Kein Wille zur Macht - Karl Heinz Bohrer - E-Book

Kein Wille zur Macht E-Book

Karl Heinz Bohrer

0,0

Beschreibung

Provozierende Thesen zur deutschen Mentalität und das Land im europäischen Kräftespiel der letzten 150 Jahre – eine eindringliche Lektion in Sachen geistiger Unabhängigkeit

Karl Heinz Bohrers Wortmeldungen zur Politik zielen stets aufs Ganze. Am Tagesgeschäft interessiert ihn besonders, wie es verleugnete, verdrängte und vergessene Konflikte sichtbar macht. Deutschlands Weigerung, eine angemessene Rolle in der Welt zu spielen, der verklemmte Umgang mit der preußischen Vergangenheit, die Erinnerung an die beiden Weltkriege: An solchen Fragen zeigt sich, dass ein fundierter politischer Standpunkt auf die historische Perspektive, das philosophische Argument und die literarische Erinnerung nicht verzichten kann. In sechs Essays analysiert Bohrer das europäische Kräftespiel der letzten 150 Jahre – eine eindringliche Lektion in Sachen geistiger Unabhängigkeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 196

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Provozierende Thesen zur deutschen Mentalität und das Land im europäischen Kräftespiel der letzten 150 Jahre — eine eindringliche Lektion in Sachen geistiger Unabhängigkeit Karl Heinz Bohrers Wortmeldungen zur Politik zielen stets aufs Ganze. Am Tagesgeschäft interessiert ihn besonders, wie es verleugnete, verdrängte und vergessene Konflikte sichtbar macht. Deutschlands Weigerung, eine angemessene Rolle in der Welt zu spielen, der verklemmte Umgang mit der preußischen Vergangenheit, die Erinnerung an die beiden Weltkriege: An solchen Fragen zeigt sich, dass ein fundierter politischer Standpunkt auf die historische Perspektive, das philosophische Argument und die literarische Erinnerung nicht verzichten kann. In sechs Essays analysiert Bohrer das europäische Kräftespiel der letzten 150 Jahre — eine eindringliche Lektion in Sachen geistiger Unabhängigkeit.

Karl Heinz Bohrer

Kein Wille zur Macht

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Kein Wille zur Macht

Erzählter und politischer Hass

Poetische Erinnerung und der Krieg

Das verschwundene Paradigma

Der Mut zur Wahrheit: Hamlet

Stil treibt Gesinnung aus: Heinrich Heines politische Prosa

Nachweise

Anmerkungen

Kein Wille zur Macht

Als vor Jahren eine Gruppe englischer Seeleute von der iranischen Marine in national unbestimmten Gewässern aufgebracht wurde, legten diese ein bis dahin in der Royal Navy nicht gekanntes Verhalten an den Tag: Zum einen leisteten sie keinen Widerstand gegen die Überzahl der Angreifer. Zum anderen kooperierten sie nicht nur offensichtlich ohne Bedenken mit dem sie propagandistisch instrumentalisierenden iranischen Militär, sondern einige verkauften ihre Geschichte nach Haftentlassung unbekümmert an englische Medien. Nun wäre Widerstand bei der Gefangennahme gewiss selbstmörderisch gewesen. Die eigentliche Pointe aber war, dass das Geschäft mit den Zeitungen und dem Fernsehen vom britischen Verteidigungsministerium und der Royal Navy zunächst akzeptiert worden war und erst nach dem Schaden kritisiert wurde. Abgesehen von den tränenreichen Ergüssen eines jungen Mariners in Londoner Massenblättern war es vor allem der Mangel eines offiziellen Verhaltenscodex der verantwortlichen Behörden, weshalb einige Kommentatoren das Gefühl einer von Celebritykult und Opferkult korrumpierten Gesellschaft beschlich.

Anstelle würdevollen Schweigens über Gefangennahme und Gefangenschaft — was schon aus Gründen der militärischen Geheimhaltung geboten gewesen wäre — also ausuferndes privates Geschwätz in der Öffentlichkeit. Die von traditioneller politischer Ethik bestimmte Perspektive setzend, schrieb der konservative Spectator: »Die Eröffnung des jungen Seemanns, er habe sich nachts in den Schlaf geweint, zeigt, dass im verheulten Tagebuch Britanniens Würde selten geworden ist. Wir haben vergessen, dass es Dinge gibt, die am besten privat bleiben und nicht mit anderen geteilt werden. Diese kitschigen Bekenntnisse sprechen klar von Schwäche und ermutigen unsere Feinde in ihrem Glauben, dass wir eine zu dekadente Gesellschaft sind, um uns selbst zu verteidigen.«

Man kann nicht genau sagen, wie viele Briten dieses Urteil heute teilen. Mit Sicherheit gehören sie zu einer erzogenen Minderheit. Die Erkenntnis, dass die zutage getretene Würdelosigkeit das Symptom tiefer sozialer und psychologischer Veränderungen der letzten zehn Jahre ist, erstmals offensichtlich geworden bei der Hysterie um den Tod Prinzessin Dianas, verweist zumindest auf eine Gewissheit: Traditionelle Werte der englischen Erziehung — also Mut, Selbstbeherrschung und Takt — sind von einer Welle vulgärer Verhaltensweisen weggeschwemmt worden, wofür die britischen Medien zweifellos Verantwortung tragen. Das unsägliche Fernsehprogramm namens Big Brother, in dem das Prinzip der Realityshow bis zum Exzess betrieben wurde, kann als Allegorie des derzeitigen britischen Gesellschaftszustandes gelten. Mit anderen Worten: Die Medien sind selbst wiederum nur Ausdruck einer neuen Unterschichtenmentalität, die nichts mehr zu tun hat mit der klassischen Working class, denn diese ist mitsamt ihren würdevollen Charakteristika verschwunden.

Mit der Nachzeichnung einer aktuellen englischen Gesellschaftssilhouette tauchte der Begriff »Dekadenz« wie selbstverständlich auf. Er wurde durch zwei weitere Worte erläutert, die ihm seine aktuelle Virulenz geben: Kult der medialen Berühmtheit und Kult des sozialen Opfers. Als Fundament dieser Symptome eines immer mehr in Schwange kommenden kulturellen und gesellschaftlichen Prozesses wird aber etwas noch Wichtigeres erkennbar: dass die öffentliche und die private Sphäre kaum mehr zu unterscheiden sind. Anders ausgedrückt: die Schrumpfung des Öffentlichen, die Überflutung des Öffentlichen mit dem Privaten. Man kann für »öffentlich« auch »politische Norm«, »gesellschaftliche Ethik« und nicht zuletzt »beispielgebende Elite« setzen, und man bekommt die Ansicht einer Situation, die Richard Sennett vor zwanzig Jahren als Tyrannei des Privaten am Beispiel moderner Architektur gebrandmarkt hat.

In England finde stets der ursprüngliche Prozess statt, »es ist der Demiurg des bürgerlichen Kosmos«, glaubte der Emigrant Karl Marx Mitte des 19. Jahrhunderts in London beobachten zu können. In der Tat haben die Engländer als Erste ihre katholische Kirche um das traditionelle Oberhaupt gebracht, als Erste ihren König geköpft und als Erste die agrarische Gesellschaft in eine industrielle verwandelt. Man kann das alles auch Schritte in einem permanenten Prozess der Säkularisation nennen, der bis dahin geltende Werte vernichtet. Auch die derzeitige Vulgarisierung der englischen Öffentlichkeit, seien es ihre Medien, ihre Touristen oder ihre Universitäten, ließe sich als weiterer Schritt dieser Säkularisation verstehen: immer weiter weg vom lieben Gott, immer mehr in die Hölle der Banalität.

Die Differenz zu den früheren Säkularisationen ist indes, dass nunmehr, wie das Beispiel unseres Introitus zeigt, die Auflösung vornehmer Verhaltensformen zugunsten vulgärer nicht mehr Ausdruck von Kraft, sondern von Schwäche ist: Stationen eines kulturellen und politischen Niedergangs. Das zeigt sich buchstäblich auch phänomenologisch. Das öffentliche England ist nicht bloß dümmer, sondern auch hässlicher geworden. An die Stelle des Gentleman trat vor dreißig Jahren der Hooligan. Inzwischen ist es der fett gewordene Wochenendsäufer und das dumme Spice Girl beziehungsweise die WAGs, wie man die shoppenden Girls der englischen Fußballstars nennt.

Hat Marx’ Urteil noch immer Gültigkeit? Lassen sich die englischen Symptome von Dekadenz und der Begriff davon auf Kontinentaleuropa, vor allem auf Deutschland, übertragen? Das britische Desaster — auf See angesichts der skrupellosen Iraner und zu Lande angesichts der hemmungslosen englischen Journalisten — war natürlich besonders sprechend, weil hier ein klassisches Kriterium von Souveränität beziehungsweise Souveränitätsverlust, von Macht und Machtverlust zum Ausdruck kam: das militärische. Im Falle der einstigen Seemacht England war die Peinlichkeit von geradezu symbolischer Signifikanz, aber es war auch nur ein Zwischenfall, der anderswo nicht so leicht wiederholt werden wird.

Auf Deutschland gemünzt, ist dieses Kriterium von Dekadenz, wenn es denn noch immer wirklich eines ist, indes sprechender als für England, weil hier historische Ursachen zutage treten, die schwerer wiegen als die englischen. Es bedarf keiner langen Darlegung oder Beweisführung, dass aufgrund der nationalsozialistischen Präokkupation mit dem Krieg es in Deutschland dazu gekommen ist, dass das Land im Ernstfall — den man praktisch und semantisch seit Langem tabuisiert hat — wahrscheinlich weder verteidigungsfähig noch verteidigungsbereit ist. Die Kapazität der deutschen Luftwaffe, die schon während des Kosovokonflikts nur zu Aufklärungsflügen ausreichte, ist inzwischen in ihren technischen Möglichkeiten so zurückgeblieben, dass sie weder als Angriffswaffe noch zur Verteidigung irgendetwas taugt. Der Wille der deutschen Bevölkerungsmehrheit, befragt, ob sie das Land im Falle einer feindlichen Invasion zu verteidigen bereit sei, ist so dubios, dass man den vor einigen Jahren bekannt gewordenen Satz eines namhaften Universitätsphilosophen — »Lieber rot als tot« — inzwischen als eine Regel zu nehmen hat: lieber die Besetzung des Landes hinnehmen, als bei seiner Verteidigung sterben.

Man hat bei dieser Variante einer objektiven militärischen Dekadenz zu verweilen. Zunächst ist daran zu erinnern, dass seit jeher im Willen zur militärischen Selbstbehauptung das Definitionsmerkmal nationaler Stärke gesehen worden ist. Karthago, so geht die Rede, ist letztlich untergegangen, weil seine Bürger nicht zur Selbstverteidigung bereit waren, sondern im Unterschied zu Rom von Söldnerheeren abhingen. Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht Karthago, obwohl der Westen Ähnliches mit Deutschland vorhatte. Aber es erfüllte eine entscheidende karthagische Bedingung: Es verzichtete a priori für sich auf jede Gewaltandrohung zur Durchsetzung seiner nationalen Interessen. Die berühmte Formel hierfür lautete: »Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.« Schon dieser Satz — hierzulande mit sentimentalem Gusto permanent wiederholt, von amerikanischen und englischen Politikern aber mit gemischten Gefühlen aufgenommen — enthüllte seine spezifische Substanzlosigkeit darin, dass er sich wie eines Hasen Versicherung gegenüber dem Löwen anhörte: »Ich will dich auch nie wieder beißen.«

Mit anderen Worten: Es war angesichts der geopolitischen Lage in Europa ein überflüssiger, ein leerer Satz, der ebendarin aber eine politische Botschaft enthielt. Dieser Satz hing noch immer mit einer Art von »Selbstverleugnung« zusammen, ein Wort, das Jean-Paul Sartre im deutschen Vorwort zu seinem Drama Die Fliegen benutzte, um eine passive deutsche Nachkriegsmentalität kritisch zu charakterisieren.

Die fortwirkende Gültigkeit dieses Problems zeigte sich im Afghanistan-Dilemma der deutschen Außen- und Militärpolitik. Die dorthin geschickten deutschen Soldaten traten im relativ sicheren Norden des Landes im Unterschied zu allen anderen Nato-Einheiten als uniformierte Sozialhelfer auf. Trotz mehrfach diskret geäußertem Wunsch, für den Kampf gegen die Taliban im Süden des Landes Einheiten bereitzustellen, bestand und besteht die deutsche Politik darauf, nicht in Kämpfe verwickelt zu werden. Deutsche Soldaten kämpfen nicht, sondern helfen. Durchaus zu Recht: Denn es handelt sich nicht um die sogenannte Feigheit vor dem Feinde. Vielmehr darum, dass bei den ersten wirklich im Kampf gefallenen deutschen Soldaten jede deutsche Regierung angesichts der Mehrheitsverhältnisse in eine Krise geraten würde. Sozialdemokraten und Grüne und auch viele Angehörige der CDU — ganz zu schweigen von der Bevölkerungsmehrheit — würden tote Soldaten nicht akzeptieren. In welcher Weise die politische Führung auf einen solchen Fall reagierte, panisch oder überlegt, darüber ist nur zu spekulieren. Es genügt festzuhalten, dass die Konsequenz aus den beiden angezettelten und verlorenen Weltkriegen noch immer die gleiche ist: ein kaum verhüllter radikaler Pazifismus der Bevölkerungsmehrheit.

Sein Motiv, eben die hinter uns liegenden Toten des 20. Jahrhunderts, enthüllt aber auch seinen Rationalitätsanspruch: Dieser ist hohl. Denn der Modus, es unbedingt und absolut nicht mehr zu Toten in einem Krieg kommen zu lassen, zeigt eine andere Konsequenz: an bestimmten, notwendig aggressiven Formen der Politik überhaupt nicht mehr teilzunehmen, wenn möglich sogar aus der Politik ganz auszutreten, wie es zuerst unter dem Schild der Besatzungsmächte, dann unter dem Schild einer von den USA beherrschten Nato dreißig Jahre lang praktiziert und zum Habitus deutschen Politikverständnisses geworden ist. Dass die Entsendung deutschen Militärs nur unter der Bedingung von Humanhilfe, nicht aber unter dem Aspekt von Machtfragen (zum Beispiel der erneuten Macht der Taliban) entschieden und öffentlich überhaupt nicht diskutiert wurde, zeigt die Differenz zu Großbritannien, wo das militärische und politische Engagement in Afghanistan einen ganz anderen Stellenwert in der öffentlichen, durchaus kritischen Debatte hatte. Der Grund hierfür — nämlich die historisch lange Anwesenheit Großbritanniens im Nahen und Mittleren Osten — erklärt, aber entschuldigt nicht die Abwesenheit eines politischen Interesses in Deutschland. Dieses Austrittssyndrom — nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch von jeweiligen Mehrheiten in den Parteien, häufig dadurch verschleiert, dass die historische Überholtheit militärischen Engagements behauptet wird — kann die Frage, ob auch die Bundesrepublik die Anzeichen einer Reduktion des Öffentlichen zum Privaten zeigt, genauer beantworten helfen.

Bekanntlich hat Friedrich Nietzsche im Kontext seiner Kulturkritik den Begriff der »décadence« neu zu definieren versucht. Er benutzt dabei seine später unter Verdacht gestellte Formel »Wille zur Macht«. Diesen nicht zu besitzen, darin sah er das Kennzeichen von Dekadenz, psychologisch und physiologisch. Was daran besonders Skandal machte, war der zynisch klingende Bezug auf die »Schwachen«, sei es in Gestalt der »Intellektuellen« oder der »Theologen«. Der Begriff war also ein Kampfwort in Nietzsches Umwertung der jüdisch-christlichen Moral, deren Ethik es zu bekämpfen gelte, im Namen einer neuen dionysischen Ethik. Nietzsches Fassung des Begriffs gibt insofern keine Antwort auf unsere Frage, was Dekadenz heute bedeuten könnte.

Trotzdem trifft er den Nerv des Problems, wenn man die Formel von ihrer metaphysischen und ideologischen Aura befreit und sie rein analytisch anwendet. Man kann das unter Zuhilfenahme einer Erläuterung von Nietzsche selbst tun: »›Deutschland, Deutschland über Alles‹ — ist vielleicht die blödsinnigste Parole, die je gegeben worden ist. Warum überhaupt Deutschland — frage ich: wenn es nicht Etwas will, vertritt, darstellt, was mehr Werth hat, als irgendeine andere bisherige Macht vertritt! An sich nur ein großer Staat mehr, eine Albernheit mehr in der Welt.«

Während Nietzsches klassische Definition der Dekadenz in Jenseits von Gut und Böse den Machtbegriff als physische Gewalt gegenüber anderen, als Aggression gegenüber anderen Nationen versteht — was zweifelsohne die Aggressionsideologie deutscher Nationalisten zwischen 1914 und 1939 angeregt hat —, ist hier ausschließlich Macht im Geistigen gemeint. Diese war durch Deutschlands Sieg über Frankreich, so Nietzsche, eben nicht dargestellt worden, im Gegenteil: Kriegerische Macht und intellektuelle Kapazität sind nach diesem Diktum zweierlei. Es kommt hinzu, dass der Begriff »Macht« von Beginn an durch ein deutsches Missverständnis gekennzeichnet war: Macht wurde vom Recht abgetrennt. Als ob Machtausübung die Annullierung von Recht bedeute! Die Militärmacht Rom, an die Nietzsche vor allem gedacht hatte, war gleichzeitig eine, die das Recht erfand und vertrat wie keine andere Macht zuvor.

Dieses deutsche Missverständnis verdankt sich einerseits der langen militärischen und politischen Ohnmacht der regional strukturierten Länder des alten Reichs des 17. und 18. Jahrhunderts, die deshalb jede auf sie ausgeübte militärische Gewalt fremder Mächte (zum Beispiel die Napoleons) als eine rechtlose empfanden. Andererseits — selbst zur Macht gekommen, aber nicht an Macht gewöhnt — neigte man dazu, militärische Macht zuweilen durch plumpen Vertragsbruch auszuüben wie 1914 in Belgien. Die um 1900 in Deutschland aufgekommene antibritische Redewendung »Sie reden von Gott, aber meinen Kattun« offenbart diese Tendenz, Macht und Recht sich nur getrennt denken zu können, einschlägig. Anders ausgedrückt: Macht ist hierzulande apriorisch mit moralischem Misskredit belastet. Das ist eine psychologisch naive wie historisch regressive Ansicht, die noch immer nicht ganz verschwunden ist in deutschen Urteilen über angelsächsisches Politik- und Machtverständnis.

Was an Nietzsches Sätzen ins Auge sticht, ist, obwohl kein physischer Begriff von Macht, trotzdem noch immer provokativ für den derzeitigen Zustand der deutschen Mentalität: das Eminent-sein-Wollen im Geist, das Eminent-sein-Wollen im Geistigen! Dass Nietzsche dabei verächtlich von der heraufkommenden Wilhelminischen Ära sprach, der er geistige Originalität nachdrücklich absprach, wird den heutigen Pazifisten nicht beruhigen. Das Prinzip von Eminenz, die per definitionem konkurriert, die agonal sein will, die prinzipiell nicht ohne Aggression auskommt, genügt völlig, um auf die Schwarze Liste der sozialen Tabus gesetzt zu werden. Jedenfalls bis gestern. Ob sich das heute geändert hat, lässt sich am ehestens beurteilen, wenn man auf den Alltag sozialer Praxis schaut. Und was sich da zeigt, so verschieden es inhaltlich auch ist, lässt sich durchweg mit dem Defizit charakterisieren: etwas zu wollen, etwas zu vertreten, etwas darzustellen. Es geht also nicht mehr und nicht mehr vornehmlich um Pazifismus im Kriegsfall als Problem. Es geht um charakteristische Mentalitäten im Generellen. Was also erscheint da?

Es erscheint ein Mann in einer Art Schlafanzug in einer kleinen ostdeutschen Stadt, langsam in Pantoffeln die Straße hinabgehend zum nächsten Laden, um seine Milch zu holen. Er hat keine Scham, seinen unaufgeräumten Anblick den Nachbarn darzubieten. Ganz im Gegenteil, indem er sich so zeigt, will er der Mitwelt bedeuten: Es gibt gar nichts anderes mehr als mich in meinem Schlafanzug. Auch ihr seid Schlafanzüge. Lasst uns zusammen schlafen gehen.

Es erscheint ein junger Student in der Halle einer westdeutschen Universität. Er hat es nicht eilig, in eine Vorlesung oder ein Seminar zu kommen. Er ist konzentriert auf die Nahrungsangebote auf den Tischen, an denen man kaum vorbeikommt, will man die Buchhandlung erreichen. Mit vollem Mund erreicht er schließlich eine überfüllte Vorlesung, deren Programm inzwischen auf ihn und seinesgleichen eingestellt ist: nämlich nach drei Jahren in ein unqualifiziertes Verdienstleben entlassen zu werden.

Es erscheint eine unglückliche Person im Nachmittagsfernsehen, die ihrem Befrager erzählt, wie schlecht es ihr geht. Schlecht im Bett, schlecht im Büro. Manchmal ist sie eingerahmt von solchen, denen es noch viel schlechter geht. Entweder sind sie verunstaltet oder Opfer von jahrelangen sexuellen Misshandlungen oder ganz einfach todkrank. Lasst uns unser Elend wenigstens jedem erzählen dürfen!

Es erscheint der Volksschüler auf dem Weg nach Hause. Er hat Angst. Ihm ist gerade von einem kleinen Türkenjungen das Geld abgenommen worden, das ihm die Mutter zum Einkaufen mitgab. Nun hat er Angst, dass sich das bald wiederholen könnte. Ob der Türkenjunge zu stark für ihn war und er den Raub nicht abwehren konnte, weiß er nicht, denn er hat es überhaupt nicht versucht. Er weiß gar nicht, wie er das hätte anstellen sollen, selbst wenn er stärker gewesen wäre als jener.

Es erscheint eine junge Frau von walrossartiger Dimension, umgeben von ihrer Nachkommenschaft, drei Jungwalrössern wahrscheinlich unterschiedlichen Geschlechts, die frech und ängstlich zugleich als private Monstrositätenschau sich durch die Fußgängerzone bewegt, mit Essbarem und Trinkbarem wohlversehen in jeder Hand, auf dass die Gefahr eines auch nur kurzfristigen Stockens der Nahrungsaufnahme im Keim erstickt werden kann.

Die fünf Bilder sind nicht erfunden, und dennoch sind sie gleichzeitig parabolisch. Sie lassen Mitglieder einer Unterschicht — auch der Student gehört inzwischen dazu — sichtbar werden, die den Verlust des Willens zur Selbstdarstellung geradezu physisch inkorporieren. Es hilft nicht viel zu sagen, das sei die neue Unterklasse, die schuldlos und schutzlos ins soziale Elend geraten sei. Die Beispiele deuten nicht mit dem Finger auf dieses Problem. Das Sich-gehen-Lassen, die öffentliche Formlosigkeit breitet sich inzwischen überall aus, selbst in sozial höheren Quartieren. Das, was daran neu ist, hat zwei ins Auge fallende Seiten. Erstens: Der Verlust an Willen wird nicht konterkariert durch das Gegenbeispiel einer mächtigen Willenspräsenz an anderer Stelle. Es gibt kein institutionelles oder gesellschaftliches Vorbild mehr, das bei dem Verlust des Willens dem Willenlosen wieder aufhelfen würde. Die sogenannte Funktionselite, die heute die Geschäfte führt, tut das ohne irgendeinen kulturellen, moralischen oder geistigen Anspruch. Auch im übrigen Europa hat die traditionelle Oberschicht nicht nur ihren Einfluss verloren, sondern ist auch physisch im Verschwinden.

In Deutschland wirkt der Kahlschlag radikaler, was angesichts des politischen Versagens dieser Eliten im vorigen Jahrhundert nicht wundert. Dementsprechend sind die politischen und kulturellen Institutionen: Sie erzeugen weder in Rede noch im weltlichen oder religiösen Ritual, noch in ihren öffentlichen Bauten irgendein Halteseil, an dem sich die Willenlosen festhalten und Mut schöpfen könnten. Es ist hier absehbar, welche verheerenden Folgen der Triumphalismus der Nationalsozialisten auf die Nachkriegsmentalität gehabt hat. Allerdings gibt es bei Sigmund Freud die Bemerkung, dass nur in der deutschen Sprache mit dem Wort »Ehrgeiz« die Kategorie der »Ehre« negativ gepolt sei. Das ließe sich mit Norbert Elias’ Beobachtung verbinden, wonach in Deutschland der aristokratische Tugendkanon keine Nachwirkung gehabt hat. Die derzeitige Symptomatik hätte dann noch ältere Wurzeln.

Es gibt ein symbolisch vielsprechendes soziales Panorama für alle diese Formen des Verschwindens des sonoren Öffentlichen im vulgär Privaten: die Erscheinungsform und Umfunktionierung der deutschen Bahnhöfe. Nicht alle, aber die meisten verstecken ihre eigentliche Funktion — eben die Bereitstellung von ein- und ausfahrenden Bahnen — architektonisch und ökonomisch hinter einer breiten Kulisse anderer Angebote, seien es kulinarische oder modische. Vor die Ansichten aus Stein, Glas und Eisen wurden Kaufhöhlen gerückt. Die Mehrheit der sich dort Aufhaltenden sind gar keine Reisenden. Sie haben kein Reiseziel. Ihr Ziel sind diverse Imbisssituationen, wo Wurst-, Kuchen-, Fisch- oder Bierangebote der Bewegung der wirklich Reisenden im Wege stehen. Selbst der neue Hauptbahnhof Berlins kennt keine angemessenen Wartesäle, sondern McDonald’s und verwandte Etablissements als Aufenthalt — für wen?

Diese Substitution des öffentlichen Verkehrsorts durch Einkaufs- und Essorte — die ökonomischen Gründe hierfür seien beiseitegelassen — hat nicht nur Konsequenzen für den Stil des öffentlichen Gebäudes und ist in ihrer Hässlichkeit einmalig in Europa (man vergleiche nordrhein-westfälische Hauptbahnhöfe, sie sind die schlimmsten, mit dem Pariser Gare du Nord oder Gare Saint-Lazare oder mit Londons »St. Pancras« oder selbst »Victoria«). Es handelt sich um die unbewusst-bewusste Zerstörung aller funktionalen Objektivität, an der die Subjektivität des privaten Einzelnen sich stoßen könnte. Der beschriebene neue Phänotyp des nur noch Aufnehmenden und Ausscheidenden hat hier seine adäquate Behausung gefunden. Das ursprüngliche Motiv, das bei solcher Privatisierung eine Rolle gespielt haben mag, ist auch vielsprechend: Man wollte offensichtlich dem neuen Verkehrsteilnehmer den allzu frühen Blick auf die ein- und ausfahrenden Züge, ihren Lärm, ihre irgendwie noch immer gefährlich anmutende Dynamik ersparen. Vielleicht gab es sogar das unterbewusste Tabu, die Assoziation der Eisenbahn als militärisches Transportmittel. Die architektonische Schule dieser Manier gehörte zum selben Typus, der die Fußgängerzone erfand: die wilde Welt reduziert auf eine niedliche Innenwelt ohne Herausforderung. Ihre Verteidigung lautet: Das ist unsere private, unsere pazifizierte Eisenbahn. Deshalb wirken alte Filme, in denen Bahnhöfe und ab- und einfahrende Eisenbahnen eine Rolle spielen — Casablanca, La bête humaine, The Train —, heute sogar wie Gebärden des Heroischen.

Zweitens: Brechts Sinnspruch »Die im Dunkeln sieht man nicht« hat seine Wahrheit verloren. Gerade die im Dunkeln stehen heute im Scheinwerferlicht einer privatisierten Öffentlichkeit. Es gibt keine private Miserabilität, keine private Obszönität, keine private Hässlichkeit, die qua Massenmedien nicht zum Stand des öffentlichen Bewusstseins gemacht würde und dort inzwischen einschlägige normative Wirkung zeitigt. Der Anteil der privaten Katastrophen nicht nur in den kommerziellen Kanälen, sondern auch in den politischen Nachrichten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gehört in den vom Opferkult zur Celebrityfeier changierenden Diskurs. Europäische Politiker entschuldigen sich für die europäische Kolonialpolitik, obwohl eine solche Entschuldigung gedanklichen Nonsens darstellt. Denn unabhängig davon, wie berechtigt ein negatives Urteil über Britisch-Indien oder Französisch-Algerien ist, lässt sich die Kolonialethik des Viktorianischen Zeitalters nicht durch die Ethik unserer Epoche einholen, überholen, revidieren. Nur wenn das möglich wäre, wäre die Entschuldigung sinnvoll, hätte sie einen moralischen Kern. Auch die Entschuldigungslitanei gehört zur Inversion von Politischem und Privatem.

Wenn man die angeführten Beispiele zusammenfasst, wird ein für die Bundesrepublik charakteristisches Merkmal erkennbar: Nichts zu wollen heißt hierzulande nunmehr vor allem eines: Reduktion von Politik auf Sozialhilfe. Sozialpolitik wäre schon zu viel gesagt. Die Bismarck’sche Sozialpolitik, Geburtshelferin der heutigen, diente ja dem Zweck, die Arbeiter zu befrieden, um dafür umso mehr den Willen Bismarck’scher Politik durchsetzen zu können. Es war gewissermaßen die Zweiteilung zwischen denen, die nach dem Wort von Denis de Rougemont fragen »Was wird uns geschehen?«, und denen, die fragen »Was können wir tun?«. Die Frage nach dem, was uns geschehen wird, ist die Frage der Dekadenz, zu der Bismarck die Arbeiterschaft überreden wollte, während er selbst den Willen zur Macht exerzierte. Gehen wir taktvollerweise nicht dem Verdacht nach, inwiefern die Sozialpolitik der dreißiger und vierziger Jahre zum Modell für die heutige geworden ist. Die vorangegangene Amoral jedenfalls sollte die aktuellen Führer der Sozialdemokratie eigentlich abschrecken, ihren Willen zur Sozialhilfe so ganz ohne sonstige Ambitionen zu verklären.

Läuft die Beschreibung einer kulturell und politisch schlaffen Bescheidenheit — bescheiden selbst beim utopischen Projekt Europa — nicht auf eine Skizze dessen hinaus, was man in der Soziologie »postheroische Gesellschaft« nennt? Und diese wiederum folgte nur dem längst diagnostizierten Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen, wie sie Panajotis Kondylis beschrieben hat? In Deutschland wäre dann beides nur am weitesten fortgeschritten, aber überall sonst auch in voller Entwicklung, wie das zu Eingang behandelte britische Beispiel illustrierte. Damit wäre zunächst nur erkannt, dass es sich um einen notwendig gewordenen Prozess handelt. Notwendigkeit aber schließt Dekadenz nicht aus, Dekadenz in all ihren Formen eines Mangels an Willen zur Macht: kulturell, moralisch und politisch.

Es ist Zeit geworden, den Begriff Nietzsches entdämonisiert zu verstehen. Dabei könnte ein Gedanke Niklas Luhmanns weiterhelfen, sofern man nicht auch diesen dem Reich des Bösen, also Carl Schmitts Unterscheidung von Freund und Feind, zuordnet: In dem nachgelassenen Werk Die Politik der Gesellschaft analysiert Luhmann Macht als das Medium der Politik, Macht als »ein besonders symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium«, woran auch nichts ändert, dass »speziell politische Macht«, wie Luhmann sarkastisch zugibt, »einen schlechten Ruf« hat (und besonders in Deutschland). Im Unterschied zur Wirtschaft, deren Medium das Geld ist und die mit positiven Sanktionen arbeitet, stützt sich die Macht als Medium der Politik in der Regel auf negative Sanktionen — letztendlich auf physische Gewalt. Was das in einer Gewalt perhorreszierenden Gesellschaft wie der unseren bedeutet, hat Luhmann, sozusagen im Blick auf Heiligendamm, vorhergesagt: »Die Polizei darf erscheinen, aber sie sollte nicht genötigt sein zuzupacken.«

Es wäre an der Zeit, die belasteten nietzscheanischen Begriffe Willen und Macht mit Luhmann systemtheoretisch abzukühlen, denn wer auf Macht verzichtet, verzichtet auf Politik. Das aber wäre eine Form der Dekadenz, die weit über den Verlust von Größenfantasien hinausginge (solchem Reifeprozess könnte man vielleicht sogar applaudieren). »Kein Wille zur Macht« würde dann nichts anderes bedeuten, als den Willen zur Politik aufzugeben. Doch gibt Luhmann die Konsequenzen zu bedenken: »Wenn Intellektuelle einen eigenen Begriff von Politik bevorzugen, mögen sie das tun; aber sie verzichten damit auf einen Zugang zu den Operationen, die in der heutigen Gesellschaft als politisches System ausdifferenziert sind.«