysos spricht und, wenn er von ihm spricht, ihn vornehmlich als Ausdrucksphänomen denkt, dann war damit der Diskurs ohne Gott eingeleitet.

Das Wort »Ereignis« lädt dazu ein, es auch literatur- und theorieextern zu beziehen. Man könnte für Hölderlin die Französische Revolution, für Nietzsche den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und für das Werk von Ezra Pound, T. S. Eliot und Paul Valéry den Ersten Weltkrieg und den Präfaschismus nennen. Man könnte die apokalyptische Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts mit dem Wort »Ereignis« symbolisch aufladen. Darauf ist im Folgenden verzichtet worden. Eine solche historische Thematisierung hieße, die innovatorische Sprachkraft dieser Dichter und Denker ihres Spezifischen zu berauben, nämlich, dass sie die Welt nicht nur reproduzierten, sondern etwas Neues in sie brachten.

1 Walter F. Otto, Dionysos. Mythos und Kult, Frankfurt/M. 1933.

2 Marcel Detienne, Dionysos. Göttliche Wildheit, übers. v. Gabriele u. Walter Eder, Frankfurt/M. 1995, S. 11 ff. (Orig.: Dionysos à ciel ouvert, Paris 1986).

3 Albert Henrichs, »›He Has a God in Him‹: Human and Divine in the Modern Perception of Dionysus«, in: Thomas H. Carpenter, Christopher A. Faraone (Hg.), Masks of Dionysus, Ithaca 1993, S. 13-43. Außerdem: Albert Henrichs, »Göttliche Präsenz als Differenz: Dionysos als epiphanischer Gott«, in: Renate Schlesier (Hg.), A Different God? Dionysos and Ancient Polytheism, Berlin, Boston 2011, S. 105-116. Vgl. außerdem Verity Platt, Facing the Gods. Epiphany and Representation in Greco-Roman Literature and Religion,Cambridge 2011.

4 Der besondere Erscheinungscharakter ist von Dominique Jaillard deutlich gemacht worden: »The Seventh Homeric Hymn to Dionysus: An Epiphanic Sketch«,in: Andrew Faulkner (Hg.), The Homeric Hymns.Interpretative Essays, Oxford 2011, S. 133-150.

5 Der dionysische Augenblick ist das literaturgeschichtlich und hermeneutisch interessanteste Paradigma für die literarische Form und ihre ästhetische Wahrnehmung als ein »Erscheinen«. Zum ästhetiktheoretischen Verständnis des Begriffs vgl. Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt/M. 2003; außerdem: Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/M. 1981.

6 Vgl. hierzu Thomas H. Carpenter, Dionysian Imaginary in Archaic Greek Art. Its Development in Black-Figure Vase Painting,Oxford 1986. Außerdem: John Boardman, The History of Greek Vases. Potters, Painters, Pictures, London 2001. Besonders instruktiv auch die Abbildungen dionysischer Vasenmotive in: Schlesier (Hg.), A Different God?.

7 Vgl. Carpenter, Faraone (Hg.), Masks of Dionysus. In diesem Sammelband besonders Henrichs, »Human and Divine in the Modern Perception of Dionysus« (S. 13-42, bes. S. 21 ff.) sowie Renate Schlesier, »Mixtures of Masks: Maenads as Tragic Models« (S. 89-114). Außerdem: Jean-Pierre Vernant, »The Masked Dionysus of Euripides’ Bacchai«, in: ders., Pierre Vidal-Naquet (Hg.), Myth and Tragedy in Ancient Greece, New York 1988, S. 381-421, hier S. 381. Ebenso: Detienne, Dionysos, S. 13 f.

8 Dirk Obbink, »Dionysus Poured Out: Ancient and Modern Theories of Sacrifice and Cultural Formation«, in: Carpenter, Faraone (Hg.), Masks of Dionysus, S. 65-86.

9 Vgl. hierzu Max L. Baeumer, Dionysos und das Dionysische in der antiken und deutschen Literatur, Darmstadt 2006.

10 Es gibt neben den drei genannten andere überlieferte Texte, in denen Dionysos-Mythologie oder ein Motiv seiner Mythologie erwähnt oder erzählt wird, allerdings ohne dass sein Erscheinen thematisiert würde. Die erste Erwähnung überhaupt findet sich in Homers 6. Buch der Ilias und enthält schon das Bild des Dionysos, der sich durch sein Rasen von allen anderen Göttern unterscheidet. Die letzte – im Unterschied dazu – lange Erzählung der Dionysos-Mythologie von Nonnos, einem Schriftsteller des 5./6. nachchristlichen Jahrhunderts, berichtet von den vielen Abenteuern des Gottes, unter denen sein Zug nach Indien und seine Liebschaft mit Ariadne die Leserschaft sowie die Kunstwelt später besonders interessierten. An den von Homer im Anfang und Nonnos am Ende berichteten Einzelmythen zeigt sich, inwiefern das »Erscheinen« eines besonders emphatischen Kontexts bedarf und vom Interesse am Abenteuer, sei es Fest, Kampf oder Liebschaft, eher behindert wird. Die Geschichte der europäischen Kunst seit der Renaissance zeigt Dionysos bzw. Bacchus fast ausschließlich als Liebhaber des Weins und der Frauen, also jenseits des erhabenen Modus des Erscheinens und des Schreckens. Die Ausnahme von dieser Regel ist Tizians Gemälde Bacchus und Ariadne von 1520-23, auf dem Dionysos als ein aus den Lüften Herannahender die Erscheinungsform fast erfüllt, wäre da nicht das komische Personal seiner satyrisch-mänadischen Umgebung.

11 Zu Horaz vgl. Jürgen Paul Schwindt, »Thaumatographia, or ›What Is a Theme?‹«,in: Philip Hardie, Paradox and the Marvellous in Augustan Literature and Culture, Oxford 2009, S. 145-162.

12 Homerische Hymnen. Griechisch/Deutsch, hg. v. Anton Weiher, München, Zürich 51986, S. 111 f.

13 Karl Heinz Bohrer, »Dionysos. Eine Ästhetik des Erscheinens«, in: Mira Fliescher u. a. (Hg.), Sichtbarkeiten 1. Erscheinen. Zur Praxis der Präsentation, Zürich, Berlin 2013, S. 13-38, hier S. 18 ff.

14 Homerische Hymnen, S. 45. Die Unterscheidung der Namen »Apollon« oder »Apollo« richtet sich im Folgenden jeweils nach dem antiken oder modernen Kontext.

15 Vgl. Marcel Detienne, »Apollon und Dionysos in der griechischen Religion«,in: Richard Faber, Renate Schlesier (Hg.), Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo-Paganismus, Würzburg 1986, S. 124-143, hier S. 124.

16 Hierzu Jean-Pierre Vernant, Tod in den Augen. Figuren des Anderen im griechischen Altertum: Artemis und Gorgo, Frankfurt/M. 1988, S. 32 f. Ders., »Die religiöse Erfahrung der Andersheit: Das Gorgogesicht«, in: Renate Schlesier (Hg.), Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen. Frankfurt/M. 1985, S. 399-420, hier S. 418. Klaus Heinrichs Aufsatz »Das Floß der Medusa« (in: Schlesier [Hg.], Faszination des Mythos, S. 335-369) verkennt meines Erachtens die phänomenologische Pointe des Medusa-Schreckens, weil in seiner historistisch-aufklärerischen, der Mode des Zeitgeistes folgenden Perspektive der Schrecken als ein abnehmender behauptet wird. Dagegen Werner Hofmann (Hg.), Zauber der Medusa, Ausstellungskatalog Europäischer Manierismus, München/Wien 1987.

17 Sophokles, Antigone, Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Norbert Zink, Stuttgart 1981, S. 91, V. 1139.

18 Ebd., S. 91-93, V. 1146-1148.

19 Ebd., S. 93, V. 1149.

20 Ebd., S. 89, V. 1121.

21 Ebd., S. 93, V. 1152.

22 Ebd., S. 19, V. 154.

23 Vgl. hierzu Renate Schlesier, »Der bakchische Gott«, in: dies. (Hg.), A Different God?, S. 173-203, hier S. 174 u. S. 181.

24 Sophokles, Antigone, S. 17, V. 136.

25 Ebd., V. 135.

26 Ebd., S. 77, V. 957.

27 Ebd., S. 79, V. 963-965.

28 Ebd., V. 959 f.

29 Hierzu Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft, Frankfurt/M. 1987.

30 Homerische Hymnen, S. 7.

31 Ebd.

32 Ebd., S. 113.

33 Euripides, Die Bakchen, in: ders., Tragödien in zwei Bänden. Griechisch/Deutsch, übers. v. Dietrich Ebener, hg. v. Bernhard Zimmermann, Bd. 2, Mannheim 2010, S. 1117, V. 2/3.

34 Ebd., S. 1121, V. 42.

35 Ebd., S. 1129, V. 139.

36 Das Thema der Täuschung ist nicht der Darstellung des Dionysos vorbehalten und auch nicht dem Drama des Euripides. Vgl. hierzu Hans Strohm, »Trug und Täuschung in der euripideischen Dramatik«, in: Ernst-Richard Schwinge (Hg.), Euripides, Darmstadt 1968, S. 345 ff.

37 Euripides, Die Bakchen, S. 1155, V. 477.

38 Ebd., S. 1157, V. 501.

39 Ebd., V. 502.

40 Ebd., S. 1171, V. 646.

41 Charles Segal, dem wir die nachdrücklichste Erforschung des dionysischen Artefakts verdanken (Dionysiac Poetics and Euripides’ Bacchai, Princeton 1997; »Euripides’ Bacchae: The Language of the Self and the Language of the Mysteries«, in: ders., Interpreting Greek Tragedy: Myth, Poetry, Text, Ithaca 1986, S. 294-312), spricht von einer Sequenz von Epiphanien, von der jede ein neues Stadium der Handlung markiert. Vgl. Charles Segal, »Introduction« [zu Euripides’ Bacchae], in: Peter Burian, Alan Shapiro (Hg,), The Complete Euripides. Bacchae and Other Plays, Oxford 2009, S. 201-232, hier S. 215.

42 Vgl. Helene P. Foley, »The Masque of Dionysus«, in: Transactions of the American Philological Association 110 (1980), S. 107-133, hier S. 131.

43 Euripides, Die Bakchen, S. 1197, V. 972/73.

44 Zur Ambivalenz des Dionysos vgl. Paul Cartledge, »›Deep Plays‹: Theatre as Process in Greek Civic Life«, in: Pat. E. Easterling (Hg.), Greek Tragedy, Cambridge 1997, S. 3-35, hier S. 8. Ebenso Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 114.

45 Euripides, Die Bakchen, S. 1201, V. 1017/19.

46 Vgl. Christian Wildberg, Hyperesie und Epiphanie. Ein Versuch über die Bedeutung der Götter in den Dramen des Euripides, München 2002, S. 2 u. S. 151 f. Außerdem: Hans Dillers Zusammenfassung von 1968, an deren Gültigkeit sich aber bis heute nichts wesentlich geändert hat: »Die Bakchen und ihre Stellung im Spätwerk des Euripides«, in: Schwinge (Hg.), Euripides, S. 469-492, hier S. 471 f. Ebenso Eric R. Dodds, »Euripides und das Irrationale«, in: Schwinge (Hg.), Euripides, S. 60-78, hier S. 60 f. (Orig.: »Euripides the Irrationalist«, in: The Classical Review 43, 3 [1929], S. 97-104.)

47 Für die Psychologie der Euripideischen Tragödie wurden vornehmlich die Dramen Hippolytus, Alkestis, Orestes und Herakles herangezogen, was sich daraus erklärt, dass hier – trotz Göttereinfluss – die Motivation des irdischen Helden im Vordergrund der Handlung steht, diese sich mithin vom mythischen Denken entfernt hat.

48 Euripides, Die Bakchen, S. 1133, V. 196.

49 Ebd., S. 1197, V. 370 ff.

50 Ebd., S. 1129, V. 139.

51 Zum Widerspruch von Emphatisierung und Kritik des Dionysos in den Bakchen vgl. Jochen Schmidt, »Der Triumph des Dionysos. Aufklärung und neureligiöser Irrationalismus in den ›Bakchen‹ des Euripides«, in: ders., Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 56-71.

52 Vgl. Simon Goldhill, »The Language of Tragedy. Rhetoric and Communication«, in: Easterling (Hg.), Greek Tragedy, S. 127-150.

53 René Girard, Das Heilige und die Gewalt,Frankfurt/M. 1994, S. 185.

54 Hierzu Karl Heinz Bohrer, »Zur ästhetischen Funktion von Gewalt-Darstellung in der Griechischen Tragödie«, in: Bernd Seidensticker, Martin Vöhler (Hg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt in der Darstellung der griechischen Klassik, Berlin 2006, S. 169-184.

55 Archilochos Gedichte, Griechisch-Deutsch, hg. u. übers. v. Rainer Nickel, Düsseldorf, Zürich 2003, S. 105.

56 Euripides, Die Bakchen, S. 1157, V. 486.

57 Nonnos, Dionysiaka, übers. v. Dietrich Ebener, Berlin, Weimar 1985, Bd. 2, S. 222-247.

58 Unter Euripides’ Tragödien zählten Die Bakchen zunächst nicht zu den erfolgreichsten. Viel mehr Erfolg hatten etwa Orestes und Hippolytos.

59 Hierzu Segal, »Euripides’ Bacchae: The Language of the Self and the Language of the Mysteries«, S. 297 f. u. S. 301. Außerdem: Victoria Wohl, »Beyond Sexual Difference: Becoming-Woman in Euripides’ Bacchae«, in: Victoria Pedrick, Steven M. Oberhelman (Hg.), The Soul of Tragedy. Essays onAthenian Drama, Chicago 2005, S. 137-154.

60 Euripides, Die Bakchen, S. 1137, V. 241.

61 Walter Benjamin, »Der Sürrealismus«, in: ders., Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt/M. 1966, S. 200-215, hier S. 213 f.

62 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. v. Adolf Frisé, Bd. 2, Reinbek 1984, S. 1089.

63 James Joyce, Stephen Hero,hg. v. Theodore Spencer, New York 2011, S. 211.

64 Virginia Woolf, Moments of Being, hg. v. Jeanne Schulkind, San Diego 1985, S. 66 f.

65 Vgl. Rainer Warning, Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 296 f.

66 Hierzu Christoph Türcke, Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation, München 2002.

67 Ebd., S. 136 u. S. 181, Anm. 10.

68 Maurice Blanchot, Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, München 1999, S. 56.

69 Ebd., S. 54.

70 Ebd., S. 58.

71 Vgl. Denis Hollier (Hg.), Das Collège de Sociologie 1937-1939, Berlin 2012. Vgl. auch unten, S. 367-376.

72 Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeit,Frankfurt/M. 1979, S. 171 f.

73 Zur Beurteilung der Tradition des Dionysosmotivs vgl. Max L. Baeumer, Das Dionysische in den Werken Wilhelm Heinses. Studie zum dionysischen Phänomen in der deutschen Literatur, Bonn 1964.

74 Vgl. hierzu Helmut Pfotenhauer, »Dionysos. Heinse – Hölderlin – Nietzsche«, in: ders., Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, Tübingen 1991, S. 57-78, hier S. 62-65.

75 Ich beziehe mich nicht auf das Buch von James I. Porter, The Invention of Dionysus. An Essay on the Birth ofTragedy, Stanford 2000.

76 Vgl. Pfotenhauer, »Dionysos. Heinse – Hölderlin – Nietzsche«, S. 59.

77 Vgl. unten, S. 140, Fn. 10, den Verweis auf Schwindt.

78 Hierzu Karl Heinz Bohrer, »Die Stile des Dionysos«, in: ders., Großer Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne, München 2007, S. 216-235.

79 Baeumer, Das Dionysische im Werk Wilhelm Heinses, S. 155.

80 Nietzsche II, 596.

81 Vgl. hierzu Christian Benne, »›God of Liberty‹. Der moderne Dionysosmythos in Deutschland und England«,in: Rüdiger Görner, Angus Nicholls (Hg.), In the Embrace of the Swan. Anglo-German Mythologies in Literature, the Visual Arts and Culture Theory,Berlin, New York 2010, S. 87-110.

82 Friedrich Schlegel, »Gespräch über die Poesie«, in: ders., Kritische Schriften, hg. v. Wolfdietrich Rasch, München 1971, S. 473-529, hier S. 502.

83 Nietzsche II, 184.

84 Zur weltanschaulichen Mystifikation der Mythologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die nicht zur Thematik dieses Buches gehört, vgl. Manfred Frank, Mythendämmerung. Richard Wagner im frühromantischen Kontext, München 2008.

85 Vgl. André Breton, Nadja, in: ders., Œuvres completes, hg. v. Marguerite Bonnet, Paris 1988, Bd. 1, S. 652 (»presentant chacque fois toutes les apparences d’un signal, sans qu’on puisse dire de quel signal […]«).

86 Vgl. hierzu Hans-Thies Lehmann, »Das Erhabene ist das Unheimliche. Zur Theorie einer Kunst des Ereignisses«, in: Merkur 487/488 (1989), S. 751-764.

87 Jean-François Lyotard, »Das Erhabene und die Avantgarde«,in: Merkur 424 (1984), S. 151-164.

I.

Poetische Erfindung im dionysischen Feuer: Hölderlin

Der Name »Dionysos« taucht in Hölderlins literarischem und theoretischem Werk nicht auf. Wenn Hölderlin den Gott beim Namen nennt, spricht er von »Bacchus«, wie der Gott traditionellerweise in der gräzisierenden Literatur des 18. Jahrhunderts, namentlich von Hölderlins Anreger Wilhelm Heinse,88 genannt worden ist. Auch in der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts wird »Bacchus« gewählt und meint vor allem die Sinnlichkeit des Gottes.89 Abgesehen von dieser Namenspriorität tritt das Wort »Bacchos« schon in der altgriechischen Literatur, wie wir im Prolog sahen, neben dem Wort »Dionysos« auf. Die für die literarische Rezeption wichtige antike Quelle, Ovids Metamorphosen, spricht im dritten Buch ebenfalls nicht von »Dionysos«, sondern von »Bacchus« oder anderen Varianten des Namens (z. B. »Liber«). Hölderlin hat nur in seinen Übersetzungen von Sophokles’ Antigone90und von Euripides’ Die Bacchantinnen91 den Namen »Dionysos« vom Original übernommen. Ob Bacchus oder Dionysos – entscheidend für Hölderlins Verständnis beider Namen war die Lektüre von Platons Schriften Phaidon und Phaidros, in denen die in der altgriechischen Literatur angelegte Spiritualität des Gottes Dionysos unter den Begriffen der Begeisterung des »Thyrsosträgers« und der »mania« des poetisch Kreativen die Rede ist.92 Wichtigster Vorläufer im Gedanken der dionysischen Ekstase aber war der Renaissancephilosoph Marsilio Ficino, der in seinem Vorwort zur Mystischen Theologie des Dionysos Areopagita sowohl von »Dionysos« als Geist der Ekstase spricht als auch von »bacchantisch« als Charakteristikum des exzessiven geistigen Zustands, der – wie schon erwähnt93 – sowohl im ersten Chorlied von Sophokles’ Antigone als auch im von Hölderlin übersetzten Chorlied des fünften Aktes von Antigone ähnlich bezeichnet ist.94

Bevor Hölderlins dionysische Adaption des Dionysos vor dem genannten geistesgeschichtlichen Hintergrund zur Darstellung kommt, ist festzuhalten, dass in Hölderlins Dichtung der Name »Apollo« sehr viel häufiger erwähnt ist. Damit ist der Kontext unseres Themas benannt: die Stellung der Evokation der griechischen Götter innerhalb des idealistischen Klassizismus.95 An dieser Evokation nimmt Hölderlin teil, wenn er den berühmtesten olympischen Gott, der dann hinter Dionysos’ plötzlicher Karriere verschwand, nennt. An der Berufung auf und Anrufung des Apollo zeigt sich das anhaltende klassizistische Element, das später, in der dionysisch-bacchischen Berufung, verschwunden sein wird. Für die griechischen Götter im idealistischen Klassizismus stehen als Stil paradigmatisch Friedrich Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands und Johann Joachim Winckelmanns Beschreibung des Apollo von Belvedere, dessen »erhabener Blick« wie ins »Unendliche« geht und ein Ausdruck der »seligen Stille« entsteht. Dieser Charakteristik ging das Bild von der »edlen Einfalt und stillen Größe« voran,96 in dem begrifflich der Unterschied zum Ereignischarakter des Dionysos deutlich wird. Dabei sei dahingestellt, ob Winckelmanns folgenreiche Charakteristik dem Ausdruck des römischen Apollo gerecht wird, den auch Wilhelm Heinses Ardinghello beschreibt, welchen Hölderlin im Zuge seiner dionysischen Wende nachdrücklich anspricht. Heinse spricht wie Winckelmann von einem verächtlichen Zug und einer »Erhabenheit«, die »niederblitzt«,97 wobei eine Metapher verwandt ist, die zum mythologischen Arsenal des Dionysos gehört. Heinses Charakteristik erwähnt zwar Winckelmann nicht, aber dieser ist anwesend. Das entspricht Heinses Referenzen an das »Bacchisch-Dionysische«, das sich, wie man sehen wird, aber entschieden abhebt von der dionysischen Rede, die hier interessiert.

In Schillers thematisch komplexer geschichtsphilosophischen Elegie Die Götter Griechenlands von 1788 zeigen sich gewisse dynamische Elemente, die den konventionellen Klassizismus wenn nicht aufheben, so doch differenzieren. Zwar wird der Kritik an der düsteren Auffassung des Todes eine heitere Vorstellung vom Todesbewusstsein der Antike gegenübergestellt, wo der Tod als Bruder des Schlafes, so wie Lessing es schon gedeutet hatte, gedacht ist. Das ist die der Romantik, genauer: sowohl Hölderlins als auch Novalis’ Auffassung des Christentums entgegengesetzte Perspektive auf die Antike.98 Denn in Hölderlins synkretistischer Verknüpfung von Dionysos und Christus tritt allein schon die dionysische Denkform hervor. Schillers Stilisierung der archaischen griechischen Mythologie zur klassischen Idee bleibt zwar dem klassizistischen Rahmen treu.99 Aber die lose Anhäufung griechischer Götternamen in ihrer lateinischen oder griechischen Form klingt anders als die gleiche Namensnennung bei gräzisierenden Autoren des 18. Jahrhunderts, namentlich bei Wieland. Dessen antike Götter, die der junge Goethe sarkastisch aufs Korn nahm,100 besaßen die Anmut und Grazie der Rokokomalerei, aber eben keine Größe. Das schließt die äußerst komplexe Form, der der Klassizismus bei Wieland annimmt, ebenso wenig aus,101 wie auch die, die bei den anderen Autoren des 18. Jahrhunderts, die das bacchische Thema behandelt haben, zu finden ist. Obwohl Schillers Gedicht dieselben konventionell abgeschliffenen mythologischen Termini technici – Venus, Amor, Helios – benutzt, wird die empfindsame Kulissenlandschaft der gräzisierenden Anempfindung, die Hölderlin zehn Jahre später in seiner Ode Die scheinheiligen Dichter (1798) geistig-poetologisch verächtlich machen wird,102 in einem spezifischen Pathos überboten. Die mythologisch entscheidenden Götternamen sind nicht bloß für das kulturkritische Thema der verschwundenen Götter beziehungsweise der verschwundenen Schönheit rhetorisch instrumentalisiert, sie werden nicht konventionell einfach genannt, vielmehr bekommen sie ein existenzielles Gewicht, indem ihre mythologischen Charakteristika genannt werden. Dionysos tritt nicht als »Bacchus« auf, sondern als »große[r] Freudenbringer«,103 eine geläufige Prädizierung des Gottes, die aber durch Schillers emphatischen Begriff der Freude104 zusätzlich einen politisch aktualisierten Sinn erfährt. Nietzsche wird anlässlich seiner Charakteristik des dionysischen Augenblicks auf die idealistisch-philosophisch vertiefte Bedeutung des Wortes »Freude« zurückgreifen,105 dabei nicht Schillers Gedicht, sondern Beethovens Neunte Symphonie erwähnend – was sich aus dem thematischen Kontext von Richard Wagners Musik anbot. Schillers »Freude« ist, wie sich zeigen wird, von Hölderlins dionysischer »Begeisterung« strikt zu trennen. Der »Freude« Schillers ist allerdings auch das mythologische Ambiente des Dionysos beigegeben: das »Evoe« der »Thyrsusschwinger« und die »rasende[n] Mänaden«.106 Ebenso werden tragische Motive der griechischen Mythologie genannt: »Tantal« und »Persephone«.107 Es ist deutlich, dass Dionysos und sein Gefolge zum festlich-humanen Zusammensein einladen, nicht zur Ekstase. Entscheidend ist die geschichtsphilosophisch-elegische Verabschiedung des Gottes – aller griechischen Götter. Das markiert die definitive Grenze, die Hölderlins späten Hymnen und Elegien überschreiten werden in Richtung der Wiedergewinnung der Götter als spirituelles »Ereignis« und des Dionysos, der zum zentralen Zeichen des Ereignisses wurde.

Diese Wiedergewinnung vollzieht sich prozessuarisch. Vor allem durch die sich seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts ändernde, emphatische Sprechform gegenüber jenem Stil, in dem Hölderlin von den griechischen Göttern im Allgemeinen und von Apollo im Besonderen in den Gedichten spricht, die noch nicht zur dionysischen Rede anheben, sondern noch das klassizistische Ideal entwerfen, allerdings in einer innovatorischen Metaphorik und einer neuen Rhythmik. In der ersten Anrufung Griechenlands aus den frühen 1790er Jahren (Hymne an den Genius Griechenlands; Griechenland)sind die Formen der elegischen Beschwörung mythologischer Namen und klassischer Orte (Orpheus, Aphrodite, Helios, Marathon, Sokrates, Platon) bildungsgeschichtlich-konventionell gemünzt, sich in den idealistischen Adressen in der Nachfolge Schillers (Hymne an den Genius der Jugend; Hymne an die Freundschaft; Hymne an die Schönheit