Mit Dolchen sprechen - Karl Heinz Bohrer - E-Book

Mit Dolchen sprechen E-Book

Karl Heinz Bohrer

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Beschreibung

Gerade in letzter Zeit hat der »Hass«-Begriff eine Karriere an öffentlicher Bedeutung hinter sich gebracht. In der publizistischen und sozialhistorischen Kritik an der in Deutschland und Europa verbreiteten Reaktion auf die Flüchtlingskrise rückte er gemeinsam mit Begriffen wie »Identität« und »Rassismus« in die vorderste Linie des Diskurses.

Doch Karl Heinz Bohrers Studie in zwölf Kapiteln sucht im literarischen Hasseffekt etwas ganz anderes. Nicht um den Hass als die begleitende Emotion eines politisch-weltanschaulichen Programms geht es ihm, sondern einzig um den literarischen Ausdruckswert, um die Rolle des Hasses als eines Mediums exzessiv gesteigerter Poesie. Dabei zeigt sich eine privilegierte Rolle von Charakteren des Hasses und ihres Ausdrucksvermögens in der Literatur, an deren Vorbild sich die Expressivität literarischer Sprache selbst entwickelt.

Bohrers Studien führen vom Beginn der Neuzeit, von Shakespeare, Kyd und Marlowe, über Milton, Swift, Kleist, Baudelaire, Strindberg und Céline bis in die Gegenwart: zu Sartre, Bernhard, Handke, Jelinek sowie Brinkmann und Goetz. Und zu Houellebecq, in dem die bösartige Affirmation des Hassenswerten, eine Zeitgenossenschaft ohne Hoffnung, kulminiert.

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Karl Heinz Bohrer

Mit Dolchen sprechen

Der literarische Hass-Effekt

Suhrkamp

Inhalt

Vorwort

I

Kyds und Marlowes Hass-Effekte. Anstatt einer Einleitung

»I will speak daggers to her«. Hass-Reden in Shakespeares Dramen

Erhabener Hass. Satans Tragödie in Miltons Verlorenem Paradies

Satire oder Subversion? Swift auf Gullivers Reisen

II

Hass bis in die Hölle. Kleists grausame Helden

»La Haine«. Ein poetologisches Schlüsselwort Baudelaires

Metaphysik des Hasses und der Liebe. Wagners Ring des Nibelungen

Strindbergs Totentänze. Oder: Hass im Wohnzimmer

III

Der Exzess ist unvermeidlich. Célines Reise ans Ende der Nacht

Hass – ein existentialistischer Code. Sartres Der Ekel und Die Fliegen

Hassen nur Österreicher auf deutsch? Bernhard, Handke und Jelinek versus Goetz und Brinkmann

Hassen, um gehasst zu werden. Houellebecqs Version des Phantastischen

Vorwort

»The tigers of wrath are wiser than the horses of instruction.« So der große englische Dichter William Blake, Advokat der Französischen Revolution. Aber der Satz kündigt nicht bloß einen aggressiven aufständischen Willen an. Er ist in seiner Aggressivität auch schön. Und so geht es im folgenden nicht um den Hass als politisch-weltanschauliches Gebräu, sondern um seinen literarischen Ausdruck als ein Mittel intensiver Poesie.

Seit dem ersten Satz der europäischen Literatur, seit Homer seine Göttin anrief, den Zorn des Achill zu beschwören, der zum Hass wird, seit diesem Anruf, »mēnin aeíde theá«, ist das Wort zu einer zentralen Ausdrucksform der Literatur geworden. Und seit Archilochos' Hass-Lyrik wusste die griechisch-römische Klassik, warum sie diesem Gefühl den Vorrang vor allen anderen Emotionen gab. Und so Blake. Und so die Großen der europäischen Literatur in ihren Epochen: Christopher Marlowe, William Shakespeare, John Milton, Jonathan Swift, Heinrich von Kleist, Charles Baudelaire, Richard Wagner, August Strindberg, Louis-Ferdinand Céline, Jean-Paul Sartre. Schließlich: Thomas Bernhard, Peter Handke, Elfriede Jelinek, Michel Houellebecq.

Das Wort »Hass« hat kürzlich eine Karriere an öffentlicher Bedeutung hinter sich gebracht. In der publizistischen und sozialhistorischen Kritik an der in Deutschland und Europa verbreiteten Reaktion auf die Flüchtlingskrise rückte es in die Reihe von Begriffen wie »Identität«, »Rassismus«, »Nationalismus«. Um dieses ideologiekritische Verständnis des Wortes oder des Begriffs »Hass« geht es im folgenden also nachdrücklich nicht. Auch nicht um eine psychologische Identifikation. Vielmehr wird die poetologische Signifikanz des Hasses im Werk bedeutender europäischer Dichter zwischen Renaissance, klassischer Moderne und Postmoderne dargestellt, wobei seine imaginativ-poetische Aura zu entdecken sein wird, nämlich wie der Affekt der Person zum Effekt der Sprache transzendiert.

Insofern ähnelt die Frage nach dem Hass in der Literatur der Frage nach dem Interesse für die Gewaltdarstellung seit dem 16. Jahrhundert in Literatur und Malerei.[1] Nicht nur die privilegierte Rolle von Charakteren des Hasses, ihr Ausdrucksvermögen, ist zu befragen, sondern das mit ihrer Hilfe gewonnene Ausdrucksvermögen der literarischen Sprache selbst. Daraus folgt, dass literarische Werke, die dem politisch-kulturellen Hass nur anlässlich eines kriegerischen Konflikts dienen, nicht zum Thema gehören.

Der poetische Hass-Ausdruck, so wird sich zeigen, bedarf eines doppelten Grundes: des Antriebs zum Pathos des Ungewöhnlichen und der existentiellen Hass-Empfindung im Dichter selbst. Letztere deutet sich im 16. und 17. Jahrhundert an (Marlowe/Milton), gewinnt im 19. Jahrhundert an Stärke (Kleist/Baudelaire) und wird im 20. Jahrhundert zu einem radikal-subjektiven Code (Céline/Sartre).

Émile Zola, der dem Hass in seinem Werk ebenso wie Maupassant keine poetische, sondern eine politische Stimme gegeben hat, fand gleichwohl für den existentiellen Hass des Schriftstellers und Künstlers auf das Banale die diagnostisch schärfste Charakterisierung. Er war es, der den imaginativen Hass als existentiellen Selbstausdruck zwar nicht literarisch dargestellt, sich wohl aber in einer Adresse an die Zeitgenossen provokativ zu ihm bekannt hat: Sein Prosastück Mes Haines beginnt mit diesen Sätzen: »Der Haß ist heilig. Er ist die Indignation der starken und mächtigen Herzen, die militante Verachtung derer, die die Mittelmäßigkeit und Dummheit nicht ertragen. Hassen heißt lieben, seine heiße und großmütige Seele spüren, mit Verachtung gegenüber den schändlichen und dummen Dingen leben.«[2] Eine solche erst im 19. Jahrhundert in dieser Form ausgedrückte Identifikation lässt sich allerdings auf alle literarischen Hass-Reden seit dem 16. Jahrhundert beziehen: Shakespeares Richard, Miltons Satan und Baudelaires poète maudit ragen aus dieser Tradition heraus.

Nicht zufällig ist Zolas Stimme eine französische. Seit der Großen Revolution war im öffentlichen Pariser Diskurs das Hass-Wort geläufig. Aber es nahm neben dem politischen bald einen existentiellen Klang an, dem Baudelaire den bedeutendsten literarischen Ausdruck verliehen hat.

Auch in der theologisch-religiösen Tradition spielt die Hass-Rede eine hervorragende Rolle: so in den Psalmen und vor allem in Dantes Darstellung des Infernos und darin der entsetzlichen Strafen für berühmte Sünder. Diese Darstellung ist zwar ausgesucht poetisch, aber das Motiv ist kein ästhetisches, sondern ein moralisches und gehört daher nicht im spezifischen Sinn zur Thematik dieses Buches.

Schließlich die Frage danach, was aus dem literarischen Hass nach dem Zweiten Weltkrieg wurde. Die Antwort darauf ist geeignet, unser Gegenwartsbewusstsein zu perspektivieren.

Der Hass-Imagination eignete seit jeher eine fast sakrale Abgrenzung der eigenen Existenz gegenüber der Welt. So – mit national bedingten Unterschieden – bei Marlowe, Milton, Swift und gewagter noch bei Baudelaire. Hier sind die Vorzeichen von Célines und Sartres Hass-Metaphorik zu erkennen: Deren deutschsprachige Versionen, einerseits bei Bernhard, Handke und Jelinek, andererseits bei Brinkmann und Goetz, werden durch kulturkritische und ideologiekritische Motive der Nachkriegsmentalität noch verschärft. Und Houellebecq? Existentieller Hass verschmilzt hier mit bösartiger Affirmation des Hassenswerten. Er ist unser Zeitgenosse.

I

Kyds und Marlowes Hass-Effekte

Anstatt einer Einleitung

Die Darstellung des Hasses ist ein Effekt des literarischen Stils. Das ist zu erkennen bei der Unterscheidung von imaginativer und diskursiver Hass-Rede. Erstere ist auf die Gefangennahme unserer Phantasie aus, letztere auf die Besetzung unseres Denkens durch politisch-ideologische Stereotype. Was es mit der imaginativen Hass-Rede in der großen Literatur auf sich hat, was im Inneren ihres Helden psychisch vorgeht, ist ein leicht zu verfehlender Vorgang, abhängig vom historischen Status des Helden. So ist der Hass, der das erste Literaturstück der Europäer, Homers Ilias, auszeichnet, nicht intern psychologisch, sondern extern götterentsprungen begründet. Homer spricht nicht vom »Hass«, sondern vom »Zorn«. Aber der »Zorn« des Achill zeigt, wie zwei fundamentale emotionelle Zustände eine einander integrierende Bewusstseinszone ausmachen.[3] Agamemnon nennt im ersten Gesang Achill den »Verhassten«, weil dieser den Hass immer suche. Der Zorn führt auf seinem jeweiligen Höhepunkt zum Hass-Affekt: Zu Beginn, wenn er beinahe den Zweikampf zwischen Achill und Agamemnon auslöst; am Ende, wenn er nach Patroklos' Tod bei Achill die Rage des Tötens provoziert. Entweder erscheint der Hass als das vom Dichter charakterisierte Gefühl oder als eine von ihm beschriebene Handlung, deren Intensität und Zielgerichtetheit den Leser durch ihren sprachlichen Ausdruck in Beschlag nehmen. Dann nämlich, wenn der Affekt zum Effekt wird. Nicht bloß als Spannungsfaktor einer Handlung, sondern als Auslöser von Vorstellungsketten.

Am stärksten wird die Intensität der Hass-Rede spürbar in Achills letzten Worten an Hektor, wie Homer sie ihm in den Mund legt, wenn Achill Hektors Bitte verwirft, ein jeder von ihnen möge im Falle des Sieges den toten Körper des anderen der Familie zur rituellen Bestattung übergeben. Statt dessen die ausgesuchteste, die bösartig-grausamste Ablehnung, gipfelnd in der Erklärung, die Achill dem von ihm tödlich mit der Lanze durchbohrten Sterbenden mitgibt: dass er nicht begraben werde, wie es sich gezieme, sondern die Hunde und Vögel ihn in Stücke reißen würden.[4] Bevor Achill dem toten Hektor die Füße durchbohrt, um ihn am Streitwagen festzubinden, und den von griechischen Kriegern noch einmal durchbohrten Körper von den Toren Trojas zu den griechischen Schiffen schleift, ist die hasserfüllte Handlung in der Hass-Rede schon vollzogen. Die Rede gibt – vor den Darstellungsformen der Charakteristik und des Handlungsberichts – dem Effekt des Affekts die stärkste Wirkung. Die historisch bedingte, von den Göttern geleitete Subjektivität ist dem Effekt des Hasses nicht abträglich. Seine ästhetische Wirkung ist nicht zu unterscheiden von der Begründung der Emotion Achills. Die Wirkung kommt vornehmlich vom Ausdruck seiner Rede.

Doch was für eine Wirkung hat sie? Shakespeares Hass-Reden sind zu Beginn der Moderne das sprechendste Beispiel, aus dem sich die offensichtliche Faszination des Lesers bzw. Zuschauers durch eine hasserfüllte Sprache erklärt. Denn Geschehen und Rede auf der Bühne bleiben eine grandiose Erscheinung, die unsere Vorstellungskraft als ein »Wunder«, nicht bloß als eine Handlungsfolge besetzt, eine Unterscheidung, die Nietzsche bezüglich des dionysischen Effekts der griechischen Tragödie traf.[5] Diese faszinierende Erscheinung erklärte er mit der Hass-Sprache des griechischen Lyrikers Archilochos.[6] In einem doppelten Schlag wider das moralisch-idealistische Kunstverständnis beförderte Nietzsche so zum einen den Begriff der schieren Imagination in den Vordergrund der Tragödien-Debatte, zum anderen ließ er die Imagination auf dem Hass-Ausdruck der archaisch-poetischen Rede beruhen.

Martin Scorsese, Erfinder abgründiger Filmgangster blutigsten Ausmaßes, überschrieb einen 2017 erschienenen Aufsatz zum Filmemachen als Kunstform mit dem Wort »imaginations«: Immer seien es die »images« der großen Filme gewesen, die ihm in Erinnerung blieben.[7] Sei es Peter O'Toole, wenn er in David Leans Lawrence of Arabia ein Zündholz ausbläst, sei es das Blut, das sich in Stanley Kubricks The Shining aus dem Fahrstuhl ergießt, oder sei es der explodierende Bohrturm in Paul Thomas Andersons There Will Be Blood. Diese einzelnen »images« sind inkorporiert in eine Folge anderer Filmbilder, die sie vorbereiten oder denen sie ein Echo geben. Worauf Scorsese aus ist – ohne dies theoretisch zu erläutern: die Struktur jedes großen »image« als des entscheidenden Moments im zeitlichen Ablauf, das unsere Phantasie in Bewegung setzt. Dasselbe gilt auch für das Drama, für die Literatur. Die unsere Phantasie in Bewegung setzende Kraft des »phantom image«, die besonders herausragende Bild-Erfindung, ist Scorseses Kriterium, ein Kriterium also, das nicht selbstverständlich ist, obwohl es sich zunächst so anhört. Man könnte auf ein anderes, psychologisches oder politisch-ideologisches Ausdrücklichkeitskriterium verfallen. Wenn der Film als Kunstform an Bedeutung verloren habe, dann, so Scorsese, weil er der Imagination nichts mehr zu tun lasse und nur einen zeitlichen oder vordergründigen Zauber über den Zuschauer werfe.

Nietzsche hat vom »Kunstzauber« gesprochen und diesen schließlich aus der Struktur des »Wunders« erklärt, das über den »ästhetischen Zuschauer« komme im Unterschied zum gewöhnlichen Zuschauer, der vor allem am psychologischen und historischen Handlungsablauf interessiert sei.[8] Das ist gewiss etwas anderes als der vordergründige Kinozauber. Offensichtlich versteht auch der amerikanische Regisseur ein bedeutendes Film-Image nicht als ein solches, das den Zuschauer als schiere Bildmontage überfällt, sondern als dasjenige, das ihn selbst wiederum zum Produzenten von Imagination erhebt. Darin liegt – ohne dass wir Nietzsches Begriff des »Wunders« reflektieren müssten – eine überzeugende Aktualisierung des Begriffs »Imagination«, auf den in der Folge zurückzukommen sein wird, vor allem bezüglich der imaginären Bildlichkeit der Hass-Rede einerseits und deren imaginativer Wahrnehmung durch Leser und Zuschauer andererseits.[9]

Wenn die Imagination des Theaterbesuchers vornehmlich von der grausamen Rede inspiriert wird und diese ihren großen Ausdruck in Shakespeares Monologen und Dialogen des Hasses gefunden hat, dann wird man ihrer besonderen Subversivität gewahr, sieht man auf die Hass-Rede und Hass-Szene seiner unmittelbaren Vorläufer und Anreger: Thomas Kyd, Christopher Marlowe sowie auch Ovid, Vergil, Seneca, Lucan und Machiavelli. Die griechischen Tragiker waren vor Thomas Stanleys Übersetzung von Aischylos' Dramen 1663 in England nur vom Hörensagen bekannt. Vor allem in Aischylos' 458 v. ‌Chr. aufgeführter Orestie tritt aus Klytämnestras lustvoller Beschreibung der blutigen Details ihres Mordes an Agamemnon der Hass als rhetorisch-ästhetisches Stimulans hervor, gefolgt von der Rede ihres Liebhabers Aigisthos, der den Hass seines Vaters Thyestes gegen dessen Bruder Atreus, den Vater des Agamemnon, erinnernd aufruft. Atreus hatte die Söhne des Thyestes getötet bzw. geschlachtet und sie dem Vater als Fleischgericht vorgesetzt. Das grauenhafte Motiv kannten Marlowe und Kyd sowohl aus der Lektüre von Senecas Drama Thyestes als auch in seiner mythologisch variierten Form aus dem sechsten Buch der Metamorphosen Ovids. Insofern dessen artifiziell gesetztes Grauen ein poetisches Leitmotiv der europäischen Literatur produziert hat, hört es auf den Namen »Itys«:[10] Dessen erschreckende Bedeutung wurde sowohl in Aischylos' Agamemnon als auch in T. ‌S. Eliots The Waste Land evoziert und hat gerade die Schrecken der elisabethanischen Tragödie um signifikante Phantasmen bereichert. Das Itys-Motiv hat seine archaisch-mythologische Herkunft also nicht bloß überlebt, es kam der modernen Literarisierung besonders entgegen: Ovids Interesse an Grausamkeit[11] war ein ausschließlich literarisches, er glaubte nicht mehr an die Götter.

Der Hass-Rede Klytämnestras war die der Elektra gefolgt, sowohl der Elektra im zweiten Teil der Orestie als auch der Elektra in Sophokles' gleichnamigem Drama. Es folgte als theatralischer Höhepunkt der Hass-Chor der asiatischen Mänaden gegen den König Pentheus in Euripides' Tragödie Die Bakchen. Ob bei Aischylos, Sophokles oder Euripides – immer produzieren diese Tragödien ein obsessives Ausmaß an poetischen Bildern, welche die Rolle der Hass-Rede in der modernen Literatur schon vorbereiten. Das elisabethanische Theater erreichte seine frühe Wirkung im Hass-Effekt vor dem Auftreten Shakespeares auch deshalb bereits, weil sich die Hass-Motive der römischen Literatur – bei Ovid, Seneca, Vergil und Lucan – wie aus Füllhörnern mit ihren bizarren, unerhörten Bildern auf die englischen Renaissance-Dramatiker ergossen.

1

Hierfür steht pars pro toto Christopher Marlowes Drama Tamburlaine the Great von 1587/88. Bevor Marlowe das von hasserfüllten Reden strotzende Werk und die beiden anderen ebenso im Hass schwelgenden Dramen Doctor Faustus (um 1592) und The Jew of Malta (um 1589) schrieb, hatte er neben Ovids Amores das erste Kapitel der epischen Beschreibung des Bürgerkriegs zwischen Caesar und Pompeius von Lucan (Marcus Annaeus Lucanus) übersetzt, einem Neffen Senecas. Marlowes Interesse an Lucans Epos Pharsalia ist aufschlussreich für seine eigene künstlerische Affinität zur Grausamkeit, denn dieses Werk beeindruckt oder überwältigt durch die Schilderung grässlicher Szenen von Seekampf und Landgemetzel, durch einen auf das Abnorme abzielenden Stil, der das Heroische noch in Vorgängen erkennt, für welche die semantische Synonymität der deutschen Wörter »Schlacht« und »schlachten« vielsagend steht. Deshalb wurde Lucans Werk von John Dryden, dem neben Milton das englische 17. Jahrhundert beherrschenden Epiker, Lyriker und Dramatiker, verworfen, während der romantische Percy Bysshe Shelley es aus dem gleichen Grund bewunderte.

Damit ist der Kontext unserer Frage nach den Hass-Reden von Marlowe angedeutet, der durch Mord zu Tode kam, wofür das Motiv lange umstritten blieb.[12] Es genügt hier, die elisabethanische Epoche, den Hof von London, als Zeit und Ort permanenter Gewalt und Gefahr, nicht zuletzt extrem sadistischer Hinrichtungspraktiken an Hochverrätern oder des Atheismus Angeklagten und (immer) Überführten, herauszustellen, um gleichzeitig Marlowes Stil der aggressiven Darstellung zwischen Realismus und Imagination abzuwägen. Hier eröffnet sich auch schon die Perspektive auf Shakespeares Hass-Rede. Seit Stephen Greenblatts Buch Shakespearean Negotiations (1988), das »Innenansichten der englischen Renaissance« vorführt,[13] ist das, was Greenblatt »Zirkulation der sozialen Energie« nennt, als Widerspiegelungstheorie rezipiert worden: Shakespeares Text liefere authentische Spuren des Lebens, die »soziale Energie« habe ihre ästhetische Entsprechung gefunden.[14] Die machiavellistisch beeinflusste Diagnostik von Subversion und Unordnung im Bericht des bedeutenden Mathematikers und Kartographen Thomas Hariot über die englische Kolonie Virginia[15] lasse sich auch – so die These Greenblatts – in Shakespeares historischen Dramen wiederfinden.

Erklärt das, abgesehen von der Thematik, aber ihren einmaligen Stil der Gewalt? Wie viel davon steckt in Marlowes Tragödie, der – wie der des Atheismus angeklagte Thomas Kyd unter Folter – die göttliche Schöpfermacht mit religionstheoretischen Argumenten in Frage gestellt hatte, angeregt durch die Schriften Thomas Hariots, der ebenfalls in den Geruch des Atheismus geraten war?

Eine erdrückende Faktenflut aus Zeitgeschichte und Zeittheorie hat sich also vor das englische Renaissance-Drama geschoben: Marlowes Tamburlaine the Great zeigt das in besonderem Maße. Das beginnt mit dem Namen und der Geschichte seines Helden, der das 16. Jahrhundert fasziniert hat. Wie Eric Voegelin zeigen konnte, war der asiatische Herrscher Fürst Timur, Vorbild für Tamburlaine, neben die großen Herrscherfiguren der Antike, Alexander den Großen, Hannibal und Caesar, als Archetypus des Eroberers getreten. Dietmar Herz, der Herausgeber von Voegelins Studien zu Machiavellis und Thomas Morus' Herrschaftskonzept, zitiert Verse aus Marlowes Tamburlaine[16] als Paradigma für den kulturgeschichtlich-historischen Neuansatz im pragmatischen Politikverständnis der Renaissance-Denker. Poggio Bracciolini, seit 1453 Kanzler und Historiograph von Florenz, hat die militärischen Siege Timurs als alles bis dahin Überlieferte übertreffend geschildert: Bracciolinis Charakterisierung Timurs als Eroberer und Zerstörer, als Plünderer und gleichzeitig kultivierter Städtebauer – wobei die Städte Monumente seines eigenen Ruhms sein sollten – gipfelte schließlich in Enea Silvio Piccolominis Vita Tamerlani. Die autonome Machtpolitik ohne moralische Manschetten war erfunden und wartete auf ihre Dramatisierung.

Diese Vorgeschichte ist auf Marlowes Interesse für das Thema und die Bedingungen für den gewählten Stil zu beziehen. Denn im Unterschied zu Shakespeares vielfältiger Unterrichtung durch dichterische und historische Quellen – letztere im Sinne der Tudor- oder Stuart-Regierung gelesen – ergab sich aus Marlowes Stoff eine noch massivere Vorgabe aus geschichtlichen und kulturtheoretischen Motiven, die einer neuen Theatralik den Weg bahnten: das mythische Bild eines Schreckens aus dem Nichts. Es wurde zur dramaturgischen Achse für sein zweiteiliges Drama Tamburlaine the Great. Tamburlaine wurde zur aktualisierten Gestalt, die ihre Ausstrahlung vom neuen, innerweltlich begründeten Ruhmesverständnis und der machttechnologischen Politikdiagnose empfing. Marlowes Inszenierung böser Gewalt und exorbitanter Machtgefühle – prominent unter ihnen der Hass-Ausbruch – ist also die theatralische Ausarbeitung der schon vorgefundenen Dämonisierung der Machtausübung. Wenn dem so ist, dann wäre die Hass-Rede in Marlowes Tamburlaine-Drama als imaginatives Oratorium historisch vorgegebener politischer Diskurse zu verstehen, die der belesene Dichter theatralisierte. Er würde etwas darstellen, von dessen Geschichte man schon viel gehört hatte. Hier liegt – um es vorwegzunehmen – eine entscheidende Differenz zu Shakespeares Figur von Richard III. Diese war wohl eine zeitpolitisch inspirierte, aber künstlerisch erst wirklich begründete Erfindung! Marlowe, in Cambridge erzogen, verdächtig, mit allen Wassern theologischer Häresie gewaschen zu sein, und deshalb wahrscheinlich ermordet worden, war ein genuiner Adressat des Tamburlaine-Themas. Wenn diesem auch die theologische Subversivität der Faust-Geschichte fehlte, kam Marlowe mit Tamburlaines partiell gotteslästerlichem Affront (zum Beispiel gegen die muslimische Religion) dennoch auf seine Kosten. Hass-Reden, keine Schlachten, drücken dem ersten Teil des Dramas ihren Stempel auf. Nach dem Sieg des ehemaligen Hirten Tamburlaine über die persischen und ägyptischen Könige konzentriert sich die Handlung auf Tamburlaines letztes Opfer: den türkischen Sultan. Die bösartigen Dialoge werden aufgrund ihrer Metaphorik zum dramatischen Höhepunkt.

Tamburlaines erste üppige Reden entfalten ihre Aggression als weltherrschaftlichen Anspruch, der für das Londoner Publikum um so aufregender wirkte, als der Anspruch mit seiner Herkunft aus einem skythischen Hirtenleben begründet ist. Die physische Übermächtigkeit – und es bleibt eine physische –, wortreich beschrieben von einem persischen Höfling, dessen König Tamburlaine brutal überwunden hat, kündigt an, dass von Tamburlaine, der sich als »terror to the world« bezeichnet,[17] keine Reflexion wie von Faust oder dem Juden von Malta zu erwarten ist. Und so ist absehbar, dass die Hass-Rede vornehmlich dem sexuellen oder machtgierigen Antrieb entspringen wird. Diese Motivation ist früh erkennbar, wenn Tamburlaine die Tochter des Sultans von Ägypten, die sofort in ihn verliebte Zenokrate, einerseits verlangend umwirbt, andererseits den zornentbrannten Blick auf einen ihrer Nächsten richtet: Diese »fury of his heart«,[18] Tamburlaines »wrath« sind immer wiederkehrende Charakterisierungen seines Auftretens, nachdem er die persische Krone erobert hat und daran geht, seinen eigentlichen Gegenspieler im Hass, den türkischen Sultan, »emperor« genannt, zu entmachten. An ihm, Bajazeth, lässt Marlowe seinen Helden die sadistischen Reden und bedrohlichen Einfälle exerzieren, die sich zum Hass-Dialog zwischen Henker und Opfer steigern. Der entmachtete türkische Herrscher, in einem Käfig eingesperrt und ohne Nahrung gelassen, wird in die Entscheidung zum Selbstmord getrieben. Dieser ist zum grässlichen Spektakel ausgestaltet. Nachdem er seinen Bezwinger und Quäler verflucht hat, nimmt Bajazeth sich das Leben, indem er mit dem Kopf gegen die Eisenstäbe des Käfiggitters rennt, so dass sein Hirn heraustritt, wie er selbst es sogar vorausgesagt hat: »And beat thy brains out of thy concquered head«.[19] Die dieses Bild aufwerfende Rede steigert sich zur hasserfüllten Rachedrohung, wobei der Hass sein volles Potential realisiert: »That in this terror Tamburlaine may live, / And my pined soul resolved in liquid air, / May still excruciate his tormented thoughts.«[20]

Man erkennt beim Zusammenhang von Hass-Rede und poetischer Metapher schon das entscheidende Kriterium: Die Hass-Rede schuldet ihre Intensität weniger der Kenntnis des Charakters der Hauptfigur als vielmehr den semantischen Überraschungen, mit denen sie aufwartet. Da es im Falle des Dramas Tamburlaine vor allem und ausschließlich um die Hauptfigur geht, wird man in Tamburlaines eigener Rede, in der sich der Zorn zum Hass steigert, anstelle realitätsbezogener Motive eher die exzessive Rhetorik erhöht finden.

Der Typus der Hass-Rede tritt charakteristischerweise mit anspruchsvollen sprachlichen Allusionen im Dialog zwischen Tamburlaine und seinem Opfer vor dessen Selbstmord auf. Das Bild der körperlichen Vernichtung wird im hasserfüllten Austausch der Sätze zwischen beiden grotesk vorweggenommen. Ihrer beider zynische Reden kreisen um die Vorstellung, den eigenen Körper zu essen. Der dem gefangenen Sultan zugedachte Hungertod ist das besondere Schaustück innerhalb der Akkumulation sadistischer Bildeindrücke, das mit der englischen Hinrichtungspraktik des Aufhängens, Ausweidens und Vierteilens vor großem Publikum zu wetteifern scheint. Wenn es auch nicht die gleichen Zuschauer waren, die ins Theater gingen, so ist der Zusammenhang doch offensichtlich. Das Horrorpanorama, in dem die Tamburlaine-Szene gipfelt, ist der exuberanten Droh- und Gewaltrede des Helden förderlich. Doch eine Mentalität, die nur Selbstüberhebung und das Gefühl der eigenen Übermacht kennt, bedarf des Hasses eigentlich nicht, weil dieser psychologisch meist in der Konkurrenz mit anderen begründet ist. Analog zum unmittelbaren Ausdruck von Tamburlaines Begierde – im Unterschied zu Fausts ironischer Verherrlichung Helenas – entbehrt der Ausdruck des Zorns und der Aggression bei Tamburlaine denn auch auf erste Sicht das Element des Hasses. Dass die Hass-Rede sich nur im Dialog zwischen dem physisch und psychisch gefolterten türkischen Herrscher und seinem Peiniger Tamburlaine sowie in der Wechselrede zwischen Tamburlaines Geliebter Zenokrate, der Tochter des Sultans von Ägypten, und Zabina, der Frau Bajazeths, vollzieht, ist charakteristisch: Hier können ob der signifikanten Situation die für die Hass-Semantik sowohl sprachlich ausgesuchte Bildlichkeit als auch eine gezielte Finesse der Drohung aufkommen. Die Bildlichkeit ist konzentriert auf die Zerfleischung des Körpers, sei es darin, vom Schwert durchstochen zu werden, so dass die Eingeweide hervortreten und das Herz herausgerissen wird; sei es, dass der Gefangene Stücke seines eigenen Fleisches verzehrt. Tamburlaine empfiehlt dem verhungernden Gefangenen, alternativ zum eigenen Fleisch die Ehefrau zu schlachten, solange sie noch fett sei. Denn wenn sie noch länger lebe, verfalle sie der Auszehrung. Und so hört sich das an und liest sich, was der dem Tode geweihte Türkenherrscher und Tamburlaine sich vor dem Selbstmord zu sagen wissen:

Ye holy priests of heavenly Mahomet,

That, sacrificing, slice and cut your flesh,

Staining his Altars with your purple blood,

Make heaven to frown, and every fixed star

To suck up poison from the moorish fens

And pour it in this glorious tyrant's throat![21]

Tamburlaine droht, den Gefangenen als Fußbank zu missbrauchen, woraufhin dieser (wiederum mit Metaphern des Fleisches) antwortet:

First shalt thou rip my bowels with thy sword

And sacrifice my heart to death and hell

Before I yield to such a slavery.[22]

Tamburlaine nimmt dieses Bildarsenal auf: »Stoop, villain, stoop, stoop for so he bids / That may command thee piecemeal to be torn / Or scattered like the lofty cedar trees.«[23] Später wiederholt sich im Dialog beider diese blutige Metaphorik wie folgt:

Auf Tamburlaines Frage: »And now, Bajazeth, hast thou any stomach?«[24] antwortet Bajazeth: »Ay, such a stomach, cruel Tamburlaine, as I could willingly feed upon thy blood-raw heart«.[25] Daraufhin Tamburlaine: »Nay, thine own is easier to come by; pluck out / that, and 'twill serve thee and thy wife. Well, Zenocrate, / Techelles, and the rest, fall to your victuals.«[26] Und Bajazeth gibt zurück:

Fall to, and never may your meat digest!

Ye Furies, that can mask invisible,

Dive to the bottom of Avernus' pool,

And in your hands bring hellish poison up

And squeeze it in the cup of Tamburlaine!

Or, winged snakes of Lerna, cast your stings,

And leave your venoms in this tyrant's dish.[27]

Tamburlaine entgegnet darauf höhnisch, er finde nur Ruhm in den Flüchen seiner Feinde. Vor dem Selbstmord dann ein brutaler Wortwechsel, in welchem des Türken eigenes Fleisch als essbar thematisiert wird: »Sirrah, why fall you not to? / Are you so daintily brought up you cannot eat your own flesh?«[28] Es folgt Tamburlaines Einfall: »Here, eat, sir. Take it from my swords point, or I'll thrust it to thy heart.«[29] Es handelt sich dabei um ein wirkliches Stück Fleisch, das Tamburlaine dem Gefangenen entgegenstreckt. Als dieser es unter seinen Füßen zertritt, repliziert Tamburlaine mit dem Wutausbruch: »Take it up, villain, and eat it, or / I will make thee slice the brawns of thy arms into carbonadoes / and eat them.«[30]

Wenn der türkische Herrscher sich zum Selbstmord anschickt, klingt sein Abschiedsfluch so:

Now, Bajazeth, abridge thy baneful days,

And beat thy brain out of thy conquered head,

Since other means are all forbidden me

That may be ministers of my decay.

O highest lamp of ever-living Jove,

Accursed day, infected with my griefs,

Hide now thy stained face in endless night

And shut the windows of the lightsome heavens!

Let ugly darkness with her rusty coach,

Engift with tempests wrapped in pitchy clouds,

Smother the earth with never-fading mists,

And let her horses from their nostrils breath

Rebellious winds and dreadful thunderclaps,

That in this terror Tamburlaine may live,

And my pined soul, resolved in liquid air,

May still excruciate his tormented thoughts!

Then let the stony dart of sencelesse cold

Pierce through the center of my withered heart

And make a passage for my loathed life.[31]

Die Hass-Rede zwischen Tamburlaines Zenokrate und der Gemahlin des türkischen Sultans Zabina ist ausschließlich auf Pointen der Beleidigung und Drohung aus, die eine andere, konventionellere Art dramaturgisch notwendiger Spannung erzeugen. Sie ergibt sich ausschließlich aus der gegenseitigen Feindseligkeit der Personen. Die ambivalente Metaphorik bezüglich des Fleisches, das man isst, und des eigenen Körperfleisches entwirft hingegen eine Atmosphäre der absoluten Vernichtungsdrohung. Die dazu aufgerufenen Bilder übersteigern sich ins Phantastische.

Es fragt sich, ob Marlowe bei der Beschreibung des zerstückelten Körpers die Art der Todesfolter im Kopf hatte, die ihn erwartete, sollte sich die Verdächtigung gegen ihn verschärfen und er wegen Atheismus oder Hochverrats (als heimlicher Katholik) angeklagt werden: nämlich lebendigen Leibes ausgeweidet und gevierteilt zu werden, bevor ihm der Kopf abgeschlagen würde – bei einer solchen Anklage die übliche Hinrichtungsart von Nichtadligen, die erst Ende des 17. Jahrhunderts abgeschafft wurde. Zugleich enthalten die Vorstellungsvarianten von losgelösten einzelnen Körperteilen noch eine andere subversive Attraktion: Sie implizieren sowohl sexuelle als auch theologische Allusionen. Die Tötung gilt einem Körper, dessen Entblößung im Liebesakt üblich ist; auch Jesus hatte seine Jünger aufgefordert, sie möchten von seinem Fleisch essen und von seinem Blut trinken. Und die Präsenz der durch Ovid und Seneca überlieferten kannibalistischen Motive verleiht der so ausgerüsteten Hass-Rede noch eine Patina antiker Hochkultur. Diese Stilhöhe wird unterstützt durch den Rhythmus der Verse. Die Rhetorik ist gespannt zwischen dem Pathos des vornehmen Blankverses und dem Überfall ausgesuchter, exzessiver Bilder. Dabei wird auch deutlich, dass erst die Hass-Reden dem theatralischen Triumph des Kolossalen, der absehbar historischen Thematik des Dramas seine Energie geben. Zwar beherrscht die Theatralik des Kolossalen die Szenen beider Teile des Dramas, nicht zuletzt die Darstellung von Tamburlaines stolzem Sterben. Hätte sich Marlowe aber nicht die aggressiven Dialoge und ihre bösartigen Argumente und Provokationen einfallen lassen, wäre die Tragödie Tamburlaine nur ein – wenn auch immer noch worterfinderisches – Spektakel oder Panorama der die Epoche fesselnden Geschichte eines asiatischen Tyrannen, wohlberechnet für ein auf diese Thematik erzogenes Publikum.

2

In Marlowes Drama The Jew of Malta bildet die Hass-Rede in noch größerem Maße die thematisch und formal ausschlaggebende dialogische Achse zwischen dem bösen Helden Barabas und seinen Opfern, bevor der Jude auf grausige Weise selbst in einem kochenden Kessel, den er eigentlich für seine Feinde, ob Christen oder Türken, vorbereitet hatte, zum Opfer wird. The Jew of Malta ist eine zum Rachedrama umschlagende Farce über einen von allen Menschen isolierten, raffgierigen Bösewicht, ein groteskes antisemitisches Stereotyp. Um des Geldes willen begeht er jeden Mord und hofft sogar auf eine politische Karriere mit Hilfe der Türken, welche die christliche Insel angreifen. Marlowes satirische Perspektive tut dem Pathos von Barabas' Hass-Reden keinen Abbruch. Die Wörter »Hass« (»hate«), »verhasst« (»hateful«) oder »hassen« (»to hate«) treten im Vokabular des jüdischen Kaufmanns – im Unterschied zu den Reden von Tamburlaine und Faust und abgesehen vom entscheidenden Unterschied, dass Barabas' Denken und Reden permanent ausschließlich Hass ausdrücken, auch ohne dass das Wort ausgesprochen würde – buchstäblich sehr häufig auf. Die den Prolog vortragende Figur des »Machevil« (Marlowes provokative Referenz an den als Immoralisten gedeuteten Autor des Principe) führt zum ersten Mal das Wort »hate« im Munde und bekennt, dass Religion etwas für Kinder sei und es keine andere Sünde gebe denn Ignoranz: »I count religion but a childish toy / And hold there is no sin but ignorance«.[32]

Ein Introitus also, der es in sich hat, denn es bleibt durchaus der Entscheidung des Zuschauers oder des Lesers überlassen, ob dieses atheistische Bekenntnis eine Rollencharakteristik ist oder aber ein hinter dieser verborgenes, skandalöses Bekenntnis des Autors. Sind Tamburlaine und Faust unterschiedliche Versionen der heroisch-titanischen Anmaßung, der auch ihr erhabenes und tragisches Ende entspricht, dann ist Barabas, der Jude von Malta, eine groteske Abweichung davon, wie sein grausiges Ende zeigt. Dass Marlowe ihm den Namen des unter Mordverdacht stehenden jüdischen Anführers des Aufruhrs gegen die Römer gegeben hat, den Pilatus auf Verlangen der Menge freigab, um an seiner Stelle Jesus kreuzigen zu lassen, liefert eine beiläufige Pointe: Möglicherweise handelt es sich um eine der ironischen Marloweschen Subversionen des theologischen Kontexts, liebte der Dichter doch zweideutige Identifikationen. Barabas' Hass-Reden entsprechen dem: Es geht in diesem Stück vorerst nicht um Leib und Leben, sondern nur oder besonders um Geld. Um dessentwillen erfindet Barabas alle seine Intrigen. Allerdings mit tödlichem Ausgang für die Betroffenen. Die berühmt gewordene Selbstbeschuldigung als Urheber der übelsten Schandtaten (in der dritten Szene des zweiten Akts) und jene als Mörder im letzten Augenblick seines Lebens (V, 5) zeigen – als Hass-Rede verstanden – Marlowes Lust, eine negative Existenz, ja Ontologie, sprachlich zu zelebrieren. Der selbst am meisten Gehasste kann nicht anders als hassen. Außerdem: Fast alle wichtigen Akteure des Dramas sind Bösewichter. Wenn Marlowe die Welt besonders hier mit zynischem Einverständnis als böse darstellt, dann geschieht dies auch in der Absicht, daraus einen ästhetischen Effekt zu gewinnen. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Nicht weil der Dichter sich mit dem Bösen metaphysisch identifizierte. Es zeigt sich vielmehr, dass das eine, die Bestrafung eines Übeltäters durch andere Übeltäter, nur um des anderen willen, zum Zweck der Erfindung ausgekochter, aggressiver Reden, vorgeführt wird.

Eine der ersten Identifikationen mit dem Hass liefert ein Selbstbekenntnis Marlowes zu einer negativen Anthropologie. Es lautet:

Who hateth me but for my happiness?

Or who is honoured now but for his wealth?

Rather had I, a Jew, be hated thus

Than pitied in a Christian poverty;

For I can see no fruits in all their faith

But malice, falsehood and excessive pride.[33]

Die Provokation hier also, dass das Selbstverständnis als sich bereichernder Jude auf der Einsicht in die Amoral jener beruht, an denen er sich bereichert. Diese amoralische Übereinstimmung mit sich selbst wird ohne große Geste als fait accompli ausgesprochen. Es ist im Unterschied zum expressiven Hass-Dialog von Tamburlaine und Bajazeth ein introvertiertes Hass-Bewusstsein, das unsere Aufmerksamkeit erregt. Das eigene Glück beruht auf der selbstverständlichen Vereinbarung mit der Amoral der Gesellschaft – wie in dem Fall, dass die Türken die christliche Insel Malta erobern, auf der Barabas wohnt: »Why, let 'em come, so they come not to war; / Or let 'em war, so we be conquerors. / (Aside) Nay, let 'em combat and kill all, / So they spare me my daughter and my wealth.«[34] Der immer erneuerte Ausdruck des Bösen soll im Zuschauer den Funken einer immer erneuerten Neugierde und Verblüffung schlagen: anlässlich des Verbotenen, von ihm noch nicht Gewussten, von dem aber noch viel zu erwarten ist.

Es ergibt sich aus dem Charakter des Helden, dass seine Hass-Reden nicht wie im Fall Tamburlaines durch Körper- und Zerstückelungsvorstellungen geprägt sind, sondern eher im traditionellen Verfluchungston gehalten werden:

The plagues of Egypt, and the curse of heaven,

Earth's barrenness, and all men's hatred

Inflict upon them, thou great Primus Motor!

And here upon my knees, striking the earth,

I ban their souls to everlasting pains

And extreme tortures of the fiery deep,

That thus have dealt with me in my distress.[35]

Vom dritten Akt an verschiebt sich die alttestamentarisch begründete Hass-Rede jedoch hin zu einer existentiell ausweglosen: Barabas' erste Reaktion auf den sich ihm andienenden Erzbösewicht Ithamore findet nur noch Wörter, die diesem und der eigenen Tochter Hass unterstellen: »Ithamore, entreat not for her, I am moved, / And she is hateful to my soul and me / And 'less thou yield to this that I entreat, / I cannot think but thou hat'st my life.«[36]

Ithamore hatte sich selbst der Szene angekündigt, indem er seine Kriminalität anpries: »Why, was there ever seen such villainy, / So neatly plotted and so well performed? / Both held in hand, and flatly both beguiled?«[37]

Alle Untaten, alle Morde, die Barabas und sein neuer Helfer Ithamore noch begehen, ersetzen von nun an die Hass-Rede. Sie taucht nur mehr auf als Rückversicherung eines Prinzips, das auch dann noch gilt, nachdem Barabas es von türkischen Gnaden auf Kosten seines christlichen Vorgängers zum Gouverneur Maltas gebracht hat. Seitdem weiß er: »I now am governor of Malta, True / But Malta hates me, and in hating me, / My live's in danger.«[38]

Im Fall Tamburlaines und Bajazeths brillierte der Dialog durch exzentrisch inhumane Bilder. Im Fall von Barabas entwickelt sich das Hass-Motiv – sei es als Thema der Rede, sei es als die hassvolle Rede selbst – zu einer Lebensphilosophie, deren Ausdruck ebenfalls gefangennimmt: als Angriff auf eine moralisch gedeutete, aber in Wahrheit unmoralische, korrupte Wirklichkeit, die gemeinhin zumindest als eine verbesserbare verstanden wird. Das ist Marlowes eigener Affront. Es ist also nicht die böse Lehre allein, sondern zunächst die höhnische Energie, mit der sie sich in Worte kleidet und unmittelbar in die Szene eingreift, die den Ausschlag zum Bösen gibt.

Diese Differenz kann man sich am Gegenbeispiel des barocken deutschen Trauerspiels, sogar noch fünfzig Jahre später, veranschaulichen: Das Böse wird dort immer nur reflexiv erzählt, greift aber nicht eigentlich qua Rede unmittelbar in die Szene ein. Darüber wird noch zu reden sein. Man kommt nicht umhin, eine kaum verhüllte eigene Anerkennung des Dichters für die Redelust am Komplott zu entdecken. Insofern lässt sich das Auftreten des im Prolog zu Machevil umgedeuteten Machiavelli als eine selbstreferentielle Affirmation an den aus der Erkenntnis des Bösen gewonnenen Stil der energetischen Hass-Rede verstehen.

Wenn sich Barabas im kochenden Wasserkessel schließlich gegenüber seinen christlichen und türkischen Feinden zu seinen Untaten bekennt, dann wird auch diese letzte Rede eine vom Hass inspirierte sein: ein letzter Triumph über das, was er den Zuhörenden angetan hat, die Barabas' böse Autorschaft erst jetzt erfahren. Hierin ähnelt Barabas' rhetorische Antwort – wie sich weiter unten zeigen wird – der Rede von Hieronimo, dem Rächer in Kyds The Spanish Tragedy:

Then, Barabas, breath forth thy latest fate,

And in the fury of thy torments strive

To end thy life with resolution.

Know, Governor, 'twas I that slew thy son;

I framed the challenge that did make them meet.

Know, Calymath, I aimed thy overthrow,

And had I but escaped this stratagem,

And would have brought confusion on you all,

Damned Christians, dogs, and Turkish infidels!

But now begins the extremity of heat

To pinch me with intolerable pangs,

Die, life! Fly, soul! Tongue, curse thy fill, and die![39]

Marlowe – indem er den in die Hölle fahrenden Teufel des mittelalterlichen morality plays zu zitieren scheint – gibt der Hass-Rede des im kochenden Wasser Sterbenden noch eine groteske Note: Sogar dieser aussichtslosen Lage setzt er noch einen drauf, indem er weitere Verfluchungen erfindet.

Barabas' Hass-Rede kommt wie die des Tamburlaine aus weltlichem Interesse. Im Fall von Faust ist das weltliche Interesse, die Sinneslust, hingegen eng verknüpft mit der Begierde nach Wissen, das ihm Mephistopheles vermitteln kann. Wenn hier Hass-Rede zu inszenieren möglich ist, dann vornehmlich im Kontext der theologischen Frage nach Gott und Teufel. Insofern steht Marlowes ureigenes Interesse auf dem Spiel. Fausts Tragödie konnte Marlowes Impuls zur Blasphemie reizen. Hier ist nicht der »Pomp stolzer kühner Taten« zu erwarten, von dem der Anfangschor kündet. Marlowes Faust besitzt aber im Unterschied zu Goethes schon die »Unerschrockenheit und Diesseitigkeit Shakespearescher Bösewichter«, wie Erich Trunz vermerkt hat.[40] So boten sich polemische Dialoge an. Faust schwört der heiligen Dreifaltigkeit ab und betet zum Fürsten der Hölle. Eine subkutane Spannung entsteht zwischen der blasphemischen Leugnung Gottes und dem verkappten Glauben an ihn, die Ambivalenz der Sensualität zwischen der Lust auf Helena und der auf einen Geist.[41] Das impliziert ebenfalls die Hass-Potenz. Sie deutet sich schon an, wenn Faust gegenüber Mephisto höhnt, die Hölle sei nur eine Farce (Szene 5), also die gleiche theologische Blasphemie ausspricht wie die Figur des Machevil im Prolog zu The Jew of Malta. Insofern besitzt Marlowes Faust a priori die Subversivität, die in den bisher zitierten Hass-Reden ihre spezifische Form findet.[42]

Fausts Reden nehmen nie das monologische Ausmaß der Hass-Rede an. Die Dialoge zwischen ihm und Luzifer in The Tragical History of the Life and Death of Doctor Faustus (1604) sind durch feindselige Unterbrechungen der höllischen Übereinkunft geprägt und gewinnen hierdurch die Intensität einer sich plötzlich ankündigenden Wendung. Zum Beispiel dann, wenn Faust dem noch nicht als Mephistopheles erkannten Teufel empfiehlt, er möge sein Aussehen mit dem eines Franziskanermönchs tauschen, er sei sonst zu hässlich, um vor ihm erscheinen zu können. Ein heiligmäßiges Äußeres stehe einem Teufel am besten.[43] Und so wird die siebte Szene, in der Faust die Möglichkeit, zu bereuen, zur Debatte stellt, durch Fausts Verfluchung des Mephistopheles eingeleitet, den er »wicked« nennt.[44] Seine anschließende Diskussion über die Welt als eine Schöpfung Gottes, die Mephistopheles nicht zugestehen kann, endet in Fausts Ausbruch: »Ay, go, accursed spirit, to ugly hell! / ›Tis thou hast damned distressed Faustus‹ soul«.[45] Der Wortwechsel enthüllt blitzartig den Abgrund zwischen beiden und den Abgrund, in den Faust schon gefallen ist. Aber Faust kann Mephistopheles nur noch verfluchen. Der auftretende böse Engel, ein Gehilfe Luzifers, droht dem die Reue erwägenden Faust gar an: »If thou repent, devils shall tear thee in pieces.«[46] Wieder erkennen wir den für Marlowe typischen inneren Zwiespalt: In diesem Faust ist die provokative Leugnung der Theologie vereint mit dem auf dem Sprung liegenden Hass-Ausbruch gegen den höllischen Anwalt solcher Leugnung. Dabei tauchen die gleichen Verleugnungswörter auf wie in den weltlichen Hass-Reden von Tamburlaine und The Jew of Malta.

Marlowes Faust ist – im Unterschied zu Goethes Helden – nicht bloß angespannt in einem unlösbaren theologischen Konflikt, sondern die permanenten Wechselreden gegensätzlicher Emotionen zerreißen ihn schon physisch, bevor er von Mephistopheles, wie vom bösen Engel angekündigt, tatsächlich zerrissen wird. Während Goethes Faust einen ironischen, keinen gehässigen Dialog mit Mephisto führt, sein Pakt um den erfüllten Augenblick wohlverstanden als eine Wette abgeschlossen wird und dieser Augenblick der höchsten Erfahrung gilt, ist die Lust von Marlowes Faust von Beginn an zur Hölle verdammt. Der Glaubenszweifel von Goethes Faust bleibt integriert in ein intaktes göttliches Universum, das die Abmachung mit Mephistopheles nicht relativiert, sondern im Dialog mit diesem immer wieder bestätigt. Dagegen sind die Reden von Marlowes Helden radikal subjektivistisch – anders gesagt: In ihnen drückt sich eine Subjektivität aus, der die Haftung in einer transzendenten Welt fehlt. Gerade deshalb die, wenn auch kurzen, verzweifelt hassvollen Ausbrüche im Dialog mit Mephistopheles, die sich wie die Stimme des unerlösten, das heißt modernen Zeitgenossen anhören, der Marlowe selber ist.

Und deshalb auch der unerhörte Schrei nach Rettung im Abgesang von Marlowes Faust: keine christliche Rettung, sondern eine solche durch materialistische Verwandlung im Sinne der Lehre des Pythagoras. Gleichzeitig, ähnlich der letzten Rede von Barabas, noch einmal die Verfluchung des Feindes Luzifer und die Selbstverfluchung. Ist die Intensität des Ausdrucks auch hier das artistische Ziel, so ergibt sich dieses aus Marlowes bis dahin unerhört modernem Bewusstsein.

3

Das liegt im Fall von Thomas Kyds The Spanish Tragedy, etwa zum gleichen Zeitpunkt wie Marlowes Tamburlaine seit 1592 mit fast noch größerer Wirkung aufgeführt, anders, wie machtvoll Kyd auch den Blankvers, Marlowes sogenannte »mighty line«, in Szene setzte. Der Unterschied zu Marlowes Dramen rührt vor allem aus dem Umstand, dass Kyds Erfindung das Paradigma des Rachedramas geworden ist, dem vormoderne Charakteristika zu eigen sind. Seine enorme Wirkung auf nachfolgende Dramatiker, nicht zuletzt auf Shakespeares Hamlet (Geist, Schauspiel im Schauspiel), steht dazu nicht im Widerspruch. Zwar ist der Plot zeitgenössisch, unmittelbar bezogen auf den spanisch-portugiesischen Konflikt von 1580, also auch auf die andauernde Drohung, die von Spaniens imperialer Macht für England ausging, nachdem Philip II. Portugal unterworfen hatte. Es ist jedoch die Symmetrie des Racheprozesses, die das Stück prägt: Sie wird im Vorspiel präsentiert in der Figur des Geistes des im Krieg getöteten spanischen Edelmannes Andrea sowie in einer abstrakten Figur der »Rache« (»revenge«) und, im Drama selbst, in der Figur des eigentlichen Rächers, des spanischen Marschalls Hieronimo, dessen Sohn Horatio vom Neffen des spanischen Königs Lorenzo ermordet wurde.

Dieser Mord begründet die Kette der folgenden Anschläge und Tötungsakte. Horatio liebt Bel-Imperia, die Tochter des Herzogs von Kastilien und Schwester des Lorenzo, die aber auch von Balthazar, dem im Krieg in spanische Gefangenschaft geratenen Sohn des Vizekönigs von Portugal, geliebt wird. Dieser wurde von Horatio besiegt, ist nunmehr aber mit Lorenzo befreundet. Ein Personenpuzzle also, bevor die mörderischen Aktionen einsetzen. Um so mehr, als Balthazar, der Portugiese, es war, der Andrea, den Spanier, der nunmehr nur noch als »Geist« auftritt, in der Schlacht getötet hatte, und Andrea von Bel-Imperia geliebt worden war. Lorenzo, als klassischer Bösewicht gezeichnet, ist interessiert an einer Heirat seines neuen portugiesischen Freundes Balthazar mit seiner Schwester Bel-Imperia. Er entdeckt ein nächtliches Treffen von Horatio mit seiner Schwester, bei dem offenbar beide einander ihre Liebe bekennen. Daraufhin wird Horatio von Lorenzo und Balthazar an einem Baum aufgehängt und erstochen. Hieronimo, der spanische Marschall, entdeckt seinen ermordeten Sohn im Garten und plant – die Täter mit Hilfe Bel-Imperias allmählich ermittelnd – langsam, aber sicher seine furchtbare Rache.

Hass-Reden – nicht zuletzt Hieronimos letzte Rede an die Zuschauer seines Rache-Exzesses mittels eines Schauspiels im Schauspiel – bebildern hier den Hass bzw. die angekündigte Rache-Handlung. Es kann sich deshalb nicht dieselbe überraschende, den plötzlichen Hass auslösende Rede entwickeln wie im Fall des Juden von Malta oder im Fall von Tamburlaine. Dem entspricht, dass Hieronimos erster kurzer Ausdruck des Hasses und seine erste lange, hasserfüllte Rachedrohung (III, 7) auf kein unmittelbares Gegenüber treffen. Auch Bel-Imperias Rache ankündigende Hass-Rede gegen ihren Bruder Lorenzo trifft kein unmittelbares Gegenüber. Dadurch verliert der Hass-Ausdruck an Unmittelbarkeit und gewinnt statt dessen an Reflexion moralischer Grundsätze bzw. der Gründe für manifeste Anklagen. Statt Unmittelbarkeit der Emotion kurze Dialoge zwischen der Figur des Geistes »Andrea« und der Figur der »Rache« zum Ende jeden Aktes.

Im ersten Akt treten der Geist von »Andrea« und die Figur der »Rache« auf: Die »Rache« kündigt dem ob des Glücks von Balthazar, der ihn getötet hat, Beunruhigten folgendes an: »Be still, Andrea, ere we go from hence, / I'll turn their friendship into fell despite, / Their love to mortal hate, their day to night.«[47]

Das gilt ebenfalls für die Sinngebung der grässlich-blutigen Ereignisse am Ende der Spanischen Tragödie durch den noch einmal auftretenden Geist »Andrea« im Gespräch mit der »Rache«. Sie schwelgen im Blut der gerade auf der Bühne umgebrachten Mörder: »Ay, these were spectacles to please my soul.«[48]

Dennoch: Hass und Hass-Ausdruck durchziehen das Stück als Leitmotiv. Darin vereinigen sich Bel-Imperias und Hieronimos Rede, vor allem, wenn sie hierin miteinander wetteifern. Denn zunächst vermutet Bel-Imperia, Hieronimo werde die Ermordung seines Sohnes, ihres Geliebten, ungerächt lassen: »Myself a stranger in respect of thee, / So loved his life, as still I wish their deaths; / Nor shall his death be unrevenged by me, / Although I bear it out for fashion's sake: / For here I swear in sight of heaven and earth, / Shouldst thou neglect the love thou shouldst retain, / And give it over and devise no more, / Myself should send their hateful souls to hell, / That wrought his downfall with extremest death.«[49]

Auf diese Herausforderung antwortet Hieronimo mit der Eröffnung, dass auch er den Plan für den Tod der Mörder seines Sohnes längst gefasst habe. Sie werden als Mitspieler in einem von Hieronimo inszenierten Schauspiel mit realen Vorkommnissen in ähnlichen Rollen von Hieronimo und Bel-Imperia erstochen, wonach letztere sich selbst ersticht und Hieronimo, um beim Verhör nichts verraten zu können, sich die Zunge abbeißt. Bevor diese der Ovidschen Horrormotivik entliehene Schluss-Szenerie abläuft, eröffnet Hieronimo den Zuschauern, darunter dem spanischen König und dessen Bruder, dem Herzog von Kastilien, dass die vor ihnen auf dem Bühnenboden liegenden Schauspieler, des Herzogs Sohn Lorenzo und des portugiesischen Botschafters Sohn Balthazar, tatsächlich tot seien. Anklage und grauenvolle Genugtuung gehen ineinander über: »And here behold this bloody hand-kercher, / Which at Horatio's death I weeping dipped / Within the river of his bleeding wounds: / It as propitious, see, I have reserved, / And never hath it left my bloody heart, / Soliciting remembrance of my vow / With these, O, these accursed murderers.«[50]

Wie das Spiel geht auch Kyds Sprache über das bloße Arrangement der Spannung in der Rache-Handlung hinaus: Auch hier entsteht durch die gewählten Wörter die Intensität von individueller Emotionalität. Diese ist stärker identisch mit dem jeweiligen Rollencharakter und seiner Funktion im Rachedrama, als dies bei Marlowes Charakteren der Fall ist, die eine komplexere Individualität ausstrahlen. Gleichzeitig entdecken die Sprechakte dieser beiden Vorläufer Shakespeares besonders ihre spezifische Aggressivität, vergleicht man sie mit der Sprache des über ein halbes Jahrhundert später entstandenen schlesischen barocken Trauerspiels: In Gryphius' Märtyrertragödien Catharina von Georgien (Erstdruck 1657) oder Carolus Stuardus (zwei Fassungen 1657 und 1663) gibt es keine Hass-Reden; die Charakteristik ausgesuchter Folter transzendiert zu Emblemen des erlösenden Leidens. Die Darstellung der blutigen Staatsaktion exemplifiziert die Gottgesandtheit des Königs. Dies gilt selbst für Lohenstein, den politisch kundigeren Dichter. Sein bedeutendes Drama Sophonisbe (1680) zeigt entfesselte Leidenschaft, wie er sie dann auch in dem fünfzehn Jahre später erschienenen Trauerspiel Agrippina thematisierte. Die Sprache nicht bloß der Sinnlichkeit, sondern unverkappter Sexualität reicht aber nicht an Kyds oder Marlowes ähnlich gelagerte Aggressivität im Monolog heran – selbst dort nicht, wo der Einfluss Senecas die Handlung führt. Im Unterschied zum englischen Blankvers unterstützt die gewählte Reimstrophik buchstäblich die gesuchte harmonische Darstellung. Mit anderen Worten: Die von Walter Benjamin vorgeführte Allegorik des barocken Trauerspiels, also die Integration von Handlung und Auslegung, verunmöglicht eine Sprache, in der, anstatt der Trauer, die innerweltliche Tragödie und das ihr eigene Idiom des Hasses als autonome Emotion explodieren. Benjamins Anwendung der »Trauerspiel«-Zeichen auf Shakespeares Tragödien Hamlet oder Richard III, in denen die Hass-Rede seiner englischen Vorläufer theatralisch vollendet wurde, ist deshalb ein Trugschluss, der auf der falschen Auslegung von Shakespeares spezieller allegorischer Metaphorik beruht.[51]

4

Die Hass-Rede in Kyds The Spanish Tragedy erreicht nicht die Intensität der Hass-Rede in Marlowes Dramen, weil sie die dargestellten blutigen Handlungen rhetorisch lediglich noch einmal rhetorisch aufgipfeln lässt und der Hass nicht ausschließlich aus der autonomen Wörtlichkeit aufsteigt. Das gilt auch für die anderen elisabethanischen und jakobinischen Dramatiker (John Websters The White Devil, 1612, und The Duchess of Malfi, 1612/13). Es ist Marlowes Sprache, in der sich Shakespeares Stil der frenetischen Hass-Rede vorbereitet.

Von William Blake, dem Dichter einer prophetischen Lyrik wie Epik und Anhänger der Französischen Revolution, stammt der im Vorwort zitierte Satz: »The tigers of wrath are wiser than the horses of instruction.« Er wollte damit ausdrücken, dass nicht die kritischen Schriften der Aufklärung die Revolution zum Ausdruck gebracht hätten, sondern der plötzlich ausbrechende, in Hass übergehende Zorn der Pariser. Diese Erkenntnis lässt sich auf die Literatur übertragen: Nicht Ideen machen ihren Rang aus, sondern der Effekt ihrer den Affekt auslösenden Sprache. Nietzsches zu Beginn erwähnte Erklärung der »dionysischen« Tragödie im Hinblick auf den »Hass« in der Lyrik des Archilochos konnte sich so auf eine bereits ähnliche Auffassung in der römischen Literatur stützen, ohne dass er, der Altphilologe, diese erwähnte – auch wenn er sie kannte: Schon in der römischen Rezeption wird der »Hass« als fundamentale Energiequelle der Literatur festgestellt, nicht bloß als Charaktermerkmal ihrer Personen.

Wenn hier englische Dramatiker und später auch Prosaisten den Blick auf den »Hass« in der europäischen Literatur eröffnen, dann lässt sich das historisch erklären: Die englischen Epochen zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert waren innen- und außenpolitisch geprägt von extremer Gewalt und Grausamkeit. Dem deutschen Barockdrama hat selbst der Dreißigjährige Krieg zwar die Darstellung von Angst und Folter, aber keine Hass-Rede eingeflößt. Das gilt ebenso für die tragédie classique von Corneille und Racine. Erst nach der Französischen Revolution taucht in der maßgeblichen französischen und deutschen Literatur die Hass-Rede auf, wobei man zwischen der politisch sprechenden und der rein imaginativen, um die es hier geht, zu unterscheiden hat.[52]

Zugleich begünstigte das angelsächsisch-normannische Idiom den frühen Effekt des Hass-Ausdrucks im englischen Drama: die expressive Lautlichkeit kurzsilbiger und energisch klingender Wörter setzen eine Pointe. Die für die Hass-Rede der europäischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert repräsentativen Dichter Kleist, Baudelaire, Richard Wagner, Strindberg, Céline, Sartre sind alle von großer Bedeutung und großem Einfluss gewesen, historisch und intellektuell. Dass ihre zeitgenössischen deutschen, österreichischen und französischen Nachfolger von Rang ebenfalls die Hass-Rede an sich zogen, spricht für die Signifikanz dieser literarischen Ausdrucksform. Wenn die englische moderne Literatur – trotz Beckett, Joyce und Eliot – zunächst die Hass-Rede nicht wieder aufnahm, folgt dies ihrem spezifischen Zivilisationsprozess. Erst mit den englischen Nachkriegsdramen der 50er Jahre setzt die Hass-Rede dort wieder ein. Umgekehrt entspricht die Häufigkeit der Hass-Rede bei französischen Dichtern seit Baudelaire dem Pariser Modernitätsdiskurs seit der Großen Revolution.

Wenn dagegen die imaginative Hass-Rede in der bedeutenden deutschen Literatur selten erscheint, erklärt sich dies vor allem aus dem Einfluss des deutschen Idealismus. Das Motiv des »Bösen« und des »Obszönen«, das in der französischen Literatur seit Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls eine signifikante Rolle spielt, bleibt in der deutschen Literatur mehr oder weniger unbekannt.[53] Dafür hat sich der politisch-ideologische Hass in der deutschen Publizistik und Realität des 20. Jahrhunderts ausgetobt. Wahrscheinlich hängt die Anwesenheit von letzterem mit der Abwesenheit von ersterem zusammen.

»I will speak daggers to her«

Hass-Reden in Shakespeares Dramen

Sofern Thomas Kyds und Christopher Marlowes Leben von wilden Gerüchten umstellt war, hat das ihrem literarischen Ruhm sicher nicht geschadet und diesem die auch für die Hass-Rede spezifische Aura gegeben. Beide waren befreundet, ihr früher Tod, der Marlowes im Jahr 1593 und der Kyds 1594, folgte dem auf sie beide gleichermaßen gefallenen Verdacht, in wie auch immer motivierte Konspirationen verwickelt zu sein. Marlowe wurde ermordet, Kyd starb ein Jahr später an den Folgen der Folter, die er in den Verhören erlitten hatte. Die pamphletistischen Papiere gegen die christliche Religion, die bei ihm gefunden wurden, gehörten nach Kyds späterer Aussage Marlowe; sie waren zufälligerweise mit Kyds Notizen vermischt und sind seitdem als Marlowes »atheistic lecture« gelesen worden. Man könnte sagen: Marlowe und Kyd hätten Personen in ihren Stücken gewesen sein können.

Es ist deshalb ein eigentümliches, ja hintergründiges Faktum, dass von der Person William Shakespeare, dem Erfinder der machtvollsten und gleichzeitig subtilsten Hass-Rede, fast nichts wirklich überliefert ist als der Name, der über seinen Stücken steht, und selbst dieser Name ist immer wieder bezweifelt worden. Aber Rückschlüsse auf die Biographie sind über die Motive der Dramen möglich. Dass Shakespeare trotz dieses Mangels an authentischen Zeugnissen seines Lebens inzwischen im Sinne von Stephen Greenblatt als »Will of the World« überall auftreten kann, erklärt sich aus einem ins Kraut geschossenen Populismus: Seine Dramen nämlich als Ausschüttungen eines Füllhorns für jedermanns Weltinteresse aufzulesen, sie als pralle Pakete aufzuschnüren, aus denen die Menschheit kriecht.

Die Hass-Reden, die Shakespeare zunächst für die frühen Historiendramen Henry VI und Richard III erfand und dann für King Lear, Macbeth, Othello, Romeo and Juliet und Hamlet variierte, sind in einer neuen Sprache geschrieben, die ihre Intensität aus aggressiver Drohung, sich verbergendem Ablauf und unmittelbarem Ausdruck des Hasses speist. Wenn man vom ersten Stück, Titus Andronicus, absieht, gründet ihre Ausstrahlung aber nicht in der Massaker-Thematik und im grässlichen Spektakel, die Marlowe und Kyd von Senecas Dramen und Ovids Lyrik übernahmen. Sie gründet in einem ästhetischen Effekt, in dem imaginäre Bildlichkeit und imaginative Rezeption zusammenkommen. Hass-Rede steigert sich, analog zur Liebes-Rede, zur stärksten Expression semantischer Ausdrücklichkeit. Das historische Interesse des elisabethanischen Zuschauers – vor allem im Falle der die Rosenkriege thematisierenden Tragödien Henry VI und Richard III – ist nicht ausschlaggebend für die Faszination, die Shakespeares Sprache auslösen kann.[54]

Wenn man also den ästhetischen Effekt vom historischen oder humanistischen Interesse abtrennt, heißt das nicht, die postmodernistische Distanzierung des Selbst/Ich vom Zentrum zu wiederholen.[55] Damit würde man einem kulturkritischen Kompass folgen, der Shakespeares Hass-Idiom für seine Zwecke ausnützt. Dieser Einwand gilt auch für das humanistische Unternehmen à la Harold Bloom,[56] selbst wenn dieser die Theatralizität von Shakespeares Dramen so angemessen herausgestellt hat, eine Theatralizität, welche die Hass-Rede vor allem beglaubigt und der in der folgenden Auseinandersetzung Argumente hinzugefügt werden.

1

Wie man bei Marlowe und Kyd sehen kann, tritt die Hass-Rede als Monolog oder Dialog auf. Der heftige Dialog im Streitgespräch zwischen Klytämnestra und dem Chor, beispielhaft in Aischylos' Agamemnon, entwickelt sich zur Hass-Rede. Nicht so der heftige Dialog zwischen Antigone und Kreon in Sophokles' Antigone. Im Falle von Aischylos kommt der Hass-Ausdruck durch eine intensive Metaphorik zustande. Im Falle von Sophokles tritt an deren Stelle Argument bzw. Reflexion. Aber man wird gewahr, wie sich in dieser Form der Rede jene andere vorbereitet. In Shakespeares beiden zuerst geschriebenen Königsdramen Henry VI und Richard III ist der Hass-Dialog geradezu gespeichert. Im ersten Akt des dritten Teils von Henry VI hat er unter den Königsdramen seinen wohl intensivsten Ausdruck bekommen. Er zeigt sich im letzten Dialog zwischen der Königin Margaret, Anführerin der Partei der Roten Rose, und dem in Gefangenschaft geratenen Herzog von York, Anführer der Weißen Rose, kurz bevor dieser getötet wird. Yorks unmittelbar absehbarer Tod unter den Händen seiner Gegner bereitet als Ereignis selbst schon den spezifischen Tenor der Reden vor: Die Gefangennahme Yorks entfaltet also eine psychische Grenzsituation. Dieser weiß während des Wortwechsels mit der Königin, dass er nur noch Minuten zu leben hat, nachdem die Königin die Anstalten ihres Verbündeten Lord Clifford, den Verwundeten sofort umzubringen, mit den Worten unterbricht, sie möchte das »Leben des Verräters« noch eine Weile verlängern. Sie nennt »tausend Gründe« dafür, meint aber das Ritual einer besonderen Erniedrigung und eines besonderen psychischen Schmerzes, die sie in Form ihrer nun folgenden Rede York antun wird, bevor man ihn ersticht und der Leiche den Kopf abschlägt, um ihn öffentlich auszustellen.

Zunächst fordert Margaret in ihrer langen Ansprache, der York ebenso lange antwortet, dass man den Herzog auf einen Maulwurfshügel stelle, sozusagen als Ersatz für den Thron, den er vergebens besetzen wollte. Dieser Verhöhnung folgt die zentrale Hass-Rede. Margaret teilt dem Ahnungslosen mit, sein jüngster Sohn, der sechzehnjährige Rutland, sei soeben von Clifford erstochen worden, und reicht ihm das vom Blut seines Sohnes durchtränkte Taschentuch:

Look, York: I stain'd this napkin with the blood

That valiant Clifford, with his rapier's point,

Made issue from the bosom of the boy;

And if thine eyes can water for his death,

I give thee this to dry thy cheeks withal.

Alas poor York! but that I hate thee deadly,

I should lament thy miserable state.

I prithee, grieve, to make me merry, York.

What, hath thy fiery heart so parch'd thine entrails

That not a tear can fall for Rutland's death?

Why art thou patient, man? thou shouldst be mad;

And I, to make thee mad, do mock thee thus.

Stamp, rave, and fret, that I may sing and dance.[57]

Dem von der Königin grausam metaphorisch entfalteten Bericht über die Ermordung von Yorks jüngstem Sohn durch Clifford ist eine kürzere Hass-Rede vorausgegangen: die Szene, in welcher der Junge fleht, Clifford möge ihm das Leben lassen. Clifford hatte dem Flehenden geantwortet, selbst wenn er auch den anderen Söhnen Yorks das Leben nähme, ja, die Gräber ihrer Ahnen ausgrübe, würde dies die Furien in seinem Gemüt nicht besänftigen können; vielmehr würde er in der Hölle leben, bis der letzte York tot sei:

The sight of any of the House of York

Is as a fury to torment my soul:

And till I root out their accursed line

And leave not one alive, I live in hell.[58]

Das Wort »accursed« ist wie das Wort »hell« ein Schlüsselwort der Hass-Rede, das schon in Marlowes und Kyds Dialogen – besonders in The Jew of Malta – immer wieder auftaucht. Das blutige Taschentuch, das Königin Margaret dem Herzog von York reicht, nimmt ein Motiv auf, das Shakespeare in Kyds The Spanish Tragedy vorbereitet fand. Und so auch das Rache-Motiv: Der Herzog von York hatte den Vater von Clifford getötet. Das offenbart dieser dem Knaben, bevor er ihn ersticht. Indem das Rache-Motiv zurücktritt und der Hass sich sozusagen begründungslos ausdrückt – wenngleich er immer eine Ursache hat –, gewinnt seine Sprache an Komplexität und Intensität. Das gilt vor allem für Margarets Hass-Rede. Aber hat sie wirklich so gesprochen? Gewiss, die letzte Phase des Gemetzels zwischen Adligen der Weißen und der Roten Rose um die Königskrone, die Auslöschung fast des gesamten englischen Feudaladels Ende des 15. Jahrhunderts, hatte die Feindschaft zwischen nahe verwandten Familien mit einem mächtigen politischen Motiv aufgeladen. Insofern dient das Wort »Hass« zunächst nur als Codewort für den Machtkampf. Der semantische Ausdruck, den Shakespeare für einige seiner Sprecher erfindet, geht über den historischen Anlass aber hinaus: in der Vertiefung der Sprache zu ausgesucht grausamen Bildern, zur Ausdrucksfinesse außerordentlicher psychischer Zustände. Margaret unterbricht ihre Hohnrede, indem sie York auf seinem Maulwurfshügel eine papierene Krone aufsetzt: als symbolische Antwort auf Yorks Vergehen, die wahre Krone angestrebt zu haben, obwohl deren rechtmäßiger Träger, Heinrich VI., Margarets Gemahl, noch lebt. Und abermals unterbricht sie ihren Satz »die Kron' herunter und das Haupt zugleich«, der ihre Rede abschließen sollte, mit dem höhnischen Einfall, zu »hören«, wie der Todeskandidat »betet«. Yorks Antwort ist aber kein Gebet, sondern eine ebenfalls metaphorisch ausgestattete Beleidigung seiner Widersacherin, einer französischen Prinzessin, als »Wölfin von Frankreich«, als »Tigerherz in Weiberhaut gesteckt«, die zudem von zweideutiger Abkunft sei. Jede Menschlichkeit gehe ihr ab, und der Mörder des Sohnes sei schlimmer als hungrige Kannibalen, unmenschlicher als die Tiger von Hyrcania:

Thou art as opposite to every good

As the Antipode are unto us,

Or as the south to the Septentrion.

O, tigers' heart wrapped in a woman's hide …[59]

Und an den Mörder des Sohnes gerichtet:

That face of his the hungry cannibals

Would not have touch'd, would not have stained with blood;

But you are more inhuman, more inexorable,

O, ten times more, than tigers of Hyrcania.[60]

Danach wird der Herzog von York von Clifford und der Königin erstochen, und der erste Akt schließt mit dem Befehl, dem Erstochenen den Kopf abzuschlagen und diesen an die Tore der Stadt York zu heften:

Off with his head and set it on York gates,

So York may overlook the town of York.[61]

Man mag die Szene als eine angemessene Charakterisierung der Mentalität des Kriegsadels jener Epoche lesen und hören. Aber man hat das, was über rein historisches Wissen hinausgeht, als das eigentlich Entscheidende der Hass-Rede zu verstehen. Ihr grausames Bewusstsein ist so extrem in Ausdruck und Intensität der gewählten Worte, dass sie die Vorstellung des Hörers, Lesers und Zuschauers in eine unbegrenzte Bewegung setzt. Es handelt sich eben um eine literarische, keine historische Charakterisierung. Shakespeare hat diese Literarizität sogar selbstreferentiell kommentiert. Im zweiten Akt von Henry VI lässt er Richard, den zweitjüngsten Sohn des getöteten York und späteren König Richard III., zur Gewalt der gewählten Sprache sagen:

Great Lord of Warwick, if we should recount

Our baleful news, and at each word's deliverance

Stab poniards in our flesh till all were told,

The words would add more anguish than the wounds.[62]

Es ist der noch junge Richard, der so spricht, der aber schon seine blutige Karriere ahnen lässt, geprägt von Reden, die ebenfalls wirken werden wie Dolche im Fleisch seiner Opfer. Reden, wie er hier sagt, die mehr schmerzen als die Taten selbst. Aus Richards Kommentar zum Verlust von Vater und Bruder spricht gleichzeitig Shakespeares Kommentar zur Ästhetik seiner eigenen Sprache: Dass sie Wörter enthalten solle, welche die Wirklichkeit überbieten. Hamlet wird dieses Prinzip einer als Dolch gebrauchten Sprache noch vor dem Gespräch mit der Mutter benennen und schließlich in die Tat umsetzen. Worin aber unterscheiden sich »der Worte Pein« in den Hass-Reden Heinrichs VI