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Karl Heinz Bohrer

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Beschreibung

Karl Heinz Bohrer gilt als einer der streitbarsten deutschen Intellektuellen. Als Leiter des Literaturteils der FAZ im eigenen Haus umstritten, als Herausgeber des Merkur für kühne Thematik berüchtigt, als Hochschullehrer eine Gegenfigur der Linken, als Wissenschaftler mit seiner zentralen Theorie der Plötzlichkeit eine Herausforderung für alle, die es gewohnt sind, sich geschichtsphilosophische Sinnhorizonte zurechtzubiegen.

Die unbeirrbare Erwartung, dass die banale Gegenwart umschlägt in das phantastische Jetzt – das ist Karl Heinz Bohrers Motor in seiner autobiographischen Geschichte. Sie spielt in europäischen Metropolen wie London und Paris, an deutschen und amerikanischen Universitäten, auf essayistischem wie auf wissenschaftlichem Terrain. Und immer wieder auf der Bühne der Beziehungen: zu Frauen, Freunden, Weggefährten und Gegnern. Intellektuelle Abenteuer wechseln mit erotischen Eskapaden. Dabei erzählt er konsequent aus der Perspektive des aktuellen Erlebens: aus dem Jetzt.

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Seitenzahl: 726

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»Mein Jetzt, das sind keine Ideen, keine bildungsgeschichtlich vermittelten Gehalte, sondern spirituell vertiefte Affekte. Es ist das Glück im Erfahren von Differenz, in den Augenblicken des ganz Fremden.«

Die unbeirrbare Erwartung, dass die banale Gegenwart umschlägt in das phantastische Jetzt – das ist Karl Heinz Bohrers Motor in seiner autobiographischen Geschichte. Über mehr als fünf Jahrzehnte hinweg und in neun Kapiteln spielt diese Geschichte auf verschiedenen Schauplätzen: in europäischen Metropolen wie London und Paris, an deutschen und amerikanischen Universitäten, auf essayistischem wie auf wissenschaftlichem Terrain. Und immer wieder auf der Bühne der Beziehungen: zu Frauen, Freunden, Weggefährten und Gegnern, als intellektuelles Abenteuer so gut wie als erotische Empirie.

Konsequent erzählt Bohrer seine Geschichte nicht aus der Sicht des allwissend Zurückblickenden, sondern aus der jeweils zeitlich gebundenen Perspektive des aktuellen Erlebens: Erst daraus ergibt sich die eigentliche Originalität seiner Anschauungen, Bilder und Urteile auf ihrem Kollisionskurs mit jenen Systemen, bei denen Gegenwart vor lauter Utopismus verblasst. Auf deren Provokation antwortet Bohrer mit der Faszination durch die schiere Erscheinung der Welt: sei sie nun gut oder böse, hässlich oder schön.

Karl Heinz Bohrer, geboren 1932 in Köln, Literaturkritiker, Herausgeber, Wissenschaftler, Verfasser von Werken um die zentrale Idee des Momentanismus, der »Plötzlichkeit«. Langjährige Aufenthalte in Frankreich und England, wo er lebt, als bewusste Erfahrung der »Fremde«. Hochschullehrer in Deutschland, Frankreich und den USA

Karl Heinz Bohrer

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017.

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Inhalt

I

1 Die Blätter hatten eine andere Farbe

2 Alles wurde fremd

3 Der tote Esel am Strand

4 Überall eine Bühne

II

5 Auch die Guillotine war plötzlich

6 Preußischblau

7 Der verschwundene Augenblick

8 Die Sonne, die Steine, die Götter

III

9 Und jetzt?

1Die Blätter hatten eine andere Farbe

In einer der großen Mittwochskonferenzen meiner Zeitung beugten sich die Chefs der einzelnen Ressorts beunruhigt über die neuesten Nachrichten aus der Metropole im Osten, die noch immer halb von den Sowjets beziehungsweise ihren deutschen Genossen regiert wurde. Aber nicht die Kommunisten, sondern die Studenten des westlichen Teils der Stadt beunruhigten die Chefs. Diese seien, so die neueste Information des Korrespondenten der Zeitung, nicht nur auf eine radikale Reform ihrer Universität aus, sondern auch auf eine soziale und politische Veränderung der ganzen Gesellschaft der westlichen Republik. Das, was die älteren Herren vorn an dem langen Tisch, an dem sie immer allein saßen, über die Studentenrevolte sagten, löste in mir eine Welle von Genugtuung aus. Das Wort »Revolution« gefiel mir und vor allem, dass die Herren so besorgt waren, obwohl ich ihre Gegnerschaft gegenüber der marxistischen Lehre teilte. Es war das schönste Gefühl, das ich mir vorstellen konnte: Dass etwas Ungewöhnliches sich anbahnen, stattfinden könnte und diese Herren erschrecken würde. Es war ein plötzlicher Impuls, der mich von meinem Stuhl in der Raummitte aufstehen und an die vorn sitzende Runde gewandt sagen ließ: Die Berichterstattung aus der Metropole sei sehr ungenau. Sie sei nur moralisch und unterstelle, es handele sich bei diesen Studenten um Straftäter, ja Kriminelle. Es gehe aber darum, zu wissen, was sie wirklich dächten. Man müsse, so fügte ich fürsorglich hinzu, seinen Gegner doch kennen! Dann setzte ich mich wieder hin und staunte darüber, dass zunächst keine Reaktion erfolgte. Das hatte, wie die neben mir sitzende, schon viel länger der Redaktion angehörende, immer aufsässige Filmkritikerin mir anerkennend zuflüsterte, seinen Grund darin, dass jemand aus der Redaktion überhaupt etwas Grundsätzliches gesagt hatte. Das sei hier nicht der Brauch, schon gar nicht, dass die Bemerkung von einem Neuling komme. So etwas könne nur von einem am langen Tisch oben gesagt werden. Obwohl sie sich sicher war, dass das, was ich gesagt hatte, keiner von denen da oben gesagt hätte.

Ich war noch nicht lange zurück in meinem Redaktionszimmer, da trat der Herausgeber des Feuilletons mit einem glücklichen Lächeln, das seine gewaltigen Zahnreihen entblößte, durch die offen gebliebene Tür herein, die Hände ausbreitend, als ob er mich gleich umarmen und an sich ziehen wollte, und sagte: »Sie fahren für die Zeitung dorthin! Sie berichten über die revoltierenden Studenten!« Seinem Kollegen, dem ältesten Herausgeber, der seit Langem primus inter pares in dieser Zeitung war, habe mein Auftritt imponiert. Dieser habe entschieden, dass kein politischer Redakteur das machen solle, sondern ich. Eigentlich hatte ich ja keine Ahnung, ich wusste von nichts etwas Genaueres. Das Kapital hatte ich, abgesehen von dem schönen Anfang, noch nicht gelesen, die einschlägigen Debatten der letzten beiden Jahre waren an mir vorübergegangen. Ich musste mich also vorbereiten. Der herzliche Herausgeber des Feuilletons, in seinem grauen zweireihigen Anzug immer eine imposante Figur, hatte schon daran gedacht und gab mir einen besonderen Auftrag: Bevor ich losführe, müsse ich einen inzwischen berühmten jungen Philosophieprofessor der hiesigen Universität aufsuchen, der gerade dabei sei, die spekulative Gesellschaftstheorie des soziologischen Instituts auf eine neue, moderne Basis zu stellen. Mit dieser neuen Autorität solle ich reden. Er heiße Jürgen Habermas.

Sein Name und seine Bücher waren in aller Munde. Ich kannte gerade einmal die Titel, die im Umlauf waren, hatte aber wegen der sich bei mir festsetzenden Abneigung gegen marxistische Gesellschaftstheorien kaum ein Wort gelesen und nun auch keine Zeit mehr dazu. Von diesem Mann solle ich mich einweihen lassen, er erwarte mich. Dass der freundliche Herausgeber auf diesen Gedanken verfallen war, hatte etwas Widersprüchliches. Denn die marxistische Gesellschaftstheorie, die Professor Habermas, wie man mir sagte, in einer liberalen Version vertrat, lag dem Herausgeber als Katholiken und Freund der französischen Belle Époque und Literatur ebenfalls fern. Aber es war eine Woche zuvor ein Brief an die Herausgeber eingetroffen, in dem Theodor W. Adorno gefragt hatte, wer der junge Mann sei, der den Aufsatz über den sogenannten Zürcher Literaturstreit, über die Zulässigkeit von Obszönitäten in der modernen Literatur, geschrieben habe. Den hatte ich geschrieben. Mein Aufsatz hatte sich gegen den Germanisten Emil Staiger gerichtet, den ich schon als Abiturient gelesen und damals bewundert hatte, der nunmehr aber Kriterien der klassischen Literatur gegen die zeitgenössische aufstellte, Kriterien, die ich für hoffnungslos unbegründbar hielt. Mein Aufsatz ging aufs Ganze und endete mit der Frage, ob Goethes Symbolbegriff noch Gültigkeit haben könne, was ich verneinte. Adorno war für viele liberale und linke Intellektuelle inzwischen zum Idol geworden. In seinem Brief stand, der Aufsatz enthalte Hellsichtiges, das er selbst in Kürze aber noch prinzipieller entfalten werde. Bescheidenheit gehörte eher nicht zu seinen Tugenden.

Wenn der freundliche Herausgeber geglaubt hatte, er schicke nun kein unbeschriebenes Blatt zu Habermas, dann hatte er sich allerdings getäuscht. Der Philosoph hatte keine Ahnung von einer literaturkritischen Debatte, umso mehr aber von der politischen Situation. Das war jedoch nicht der Grund dafür, dass ich den Kaffee sehr schnell trank und zunächst vergaß, mir etwas aufzuschreiben. Es war die überraschende Erscheinung dieses Mannes, seine unerwartete quecksilbrige Spontaneität. Er hatte die Tür zu seinem kleinen Haus im grünen Vorort lächelnd geöffnet, dann die Freundlichkeit eines zuhörenden Gastgebers gezeigt, schließlich einige Fragen gestellt: Wer ich, der ihm noch Unbekannte, sei, das wolle er doch genauer wissen. Der Herausgeber hatte gewiss etwas dazu gesagt. Aber nun wünschte der Philosoph, es von seinem Gast zu erfahren: »Was denken Sie denn über die Situation?« Das zu wiederholen, was ich in der Großen Konferenz den Herausgebern gesagt hatte, schien das Beste. Doch das war dem Philosophen nicht genug. Er sagte: »Aber das versteht sich ja von selbst. Was ist Ihr Interesse an einer solchen Reportage?« Der Philosoph wollte klipp und klar etwas Politisches hören, er wollte wissen, wen er in politischer Hinsicht wirklich vor sich hatte. Die Antwort, die Konfrontation zwischen einer quasi noch großbürgerlichen Institution wie der Zeitung und dem intellektuellen Klima der Rebellen der Berliner Universität sei elektrisierend, reichte nicht aus. Eigentlich klang das recht gut, sozusagen soziopsychologisch. Aber der Philosoph war der Ansicht, das sei kein politisches, sondern ein melodramatisches Motiv. Fast hätte ich geantwortet: Na und? Schließlich würde man Politik ohne Instinkt für das Melodramatische nicht verstehen.

Nach dieser abtastenden Einleitung wurde es sehr lebhaft. Der Philosoph ergriff das Wort. Im Nu folgte eine pointierte Beschreibung der Figuren und Ideen, die in der aufrührerischen Universität der ehemaligen Hauptstadt zu erwarten wären. Das Wichtigste sei, sagte der Philosoph mit Nachdruck, damit der Gast es sich auch genau einprägte, die reformerischen Kräfte, nicht die anarchistischen, publizistisch zu unterstützen. Wenn das in einer so bedeutenden, zumal konservativen Zeitung stünde, wäre viel für die Situation gewonnen. Der Ausdruck, die Wortwahl, die Haarmähne, der Tonfall, die Konzentration – alles hatte eine so intensive Wirkung, dass sich das bevorstehende Unternehmen zu einer wahren Expedition auftürmte. Als wir uns verabschiedeten, wusste ich, dass wir uns noch öfter sehen würden. Mir wurde aber schon bei der Heimfahrt klar, dass in meinem Text wahrscheinlich das Gegenteil dessen stehen würde, was der Philosoph mir eingeschärft hatte: Nicht die Reformkräfte, sondern die Radikalen würden im Mittelpunkt stehen. Nicht gerühmt, aber irgendwie besungen. Das ergab sich dann tatsächlich aus den Gesprächen mit den beiden für den radikalen Flügel wichtigsten Studentenführern. Beide von bleicher Energie, der eine etwas religiös, aus dem Osten stammend, namens Dutschke; der andere eine Art Saint-Just, sogar mit dem französischen Namen Lefèvre. Die Reformer, die nur eine andere Universität wollten, waren dagegen von einer so zahmen Vernunft, die sich darüber hinaus tatsächlich so überaus vernünftig artikulierte, dass sie nichts für ein Interesse an einem Umsturz oder gar für die Erwartung eines solchen hergab. Ich war – trotz der Aversion gegen den Marxismus – auf etwas Dramatischeres aus, etwas, das die Welt verändern könnte. Interessierte ich mich überhaupt für Reform? Was die beiden Radikalen sagten und wie sie es sagten, trug das Versprechen eines Umsturzes in sich. Einer solchen Bewegung zu folgen wäre aber nach wie vor unmöglich gewesen. Schon der Gedanke, dass viele andere jetzt nachsprächen, was die Radikalen, glühend oder kalt, gesagt hatten, war abschreckend. Diesem Widerspruch folgten jedoch vorläufig keine weiteren Gedanken. Allerdings wusste ich, dass sich da etwas aufbaute, was zu klären oder zumindest in seiner Unklarheit zu verstehen wäre.

Einladung bei einem Verlagslektor. Der Mann, der mit mir eingeladen war – ein blonder, etwa vierzigjähriger Universitätsprofessor, dessen Namen ich bei der Vorstellung nicht richtig verstanden hatte –, hielt einen politischen Vortrag. Darin tauchten jene Wörter auf, die seit einigen Monaten im Umlauf waren, Wörter wie aus einer anderen Sprache. Sie gehörten zur marxistischen Lehre, die über Nacht in das Land eingefallen zu sein schien. Diese Wörter waren wie Münzen, die einander ähnelten und nun von vielen aufgelesen wurden. Es hatte sie zwar seit Langem gegeben, aber bis jetzt hatte sie niemand so genau angeschaut.

Der mir fremde Gast verströmte, obwohl er Radikales sagte, die gleiche Langweiligkeit wie die Reformer. Das lag daran, dass er alles wie ein fait accompli ausführte, also theoretisch längst vorentschieden, nicht wie etwas innig zu Wünschendes und noch zu Vollbringendes, etwas, das sich zu entscheiden hätte. Er war einer jener unzähligen, plötzlich im Lande aufgetauchten Intellektuellen, die alle das Gleiche wollten. Der Lektor – er hieß Günter Busch – war durch seine Arbeit im literarisch und intellektuell wichtigsten Verlag des Landes inzwischen wohl an derlei gewöhnt, abgesehen davon, dass er selbst in einer weniger fanatischen Fassung zur neuen Linken gehörte. Er war ein souveräner Kopf und sagte nichts weiter dazu. Dass er einen Redakteur der konservativen Zeitung zu diesem Treffen eingeladen hatte, konnte nur am Bericht über die Rebellen gelegen haben, der im linken Milieu landauf, landab Beifall bekommen hatte. Der Republikanische Club in Berlin hatte mir eine Ehrenmitgliedschaft angeboten. Um nicht mit falschen Federn geschmückt zu werden, hatte ich nicht angenommen. Der Republikanische Club, in einem altmodischen Haus der alten Metropole aus dem 19. Jahrhundert mit Marmor und Spiegeln im Treppenhaus residierend, war gegründet worden, nachdem sich die Große Koalition aus Sozialdemokraten und CDU gebildet hatte, die als eine Gefährdung der parlamentarischen Kontrolle von Regierungsentscheidungen angesehen wurde. Es gab im Republikanischen Club keine marodierenden Studenten. Hier trugen die unter Jugendstil- und Empirelampen sitzenden Mädchen ihre Kokarden der Revolution, als wären es Popfetische. Gefragt wurde: »Wann kommt der Thermidor?« Was so viel hieß wie: Kommt das Ende der revolutionären Phase? Das Wort »Thermidor« hatte das Ende der Jakobinerherrschaft bezeichnet. Publizisten, Anwälte, Verleger, ja selbst Geschäftsleute waren die liberal engagierten Mitglieder des Republikanischen Clubs, eine professionelle Elite, die den von ihr befürchteten neuen autoritären Tendenzen widersprechen wollte. Ohne einen speziellen Einwand gegen ihr Programm wusste ich doch, dass diese Gemeinschaft mir zu viel geworden wäre. Es war auch der selbstgefällige Tonfall, der mich zurückschrecken ließ, er hatte etwas unangenehm Schmusiges.

Worauf der arrogante Gast des Lektors hinauswollte, war eigentlich einleuchtend: Das Gerede von der Notwendigkeit, die sogenannten Massen über die Natur des spätkapitalistischen Staates aufzuklären, müsse aufhören. Stattdessen gehe es darum, sich individuell zu engagieren, agitatorische Programme zu entwickeln. Die parlamentarische Demokratie müsse verändert werden. Es war genau die Frage, welche die radikalen Studentenführer kurz zuvor auf dem Kongress über »Hochschule und Demokratie – Bedingungen und Organisation des Widerstandes« aufgeworfen hatten, dort besonders scharf vorgetragen von Rudi Dutschke, mit dem ich in Berlin gesprochen hatte. Dieser kurzfristig organisierte Kongress wurde unmittelbar nach der Beerdigung des Berliner Studenten Benno Ohnesorg und einem anschließenden Trauermarsch am 9. Juni 1967 in Hannover eröffnet – er dauerte eine Woche. Ohnesorg war von einem neununddreißigjährigen Polizisten am 2. Juni bei einer studentischen Demonstration in Berlin erschossen worden. Auch ich fuhr als Beobachter der Vorgänge nach Hannover. Auf dem Kongress eine Atmosphäre zum Zerreißen. Einige der an der landesweit geführten Debatte maßgeblich beteiligten Professoren aus der Soziologie und Pädagogik waren da. Es wurde ein Zusammenprall zwischen der liberalen Stimme der Außerparlamentarischen Opposition und der studentischen revolutionären Radikalität, die sogar der Herausgeber des Spiegel inzwischen kritisiert hatte. Der Sprecher des Berliner Bürgermeisters machte mit seiner öligen Stimme Vermittlungsvorschläge, die hier nichts mehr ausrichten konnten. Man war sich zwar einig in der Verurteilung der konservativen Öffentlichkeit, die nicht merkte, wie die autoritäre Gesinnung von gestern wieder präsent geworden war. Aber wie darauf reagieren? Die aggressiven Erklärungen gefielen mir, obwohl deren politische Folgen nicht erkennbar waren. Das war es! Man hatte sich zu entscheiden. Der ölige Abgesandte vertrat das Pragmatisch-Parlamentarische, also eigentlich Richtige. Der glühende Dutschke das Revolutionäre, wahrscheinlich das Nichtrichtige. Ich neigte gegen alle Vernunft und meiner professionellen Bindung zum Trotz zum Nichtrichtigen. Die Aversion gegen die Reaktionäre, wohl die Mehrheit in der Gesellschaft im Ganzen und in Teilen meiner politischen Redaktion, war auch bei mir ins Kochen geraten. Aber deswegen marxistische Motive aufnehmen? Nein.

In einer der vordersten Reihen saß auch Jürgen Habermas. Vorerst schwieg er und hörte zu. Dann trugen er und Dutschke ihre Stellungnahmen vor. Nachdem Dutschke bereits abgereist war und auch Habermas den Saal schon verlassen hatte, war ihm offenbar bedenklich geworden, welche praktischen Folgerungen die revolutionär gesinnten Studenten aus Dutschkes Forderung nach Aktionen ziehen würden. Er kam zurück und ergriff erneut das Wort. An die Adresse der Radikalen richtete er die Anklage, Programme, wie sie hier gefordert würden, seien eine Art linker Faschismus. Um die explosive Wirkung seines Ausdrucks zu mindern, fügte er das Wort »voluntaristisch« hinzu. Das war ein Codewort, das innerhalb der linken Intelligenz verstanden wurde: Man gehörte trotz aller Differenzen zur selben Familie.

Die Kälte des arroganten Gastes am Tisch des Lektors war zu abschreckend gewesen, als dass man auf diese Thematik hätte eingehen wollen. Die Kälte hätte einschüchternd sein können, weil der Mann so informiert, so belesen war. Wahrscheinlich war er auch sehr intelligent. Aber noch niemals zuvor war mir so deutlich und unabweisbar geworden, dass ich mich von diesen Leuten fernhalten musste. Unter solch einer theoretischen Kontrolle konnte man sein Leben nicht leben. Das Theoretische hatte zwar etwas Verführerisches, aber nur, wenn es ambivalent, offen blieb, ein Motiv zum Denken. Hier aber zeigte es sich als Zwangsjacke. Die Einseitigkeit des Gesprächs wurde mit einer kühlen Verabschiedung beendet. Man schied voneinander, ohne, wie üblich in solchen Fällen, die Möglichkeit eines erneuten Treffens zu erwähnen. Was der kalte Gast dachte, war nicht mit Gewissheit zu sagen. Dass ich zur FAZ gehörte, musste mich eigentlich disqualifizieren. Sie war in seinen Kreisen inzwischen zum Inbegriff des politisch Bösen geworden.

Man konnte nicht leugnen, dass es in dieser Zeitung dauernd Wichtiges zu lesen gab, von dem die übrige, die gewöhnliche Presse, wie wir sie nannten, nichts wusste. Auch Sachen, die eigentlich nicht zur politischen Linie passten. Wieso hatte es keine Einwände gegen meine sympathisierende Charakterisierung der rebellischen Studenten gegeben, nachdem sie gedruckt war? Warum war dieser Text nicht von vornherein abgelehnt worden? Die Erklärung hierfür lag in der internen, durch die Herausgeber geschaffenen Machtordnung des Blattes: Die Ressorts unterlagen nicht dem Urteil einer Zentrale, sie entschieden unabhängig voneinander. Das Feuilleton benötigte selbst bei einem politischen Thema keine Zustimmung oder gar Erlaubnis der politischen Redaktion. Es hatte seinen eigenen Herausgeber, und dem hatte mein Bericht eingeleuchtet. Dennoch hatte die Zeitung inzwischen den Ruf weg, in altrömischer Manier zu denken: Mögen sie uns hassen, wenn sie uns nur fürchten! Sie empfand sich nicht als gewöhnliche Zeitung, sondern als ein Club. Wer dazugehörte, war ein Auserwählter. Selbst der jüngste Redakteur. In der Großen Konferenz bestimmten zwar die Herausgeber das Thema, aber der Umgangston war von einer Höflichkeit, die sich selbst auszeichnen wollte.

Überhaupt hatte mich die Atmosphäre in der Redaktion seltsam eingenommen, schon als ich erstmals auf meinem Stuhl in meinem eigenen Zimmer saß, zuständig für literarische Themen im Tagesfeuilleton. Es ging alles so leger, so lautlos vor sich. Es lief dort kein Radio und kein Fernseher. Es gab keine Über- und Unterordnung. Die Hierarchie von Herausgeber und Feuilletonchef einerseits und den Verantwortlichen für Kunst, Theater, Film, Musik und Tageskommentar andererseits war kaum erkennbar. Natürlich gab es sie. Aber ich hatte den Eindruck, dass die Redakteure ganz aus eigener Verantwortung entschieden und der freundliche Herausgeber oder der Feuilletonchef erst spät, wenn wir mit dem Abzug der Zeitung aus dem Umbruch heraufkamen, davon Kenntnis nahmen. Der freundliche Herausgeber schrieb vor allem über Filme, ab und zu über kulturpolitische Vorkommnisse. Und dann die Redakteure selbst. Sie alle die reine Freundlichkeit, auch wenn dahinter Konkurrenz verborgen war. Von Intrigen erzählte mir ein blutjunger, intelligenter Volontär namens Frank, der nichts anderes als ebendiese Intrigen im Kopf hatte und sie mit der so machtvollen Institution erklärte, die den Ehrgeiz anstachele. Er behauptete auch, ich sei ein »weißer Elefant«, das Wort für solche Redakteure, denen man eine Herausgeberschaft zutraute. Ich wusste, wieso das Unsinn war. Aber diese Freundlichkeit! Besonders anziehend fand ich die witzige Filmkritikerin, die meine Intervention in der Großen Konferenz beifällig kommentiert hatte. Sie war immer voller kritischer Impulse. Und dann der junge Kunstredakteur, noch Assistent der, wie ich hörte, sehr frommen verantwortlichen Redakteurin für die Kunstseite, mit der er ein Gutherzigkeit ausstrahlendes Gespann bildete.

Vielleicht spielte das sogenannte gutbürgerliche Milieu, aus dem sie alle kamen, eine Rolle. Der Vater der Filmkritikerin war ein bedeutender Theologe gewesen, der junge Kunstredakteur kam aus einer feinen linksrheinischen Unternehmerfamilie. Er hatte bei Benno von Wiese über Wilhelm Raabe promoviert und war als Student noch Privatsekretär bei Rudolf Alexander Schröder gewesen, zwei Namen, mit denen ich ihn manchmal aufzog, zu denen er aber in einer souverän ironischen Weise stand. Der leise, doch bestimmt auftretende Musikredakteur war Sohn eines bekannten Altphilologen. Sein Nachfolger im Musikamt, den Adorno empfohlen hatte, stammte aus einer bekannten russisch-ungarischen Adelsfamilie. Und die Frau des Feuilletonchefs kam aus der Familie des namhaftesten Musikverlages. Dass der Name des Internats, in dem ich zur Schule gegangen war und Abitur gemacht hatte, für meine Einstellung wesentlich wichtiger gewesen war als meine beiden Universitäten Göttingen und Heidelberg, daran hatte ich keine Zweifel. Der freundliche Herausgeber kam mehrfach darauf zu sprechen. Er selbst stammte aus einer Winzerfamilie bei Rüdesheim, handwerklich geprägt, aber eben auch traditionsreich.

Eine besondere Rolle hatte schon immer das Literaturblatt gespielt. Allein schon sein etwas altfränkischer Name unterschied sich von den übrigen westdeutschen Literaturteilen. Es war vom Feuilleton außerdem völlig unabhängig. Sein Chef hatte bei meinem Eintritt ins Feuilleton ebenfalls einen sanften Ton mir gegenüber angeschlagen. So als ahnte er, dass ich in absehbarer Zeit der neue Chef sein würde. Er war ein beredter Schöngeist. Seine Belesenheit verunsicherte mich fast. Seine beiden Redakteure wirkten von allem Literarischen enorm unterrichtet, ja ganz okkupiert. Der Ältere, Helmut Scheffel, war inzwischen ein angesehener Übersetzer moderner französischer Literatur und Literaturtheorie, vor allem von Michel Butor und Roland Barthes. Der Jüngere, Dietrich Segebrecht, genannt Didi, war ein Liebhaber moderner Textformen und extravaganter Comics. Insofern hatte man sich mit einem großen Sprung wegbewegt von der Tradition des berühmten Friedrich Sieburg, der 1964 gestorben war, und seinem am klassischen Roman orientierten, die zeitgenössische Literatur ironisch aburteilenden Stil.

Als der liebenswürdige Herausgeber, es war natürlich Karl Korn, mich Ende 1967 förmlich mit der Frage konfrontierte, ob ich Lust hätte, das Literaturblatt zu übernehmen, war ich tagelang hin- und hergerissen zwischen Zweifel und Ehrgeiz. Ich traute mir das zu, nichtsdestoweniger war es eine enorme Herausforderung. Es kam aber auch nicht infrage, dieses Angebot nicht anzunehmen. Zumal der Vorgänger mit Freude als Kulturkorrespondent nach Berlin ging. Er war eigentlich Theaterkritiker, und der Zwang, ständig ein literaturkritisches Konzept vorzuzeigen, lag ihm nicht wirklich. So kam es, dass meine erste Phase als Leiter des Literaturblatts mit dem Höhepunkt der Achtundsechziger-Revolte in Paris und in Frankfurt zusammenfiel. Jetzt kam alles darauf an, eine moderne Kritik zu entwickeln, ohne den Pressionen der linken Meinungsmacher zu folgen. Zu dieser Zeit hatte ich durch meine Rezensionen immerhin schon einige Pluspunkte gesammelt, konnte mich auf diese berufen und musste mich nicht bloß auf meiner redaktionellen Machtstellung abstützen.

Es gab einen älteren Literaturkritiker in der Wochenzeitung Die Zeit, dessen Rezensionen mir wegen ihres analytischen Scharfsinns schon früh als Vorbild gedient hatten. Er hieß Widmer, ein Mann aus Basel und der Vater meines späteren Freundes Urs, der – ursprünglich Lektor – dann selbst ein namhafter Schriftsteller wurde, mit dem gemeinsam ich aber auch Fußballspiele im Fernsehen ansah, eine neue, wenn man so will, linke Mode, während ich seit Langem schon daran interessiert war. Im Literaturblatt war man abgeschirmt vom Feuilletonbetrieb am hinteren Ende des Flurs, vor allem gegenüber dem dräuenden Gewissen der politischen Redaktion. Die beiden Literaturblatt-Redakteure dachten linksliberal wie die Mehrheit des gesamten Feuilletons. Umso schärfer trat demgegenüber das ganz andere Image der Zeitung ins Bewusstsein, von dem man sich aber nicht trennen wollte. Dafür war die Zeitung zu berühmt und zu interessant.

Die vorherrschende Animosität in intellektuellen Zirkeln gegenüber der Zeitung war mir auf einer Salzstangenparty bewusst geworden. Salzstangenparty, weil es zu dieser Zeit zum puritanischen Ambiente der linken Abende gehörte, keine schönen altmodischen Abendessen zu servieren. Man saß, wo immer es war, vor weißen Bücherregalen mit den neuen Taschenbüchern aus Theorie und Politik, trank Rotwein und knabberte dazu Salzstangen. Obwohl ich selbst hier der eigentliche Einzelgänger war – nicht nur wegen der Zugehörigkeit zu dieser Zeitung –, kamen mir wiederum einige andere Gäste so vor, als fühlten sie sich wie die ersten Christen, die sich als verfolgte Minderheit in einer Krypta versammelt hatten, um ihre Riten auszuüben. Der Ritus hier war die Empörung. Die Empörung über die Rede eines Politikers oder über das, was in meiner Zeitung gerade wieder zu lesen gewesen war. Die Geste der Empörung wirkte lächerlich, peinlich. Aber der Rotwein, der in Strömen floss, half darüber hinweg. Gerechterweise muss ich sagen, dass einige Gäste mit Freundlichkeit, ja mit drängendem Interesse auf meine Person reagierten. Das lag einerseits daran, dass die Zugehörigkeit zur Zeitung einen nicht bloß isolierte – es gab sonst niemanden aus der Redaktion bei diesen Abendeinladungen –, sondern auch bei den gesellschaftlich Ehrgeizigen als wichtig erscheinen ließ. Andererseits lag es daran, dass das Literaturblatt, für das ich zuständig war, ein neues Prestige gewonnen hatte.

Sosehr die Kompetenz und Präzision vieler Kollegen in den anderen Ressorts einem imponieren konnten – und das galt auch für die Kommentare zu den Regierenden am Rhein –, so stießen mir doch die Artikel der politischen Herausgeber nicht selten auf. Vor allem die Artikel des namhaftesten: Jürgen Tern. Erst unmerklich, dann immer bedrückender entstand bei mir das Gefühl eines folgenlosen inneren, manchmal auch geäußerten Widerspruchs. Seit der Erschießung Ohnesorgs durch die Polizei und seit der brutalen Ausübung von Gewalt gegen die Studenten in der eigenen Stadt wurde klar, dass die Zeitung, jedenfalls die politische Redaktion, solche Überbleibsel aus der Zeit von gestern übersehen wollte. Diese Tendenzen »faschistoid« zu nennen, fand ich nicht falsch. Man hatte die Empfindung, dass es im Alltag von den sogenannten Gestrigen nur so wimmelte. Das war das politische Kriterium: Nicht die materiellen Ansprüche der Arbeiterschaft waren relevant, sondern die Unantastbarkeit des Einzelnen gegenüber staatlichen Behörden. Das einseitige Engagement für die Arbeiterschaft als ausgebeutete Klasse, das jetzt bei vielen linken Universitätsleuten in den Vordergrund rückte, war für mich dagegen beunruhigend.

Einige von ihnen gingen sogar als Arbeiter in die Fabrik! Mit Vorliebe in norditalienische Fabriken, wo sie auf noch radikalere Verbündete stießen. Es war deshalb beunruhigend, weil es zwischen bürgerlicher Intelligenz und Arbeiterschaft nicht die Gemeinsamkeit gab, von der die Radikalen behaupteten, es gäbe sie. Eine solche Gemeinsamkeit zu behaupten hieß, das Spezifische dessen zu leugnen, was man als Intellektueller tat. Das Interesse an der Analyse von Literatur hatte jedenfalls nichts mit dem Interesse der Arbeiterschaft zu tun. Die sich vertiefende Kluft gegenüber linken Verhaltens- und Denkformen hatte bei mir jedoch keine Sympathie für die politische Redaktion meiner Zeitung zur Folge, die das, nennen wir es das Bürgerliche doch so nachdrücklich betrieb und damit auch meiner eigenen politischen Position entsprach. Aber wiederum nicht ganz: Noch war am Unterschied zwischen konservativer und liberaler Politik eisern festzuhalten. In Heinrich Heines Kommentaren zur proletarischen Revolution konnte man dieses Dilemma ausgesprochen finden: Heine sah sich in den 1840er Jahren gedanklich genötigt, das, was er historisch für unumkehrbar hielt, nämlich eine kommunistische Revolution, zu akzeptieren, auch wenn diese Revolution – wie er sagte – seine geliebten Kunstwerke in Stücke schlagen würde. Hatte Heine das aber wirklich für sich akzeptiert? Oder hatte er hier nicht sogar den entscheidenden Einwand gegen eine zwangsläufige Entwicklung mit solch desaströsen Folgen formuliert?

Wenn die Unruhe, selbst die Angst vor dem Kommenden aus den Leitartikeln stieg, freute ich mich. Ja, es lag etwas in der Luft. Vor allem seitdem in Frankreich die Stimmung an den Universitäten explodierte und nach alter Tradition mit Pflastersteinen Barrikaden gebaut wurden und sogar der Präsident der Republik inzwischen glaubte, bei den im Nachbarland stationierten Truppen Zuflucht suchen zu müssen. De Gaulle befürchtete, dass sich aus der Studentenrevolte eine regelrechte Revolution entwickeln werde, welche die ganze bürgerliche Gesellschaft und ihre Verfassung zerstören könnte. So weit war es hier noch nicht. Aber es war eine Stimmung aufgekommen. Mit einem Mal färbte die Erwartung von kommenden Ereignissen alles ein, sodass man plötzlich mit neuem Blick auf die Bäume glaubte, sie hätten tatsächlich eine andere Farbe angenommen. Nicht aufgrund der Jahreszeit – es war jetzt Frühsommer –, sondern aufgrund einer veränderten seelischen Verfassung des Betrachters. Der erste Dichter des Landes, der vor einem Jahrzehnt einen Band mit dem Titel verteidigung der wölfe veröffentlicht hatte, dieser ebenso kühne wie witzige Geist, rief im Rundfunk zur politischen Revolte auf. In Anlehnung an seinen poetischen Vorläufer forderte er, »französische Zustände« zu schaffen. Das war der Titel des berühmt gewordenen Buches von Heine über die Pariser Revolution zu Beginn der Dreißigerjahre des 19. Jahrhunderts. Heines Beschreibungen, ursprünglich für die Augsburger Allgemeine Zeitung verfasst, hatte ich nicht nur gelesen, ich hatte mich in sie hineingelesen, hineingelebt. Seine für die Buchfassung 1832 geschriebene, aber durch die preußische Zensur um wesentliche Aussagen gebrachte »Vorrede«, in der er in grandioser Weise mit Preußens »Größe«-Ambitionen und seiner möglichen Zukunft auf dem deutschen Kaiserthron abrechnet, gefiel mir zwar nicht, aber der Tonfall, ironisch und pathetisch zugleich, imponierte mir so sehr, dass alles in mir dafür vorbereitet war, die Schilderung der Ereignisse, die nach der Julirevolution 1830 eintraten, zu verschlingen. Und jetzt wiederholte sich die Wirkung dieser Lektüre mit aller Kraft: Heines Satz, der Geist der Revolution habe das Palais Royal nie verlassen, nahm auch die Gegenwart von 1968 in Besitz. Wir haben in Deutschland nur die Achtundvierziger-Revolution gehabt und nach 1918 diverse Revolten. Aber was sich da in Paris zusammenbraute und gemäß dem Verlangen des deutschen Dichters nach »französischen Zuständen« auch in Westdeutschland eintreten könnte, war das nicht die Wiederkehr des Geistes, den Heine so enthusiastisch beschrieben hatte?

Man wusste nicht, was in Paris noch alles passieren würde. Das Fernsehen hielt einen auf dem Laufenden. Besonders aufregend, dass ein deutscher Student, dessen Eltern vor den Nazis nach Frankreich geflohen waren, nun das große Wort vor der Sorbonne und auf anderen Plätzen des Quartier Latin führte. Er hieß Daniel Cohn-Bendit. Sein roter Haarschopf leuchtete wie ein vielversprechendes Zeichen über der Menge der ihm Zuhörenden. Natürlich sprachen auch andere, das Megaphon in der Hand, mit enormer Eloquenz und kündigten einen sozialpolitischen Umbruch an, der über die notwendigen Veränderungen an den Universitäten hinausginge. Indem deren Gebäude besetzt wurden, gab man beizeiten zu verstehen, dass auch der Palast des Präsidenten besetzt werden könnte. Die Polizei hatte schon scharfe Munition, und das Universitätsviertel in Paris mit den umgestürzten Autos und den aufgetürmten Pflastersteinen sah aus wie eine Filmszene zu einer modernen Version von Victor Hugos Roman Les Misérables. Heines Beschreibung des Pariser Aufstands in den Französischen Zuständen hatte dort besonders Fahrt aufgenommen, wo der Kampf der Studenten geschildert wird. In der Rue Saint-Martin – wo die lag, musste ich noch herausfinden – seien die größten Heldentaten der neueren Geschichte vollbracht worden. Ein Schüler aus der École d'Alfort sei mit einer Trikolore aufs Dach gestiegen und mit seinem Ruf »Vive la République!«, von Schüssen getroffen, tot hinabgestürzt. Das konnte jederzeit auch jetzt in Paris passieren, genau so war die Stimmung, nach allem, was man davon hörte. Die Polizei hatte dort wenige Hemmungen, die westdeutsche sowieso nicht.

In diesen Tagen gab es regelrechte Reiterattacken der Frankfurter Rechtshüter gegen die Studentenketten, die das Gebäude meiner Zeitung umlagerten, um die Auslieferung des verhassten Blattes zu verhindern. Als ich einen Offizier zu Pferd anherrschte, löste der seinen Gummiknüppel und hielt das mich bedrängende Pferd erst zurück, als er mich als Redakteur der belagerten Zeitung identifizierte. Ich war in meiner Wortwahl nicht zimperlich gewesen. Nicht, dass er ein Nazi sei, sagte ich, aber dass man es denken könne, so wie er und seine Kollegen sich aufführten. Dass einige in der höheren Polizeiverwaltung ohnehin noch immer Ehemalige waren, darüber sprachen wir in der Redaktion. Der Polizist auf dem Pferd war zwar noch relativ jung, aber wahrscheinlich hielt auch er die rebellierenden Studenten für Verbrecher, die eigentlich keine Rechte hätten.

Nach Paris zu fahren, um das, was dort im Universitätsviertel vor sich ging, genauer zu betrachten, war ein naheliegender Gedanke. Aber dazu hätte ich den Auftrag der Redaktion haben müssen. Einfach privat hinfahren und tagelang nicht in der Redaktion des Literaturblatts auftauchen ging nicht. – Was hatte Heine eigentlich genau mit dem Ausdruck »französische Zustände« gemeint? Enzensberger hatte ihn zweifellos deshalb zitiert, um eine Art Revolte in Westdeutschland zu fordern. Heine hatte in seinen Artikeln für die Augsburger Allgemeine Zeitung einen solchen Aufstand gewiss nicht im Sinn. Die Zeit in Deutschland war ihm dafür als noch nicht reif erschienen, wie er acht Jahre später den deutschen Republikanern in der Pariser Emigration, namentlich Börne, ironisch entgegenhielt. Was er schilderte, war nicht bloß der blutige Kampf der Studenten, die, wenn sie in die Hände der Nationalgarde fielen, mit dem Bajonett niedergemacht wurden. Es war eine Emphatisierung dieser Kämpfe zu Bildern entsprechend der griechischen Mythologie und den heroischen Momenten der Geschichte. Die Kämpfer in der Rue Saint-Martin wurden den Kämpfern an den Thermopylen gleichgesetzt. Heines Pathos im Auffinden der ihm angemessen scheinenden Metaphern gewann in all seinen Schriften eine besondere Wirkung durch die Nennung mythologischer Namen. Das Augenblickliche bekam auf diese Weise Ewigkeitsresonanz, ohne seine Augenblicklichkeit zu verlieren. So sah ich das jedenfalls im Sommer 1968.

War die Zeit jetzt eigentlich wieder reif für eine politische Revolte oder sogar für eine soziale Revolution, wie sie die Studentenführer in Berlin vor einem Jahr erwogen hatten? Wenn ich Heine folgte, dann war der alte Auftrag aller vorangegangenen Revolutionen noch nicht endgültig ausgeführt. Das war es, warum seine Artikel abermals eine solche Wirkung auf mich ausübten. Dass dabei auch ein neuer Mythos der Stadt Paris vor einem aufstieg, das war Heines ganz ungewöhnliche Darstellungsleistung. Das historische und kulturelle Leuchten dieser Stadt war von einem deutschen Schriftsteller noch nie zuvor auch nur annähernd erkannt, geschweige denn dargestellt worden. Kleists kurze Reverenz an die französische Metropole lief eher auf das Gegenteil hinaus, und literarisch geäußerte Aversion gegen die französischen Nachbarn war seit den Gräueln der Revolution und den Verwüstungen durch die Heere Napoleons auf deutschem Boden keine Ausnahme gewesen. Beim Wiederlesen der Französischen Zustände erkannte ich, dass Heine es war, der den Mythos der Stadt eigenhändig erfunden hatte. Und wir erlebten nun, nach dem Existenzialismus der Fünfzigerjahre, eine neue Phase der Glorifizierung dieser Stadt. Daher klangen die Ungeheuerlichkeiten, die man aus Paris hörte, historisch bedeutend. Selbst die Obszönitäten schienen vergoldet zu sein. Ich vergoldete sie mir. Heine hatte hervorgehoben, dass es keineswegs die unteren Volksschichten gewesen seien, die den Aufstand gewagt hätten. Vielmehr habe sich die republikanische Explosion als ein mehr oder weniger führungsloser, leidenschaftlicher Ausbruch bürgerlicher Unzufriedenheit ›ereignet‹. Ja, Heine sprach tatsächlich vom »bloßen Ereignis« – zwei Wörter, die ich mir anstrich. Er begründete den Ereignischarakter mittels einer intensiven Beschreibung des Trägers einer roten Fahne mit schwarzen Fransen, den er »geheimnisvoll« nannte, und indem er dem Ganzen eine »mythische Bewandtnis« zusprach. Und wirklich war der Aufstand als Enthusiasmus über eine Menschenmenge gekommen, die zunächst nur dem Leichenwagen des wegen seiner oppositionellen Haltung bewunderten und verehrten Generals Jean Maximilien Lamarque hatte folgen wollen.

Auch was jetzt in Paris, Frankfurt und Berlin geschah, war in seiner Promptheit etwas nicht Erwartetes und erzeugte eine nie zuvor gefühlte Atmosphäre. Atmosphäre war das richtige Wort. Wie man, ohne ein politisches Programm im Kopf, ständig auf eine noch nie gehörte Art zu reden stieß! Es klang immer derart, als sei noch etwas Großes zu erwarten. Ich glaube, das ging vielen so, wie überhaupt ein Teil derjenigen, die sich politisch engagiert gaben oder es tatsächlich waren, einem Druck nachgaben, der, aus dem Nichts kommend, mit einem Mal auf ihnen lastete. Der Druck hatte ein solches Gewicht, weil die vorangegangene Zeit der Ausläufer eines sich beschwichtigenden Pietismus von Schuldigen gewesen war. Bei Heine stand ein Absatz, der sich wie ein noch immer gültiges Paradigma las und mir eingab, von Pietismus zu sprechen: »Ist es wirklich wahr, dass das stille Traumland in lebendige Bewegung geraten? Wer hätte das vor dem Julius 1830 denken können! Goethe mit seinem Eiapopeia, die Pietisten mit ihrem langweiligen Gebetbücherton, die Mystiker mit ihrem Magnetismus hatten Deutschland völlig eingeschläfert, und weit und breit, regungslos, lag alles und schlief. Aber nur die Leiber waren schlafgebunden, die Seelen, die darin eingekerkert, behielten ein sonderbares Bewusstsein.« Es war auch jetzt so, als sei das Land der »schlafenden Menschen« erwacht, und man fühlte sich gedrängt, ihnen zuzuhören, wie sie – als sprächen sie »im Schlafe« – ihre »geheimsten Gedanken« enthüllten. Das war etwas Neues und Ungeheuerliches. Davon stand in meiner Zeitung jedoch nichts zu lesen. Die politischen Herausgeber starrten bloß mit angehaltenem Atem darauf, ob sich auch hierzulande Anzeichen der Veränderung aller Dinge zeigten wie in Paris.

Heines Französische Zustände hatten aber noch vor einem anderen Hintergrund als dem der Pariser Studentenrevolte diesen Effekt auf mein Denken: Ein ehemaliger Schüler Ernst Blochs, der mit einer Gruppe Gleichgesinnter in Leipzig eine Revision des Ostberliner Marxismus entworfen und deshalb zwei Jahre im Gefängnis gesessen hatte, war, nachdem er in die Bundesrepublik gewechselt war, wegen Heine scharf mit mir aneinandergeraten. Wir sahen uns nur ab und zu. Als ich enthusiastisch über eine Neuausgabe von Heines politischen Schriften sprach, reagierte er höhnisch mit Karl-Kraus-Zitaten auf Heines angeblich »feuilletonistischen« Stil. Es verhielt sich aber so, dass der marxistisch erzogene Leipziger sich an Heines ironisch-freiheitlichem Ton stieß. Er entwickelte inzwischen aus Hass auf das DDR-Regime sogar konservative, ja rechte Ideen. Aber die waren eigentlich nur eine Version seiner für immer inhalierten Hegel'schen Kategorien. Deren Starrheit beherrschte ihn. Vor allem ein kurzes Stück Heines, betitelt mit Verschiedenartige Geschichtsauffassung, brachte den Bloch-Schüler in Rage und bestätigte ihm, wie er sagte, Heines verantwortungslos unsystematisches Denken. Heine hatte sich in diesem Stück gegen die zentrale Hegel'sche Kategorie der »Zukunft« gewandt. Die Gegenwart, so Heines mich animierender Gedanke, müsse um ihrer selbst willen erlebt werden, sie dürfe nicht einem Zweck, also auch nicht der Zukunft, unterworfen werden. Heine hob die »lebendigsten Lebensgefühle« als das entscheidende Kriterium hervor und kehrte es gegen die von Teleologie besessene idealistische Schule.

Das bedeutete einen Bruch mit seinem von Hegel inspirierten eigenen Anfang, einen Verrat, wie der Leipziger sagte, an der Geschichtsphilosophie. Heine hatte diesen kurzen Text ein Jahr nachdem seine Beiträge in der Allgemeinen Zeitung erschienen waren, geschrieben. Er ist aber erst 1869 aus seinem Nachlass publiziert worden. Auch die Revolution – so stand in dem Stück Verschiedenartige Geschichtsauffassung – vollziehe sich im Zeichen der Gegenwart, nicht der Zukunft. Heines Absage an die Zukunft war ein gefundenes Fressen für meine eigene Aversion gegen das marxistische Geschichtsdenken.

Ob Enzensberger wirklich an die Möglichkeit eines revolutionären Umbruchs zu dieser Zeit und in diesem Land glaubte? Dafür war seine Ansprache zu rhetorisch. Der Kommentar des Philosophen, dieser Schriftsteller sei ein Narr am Hofe der Scheinrevolution, überraschte mich aber, irritierte mich sogar. Diese Kontroverse zwischen zwei linken Intellektuellen solchen Ranges konnte einem in Mark und Bein fahren. Aus ihr sprach, welch eine Unruhe unterwegs war, wie doch selbst in politisch so nahen Lagern in einer Weise Tacheles geredet wurde, dass kein Auge trocken blieb. Die Rhetorik des Dichters war mir jedenfalls sympathisch.

Gleichzeitig wirkte die brutale Sprache, die in linken Zeitungen aufgekommen war, bedrückend. Das war nicht Heine. Es erinnerte eher an die naive Aggressivität der deutschen Republikaner, die Heine mit seinem Angriff auf Börne erledigt hatte. Es war nicht nur der Glaube, es war die Attitüde, die prompte Bereitschaft nicht nur zur Anklage, sondern zur Verleumdung. Daraus sprach eine beunruhigende Drohung: Diese linken Journalisten, die das große Wort schwangen, ob in Zeitung oder Rundfunk, hätten jeden auf die Anklagebank gebracht, der ihrer Meinung nach den Fortschritt, wie sie ihn sich dachten, behinderte. Ganz gewiss hätten sie die Herausgeber der Zeitung vor ein Tribunal gestellt. Weil sie dazu aber nicht in der Lage waren, blieb es bei den wöchentlichen oder gar täglichen polemischen Anklagen. Mit dieser Selbstüberhebung konnte man an eine berühmte journalistische Tradition anknüpfen: Die übelsten Vertreter des Terrors während der Französischen Revolution waren Journalisten gewesen. Und der blutige Lenin, wenn auch von anderem Kaliber als der kriminelle Marat, hatte ebenfalls eine Zeitung herausgegeben, bevor er seine politischen Ideen mörderisch umsetzte. Solche Überlegungen offen auszusprechen oder gar zu schreiben wäre jedoch berufsschädigend gewesen. Nichtsdestoweniger hatten einige Journalisten etwas Gefährliches angenommen, weil sie von einer besonderen Motivation angetrieben wurden: der moralischen Empörung. Es war ein Ressentiment – so war ihr Affront zu übersetzen, in das hässlichste Wort, das einem dafür einfiel. Das Ressentiment von sehr mittelmäßigen Leuten. Es war abstoßend. Diese Schreiber genossen die ihnen plötzlich gekommene Überzeugung, politisch wichtig zu sein. Fast alle trugen lächerliche Kinnbärte. Auch im Feuilleton meiner Zeitung gab es den einen oder anderen, den es politisch umtrieb. Bei der Mehrheit zeigten sich aber noch die liberalen Grundfarben. Nur einer bezeichnete sich selbst als Stalinisten, obwohl er ein den schönen Künsten zugetaner, eigentlich sehr sympathischer Mensch war. Was meinte er mit dieser Selbstbezeichnung? Seine Antwort: »Ich liebe die Rationalität über alles.« Er hatte seine kunstgeschichtliche Promotion über die Malerei des 18. Jahrhunderts unter dem Aspekt ihrer Rationalität geschrieben. Daraus gewann er nunmehr eine Erleuchtung, zu der andere offensichtlich nicht fähig waren. Aber hielt er Stalin wirklich für einen Rationalisten?

Die radikale Geste war allerdings nicht immer eine Sache der blinden Überzeugung, sondern auch eine des souveränen Charakters. Das konnte man genau beobachten, wenn man dem ambitioniertesten Studentenführer an der Frankfurter Universität zuhörte. Theatralische Auftritte, rhetorische Meisterstücke. Obwohl er blässlich aussah, auf den ersten Blick unscheinbar, war er dennoch ein starker Charakter. Er hieß Hans-Jürgen Krahl oder einfach Krahl. Das passte lautmalerisch zu ihm und changierte zwischen »Gral« und »Kralle«. Im großen Innenhof des Universitätsgebäudes stand er im grünen Trenchcoat und wurde bei seinen Auftritten häufig von einem bekannten schmalzigen Schlager über »blaue Liebe« begleitet, der in allen Radioprogrammen zu hören war. Die Rede des Fünfundzwanzigjährigen strotzte vor Behauptungen, die man weder widerlegen noch beglaubigen konnte. Aber sie hatten Attraktivität, weil sie nicht offensichtlich einem Glauben, sondern einem Argument, der Kraft des Argumentierens entsprangen. Wie dieser farblose, mittelgroße Mann dastand, das Megaphon ab und zu absetzte und über die Hunderte der um ihn Gescharten blickte, da erschien er als jemand, der die Formel seiner Zeit erkannt hatte. Plötzlich hörte ich hinter mir einen sagen: »Das ist ja derselbe Fanatismus, den wir schon einmal gehört haben. Der hätte vor zwanzig Jahren in einer braunen Uniform hier gestanden.« Es war ein älterer Mann, den es wohl per Zufall hierher verschlagen hatte. »Sie mögen ja recht haben, aber dann wäre es ein sehr intelligenter Mann in brauner Uniform gewesen«, fiel mir als schnelle Erwiderung ein. Später hörte man, dass der Studentensprecher, der auch in Adornos Seminar eine besondere Stimme hatte, tatsächlich aus einem kleinbürgerlichen norddeutschen Provinzmilieu kam: Er war Mitglied des Ludendorff-Bundes, einer völkisch orientierten Sekte, gewesen und an der Universität Göttingen einer Burschenschaft beigetreten. Solches Herkommen war kein Einzelfall. Bei den Älteren aus der Außerparlamentarischen Opposition gab es viele, deren Eltern in das verflossene Regime verwickelt gewesen waren, nachdrücklich oder mitläuferisch. Die stärkste Motivation zur Opposition kam gerade aus dieser Richtung. Darüber wollte ich genauer nachdenken. Irgendetwas von der alten Mentalität war jedenfalls auch bei dem idealistisch Engagierten mit dem Megaphon hängengeblieben. Das galt übrigens nicht weniger für einige links engagierte Frauen, die geradewegs dem deutschen Frauenbund entlaufen zu sein schienen: Wie bedrückend und befremdlich das war! Nichts von Freiheit und Ungebundenheit! Andererseits: Eine ganze Reihe der linken Intellektuellen war so blitzgescheit wie die Berliner und Frankfurter Studentensprecher. Es waren durchtrainierte Köpfe. Aber ihre Revolution kam aus dem Seminar. Nichtsdestoweniger standen ihnen im richtigen Moment die einschlägigen Vokabeln zur Verfügung, die sie in schlagfertige Argumente verwandelten. Das war beeindruckend.

Ich hielt es inzwischen für notwendig, eine eigene moderne Philosophie zu entwickeln, und zwar aus Elementen einer Subjekttheorie, mit der ich während des Studiums begonnen hatte. Ein Autor begann mich zu fesseln: Walter Benjamin. Der intellektuell den Ton angebende Suhrkamp Verlag hatte seit Mitte der Fünfzigerjahre seine Werke veröffentlicht, seither war er in aller Munde. Die Bücher und Aufsätze dieses Berliner Intellektuellen, dessen zeitgleich mit einer Studie über Goethes Wahlverwandtschaften entstandener Ursprung des deutschen Trauerspiels 1924 als Habilitationsschrift an der Universität Frankfurt Ablehnung erfahren hatte und der mehr oder weniger in Vergessenheit geraten war, machte über Nacht bei der Nachkriegsintelligenz der nun Dreißigjährigen Furore. Insbesondere ein Aufsatz wurde landauf, landab herumgereicht: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Das roch aber doch verdächtig nach Überbau und Unterbau der simpelsten Art. Die Reproduzierbarkeit, von welcher der Aufsatz handelte, bezog sich auf den Film. Angeblich gehe durch die Möglichkeit, den einzelnen Film, das einzelne Bild zu reproduzieren, die künstlerische Autonomie, die Aura, verloren. Das wurde nolens volens auf die ganze Kunst übertragen. Begriffe wie »Schöpfung«, »Genialität«, »Geheimnis« gingen als quasi »präfaschistisch«-anrüchig über Bord. Eine solche Rezeption war es, die Benjamin in den intellektuell führenden Kreisen attraktiv machte und die wie ein Mantra wiederholt wurde. Keine Gegenrede, nicht einmal den Hinweis darauf, dass die technische Wiederholbarkeit weder für die Literatur noch für die Malerei gelte, konnte ich entdecken.

Hans Paeschke, der Herausgeber des Merkur, der intellektuell einflussreichsten westdeutschen Monatszeitschrift, hatte mich um Mitarbeit gebeten, und so schrieb ich meine Einwände gegen Benjamins Aufsatz für diese Zeitschrift nieder. Je mehr ich aber in Benjamins Werk las, desto stärker wurde die Anziehungskraft seiner Texte. Denn Benjamins Texte waren keineswegs materialistisch, sie waren spirituell! Und das in einem Maße, dass sich der Gedanke einschlich, da habe einer deine geheimsten, dir selbst verborgen gebliebenen Vorstellungen von Literatur schon vor dreißig Jahren niedergeschrieben! Es war vor allem sein Aufsatz Der Sürrealismus, der wie ein Blitz bei mir einschlug. Sürrealismus mit ü geschrieben. Er hatte einen Untertitel, der mich ebenfalls unmittelbar gefangennahm: Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. Das Wort »Surrealismus« hatte sich seit zwei Jahren ohnehin in mir festgesetzt, seitdem mir der Ressortchef der Zeitung, bei der ich volontiert hatte, 1966 die Todesanzeige von André Breton auf den Tisch gelegt hatte: »Das ist was für dich. Schreib übers Wochenende eine Glosse über den Mann.« Tatsächlich blieben nur zwei Tage zur Vorbereitung, aber schon die Lektüre weniger Seiten aus dem Roman oder besser dem fiktiven Tagebuch Nadja genügte, um etwas zustande zu bringen. Die Neugier, ja Begierde war angefacht, mehr von Breton und anderen Surrealisten, vor allem Aragons Le paysan de Paris, zu lesen. Diesem Interesse war vorausgegangen, dass mir ein Buch des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar mit dem Titel Bestiarium in die Hände gefallen war, darin seine wohl berühmteste Erzählung Das besetzte Haus. Cortázar wurde mit dem Pariser Surrealismus in Verbindung gebracht. Seine Sätze hatten sich längst bei mir eingenistet. Und auch das Surrealistische sollte mich für lange Zeit nicht mehr loslassen.

Nun aber Benjamins Essay. Ja, das Prinzip des Dialektischen, das Kriterium des »Materialistischen« war wiederzuerkennen. Aber diese puristischen Begriffe wurden von phantastischen Wörtern überdeckt. Da war die Rede von den »Kräften« und der »Dialektik des Rausches«, von einer »rätselhaften Seite am Rätselhaften«, die man nicht einseitig betonen solle. Benjamin sprach auch vom »Geheimnis«, das man »durchdringen« müsse. Er meinte, dass der Surrealismus bei solcher Überwältigung durch Mysterien in romantischen Vorurteilen verhaftet bleiben könnte, dass es dagegen um die dialektische Verschränkung gehe, dass die »Erleuchtung profan« sein müsse. Was sollte das heißen? Das klang wie die Notwendigkeit der Beichte nach einer Sünde. Ich sog jedenfalls Honig aus Benjamins ambivalenter Bewaffnung gegen den Surrealismus, sobald dieser zu romantisch würde. Im Entwurf für den Merkur wollte ich das zeigen: nämlich wie Benjamins Affinität zur surrealistischen Phantasie ungeklärt, wie seine Berufung auf das Kriterium des Dialektisch-Materialistischen ein leeres Prinzip blieb angesichts seiner emphatischen Reaktion auf die Phantasmen. Nachdem Benjamin Aragons Le paysan de Paris gelesen hatte, konnte er nach eigenem Eingeständnis vor Herzklopfen eine ganze Nacht nicht schlafen. Wie war diese Erregung durch den surrealistischen Augenblick nachzuvollziehen? Benjamins Werk sollte für einige Zeit jedenfalls enorm wichtig für mich werden.

Ob Benjamins berühmte Worte von der »profanen Erleuchtung« kontradiktorisch gemeint waren und er sich letztlich der surrealistischen »Erleuchtung«, nicht des »Profanen« angenommen hatte, das wurde zur zentralen Frage eines neuerlichen Besuches bei Jürgen Habermas. Er hatte mich eingeladen, mit ihm über Walter Benjamin und den Surrealismus zu sprechen: »Nun sagen Sie doch einmal, worauf Benjamin eigentlich hinauswill, vor allem, worauf er hinauskommt!« Das war eine phantastische Eröffnung für das, was dazu zu sagen war: »Wissen Sie, von profaner Erleuchtung zu sprechen ist etwas Ähnliches wie das, was die Engländer ›to have the cake and to eat it‹ nennen.« Der Philosoph lachte. Dieses Lachen war Ausdruck des unbekümmerten Temperaments, das schon beim ersten Besuch so auffällig gewesen war, ohne jede betuliche Absicherung, wie ich sie sonst von Akademikern kannte. Es gab Rotwein, gleich zwei Flaschen. Nach wenigen Gläsern hielt uns nichts mehr zurück. Die einzige Vorsichtsmaßnahme, die notwendig schien, damit das Gespräch nicht von vornherein schiefginge, war meine Versicherung, es handele sich bei Bretons und auch Aragons Surrealismus nicht um die Rekonstruktion des Mythos. Der Gastgeber nickte und erwiderte: »Was wollen diese Bilder dann aber ausdrücken, wenn sie sich vom objektiven Geist, wie Sie gesagt haben, verabschieden?«

Damit kam man ins Prekäre. Es blieb nichts anderes übrig, als von der Autonomie der surrealistischen Metaphorik zu sprechen und zu behaupten, sie sei »selbstreferenziell«. Mit diesem prätentiösen, aber noch nicht in Mode gekommenen Wort war erst einmal ein Schuss vor den Bug gewagt: dass Literatur nicht darin gipfele, Ideen zu verbreiten. Wie mein Gegenüber diese Bemerkung aufnahm, war nicht ganz klar. Ich fügte flankensichernd hinzu, Aragon habe vom surrealistischen Bildergift gesprochen und damit eine revolutionäre Potenz gemeint. Das beeindruckte den Denker überhaupt nicht, das war sofort zu spüren. Schweigend hörte er der Erklärung zu, die Surrealisten hätten Novalis' Formel des »Romantisierens« aktualisiert: Dies geschehe dann, wenn man »dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe«. Diese Formel, obwohl sie jeder, der sich mit der Romantik beschäftigte, mehr oder weniger auswendig konnte, hatte ich mir auf einem Zettel notiert. Was anderes war es denn, wenn Aragon vom »täglich Wunderbaren« sprach, vom »Ungewöhnlichen«, das man immer weniger finde, von Orten, die »Türen« zum »Unendlichen« hätten? Dass sich hinter diesen romantischen Wörtern nicht Novalis' transzendental geordnete Poetologie verbarg, sondern ein politisches Erwartungspotenzial, änderte nichts an ihrer Ähnlichkeit mit der romantischen Formel. Dass Aragon auf eine solche Sprache verfiel, um etwas Politisches auszudrücken, zeige doch abermals, wie stark die esoterische Semantik ihn in Besitz genommen habe. Benjamin bezog sich wohl darauf, wenn er meinte, die surrealistische Überraschung könnte sich in »sehr verhängnisvolle romantische Vorurteile« verlaufen. Benjamins Kritik sei, so führte ich weiter aus, sehe man auf seine eigene Terminologie, nicht konsequent. Er selbst spreche sehr wohl ebenfalls romantisch. Aber, so der Philosoph, was sei dann mit der Revolution? Die Surrealisten wollten doch die Gesellschaft verändern? Das war die Konsequenz aus der vorangegangenen Frage. Nun musste das Bekenntnis heraus, dass die nicht geschehene surrealistische Revolution keineswegs als Defizit des Surrealismus anzusehen sei! Die Surrealisten hätten von ihrer eigenen eingebildeten Wirklichkeit gelebt, der bis dahin ungehörte Sätze entsprungen seien. Zum Schluss war deshalb noch einmal der Satz Aragons anzusprechen: »Werde ich mir lange das Gefühl für das täglich Wunderbare bewahren?« Das war schon längst nicht mehr nur eine Erklärung des Surrealismus, sondern eine Verteidigung der eigenen Beschäftigung mit dem Wunderbaren. Was sei schon die soziale Veränderung der Gesellschaft, wenn dieser Verbesserung der Sinn für das Ungewöhnliche verloren ginge! Ohne den vielen Rotwein wäre dieser Satz möglicherweise nicht gefallen, sosehr ich ihn auch ohne Rotwein dachte. Deshalb war es gut, dass er heraus war. Denn genau das war die Konsequenz.

Ich war jedoch, wie man so sagt, an den falschen Mann geraten. Habermas erwiderte nämlich: »Ich habe mir ja gedacht, dass es auf solche Phantasien hinausläuft, die sich auf kein politisches Argument stützen können. Ich verstehe auch nach Ihrem Bericht über die anarchistischen Studenten, was Sie daran so fasziniert. Es ist der Subjektivismus, der Voluntarismus, der unvereinbar ist mit einer vernünftigen politischen Idee. Das einzig Gute dabei ist, dass Sie gar nicht erst vorgeben, die Surrealisten hätten eine politische Idee.« Das war's. Eine Abrechnung von Hans G Helms mit dem Begriff Voluntarismus hatte erst kürzlich für Aufsehen gesorgt. Der Autor hatte von einer orthodoxen marxistischen Position aus den sogenannten Fetisch Revolution innerhalb der Linken, aber eben der nicht linientreuen Bewegung, demontiert. Alles, was ich selbst attraktiv fand, wurde darin angeklagt: das Elitäre des romantischen Individuums, der Angriff auf den Staat statt auf die bürgerliche Gesellschaft und vor allem der Verzicht auf die Konzeption eines objektiven Geschichtsprozesses. Über dieses Buch polemisch in der Zeitung zu schreiben war selbstverständlich. Froh darüber, den Dogmatismus anprangern zu können, der seinem Hass gegen jede Form des intellektuellen Individualismus, gegen den sogenannten »feinen« Geist, wie es hieß, keine Zügel angelegt hatte. Dieses Buch steckte einem das letzte Licht darüber auf, was es über den Neomarxismus im Lande, vor allem an einigen Universitätsfakultäten, zu wissen galt. Das, was der Fanatiker zwei Jahre zuvor am Tisch des Lektors von sich gegeben hatte, war auf dasselbe hinausgelaufen. Damals schienen das Ansichten eines arroganten, besonders bornierten, von Theoremen eingeklemmten Karrieristen zu sein, der ohne jeden Nerv für die Dinge des Lebens war. Dieser Überfall aber auf den sogenannten Voluntarismus half, sich endgültig von dem Gedanken zu lösen, man könne mit den Marxisten, den marxistisch gewendeten Intellektuellen im Lande, irgendeinen gedanklich und persönlich sinnvollen Verkehr haben. Nein, das konnte man nicht mehr.

Aber der Gastgeber, der Philosoph? Immerhin, Habermas' Bemerkung über den mangelnden politischen Sinn der Surrealisten, seine Kritik am Subjektivismus berührten sich mit den Ausführungen des Autors von Fetisch Revolution. Der Philosoph bewies aber ein souveränes Interesse für die extremen Einfälle der beiden Surrealisten. Er hatte ein feines Gespür für Sprache. Es schien mir, dass er dem radikalen Freiheitsbewusstsein und seiner Durchbrechung gesellschaftlicher Konventionalität eine gewisse Sympathie entgegenbrachte, auch wenn das für ihn noch nicht ausreichte, darin ein politisches Konzept zu erkennen. Das Thema, bei dem wir völlig differierten – um es harmlos auszudrücken –, war die plötzliche Negierung des sozialökonomischen Fortschritts als großes Glück. Dagegen das Wort vom surrealistischen Wunder zu halten, das schlug dem Fass den Boden aus. Um Boden zurückzugewinnen, war noch einmal auf Bretons Phantasiebegriff zurückzukommen und an einigen Bildern aus Nadja zu zeigen, was einleuchtend sein könnte. Das sollte Bretons letzter Satz in Nadja leisten: »Die Schönheit wird konvulsiv sein oder sie wird nicht sein.« Der Begriff »konvulsiv« war kursiv gesetzt und sollte eine Schönheit charakterisieren, die nicht mehr klassisch und nicht mehr romantisch ist, sondern das Ereignishafte selbst. Denn um Schönheit gehe es nach wie vor, nicht um Ideen! Ich fügte hinzu, Camus habe gesagt, kein Volk könne außerhalb der Schönheit leben.

Es hatte etwas von benevolentia, wie der Philosoph die letzten Bemerkungen zur Kenntnis nahm, so als wollte er sagen: Die Surrealisten, schön und gut, nehmen wir ihre Philosophie für gratis, da gibt es nicht viel zu begründen. Dann aber kam die Frage, die schon längst fällig war: »Und Walter Benjamin?« Inzwischen war es Mitternacht. Wir hatten die ganze Zeit über getrunken. Die Frage nach Benjamin lief auf eine präzise Antwort darauf hinaus, ob Benjamin denn seine materialistisch-dialektische Begründung der surrealistischen »Erleuchtung« überzeugend dargelegt habe. Es war nun zu erläutern, was in dem noch nicht veröffentlichten Aufsatz für den Merkur darüber zu lesen sein würde: dass Benjamin selbst in einer romantischen Obsession mit dem »Unbekannten« befasst geblieben sei. Dahinter stecke sogar etwas Konservativ-Revolutionäres, das mit Benjamins messianischer, geschichtsphilosophischer Erwartung zusammenhänge. Letzteres war herunterzuspielen, zumal Benjamin in seiner Debatte mit Gershom Scholem die theologische Motivation von Kafkas Allegorik ausgeklammert hatte, die Scholem so betonte. Es ging allein um Benjamins Sprache, seine ungewöhnliche, sich selbst setzende Originalität.

Der Philosoph war zunächst einverstanden. Seine Skepsis gegenüber Benjamins theoretischer Ambition konzentrierte sich aber gerade auf den Umstand, dass alles semantisch geblieben sei: Die »profane Erleuchtung« – was immer sie auch bedeuten mochte – sei keine revolutionäre Handlung, ebenso wenig wie der »Chock«. Diese Reaktion markierte wohl den Beginn einer Auseinandersetzung des Philosophen mit Benjamin. Dabei spielte wahrscheinlich der Übervater des sozialwissenschaftlichen Instituts eine Rolle. Denn Adorno hatte mit Benjamins zentralen Metaphern, auch mit seinem Anspruch auf materialistische Methodik, nichts im Sinn. Der Philosoph sympathisierte aber irgendwie mit Benjamins Widersprüchlichkeit – das war die Finesse des Theoretikers –, einerseits den Mythos aus der Kunst herauslösen zu wollen, andererseits dessen sprachliche Kraft zu erhalten. Vor allem Benjamins Metapher des »Jetzt«! Dass Benjamins emphatisches Verständnis des Jetzt mit einer politischen, gar materialistischen Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung nicht in Übereinstimmung zu bringen war, ja, dass er dazu eigentlich gar nichts sagte, das war unbestreitbar. Es war aber gerade das dezisionistische Zeichen, dass etwas passiert, woran mir so viel zu liegen begann. Für den Philosophen blieb nun ausgerechnet das – als Symptom des Unpolitischen – der entscheidende Einwand gegen Benjamin, wie respektvoll, ja bewundernd er auch über ihn als geistige Erscheinung besonderer Art dachte. Respektvoll, weil auch ihn Benjamins Stil beeindruckte. Das ästhetische Argument war also nicht ganz verloren bei ihm, hätte jedoch einer klareren Integration in die Theorie bedurft. Und das war nicht möglich. Hier bereitete sich ein Konflikt vor zwischen mir, dem Literaturkritiker, und dem Philosophen, dem Gesellschaftstheoretiker, zwischen Subjektivismus und Öffentlichkeitskriterien. Dieser Konflikt war bis zu diesem Zeitpunkt noch unter der Decke geblieben. So als ob er einen Sprung ins Freie machen wollte, fragte der Philosoph mich schließlich nach Robert Musil. Ich war perplex. Der Mann ohne Eigenschaften war mein kardinales Buch gewesen, bevor ich die Surrealisten gelesen hatte. Es war nun zu spät, darüber zu reden. Aber von ihm zu hören, dass auch ihn Musils Roman in Bann geschlagen habe, war die Überraschung des Abends! Die Frage, was er wohl von der inzestuösen Liebe im Paradies hielt, wurde an diesem Abend nicht mehr gestellt.

Der Abend hatte meine Entdeckung von Benjamins ambivalenten Wörtern gesichert. Dass die Blätter sich nun wirklich färbten, die Revolution aber noch immer nicht kam, störte nicht die kontemplative Konzentration darauf, was am Surrealismus so wichtig war. Die Distanz führender Intellektueller gegenüber dem Surrealismus, vor allem die Kritik am Surrealismus durch den Übervater und den zurzeit sprachbewusstesten Lyriker, gaben dieser Konzentration Nahrung. Es galt also, Benjamins Spannung zwischen Phantasie und Praxis zu klären. Das Wort »mystisch« im Vokabular von Happening- und Fluxus-Künstlern, die Abrechnung mit der sogenannten »Wirklichkeit«, mit der nach einem Wort des österreichischen Schriftstellers Oswald Wiener endlich Schluss zu machen sei, war eine zusätzliche Entdeckung. Benjamins Einfall, von Paris als dem »erträumtesten« der surrealistischen Objekte zu sprechen, galt es in diesem Sinne noch einmal zu verstehen, gerade weil die Revolte, an die er dabei gedacht hatte, heute eine andersartige sein musste. Die Sprengsätze dieser Metaphorik zündeten nach und nach. Sie ließen eine Normalität aufblitzen und sogleich im fahlen Licht der Banalität verglühen, die nichts als die vulgäre Verbesserung der Lebensumstände zum Inhalt hatte.

Wie konnte ich das in einer angemessenen Terminologie vorführen? Gab es noch jemanden außer dem Philosophen, mit dem über den Surrealismus zu sprechen sich gelohnt hätte? Die Ansichten von bekannten Intellektuellen waren deren Schriften zu entnehmen. Aber gab es nicht dennoch beschlagene Universitätsprofessoren, vor allem Romanisten, mit denen man hätte sprechen können? Aber dafür hätte man sie näher kennen müssen. Allerdings war auch an den Zeichen der Zeit zu erkennen, dass der Surrealismus für Akademiker noch immer kein anziehendes Thema geworden war, vor allem nicht in Deutschland, wo er während seiner ersten Hochphase überhaupt nicht wahrgenommen wurde. Insofern lag der Verdacht nahe, dass deutsche Gelehrte auch nach dem Zweiten Weltkrieg, trotz des Bekanntwerdens des malerischen Surrealismus, mit Breton und Aragon wenig anzufangen wüssten. Es gab immerhin die jungen vor allem Benjamin lesenden Universitätsleute meines Alters, von denen ich persönlich aber keinen kannte. Wie an sie herankommen, ohne aufdringlich zu werden? Nein, es musste ein Alleingang werden. Der Titel Die gefährdete Phantasie war sofort gefunden. Auf dieses Argument galt es sich zu konzentrieren. Später wurde der Halbsatz Oder Surrealismus und Terror hinzugefügt. Die Überraschung, dass es nicht »Die gefährliche Phantasie« hieß – was man bei den Wörtern »Surrealismus und Terror« hätte erwarten können –, war die Pointe: Es ging nicht darum, dass die Phantasie gefährlich war. Das war sie zwar in der Tat. Es ging nun aber vielmehr darum, dass sie gefährdet war: nämlich der Forderung ausgesetzt, sie habe sich als praktisch zu erweisen. Diese Erwartung war seit dem nächtlichen Gespräch mit dem Philosophen als Kernproblem haftengeblieben. Im führenden Literaturverlag war ohnehin längst eine Debatte über das Verhältnis von Literatur und Praxis ausgebrochen. Die Polemiken, die ausgerechnet in der Zeitschrift Enzensbergers, dem Kursbuch 20