Das erschütterte Ich - Prof. Dr. Dr. Frank Schneider - E-Book

Das erschütterte Ich E-Book

Prof. Dr. Dr. Frank Schneider

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Beschreibung

Das Standardwerk zum Thema Trauma und Traumabewältigung  Traumata sind eines der großen gesundheitlichen und gesellschaftspolitischen Probleme unserer Gegenwart. Der renommierte Psychiater und Psychotherapeut Dr. Frank Schneider liefert eine zugängliche Einführung in ein gesundheitliches Thema, das immer mehr Menschen betrifft. Dabei räumt er mit Fehlannahmen auf und gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen.  - Wer ist besonders anfällig für eine PTSD-Erkrankung?  - Was sind die Anzeichen für ein Trauma oder eine posttraumatische Belastungsstörung? - Was passiert in unserem Körper vor, während und nach einer Traumatisierung?  - Ist Trauma vererbbar? - Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es, was kann z. B. gegen Angst, Flashbacks und Intrusionen getan werden? - Was ist Resilienz? - Und wie kann man einer Traumatisierung vorbeugen?  Anhand von Fällen aus seinem Praxis-Alltag gibt Prof. Dr. Dr. Schneider einen umfassenden Überblick über die unterschiedlichen Ursachen und Folgen von Traumatisierungen. Häufig tritt eine Traumafolgestörung bei den Opfern von Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Krieg und Folter auf. Daneben behandelt der Ratgeber auch Trauma-Bewältigung nach: - sexueller Gewalt und Missbrauch - medizinischen Eingriffen - Gefangenschaft - Unfällen - Todesfällen von Angehörigen - Vertreibung - Migration und Flucht  Dr. Schneiders Buch vermittelt wichtige Grundlagen und praktische Hilfen zur Bewältigung von Traumata, sodass es für betroffene und unterstützende Personen gleichermaßen nützlich ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 540

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Frank Schneider

Das erschütterte Ich

Trauma verstehen und bewältigen

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Traumata sind zweifellos eines der großen Probleme unserer Gegenwart. Der renommierte Psychotherapeut und Psychiater Frank Schneider gibt anhand von Fallbeschreibungen einen umfassenden Überblick über die unterschiedlichen Ursachen und Folgen von Traumatisierungen und beantwortet die wichtigsten Fragen. Was passiert in unserem Körper vor, während und nach einer Traumatisierung? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es und wie kann präventive Arbeit geleistet werden? Wer ist besonders anfällig für eine PTSD-Erkrankung? Dr. Schneider räumt mit Fehlannahmen auf und liefert eine zugängliche wissenschaftsorientierte Einführung in die komplexe Thematik.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Hinweis

Vorwort

Teil 1

Kapitel 1 Das Tagebuch. Diagnose einer Traumatisierung

Die Kindheit der »richtigen« Mutter

Neuer Freund, neuer Streit

Peter fasst mich an

Mit dem Baby überfordert

Fragen zu Traumatisierungen

Auswirkungen von Kindheitstraumata

Die meisten Menschen bekommen nach einem schrecklichen Ereignis keine Erkrankung

Die Bedeutung psychischer Erkrankungen

Kapitel 2 Lebensereignisse und Anpassungsstörungen. Gefängnisalltag

Fragen nach der Lebensgeschichte

Der lodert wie eine Fackel

Es hat nichts mit mir zu tun

Wann ist ein Trauma ein Trauma?

Kapitel 3 Was geht in meinem Körper vor? Entstehung von posttraumatischen Belastungsstörungen

Die Vorgeschichte

Die Erinnerungen sind schlagartig zurück

Rafael, der Traum der Mädchen in der Mannschaft

Eine bleibende Erschütterung

Stress im Magneten

Psychoedukation in der Stationsgruppe

Das Traumagedächtnis stoppen

Ergebnisse der MRT-Untersuchung

Wie wird eine PTBS eigentlich behandelt?

Ansprechpartner nach Traumatisierungen

Teil 2

Kapitel 4 Das Sterben an den Erinnerungen. Langfristige Folgen von Konzentrationslagerhaft

Es gibt keine Worte für das Vergangene

Eine gebrochene Frau

Die Nachkriegszeit

Die »Euthanasie« an Kranken und Behinderten

Warum sind wir zurück nach Birkenau?

Oscar Zamel als Patient

Kapitel 5 »Ich kann keine Menschen mehr ertragen.« Sexuelle Gewalt im Durchgangsheim

Kindheit in Heimen der DDR

Vom Jugendwerkhof ins Durchgangsheim

Dissoziationen im Isolierzimmer

Papa erlöste mich aus dem Kinderheim

Ich kann nicht leben und nicht sterben

Eine fatale Wiederbegegnung

Ich habe keine Kraft mehr

Mein neuer Weg

Kapitel 6 Das Zittern in mir. Anhaltende Trauerstörung

Sie hatten keine Chance

Völlig aus der Bahn geworfen

Gegen die Schuld und für das Leben

Schritt für Schritt in ein neues Leben

Kapitel 7 Das nehme ich alles mit Humor. Dissoziation und Sekundärprävention

Ankunft in Deutschland

Die Entwicklung hin zum Krieg

Alpha ist sehr stabil

Der Angriff

Der Krieg ist immer präsent

Dissoziationen: Verwundungen an der Seele

Mit »Ärzte ohne Grenzen« zur Behandlung nach Deutschland

Wie kann eine gute Versorgung in der Ukraine aussehen?

Kapitel 8 Die Geburt als Event. Wenn die Kontrolle völlig verloren geht

Die interdisziplinäre Fallkonferenz

Der Abschied: Zurück in die Realität

Der Kinderwunsch

Endlich schwanger!

Alles dreht sich nur noch um die Schwangerschaft

Hinweise der Frauenärztin

Der »Geburtsplan«

Das Abschiednehmen

Zurück im normalen Leben

Kapitel 9 Die rote Perücke. Kognitive Umstrukturierung

Diagnose: Leukämie

Auch seine Welt ist erschüttert

Noch eingreifender: die Stammzelltherapie

Unterstützung durch die Psychoonkologin

Die Teamsitzung

Die Perücke und ein neues Selbstverständnis

Der weitere Verlauf

Teil 3

Kapitel 10 Auch Notfallhelferinnen benötigen Hilfe. Akute Traumabehandlung

Das Mädchen im Gartenteich

Die Klingel bringt den Tod

Ausbildung zur Notfallseelsorgerin

Im Schockraum

Mia ist nicht mehr zu retten

Die Übergabe

Hilfe für Notfallhelfer

Ist Sarah Mia und Mia Sarah?

Kapitel 11 Selbstmitgefühl. Erste Schritte in die Behandlung

Mein Onkel hielt mich einfach fest

Am liebsten wäre ich tot

Die eigene Schuld

Das Traumagedächtnis im Kleiderschrank

Die Exposition öffnet das Ventil

Scham, Schuld und Vermeidung

Erst die Station, dann die ambulante Therapie

Die wohlwollende Begleiterin an meiner Seite

Ein Stuhl nach dem anderen

Wege in die Zukunft

Kapitel 12 Der alte und der neue Weg. Commitment

Der erste Kontakt nach dem Suizidversuch

Der Querflötenunterricht

Die Vorbereitung des neuen Weges

Verabredung zur Traumatherapie

Mangelnde Mitarbeit

So kann es nicht weitergehen

Der alte und der neue Weg

Veränderung braucht Zeit

Kapitel 13 Einordnen in die Vergangenheit. Expositionen

Ich komme heute als Patientin

Psychiatrie: Heilen mit Worten und Handeln

Wieso ist mir das passiert?

Langsam verschwinden die Erinnerungen

Aus dem Nichts erstarrt

Eine schwierige Behandlung

Das Trauma durch Exposition wieder in der Vergangenheit verorten

Höhen und Tiefen der Behandlung

Psychotherapeutische Verfahren nach Traumatisierungen

Kapitel 14 Auch lange Verläufe enden irgendwann. Andauernde Traumata und Krisenintervention

Die Kindheit auf dem Bauernhof

Meine Brüder und ich

Pflegeeltern und Wohngruppe

Was aus der Familie wurde

Und was wird aus mir?

Ich muss mich neu wappnen

Beruhen Erinnerungen immer auf realen Ereignissen?

Nur ein Freund, mehr nicht

Stabilisierung statt Rückfall

Stabilisierung durch die tagesklinische Behandlung

In der Frauenklinik

Kapitel 15 Von Steinen und Blumen. Narrative Expositionstherapie

Die Welt bricht zusammen

Die Flucht übers Mittelmeer

Mit dem Rettungswagen in die Klinik

Die meisten Flüchtlinge sind traumatisiert

NET: Der Schlüssel zum Weiterleben

Heiß und kalt: das Gedächtnis

Blumen und Steine

Die Erzählerin wird zur Zuhörerin ihrer eigenen Geschichte

Kapitel 16 Die Gespenster der Nacht. Das Überschreiben des Albtraums

Ich bin gekommen, weil meine Tochter es gesagt hat

Diagnose: schwere Depression

Der erste Schlüssel: Geiselnahme in der Volksbank

Ich war stumm, und es zerriss mich

Der zweite Schlüssel: Einbruch zu Hause

Der dritte Schlüssel: Es brennt im Heim

Wie man Albträume überschreibt

Mein eigenes Drehbuch

Jetzt habe ich genug Therapie

Teil 4

Kapitel 17 Meine Lunge schrie nach Sauerstoff. Warten auf ein neues Herz

Delirant auf der Intensivstation

Wie ich mich geschämt habe

Feuerwehrmann als Beruf und Berufung

Meine Lunge schrie nach Sauerstoff

»Elvi«: Brücke zum Leben

Der Schlaganfall

»Elvi« gibt auf

Das Herz eines anderen lebt in mir weiter

Mein neues Leben

Kapitel 18 Verletzlich, aber unbesiegbar. Therapeutische Beziehung und Resilienz

Zu Hause auf der Alm

Die Hiobsbotschaft

Die Welt steht still

Flucht in die Großstadt

Von der Abendschule in die USA

Zurück nach Bayern

Schlaftabletten und Alkohol

Ich muss weiter funktionieren

Sehr mühselige Gespräche

Eine Nachricht verändert alles

Ich gehe zurück!

Resilienz: Verletzlich, aber unbesiegbar

Kapitel 19 Irgendwie hat es doch immer geklappt. Posttraumatische Reifung

Eine feine Dame

Meine Mutter kommt zurück

Tod des Vaters und Beginn der Lehre

Meine Kinder sind das Wichtigste

Beruflicher Erfolg und neue Partnerschaften

Wechsel in den Unruhestand

Mein Klarinettenspieler

Posttraumatische Reifung

Traumatisierungen auf dem Weg zur Resilienz

Unser Abschlussgespräch

Danksagung

Glossar

Weiterführende Literatur

Hinweis

In Medizin und Psychologie wird sehr viel geforscht, deswegen verändert sich der Wissensstand stetig. Autor und Verlag haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass alle Angaben zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Werkes dem aktuellen Wissensstand entsprechen.

Alle in diesem Buch enthaltenen Informationen dienen ausschließlich allgemeinen Bildungs- und Informationszwecken und wurden nach bestem Wissen erstellt. Individuelle Gesundheitsfragen müssen mit Ärzten oder Psychologischen Psychotherapeuten besprochen werden, daher ersetzt dieses Buch keinesfalls die persönliche Beratung durch diese. Bei akuten psychischen Krisen sollen unmittelbar niedergelassene Ärzte oder Kliniken aufgesucht werden.

Wenn das Leben eines Menschen in akuter Gefahr ist, sollte umgehend professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden, z.B. durch den ärztlichen Notdienst, den Rettungsdienst oder die Polizei.

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

danke, dass Sie sich für Trauma und Traumafolgestörungen interessieren. Das finde ich nicht selbstverständlich. Vielleicht ist einer Ihrer Angehörigen oder Freunde in irgendeiner Weise betroffen? Oder sind Sie selbst erschüttert, haben noch nie jemandem davon erzählt oder womöglich bereits Ihren Weg gefunden, damit umzugehen? Vielleicht interessieren Sie sich einfach für die Verletzlichkeit der Menschen und ihre Widerstandsfähigkeit, die Resilienz?

Leider erfahren Menschen mit psychischen Erkrankungen, also auch solche mit Traumafolgestörungen, immer noch allzu oft gesellschaftliche Stigmatisierung. Es ist für viele Betroffene nach wie vor schwer, rechtzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen und offen mit ihrer Erkrankung umzugehen. Ich bin überzeugt: Beides wird umso eher möglich, je informierter diese Menschen und ihre Angehörigen und Freunde sind. In diesem Buch möchte ich Sie deshalb anhand von Fallbeispielen mit unterschiedlichen Arten von Traumata und Traumafolgestörungen vertraut machen und Ihnen aufzeigen, was es mit deren Bewältigung auf sich hat.

Einer Traumatisierung liegen immer extrem bedrohliche oder katastrophale Ereignisse zugrunde. Die Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalterfahrung kann bei einem Menschen eine psychische Erschütterung in Form einer Traumafolgestörung auslösen. Eine kurzfristige Stressreaktion, beispielsweise als Folge einer Auseinandersetzung mit dem Chef oder einer Partnerin oder einem Partner, stellt im Gegensatz dazu noch keine Erkrankung dar.

Erzählen die dargestellten Fälle von konkreten Menschen und ihren Geschichten? Ja und nein. Ich bin seit rund vierzig Jahren psychiatrisch und psychotherapeutisch tätig und habe viele Erinnerungen an einzelne Patientinnen und Patienten. Jedoch möchte ich nicht individuelle Personen vorstellen, sondern das Wesentliche an einem Thema herausarbeiten.

Darum verbinde ich in den einzelnen Kapiteln die bruchstückhaften Geschichten mehrerer Menschen zu einer fiktiven neuen Erzählung. Jedes geschilderte Detail hat sich folglich so zugetragen, nur eben meist in anderen Zusammenhängen. Zum Schutz der realen Personen habe ich die Schilderungen außerdem vollständig anonymisiert und sämtliche Spuren verschleiert. Sollten Sie dennoch sich oder einen Angehörigen in einer der Geschichten wiedererkennen, zeigt dies nur, dass Sie mit dem Erlebten nicht allein sind.

Mit diesem Buch möchte ich Sie nicht nur über die vielen Facetten von Traumata und ihre möglichen Folgen informieren, sondern auch berühren und zum Nachdenken bewegen. Es gibt einen großen Markt an Traumatherapien, die alle möglichen Behandlungsformen anbieten. Ich werde Ihnen nur solche Verfahren näherbringen, die wissenschaftlich fundiert sind, die also in mehreren unabhängigen klinischen Studien geprüft wurden und eine nachweisbare Wirksamkeit besitzen. Dabei handelt es sich ausschließlich um jene Therapien, die in den wissenschaftlichen Leitlinien1 als empfehlenswert genannt und auch von Ihrer Krankenkasse finanziert werden.

Umbrüche und schwierige Zeiten hat es in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben. Unser aktives Tun bietet trotz allem wunderbare Chancen auf konstruktive Veränderungen – eine Haltung, die mich durch mein Leben und meine langjährige psychotherapeutische Tätigkeit begleitet hat und die mir letztlich auch die entscheidende Basis für den Umgang mit jeder Form von Trauma zu sein scheint.

Es gibt einen Satz, den ich fast allen meinen Patientinnen und Patienten sage: »Jeder trägt seinen Rucksack.« Dieser »Rucksack« enthält all unsere persönlichen Erfahrungen, gute wie schlechte. Manchmal denkt man, es werden einem nur Steine reingeladen, und die Last ist so schwer, dass man sie nicht mehr alleine tragen kann. Oft ist alles nur hineingestopft und müsste dringend mal sortiert und aufgeräumt werden, damit man etwas wiederfindet. Und natürlich können traumatische Erlebnisse den Rucksack besonders schwer machen. Doch ob der Rucksack nun eine Traumaerfahrung enthält oder nicht – das Entscheidende ist nach meiner Überzeugung, überhaupt zu wissen und anzuerkennen, dass es diesen Rucksack gibt und, noch wichtiger, dass es therapeutisch unterstützte Wege gibt, sich mit seinem Inhalt wirksam auseinanderzusetzen.

Menschen sind viel widerstandsfähiger, resilienter, als uns die Gesellschaft mit all ihren Triggerwarnungen oft glauben macht. Viktor Frankl, der einst selbst in KZ-Lagerhaft war und später zu einem bedeutenden Psychotherapeuten wurde, sagte einmal: »Sehen Sie, meine Damen und Herren, gerade dort, wo wir eine Situation nicht ändern können, gerade dort ist uns abverlangt, uns selbst zu ändern, nämlich zu reifen, zu wachsen, über uns selbst hinauszuwachsen!«2 Mögliche Wege dazu möchte ich Ihnen in dem vorliegenden Buch aufzeigen.

 

Düsseldorf, im Mai 2025

Prof. Dr. Dr. Frank Schneider

Teil 1

Was ist ein Trauma und was eine Traumatisierung?

In den folgenden 19 Fallgeschichten stelle ich Ihnen Traumata und Traumafolgestörungen mit einzelnen Themenschwerpunkten ausführlich vor und füge sie in einen wissenschaftlichen Zusammenhang ein. Ich beginne in diesem ersten Teil mit drei Fällen zu der Frage: Was ist ein Trauma? Die kurze Antwort: Bei einer Traumatisierung wird ein Mensch mit seinem bevorstehenden oder drohenden Tod, einer ernsthaften Verletzung oder einer sexuellen Gewalterfahrung konfrontiert. Auch emotionale Traumatisierungen und Vernachlässigungen werden zu den Traumaursachen gezählt.

Die wichtigste Form von Störung infolge eines Traumas ist die sogenannte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Laut Definition beinhaltet sie das Erleben eines extrem bedrohlichen Ereignisses sowie das nachfolgende Wiedererleben mit aufdringlichen Erinnerungen und Albträumen. Dabei zeigen die Betroffenen Angst, körperliche Anspannung und Vermeidungsverhalten, und sie nehmen dauerhaft eine erhöhte akute Bedrohung wahr. Für das Ausmaß der Symptome einer PTBS ist nicht so sehr die Schwere oder »Dosis« des Traumas, sondern vielmehr die unmittelbare Reaktion der Person auf das Trauma entscheidend. Eine PTBS tritt üblicherweise innerhalb der ersten drei Monate nach einem Trauma auf und dauert mindestens mehrere Wochen an, oft sehr viel länger.

Es gibt noch andere Traumafolgestörungen, insbesondere die sogenannte komplexe PTBS (K-PTBS), Anpassungsstörungen, die anhaltende Trauerstörung sowie die akute Stressreaktion. Sie alle werden wir in diesem Buch genauer kennenlernen.

Doch zunächst zu den ersten drei Fällen.

 

Der Journalist Rainer Petersen hat das Tagebuch seiner verstorbenen Mutter gefunden, die ihn einst als Säugling hat weggeben müssen. So erfährt er erstmals, was seine Mutter damals erschüttert hat. Anhand ihrer Traumaerfahrung werden die spezifischen Diagnosekriterien für die PTBS und die K-PTBS erläutert. Bei einer K-PTBS müssen die oben schon kurz erwähnten Kriterien für eine PTBS vorliegen, darüber hinaus aber noch lang anhaltende oder sich wiederholende Ereignisse, denen man nur schwer oder gar nicht entkommen kann, also Folter, dauerhafte häusliche Gewalt, Missbrauch in der Kindheit. Hinzu kommen bei der K-PTBS schwere und beständige Probleme bei der sogenannten Emotionsregulierung, die Überzeugung, wertlos zu sein, begleitet von Scham- und Schuldgefühlen sowie Schwierigkeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten und Nähe einzugehen. Diese Krankheitszeichen können sich über die ganze Lebensspanne erstrecken. In dem Kapitel wird auch erläutert, wie häufig psychische Störungen und insbesondere Traumafolgestörungen überhaupt vorkommen.

 

Thorsten Ritzing ist ein Justizvollzugsbeamter und Krankenpfleger, der sich schwere Vorwürfe macht: Hätte er verhindern können, dass ein Gefangener sich beim Hofgang vor seinen Augen anzündet und stirbt? An seinem Beispiel wird klar, wie man als Psychotherapeut Informationen einholt und wann eine Traumatisierung eine Krankheit ist. Thorsten Ritzing leidet nicht unter einer PTBS, sondern unter einer Anpassungsstörung. Sie ist gekennzeichnet durch die mit beunruhigenden Gedanken einhergehende Beschäftigung mit dem Trauma oder seinen Folgen. Es muss außerdem zu erheblichen Beeinträchtigungen kommen, was bei ihm der Fall ist. Die Störung muss innerhalb eines Monats nach dem Stressor auftreten und darf maximal bis zu sechs Monate bestehen bleiben. Auch diese Kriterien treffen auf ihn zu.

 

Sandra Küpper kommt nach einem Selbstmordversuch in die Klinik. Die 25-Jährige hat eine PTBS, nachdem sie mit zwölf Jahren von ihrem Sporttrainer vergewaltigt wurde. An ihrem Beispiel beschreibe ich die neurobiologischen Grundlagen von Traumatisierungen im Gehirn, wir sprechen über Emotionen und Kognitionen, das Traumagedächtnis und über Risikofaktoren. Wichtig sind bei ihr sogenannte Brückensymptome, die in der Zeit zwischen der eigentlichen Traumaerfahrung und dem viel späteren vollständigen Ausbruch einer PTBS auftreten können.

Darüber hinaus geht es darum, wohin sich Menschen mit Traumatisierung wenden können und warum eine traumafokussierte Therapie mit Exposition in der Regel den Goldstandard jeder psychotherapeutischen PTBS-Behandlung darstellt.

Kapitel 1 Das Tagebuch. Diagnose einer Traumatisierung

Rainer Petersen

Vor einiger Zeit erhielt ich eine E-Mail, in der mich ein Journalist um einen Gesprächstermin bat. Er wolle eine längere Geschichte über traumatisierte Menschen schreiben. Das Magazin einer Wochenzeitung sei sehr an diesem Thema interessiert. Ob ich als Experte bereit wäre, ihm ein paar Fragen zu beantworten. Erst am Ende der E-Mail erwähnte er, dass es auch um seine Mutter gehe. Nach deren Tod habe er ein Tagebuch gefunden, in dem sie traumatische Dinge aus ihrem Leben schilderte.

Ich war neugierig geworden und machte ihm einen Terminvorschlag.

Wenige Tage später kam Rainer Petersen, so der Name des Journalisten, in mein Büro. Ein großer, stämmiger Mann in den Vierzigern. Er wirkte ein wenig aufgewühlt und verunsichert. Nachdem wir uns begrüßt und Platz genommen hatten, bat ich ihn, mir ausführlicher von seiner Mutter zu erzählen.

Sie war zwei Monate zuvor gestorben. Das Amtsgericht hatte ihm dies förmlich mitgeteilt, denn er selbst hatte gar keinen Kontakt zu ihr gehabt. Im Alter von einem Jahr war er in eine Pflegefamilie gekommen und dort aufgewachsen. Nun war er offenbar der einzig verfügbare Angehörige in der Nähe, der sich um ihre Wohnung kümmern konnte. Wie das Amtsgericht ihn ermittelt hatte, wusste er nicht. Aus Interesse hatte er dann tatsächlich die Wohnung ausgeräumt und dabei das schon in der Mail erwähnte alte Tagebuch seiner Mutter gefunden. So erfuhr er auch erstmals, wie sie hieß. Seine Mutter hatte auf einmal einen Namen und eine Geschichte: Beate Petersen.

Nach diesen ersten Informationen bat ich Rainer Petersen, mir noch etwas mehr über seine Kindheit zu berichten. Wie er erklärte, hatte er die Pflegeeltern stets als seine Eltern angesehen, obschon er immer wusste, dass es da noch eine »richtige« Mutter und einen »richtigen« Vater gab. Das war ihm gegenüber auch nie verheimlicht worden. Mit den leiblichen Eltern hatte er aber überhaupt keinen Kontakt gehabt. Er hatte auch nie das Bedürfnis danach verspürt. Irgendwann hatte er mal gehört, der Vater sei alkoholkrank gewesen und gestorben, doch das hatte ihn nicht wirklich berührt. An die leiblichen Eltern hatte er jedenfalls überhaupt keine Erinnerung. Er fühlte sich wohl mit seinen »neuen« Eltern, mit seiner Familie. Die Nachricht vom Amtsgericht kam für ihn daher überraschend. »Ich hatte seit Jahrzehnten nicht mehr an meine ›richtige‹ Mutter gedacht.«

Die Kindheit der »richtigen« Mutter

»Was ist denn mit dem Tagebuch?«, wollte ich nun von ihm wissen.

»Das Tagebuch beginnt im achten Lebensjahr meiner Mutter und endet irgendwann im frühen Erwachsenenalter«, erklärte er. »Die Inhalte beschreiben vor allem eine schreckliche Kindheit und später dann auch mich. Die Einträge sind sporadisch und oft undatiert, was die zeitliche Zuordnung teilweise schwierig macht. Manchmal liegen auch Jahre zwischen den Einträgen.«

Wie er mir berichtete, machte er sich nach der Lektüre des Tagebuchs große Vorwürfe, dass er sich nie um seine Mutter gekümmert hatte, denn sie hätte ganz offensichtlich Unterstützung und Hilfe gebraucht. »Stellen Sie sich vor, ich war noch keine zwei Jahre alt, als ich weggegeben wurde. So konnte ich natürlich gar nicht wissen, was ich jetzt durch das Tagebuch erfahren habe. Trotzdem fühle ich eine große Schuld.«

Mit einem Mal war unsere Unterhaltung kein journalistisches Hintergrundgespräch mehr, sondern entwickelte sich eher zu einer biografischen Anamnese. Ich begann mich zu fragen, warum Rainer Petersen wirklich zu mir gekommen war. Ging es ihm nur um die Geschichte, die er für seine Zeitung schreiben wollte? Oder wollte er am Ende sich selbst und seine eigene Geschichte verstehen? Beides wäre für mich völlig okay gewesen. Es war jedenfalls deutlich zu spüren, dass er einen ziemlich hohen Leidensdruck hatte. Er wirkte angespannt und nervös.

Ich wollte ihm gerne helfen und machte ihm deshalb den Vorschlag, das Gespräch ein wenig zu strukturieren. Er könne mir ja erst einmal berichten, was er in dem Tagebuch gelesen hatte. Danach könne er seine journalistischen Fragen stellen, und wir könnten darüber sprechen. Damit war er sehr einverstanden.

Er hatte das Tagebuch mitgebracht. Daraus las er nun entweder vor, oder er fasste manche Inhalte zusammen. Es handelte sich um ein ziemlich altes Tagebuch für Kinder. Auf dem verblichenen hellbeigen Plastikeinband waren Hasen, Igel und Rehe abgebildet. Mit ungelenker Schreibschrift stand auf dem Einband »Beate Petersen«. Etwa drei Viertel der Seiten waren beschrieben. An vielen Stellen hatte Rainer Petersen Zettel als Lesezeichen hineingelegt.

Dann las er mir die ersten Seiten vor:

Liebes Tagebuch, ich fange heute an, Dir alles zu erzählen, was mich beschäftigt. Es ist so viel passiert, sodass jetzt ein Anfang sein muss. Ich habe sonst niemanden, dem ich diese Dinge erzählen kann. Meinen Eltern auf keinen Fall. Eine Freundin, der ich alles sagen kann, habe ich auch nicht. Dafür sorgen meine Eltern schon. Und auf die beiden Kinder meiner Tante, die oben im Haus wohnen, muss ich oft aufpassen, und wenn ich denen was sage, erzählen sie doch alles ihrer Mama und die meiner.

Liebes Tagebuch, ich nenne Dich jetzt einfach so, weil ich im Deutschunterricht gerade gelernt habe, dass man zu seinem Tagebuch sehr offen sein kann. Ich werde Dich aber auch immer verstecken, damit Dich niemand findet.

Liebes Tagebuch, ich fange mal mit meiner Familie an. Mein Vater ist auf dem Bau, meine Mama in der Fabrik. Er schlägt Mama oft. Mir sagt er, dass ich gar nicht sein Kind bin. Deswegen muss ich immer viel weinen. Wir wohnen in einem großen Haus mit ganz vielen Mietern. Nebenan ist eine Mama, die selber ein paar Kinder hat und mich öfters in die Arme nimmt und tröstet. Ich nenne sie manchmal heimlich Pflegemama. Ich bin ganz oft alleine, und ich weine dann viel. Manchmal bin ich rüber zur Pflegemama gegangen, dann ist Mama aber sehr wütend auf mich. Aber bei ihr bekomme ich wenigstens auch immer was zu essen, wenn ich argen Hunger habe. Mama sagt, ich soll mich nicht so anstellen. Eigentlich ist sie immer ärgerlich auf mich.

Als ich in die Schule komme, nimmt mich Mama und wir gehen fort von Papa. Ich war so froh. Aber Papa hat immer mal wieder zu Mama gesagt, dass er mich umbringen wird, wenn sie geht. Davor habe ich immer Angst, auch heute, wo ich Dir das schreibe.

Ich war im Kindergarten, da weiß ich eigentlich nur noch wenig davon. Einmal hat mir ein anderes Kind ein Bein gestellt, und ich bin voll auf die Nase gefallen und habe heftig geblutet. Es hat sich keiner um mich gekümmert. Mama hat gesagt, dass ich mir das nicht gefallen lassen soll, aber was soll ich denn machen? Ich wollte gar nicht mehr zum Kindergarten gehen. Das ging nicht, Mama war ja arbeiten. Ich habe geschrien und sie angebettelt, aber sie hat mich einfach dagelassen. Liebes Tagebuch, ich muss jetzt Schluss machen. Mamas neuer Freund kommt zu Besuch.

Liebes Tagebuch, ich habe jetzt noch mal gelesen, was ich Dir gestern geschrieben habe. Ich muss noch von meinem Papa erzählen. Mama und Papa haben sich ja getrennt. Mama hat gesagt, dass ich keinen Kontakt mehr zu Papa haben darf. Aber er hat immer wieder auf dem Schulweg auf mich gewartet, mal hatte er sich gefreut und mir Süßes mitgebracht, meistens hat er aber über irgendetwas geschimpft und mich geschlagen. Ich habe Angst vor Papa. Ich weiß nicht genau, wie das weitergeht.

Deine Beate

Die Tatsache, dass die Eltern seiner Mutter ein katastrophales Verhältnis gehabt hatten, ging Rainer Petersen merklich nahe. Im Tagebuch wurde ihm zufolge öfter thematisiert, dass die beiden ambivalent waren – mal waren sie ein Herz und eine Seele, häufiger aber stritten und schlugen sie sich. Beate, seine Mutter, musste das alles als Kind mitbekommen haben, ohne es zu verstehen.

Neuer Freund, neuer Streit

Rainer Petersen überflog kurz die Seite mit dem nächsten Zettel und fasste den dortigen Eintrag zusammen: Carlo, der neue Freund von Beates Mutter, zog zu ihnen in die Wohnung. Die Mutter war schwanger von ihm und bekam Zwillinge, zwei Mädchen. Weil die Wohnung zu klein war, zogen sie innerhalb der Siedlung um.

Mit Carlo, so erklärte Rainer Petersen dann, lief das Gleiche ab wie schon mit seinem Großvater: Carlo terrorisierte die Großmutter, konnte immer wieder aber auch nett zu der damals erst acht Jahre alten Beate sein. Es gab viel Streit zwischen der Großmutter und Carlo. »Hier ist ein Eintrag, wo sie schreibt, dass sie sich geschlagen haben, weil sie sich nicht einig werden konnten, wer die Windeln von den Zwillingen wechselt.«

Seine Mutter habe immer Angst vor ihrer Mutter gehabt, fuhr er fort. »Hier schreibt sie, dass sie, auch nachdem sie in die Schule gekommen ist, noch lange am Daumen genuckelt und ins Bett gemacht hat. Der Stress zu Hause ist immer stärker geworden. Irgendwann musste meine Mutter ganz alleine auf die beiden Schwestern aufpassen, manchmal tagelang, dabei war sie erst neun Jahre alt. Stellen Sie sich vor, so ein kleines Mädchen! Die Eltern waren oft nicht da, und die ganze Verantwortung lag bei ihr. Deshalb war es ihr auch verboten, Freunde zu treffen. Ihren Geburtstag durfte sie ebenfalls nie feiern und schon gar keine Freunde einladen. Sie schreibt, dass sie deswegen oft geweint hat. Sie muss so traurig und einsam gewesen sein!«

Rainer Petersen stockte kurz, seine Augen waren glasig. Dann las er weiter vor:

Liebes Tagebuch, ich bin so verzweifelt. Mama sagt mir, dass sie mich ins Heim schickt, wenn ich nicht brav bin. Egal, was ich mache, ich bekomme immer nur Ärger. Am schlimmsten ist es, wenn die beiden im Schlafzimmer sind. Das ist so laut, dass meine beiden kleinen Schwestern und ich uns die Ohren zuhalten. Ich will die beiden ja immer beschützen, aber hier kann ich es nicht. Unsere Wohnung ist so, dass vorne die Küche und das Bad ist, dann das Schlafzimmer der beiden und dahinter das Kinderzimmer. Das Schlafzimmer ist eigentlich auch das Wohnzimmer, da ist der Fernseher. Wenn wir also im Kinderzimmer sind, können wir nicht ins Bad. Einmal schrie eine der Zwillinge, weil sie in die Hose gemacht hat. Das hat sie gemacht, weil wir ja nicht aufs Klo konnten. Natürlich habe ich dann wieder Dresche bekommen, weil ich nicht aufgepasst habe. Was hätte ich denn machen sollen? Liebes Tagebuch, warum ist die Welt so gemein zu mir?

Rainer Petersen sah mich mit großen traurigen Augen an. Auch mich machte dieser Bericht sehr nachdenklich. Ich bat ihn fortzufahren.

Ich bin jetzt in der vierten Klasse. Liebes Tagebuch, ich hatte wirklich keine Zeit für Dich. Jetzt geht es wieder. Mama und Carlo haben seit einiger Zeit einen Kiosk. Dort muss ich immer helfen, auch abends. Wir haben ja die ganze Woche und auch Samstag und Sonntag auf. Meine Arbeit jeden Tag: Sachen einräumen, Sachen ausräumen, Leute bedienen, draußen fegen oder irgendwelchen Leuten Einkäufe nach Hause schleppen, die was im Kiosk gekauft haben. Am meisten muss ich Bierflaschen, Schnaps, Dosenwürstchen und Zigaretten in die Nachbarschaft bringen. Das gruselt mich dann sehr, wenn ich zu Besoffenen in die Wohnung muss. Ich stelle dann lieber alles vor die Wohnungstür, klingele und gehe ganz schnell ins Treppenhaus zurück und schaue, bis jemand die Tür aufmacht.

In der Schule ist es auch nicht gut. Ich kann ja keine Hausaufgaben machen, weil ich am Kiosk helfen muss. Und wenn ich am späten Abend nach Hause komme, schlafe ich am Tisch über den Aufgaben ein. Dann haben die Lehrer mit mir geschimpft und anschließend Mama, weil ich immer schlechte Noten geschrieben habe. Ich bin so verzweifelt. Ich möchte nicht mehr leben.

Rainer Petersen war nun sichtlich angefasst. Und ich war jetzt froh, dass er zu mir gekommen war.

»Ich kann sehr gut verstehen, wie nahe Ihnen das Ganze geht«, meinte ich zu ihm. »Mich selbst machen Ihre Schilderungen auch sehr betroffen und traurig.«

»Ja, ich mache mir ziemlich viele Vorwürfe, all die Jahre keinen Kontakt zu meiner Mutter gesucht zu haben«, erklärte er. »Hier kommt noch eine Stelle, die ich Ihnen vorlesen will.«

Heute waren wir im Zoo. Mama, Carlo und die beiden kleinen Schwestern. Ich habe das erste Mal Elefanten und Affen gesehen. Dann durften wir auch auf dem Spielplatz toben und bekamen nachher jeder noch ein Eis. Das ist eigentlich die einzige Geburtstagsfeier, an die ich mich erinnere. Mama ist heute 30 Jahre alt.

Peter fasst mich an

Ganz aufgewühlt blätterte Rainer Petersen gleich zur nächsten markierten Stelle weiter. »Hier erwähnt meine Mutter, dass sie nach ein paar Jahren zum ersten Mal wieder etwas ins Tagebuch schreibt. Ihre Mutter, also meine ›richtige‹ Großmutter, hatte es gefunden und gelesen, ihr viele Vorhaltungen gemacht und sie lange ins Bad eingesperrt. Dabei hat sie nur über kleine Freundschaften in der Schule geschrieben und darüber, wie sie ihre Mutter und Carlo sieht.«

Liebes Tagebuch, ich bin jetzt 15 Jahre. Mama hat einen neuen Freund, Peter. Sie hat es nicht mehr ausgehalten. Mit den beiden kleinen Schwestern und mir ist sie dann getürmt. Der ganze Alkohol, den Carlo getrunken hat, hat alles zerstört, sagt sie. Den Kiosk gibt es schon lange nicht mehr, und Carlo hat seine Arbeit verloren, nur Mama geht noch in die Fabrik. Und tagsüber war Carlo auch nicht da, und ich habe auf die Schwestern aufgepasst. Mache ich ja jetzt weiter so. Die machen jetzt, was sie wollen. Wenn sie Unsinn gemacht haben, bin ich natürlich wieder dran schuld.

Peter ist überhaupt nicht freundlich zu uns Kindern. Er hat einen Schlüssel zu unserer Wohnung, den hat Mama ihm gegeben. Und dann ist es passiert: Ich war alleine zu Haus. Sofort ging er auf mich zu und hielt mich fest. Ich wusste gar nicht, was das soll. Es stank alles an ihm nach Alkohol und ungewaschen, an den Geruch erinnere ich mich jeden Tag. Es ist grässlich. Er will mir zeigen, was Erwachsene machen, sagt er. Peter ist sehr stark und trägt mich auf das Sofa und fasst mich überall an. Alles stinkt. Hält mich fest und droht mir, dass er mich umbringt, dass er Mama umbringt, dass er die Zwillinge umbringt, wenn ich nicht leise bin. Ich darf niemand etwas sagen. Und dann macht er etwas, was ich niemandem sagen darf. Er tut mir unheimlich weh, und ich blute. Und ich schäme mich so. Was habe ich falsch gemacht? Ich möchte nie mehr daran denken.

Ich habe mich auch wirklich nicht getraut, Mama etwas davon zu sagen. Sie hat auch nicht gesehen, dass mein ganzes Gesicht und meine Handgelenke blau angelaufen und geschwollen waren von den vielen Schlägen. Zumindest hat sie nichts gesagt. Vielleicht hat sie es ja auch gesehen. Ich fühle mich schon wieder so allein.

Rainer Petersen räusperte sich kurz. Und obwohl es ihm sichtlich schwerfiel, las er weiter.

Peter kommt jetzt immer wieder zu mir ins Bett. Irgendwie passt er immer ab, dass ich alleine zu Hause bin. Ich wehre mich immer gegen ihn, aber er ist ja viel stärker. Gestern kommt meine Mama früher nach Hause und erwischt uns. Ich wäre am liebsten gestorben, weil ich mich so schäme. Sie beschimpft mich als Hure und schlägt mich. Mama wirft mir vor, dass ich es drauf angelegt hätte. Nie habe ich das getan. Das stimmt doch nicht. Ich will tot sein.

Peter und meine Mama haben sich immer gestritten. Ich habe gehört, wie er sie geschlagen hat, wie sie um Hilfe gerufen hat und er sie aufs Bett gezerrt hat. Die ganze Zeit hat sie geschrien. Eines Nachts ist Mama mit uns Kindern weg.

Mit dem Baby überfordert

Ohne weiteren Kommentar hierzu kam Rainer Petersen gleich auf eine weitere Stelle zu sprechen. Ich hielt mich vorerst weiterhin zurück und hörte ihm aufmerksam zu.

»Sie schreibt hier, dass sie dann in eine andere, noch kleinere Wohnung gezogen sind. Ihre Mutter hatte verschiedene Freunde, die sie und die Kinder geschlagen haben. Hier ist ein Eintrag, da ist sie wahrscheinlich 17 oder 18 Jahre alt. Der geht mir sehr nahe. Darf ich Ihnen das noch vorlesen?«

Ich nickte.

Liebes Tagebuch, ich nenn Dich mal so, weil ich es schon immer so gemacht habe. Eigentlich albern. Ich habe wieder keine Zeit gehabt in den letzten Jahren. Es war keine gute Zeit. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Ich war schwanger, und es ist ein kleiner Junge rausgekommen. Ich weiß gar nicht, wie ich das in Zukunft machen soll. Alles. Ich bin die ganze Zeit am Heulen. Meine Mama hat schon gesagt, dass sie das Balg nicht in der Wohnung haben kann. Die Sozialarbeiterin im Krankenhaus hat versucht, dass ich mit dem Kleinen in einem Heim unterkomme. Da war aber nichts frei. Also bin ich doch nach Hause. Und jetzt sitze ich hier und habe nur Dich, mein Tagebuch.

Man sah, dass es Rainer Petersen erneut schwerfiel fortzufahren. Ich schlug ihm deshalb vor, eine kurze Pause zu machen und uns Kaffee und ein paar Kekse zu holen. Er schaute mich dankbar an. Nachdem wir uns, ohne viel zu reden, ein wenig gestärkt hatten, nahm er das Tagebuch wieder in die Hand und erklärte, er wolle noch eine Stelle vorlesen, dann sei Schluss. Sie betreffe ihn, und das sei für ihn das Schlimmste.

Kaum hatte er das Tagebuch aufgeschlagen, fing er heftig zu weinen an. Er deutete auf die Seite.

Ich fragte ihn, ob ich vorlesen solle. Er reichte mir das Tagebuch und zeigte mir die Stelle.

Liebes Tagebuch, lange habe ich Dir nicht mehr geschrieben. Es war auch zu viel los. Ich bin jetzt seit einiger Zeit 23 und wohne in einem kleinen schäbigen Zimmer in einer noch schäbigeren Gegend. Die Möbel habe ich mir vom Sperrmüll zusammengesucht. Aber ich bin alleine, und das tut mir gut. Ich arbeite im Friseursalon, gehe jeden Tag dorthin und bin ganz schön stolz, dass ich das geschafft habe. Drei Jahre Ausbildung und Prüfung. Durchgehalten und geschafft. Ich war auch ganz gut bei der Prüfung.

Ich hatte Dir schon erzählt, dass ich einen kleinen Jungen bekommen habe, als ich 17 Jahre alt war. Und deswegen schreibe ich Dir ja auch heute. Ich muss das loswerden. Zu Hause ging es gar nicht. Ich wusste nichts mit dem Baby anzufangen, aber auch sonst gab mir niemand einen guten Rat. Der Freund von meiner Mutter hat uns alle geschlagen. Als er einmal gedroht hat, das Baby aus dem Fenster zu werfen, habe ich es genommen und bin einfach weg. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, bin zur Polizei gelaufen. Die haben mich zu den Eltern eines der Polizisten gefahren, die erst mal gar nichts mit mir anfangen konnten, weil sie normalerweise keine kleinen Babys aufnehmen. Sie waren aber total nett zu uns. Aber es war ja nur für ein paar Tage. Ziemlich schnell kam ich dann auch in ein Heim. Hier war eine ganze Reihe von jungen Müttern mit Jungen und Mädchen.

Ich hatte große Probleme, mich auf den Kleinen einzulassen. Er hat auch viel geschrien. Da konnte ich gar nichts machen. Es war nicht zum Aushalten, und trotzdem war es der erste Mensch, der an mir interessiert war. Nach einem Jahr musste ich aus dem Heim ausziehen. Ich bin dann hier in die Wohnung, besser gesagt in das Zimmer. Das Klo ist auf dem Flur, das teile ich mir mit den anderen auf dem Stockwerk. Das Jugendamt kam manchmal vorbei und auch eine Sozialarbeiterin, die mir bei manchen Sachen half. Mein Hauptproblem war, dass ich Geld verdienen musste. Ich hatte eine ganze Stelle als Friseuse und wusste nicht, wo ich das Baby hintun soll. Das habe ich auch mal der Sozialarbeiterin gesagt. Wir haben hin und her überlegt. Aber eine richtig gute Lösung haben wir nicht gefunden.

Nach zwei oder drei Tagen kamen zwei Frauen vom Jugendamt. Sie nahmen mein Baby mit, da war der Kleine ein gutes Jahr. Ich habe nur noch geheult. Erklärt haben sie mir, dass ich nicht in der Lage bin, auf meinen Jungen aufzupassen und ihn zu erziehen. Das habe ich gar nicht verstanden, heute muss ich sagen, dass sie vielleicht recht hatten. Ich war viel zu jung, ganz alleine auf der Welt und wusste nicht, wie ich mit dem Kleinen umgehen soll. Und ich wusste ja wirklich nicht, wo ich ihn hingeben soll, wenn ich arbeite. Was sollte ich nur tun?

Er kam in eine Pflegefamilie, und mir wurde nicht gesagt, wer das war und wo er sich jetzt aufhält. Das weiß ich bis heute nicht. Ich war zu schwach, um zu kämpfen. Manchmal bekam ich Post vom Jugendamt oder von einem Gericht, aber ich habe nicht verstanden, was die von mir wollten. Meistens habe ich die Briefe gar nicht aufgemacht, das war mir zu schwer. Ich habe nur geweint, konnte auch keinen um Hilfe fragen.

Fast jeden Tag denke ich an den Jungen. Er muss heute sechs Jahre alt sein. Wenn es im Friseurgeschäft klingelt, wenn jemand reinkommt, denke ich öfters, das könnte er sein. Ein sechs Jahre alter Junge. Und dann schaue ich, ob der irgendeine Ähnlichkeit mit mir hat. Die habe ich aber noch nie bei irgendeinem gesehen. Ich habe mich natürlich auch noch nie getraut, irgendwann mal zu fragen. Kann man ja auch nicht machen, jemanden fragen, ob er in einer Pflegefamilie ist, weil seine Mutter unfähig ist, ihn aufzuziehen. Ich bin immer so verzweifelt und traurig, wenn ich an ihn denke. Mir würde es ja schon reichen zu wissen, ob es ihm gut geht. Ob ich ihm helfen könnte in irgendeiner Weise, weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht. Konnte ich damals ja auch nicht.

Liebes Tagebuch, ich glaube, das ist das Schlimmste, was mir in meinem Leben passieren konnte. Dass mein Kind nicht mehr bei mir ist und ich nicht weiß, wie es ihm geht. Ich habe versagt und schäme mich so sehr. Hoffentlich wird mir mein Junge verzeihen, wenn er groß ist.

Lieber Junge, ich werde Dich nie vergessen. Ich liebe Dich, mein Junge. Mir fällt das so schwer, diese Sachen alle aufzuschreiben, dass ich jetzt nicht mehr schreiben werde.

Deine Mama

Mein Gesprächspartner war, für mich sehr nachvollziehbar, so ergriffen, dass wir beide entschieden, unsere Unterhaltung für diesmal zu beenden und einen neuen Termin zu vereinbaren. Auch mir ging die Geschichte nahe, und ich wollte das Ganze erst einmal etwas sacken lassen. Inzwischen war jedenfalls klar geworden: Rainer Petersen machte sich große Vorwürfe, dass er sich nie um seine leibliche Mutter gekümmert hatte – dabei konnte er selbst am wenigsten dafür. Er war als ganz kleines Kind in die Pflegefamilie gekommen, und dort hatte man ihm gesagt, dass seine Mutter ihn nicht mehr wollte.

Fragen zu Traumatisierungen

Zu dem zweiten Termin kam Rainer Petersen erneut sehr pünktlich. Er war unheimlich angespannt, hatte auch wieder das Tagebuch mitgebracht und legte es auf den Tisch zwischen uns.

»Ich weiß nicht, ob ich wirklich eine Geschichte über Traumatisierungen schreiben kann«, begann er. »Erstens ist das Ganze viel zu persönlich, und zweitens muss ich das selbst erst mal für mich verarbeiten.«

Ich sagte ihm, dass er sich dafür alle Zeit nehmen solle, die er brauche. Dann erinnerte ich ihn daran, dass er ursprünglich zu mir gekommen war, um mit einem Experten über Traumatisierungen zu sprechen, und schlug vor, seine Fragen der Reihe nach durchzugehen.3 Anschließend könne er ja immer noch entscheiden, ob er diese Geschichte schreiben wolle oder nicht. Mein Eindruck war, dass er die Informationen über Traumatisierungen auch ganz unabhängig von der angedachten Story gut gebrauchen konnte. Im besten Falle würden sie ihm ein Koordinatensystem geben, das ihm half, die Informationen aus dem Tagebuch der Mutter besser einzuordnen.

Er fand meinen Vorschlag gut und legte gleich los.

»Ich habe vorab recherchiert. Zum einen möchte ich wissen, ob meine Mutter über alle diese Dinge nicht psychisch krank geworden ist. Wie kann man das sonst aushalten? Sind das nicht alles Traumatisierungen gewesen? Das, was sie mitgemacht hat, hat doch bestimmt dafür gereicht. Dann interessiert mich ganz allgemein, wie häufig solche Erkrankungen sind, also nachdem jemand Vernachlässigungen, Gewalt und Vergewaltigungen erfahren hat. Und nicht zuletzt stelle ich mir natürlich die Frage, ob das Ganze etwas mit mir zu tun hat, ob sich die schrecklichen Erfahrungen meiner Mutter auch auf mich als ganz kleinen Jungen ausgewirkt haben können. Ich habe da nämlich mal einen Bericht über Epigenetik gelesen, also über genetische Veränderungen aufgrund von Umwelteinflüssen.«

Als Antwort auf seine erste Frage erklärte ich ihm: »Aus den Einträgen im Tagebuch ergibt sich für mich einigermaßen klar, dass Ihre Mutter eine psychische Erkrankung hatte. Sie beschreibt ein länger anhaltendes depressives Syndrom. Leider haben wir nicht mehr Informationen. Und Sie sagten ja selbst, dass in der kleinen Wohnung Ihrer Mutter auch keine weitergehenden Informationen zu finden waren. Die Vermutung liegt aber schon sehr, sehr nahe.«

Wie ich ihm dann weiter erläuterte, waren die Erlebnisse der Mutter in meinen Augen zweifelsfrei als Traumata einzuordnen. Nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation handelte es sich dabei um extrem bedrohliche oder katastrophale Ereignisse.4 »Das erste Kennzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung, abgekürzt PTBS, ist das Wiedererleben der traumatischen Ereignisse in Form von lebhaften Erinnerungen oder Albträumen. Das Wiedererleben wird von Angst und starken körperlichen Empfindungen begleitet. Bei Ihrer Mutter kann man sicher von einem solchen Wiedererleben mit Angst und Entsetzen ausgehen.«

Das zweite Kennzeichen sei die Vermeidung von bloßen Erinnerungen an die Ereignisse und die Vermeidung von Situationen, die an die Ereignisse erinnern. »Beides hat sie auch beschrieben.«

Das dritte Kriterium für eine PTBS sei schließlich die länger anhaltende Wahrnehmung einer erhöhten aktuellen Bedrohung, die sich beispielsweise in übermäßiger Wachsamkeit oder Hypervigilanz oder in verstärkten Schreckreaktionen auf Reize wie unerwartete laute Geräusche zeigt. »Das hat sie ebenfalls so konkret beschrieben, auch die Auswirkungen davon.«

Alle drei Kriterien müssten vorliegen, um eine PTBS zu diagnostizieren, meinte ich dann. »Für eine sogenannte komplexe PTBS, kurz K-PTBS, muss es zusätzlich lang anhaltende oder sich wiederholende Ereignisse geben, denen man nur schwer oder gar nicht entkommen kann. Die WHO nennt als Beispiele Folter, lang anhaltende häusliche Gewalt sowie Missbrauch in der Kindheit. Darüber hinaus ist eine K-PTBS gekennzeichnet durch schwere und anhaltende Probleme bei der Emotionsregulierung sowie durch Überzeugungen von der eigenen Person als wertlos samt Scham- und Schuldgefühlen und Schwierigkeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten.« All diese Symptome führten zu erheblichen Beeinträchtigungen.

»Nun, dies alles trifft auch auf Ihre Mutter zu«, lautete mein Fazit. »Im Ergebnis kann man – mit allen Einschränkungen, da wir sie beide nicht kannten – von einer komplexen PTBS bei ihr ausgehen. Ich finde, sie hat jedenfalls enorm gelitten.«

Nach meinen Ausführungen sagten wir beide eine Weile nichts. Ich konnte sehen, dass es in Rainer Petersen arbeitete.

Auswirkungen von Kindheitstraumata

Da es ihm offenbar recht war, dass ich ihm weitere Hintergrundinformationen gab, berichtete ich ihm nun von zwei spannenden Forschungsarbeiten über den Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und somatischen sowie psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter in Deutschland.5 Die eine basiert auf Daten zu mehr als 150000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der sogenannten NAKO Gesundheitsstudie, Deutschlands größter Kohortenstudie. Diese wurden anhand von Ergebnissen in einem selbst ausgefüllten Fragebogen hinsichtlich keinem/geringem (knapp 116000 Teilnehmende) und moderatem/schwerem Kindheitstrauma (etwa 41000 Teilnehmende) unterteilt. Mit einem Kindheitstrauma war die Diagnosewahrscheinlichkeit für alle untersuchten somatischen wie psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter erhöht. Dies betraf sämtliche untersuchten Erkrankungen: Krebs, Herzinfarkt, Diabetes, Schlaganfall, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Depression und Angsterkrankungen. Die Zusammenhänge zeigten sich umso stärker, je jünger die Untersuchten zum Zeitpunkt ihrer Traumatisierung gewesen waren.

Eine andere Untersuchung6 haben wir vor einiger Zeit vorgelegt: Über 5000 Patientinnen und Patienten einer Uniklinik wurden dafür zu Gewalterfahrungen in der Vergangenheit befragt, außerdem wurden 130 von den 5000 Personen ausführlich interviewt. Auch hier zeigte sich das gleiche Ergebnis: Je früher jemand Gewalt erlebt hat, desto höher ist sein Risiko für spätere Erkrankungen.

Vor diesem Hintergrund erklärte ich Rainer Petersen, dass seine Mutter meiner Meinung nach ein deutlich erhöhtes Risiko für solche Erkrankungen im Erwachsenenalter gehabt hatte. »Und was die Vernachlässigung, die Gewalt und der sexuelle Missbrauch mit ihrem Selbstbewusstsein und ihrem Vertrauen in Mitmenschen gemacht haben, können wir uns beide denken. Neben dem Stress war Ihre Mutter sicher zeit ihres Lebens einsam; das hat sie ja selbst immer wieder im Tagebuch thematisiert.«

Die meisten Menschen bekommen nach einem schrecklichen Ereignis keine Erkrankung

Verlassen wir für einen Moment mein Gespräch mit Rainer Petersen, um auf einen bemerkenswerten und wichtigen Punkt hinzuweisen, der angesichts der Tragik seiner Mutter sonst zu kurz käme. Tatsache ist nämlich, dass die meisten Menschen, die eine Traumatisierung erlebt haben, keine Traumafolgestörung bekommen.

Im Rahmen einer Studie hat man auf der Basis von über 2500 repräsentativ ausgesuchten Personen die Häufigkeiten von Traumastörungen in Deutschland ermittelt.7 Sehr interessant sind dabei die Prozentzahlen der Störungshäufigkeiten je nach vorangegangenen Traumata: Am schlimmsten sind Gefangenschaft bzw. Entführung mit einer 1-Monats-Prävalenz (das ist das Maß für die in einem Zeitraum von genau einem Monat aufgetretenen Erkrankungen, hier PTBS und K-PTBS) von 20 Prozent, dann kommen Vergewaltigung (17 Prozent), Kindesmissbrauch vor dem 14. Lebensjahr sowie körperliche Gewalt (jeweils 11 Prozent), gefolgt von lebensbedrohlichen Krankheiten (8 Prozent), schweren Unfällen (7 Prozent), Naturkatastrophen (7 Prozent), Kriegserfahrungen (6 Prozent) und Zeuge eines traumatischen Ereignisses zu sein (3 Prozent). Oder um es umgekehrt auszudrücken: Trotz Gefangenschaft, Entführung oder Vergewaltigung entwickeln rund 80 Prozent keinePTBS oder K-PTBS.

Die Autoren der betreffenden Studie weisen zwar an anderer Stelle zutreffend darauf hin, dass dies nur Wahrscheinlichkeitsaussagen sind, die keine absolute Vorhersagekraft im Einzelfall haben.8 Gleichwohl geben die Prozentzahlen aus dieser Stichprobe einen sehr guten Eindruck von der Wahrscheinlichkeit, an einer PTBS oder K-PTBS nach einer Traumatisierung zu erkranken. Wenn man alle untersuchten Traumamöglichkeiten für die Gesamtstichprobe in dieser Untersuchung zusammenfasst, liegt die 1-Monats-Prävalenz für PTBS demnach bei 1,5 Prozent, für K-PTBS bei 0,5 Prozent. Aus einigen Untersuchungen9 weiß man, dass Frauen im Vergleich zu Männern eine deutlich höhere Auftretenswahrscheinlichkeit (Prävalenz) für PTBS haben (2,2 Prozent vs. 1,0 Prozent), und dasselbe gilt für Jüngere im Vergleich zu Älteren. Letzteres trifft allerdings nicht auf Angehörige der Kriegsgeneration zu, die ihre Traumatisierungen auch im Alter »fortschreiben«. Gerade bei den Geschlechts- und Altersunterschieden muss man die regionalen Besonderheiten der Traumaursachen berücksichtigen, die die Verhältnisse umkehren können. Dies kann beispielsweise das Vorkommen gewaltsamer oder kriegerischer Auseinandersetzungen sein.

Eine andere Studie über die Häufigkeiten psychischer Störungen beschreibt die 12-Monats-Prävalenzen für alle psychischen Erkrankungen in der erwachsenen deutschen Bevölkerung anhand von klinischen Interviews mit etwa 5000 repräsentativ ausgewählten Personen.10 Für die PTBS ergibt sich bei Frauen eine Häufigkeit von 3,6 Prozent, bei Männern 0,9 Prozent, zusammengefasst sind es 2,3 Prozent. Auf Deutschland hochgerechnet, kommt man so auf eine Zahl von insgesamt 1,5 Millionen Betroffenen mit PTBS.

Blickt man über Deutschland hinaus, so steigen in von Kriegen betroffenen Regionen die sogenannten Punkt-Prävalenzen (Vorkommen also nur zum Untersuchungszeitpunkt) einer PTBS auf etwa 25 Prozent.11 Dies entspricht etwa der Rate von Depressionen in Kriegsgebieten.

In einer Untersuchung im Sudan, einem Land mit einem lang anhaltenden bewaffneten Bürgerkrieg, ermittelten die Forscherinnen und Forscher eine 1-Monats-Prävalenz einer PTBS von 48 Prozent bei Einheimischen, die Zeuge von Ermordungen werden oder Entführungen und Vergewaltigungen ausgesetzt sind.12 Dem werden wir noch ausführlicher im Kapitel über die Südsudanesin Christine Aya begegnen.

Schließlich bleibt noch festzuhalten: Wenn sich einmal eine PTBS ausgebildet hat, kann diese sich auch wieder von alleine zurückbilden. Aus Untersuchungen weiß man, dass in der Hälfte der Fälle nach vier Jahren keine PTBS mehr besteht, die Krankheit also von alleine remittiert ist. Umgekehrt heißt dies aber auch hier, dass in 50 Prozent der Fälle eine PTBS fortbesteht.

Die Bedeutung psychischer Erkrankungen

Hier noch ein paar weitere Zahlen zu psychischen Erkrankungen in Deutschland. Hierzulande sind jedes Jahr etwa 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von irgendeiner psychischen Erkrankung betroffen.13 Am häufigsten sind dabei Angststörungen, unipolare Depression sowie suchtartiger Alkohol- bzw. Medikamentenkonsum.14

Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen haben zudem im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung durchschnittlich eine um etwa fünf bis zehn Jahre verringerte Lebenserwartung, was ganz überwiegend auf körperliche Erkrankungen zurückzuführen ist.15

Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 10300 Suizide begangen – das waren 28 Suizide pro Tag. Im Vergleich zum Jahr 2021 bedeutete das einen Anstieg um 900 Todesfälle. Männer sind dabei mit 73 Prozent vertreten, Frauen mit 27 Prozent. Ein Großteil davon (bis zu 90 Prozent) lässt sich auf irgendeine psychische Erkrankung zurückführen.

Nicht nur das Leid der psychisch erkrankten Menschen und ihrer Angehörigen ist hoch, auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen sind gravierend. So sind psychische Erkrankungen mit hohen Kosten für das Gesundheitssystem verbunden und wirken sich erheblich auf die Arbeits- und Erwerbssituation der Betroffenen aus: Psychische Erkrankungen sind mit rund 42 Prozent der häufigste Grund für Frühverrentungen, Tendenz steigend.16 Auch sind etwa 16 Prozent aller Fehltage auf sie zurückzuführen, Tendenz ebenfalls steigend.17

Kehren wir wieder zurück zu Rainer Petersen und seiner Mutter. Unser Gespräch neigte sich dem Ende zu. Ich sagte ihm, dass ich auf Grundlage der wenigen Informationen, die uns vorlägen, der Ansicht sei, dass seine Mutter eine komplexe PTBS als Traumafolgestörung gehabt hatte. Zugleich wies ich ihn aber darauf hin, dass in der Medizin derlei Ferndiagnosen nicht zulässig seien und vor allem den Menschen, um die es ging, nicht gerecht würden.

»Das ist mir durchaus bewusst«, meinte Rainer Petersen daraufhin. »Letztlich hilft es ja auch weder meiner Mutter noch mir, wenn man jetzt eine Diagnose stellt. Aber wenn ich noch einmal auf meine letzte Frage zurückkommen darf: Was ist mit mir und meinen Kindern? Müssen wir irgendwelche Schlussfolgerungen aus all den Informationen des Tagebuchs ziehen?«

»Ich finde es wichtig, dass Sie sich überlegen, was das Ganze mit Ihnen zu tun hat«, antwortete ich ihm. »Von außen betrachtet kamen Sie mit einem Jahr in eine Pflegefamilie, und Ihnen wurde gesagt, dass Ihre leibliche Mutter nichts mehr mit Ihnen zu tun haben möchte. Ich finde es sehr nachvollziehbar, dass Sie das geglaubt und nicht infrage gestellt haben. Hätte ich wahrscheinlich auch so gemacht, wenn ich mit diesem Narrativ groß geworden wäre. Auf jeden Fall sollten Sie aber Ihre Frau und in geeigneter Form auch Ihre Kinder darüber informieren, denn für Ihre Angehörigen ist es ja schon wichtig zu wissen, wie die Familienzusammenhänge sind. Die Wahrheit über die eigene Abstammung ist immer besser als eine Lüge. Und auf dieser Wahrheit können Sie jetzt aufbauen, auch wenn Sie Ihrer Mutter leider nicht mehr helfen können.«

In dem Tagebuch würden einige psychische Erkrankungen genannt, die möglicherweise auch Auswirkungen auf ihn hätten, meinte ich dann zu ihm. »Grundsätzlich sprechen wir bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen von einem biopsychosozialen Modell. Dies bedeutet, dass sowohl biologische, also genetische, als auch psychologische und soziale Faktoren den Ausbruch einer Erkrankung bedingen. Leider kann die Wissenschaft heute noch nicht bei einem einzelnen Menschen sagen, welcher Faktor in welcher Ausprägung vorgelegen haben muss, damit eine bestimmte Erkrankung auftritt. Oder andersrum gesagt: Wir wissen nur von einer möglichen Alkoholkrankheit Ihres leiblichen Vaters als möglicher biologischer Ursache. Dies ist eine schwere Erkrankung, die auch genetisch bedingt ist. Aber eben nur teilweise. Und wie wir vorhin ja schon besprochen haben, gibt es bei Ihrer Mutter viele klare Hinweise auf eine komplexe PTBS.«18

»Aber was ist mit der Epigenetik?«, hakte er nach. »Ich bin ja das erste Jahr bei ihr aufgewachsen. Kann ihre Verzweiflung, ihre Angst irgendwie auf mich oder auch auf meine Kinder übergegangen sein?«

Epigenetik beschreibt die Auswirkungen der Umwelt auf die Aktivität von Genen und auf Zelleigenschaften. Bei Tieren hat man zweifelsfrei nachgewiesen, dass sich insbesondere Traumatisierungen auf die Kindergenerationen auswirken können; bei Menschen ist man sich da noch nicht ganz sicher, aber es ist sehr wahrscheinlich, wenngleich sehr kompliziert.19 Dazu wird intensiv geforscht. So wurde zum Beispiel schon früh bei Holocaust-Überlebenden gezeigt, dass sich im Falle einer Schwangerschaft ihre traumatischen Erfahrungen auf das Stresssystem des ungeborenen Kindes auswirken konnten.20 Eine andere Arbeit befasste sich mit in der Kindheit traumatisierten Menschen, die dadurch eine bestimmte genetische Auffälligkeit entwickelten, welche eine Fehlregulation des Stresshormonsystems bewirkt. Hier können Angststörungen und Depressionen Folgen sein.21

»Im Moment muss man feststellen, dass es nicht genug wissenschaftliche Evidenz gibt, um Ihre Frage klar zu beantworten«, erklärte ich Rainer Petersen daher abschließend. »Die ganze Geschichte mit Ihrer Mutter wird schon einen Einfluss auf Sie gehabt haben. Man kann aber heute nicht sagen, welchen und wie stark er war. Sie wirken auf mich körperlich und seelisch gesund, haben einen anerkannten Beruf, sind seit Jahren glücklich verheiratet und haben zwei Kinder. Und Sie scheinen in sich zu ruhen. Insofern bin ich sehr zuversichtlich, dass Sie bald Ihren Frieden mit dem Tagebuch und der Geschichte Ihrer Mutter und so auch mit Ihrer eigenen Geschichte finden werden.«

Rainer Petersen erhob sich langsam, ging einen Schritt auf mich zu, nahm meine Hände und drückte sie lange ganz fest. Dann verabschiedete er sich. Er war noch immer bewegt, wirkte zugleich aber gelöst. Allem Anschein nach hatte ihm unser Gespräch gutgetan. Ich glaube nicht, dass sein Text über traumatisierte Menschen in jenem Magazin oder in irgendeiner Zeitung erschienen ist.

Kapitel 2Lebensereignisse und Anpassungsstörungen. Gefängnisalltag

Thorsten Ritzing

Thorsten Ritzing war über seinen Hausarzt angemeldet worden. Dieser wollte die Zweitmeinung eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie zu längerer Arbeitsunfähigkeit einholen. Der Patient sei bereits seit zwei Monaten krankgeschrieben, und es gehe ihm gar nicht gut, hieß es. Bei unserem ersten Treffen wirkte der groß gewachsene, kräftige Sechzigjährige nachdenklich, traurig und verstimmt. Gleich zu Beginn erklärte er, dass er schon seit 25 Jahren Justizbeamter und derzeit Leiter der Sanitätsstation in einer Justizvollzugsanstalt sei.

»Mein Doktor hat gesagt, ich hätte ein Trauma, deswegen bin ich jetzt bei Ihnen.« Wie er mir dann schilderte, war sein Schlaf nicht gut, und er musste immer wieder an einen Vorfall in der JVA denken, der gut zwei Monate zurücklag. Während des Hofgangs hatte sich vor seinen Augen ein Häftling verbrannt. Thorsten Ritzing machte sich deswegen große Vorwürfe, denn er war überzeugt, dass das nicht passiert wäre, wenn er sich vorschriftsmäßig verhalten hätte. Mit dieser Schuld konnte er nicht umgehen. »Das war schon schrecklich«, meinte er.

Er hatte nach eigener Aussage zwar keine Albträume, schreckte aber mitten am Tag oder auch nachts auf, wenn wieder einmal die Erinnerungen an die Situation hochkamen. Er sei in den beiden Monaten seit dem Vorfall etwas ängstlich geworden. So kenne er sich gar nicht – und so wolle er auch nicht sein.

Körperlich gehe es ihm gut, meinte er, auch wenn er zu hohen Blutdruck, zu viele Blutfette und seit einiger Zeit auch noch Diabetes habe. Mit Medikamenten habe er das alles einigermaßen im Griff. Er sei zwar nicht mehr der Jüngste, aber ganz gut trainiert, weil er zweimal die Woche die Fitnessräume der JVA nutze. Eine gewisse körperliche Fitness sei bei seinem Job einfach nötig.

Nun habe er manchmal das Gefühl, überhaupt nicht mehr im Gefängnis arbeiten zu können, weil es ihn immer an den brennenden Menschen erinnere und an das, was er dazu beigetragen hatte. Nicht zuletzt deshalb sei er seit dem Vorfall krankgeschrieben. Mit seiner Frau könne er über sein Problem gar nicht sprechen. Ihre Beziehung sei deswegen gerade ziemlich angespannt.

Fragen nach der Lebensgeschichte

Nach diesen ersten Ausführungen und so, wie ich Thorsten Ritzing erlebte, war es offensichtlich, dass es ihm nicht gut ging. Als Nächstes untersuchte ich ihn körperlich, nahm ihm Blut ab, und wir vereinbarten einen gesonderten Termin für eine testpsychologische Untersuchung. Bei dieser lassen sich mithilfe von psychologischen Tests und Fragebogen noch mehr Hinweise auf die Persönlichkeit, die kognitive Leistungsfähigkeit und die Beeinträchtigungen einer Person gewinnen.

All diese Maßnahmen sollten dazu dienen, diagnostisch auf der sicheren Seite zu sein und andere Krankheiten, körperliche wie psychische, als ursächlich für seine Beschwerden ausschließen zu können.

Anschließend führte ich die Unterhaltung mit Thorsten Ritzing fort und fragte ihn nun nach seiner Biografie. Dies mache ich gerne sehr ausführlich und gleich zu Beginn, um zunächst einmal einen Eindruck von meinem Gesprächspartner, seiner Geschichte und seinem Umfeld zu bekommen. Die so gewonnenen Informationen sind außerdem wichtiger Bestandteil der notwendigen Verhaltensanalyse einer eventuell folgenden Psychotherapie. Was eine Person in der Vergangenheit erlebt und wie sie sich verhalten hat, liefert, wie ich finde, die bestmögliche Vorhersage für die Zukunft. Außer die Person selbst ändert etwas, wenn die Umstände dies erlauben. Schon allein deshalb ist es für mich als Psychotherapeuten entscheidend, die Geschichte jedes Patienten und jeder Patientin genau zu kennen und zu verstehen.

Thorsten Ritzing stammte aus einem kleinen Dorf in Baden-Württemberg, wo der Großteil seiner Familie nach wie vor wohnte. Sein Vater war Landschaftsgärtner bei einer großen Firma gewesen und deshalb viel herumgekommen. Wenn er von auswärts wieder nach Hause zurückkehrte, erzählte er seinem Sohn jedes Mal von der Welt jenseits des Dorfes, davon, wie die Leute anderswo lebten und arbeiteten. Als Kind fand Thorsten Ritzing die väterlichen Erzählungen beeindruckend, und sie regten seine Fantasie an.

»Mein Vater hat nicht gesund gelebt, hat getrunken und geraucht. Er hatte mehrere Herzinfarkte, und der letzte war dann tödlich. Meine Mutter hat in einer Fabrik gearbeitet, die Heizdecken herstellte. Sie war am Ende ziemlich krank, hatte Krebs in der Bauchspeicheldrüse, überall Metastasen und konnte nichts mehr essen.«

»Erzählen Sie mir von Ihren Großeltern. Haben die Sie geprägt?«

»Oh ja, Oma und Opa waren so, wie ich heute bin. Als Kind war ich die meiste Zeit bei ihnen, denn meine Eltern haben eigentlich immer nur gearbeitet.«

Auf meine Frage, wie die Großeltern als Persönlichkeiten waren, antwortete Thorsten Ritzing: »Pünktlich, ordentlich, zuverlässig und hilfsbereit.«

Nach der Mittleren Reife und einer Schreinerlehre zog es ihn hinaus in die weite Welt. Zunächst nach Hamburg und von dort auf ein Schiff. Fünf Jahre fuhr er als Matrose zur See. Der Liebe wegen suchte er schließlich eine Arbeit an Land. In einer Anzeige las er, dass eine JVA Beamte suchte. Die Aussicht auf einen sicheren Arbeitgeber fand er verlockend. Auch seine Freundin und spätere Frau riet ihm dazu, sich zu bewerben. Tatsächlich bekam er nach einem recht anspruchsvollen Auswahlverfahren eine Stelle, und nach dem gemeinsamen Umzug mit seiner Freundin begann er als Beamter im Vorbereitungsdienst im Gefängnis zu arbeiten.

Privat lief alles sehr gut: Er und seine Freundin heirateten bald, und obwohl es mit dem Kinderkriegen nicht klappen wollte, waren beide mit ihrem Leben zufrieden und glücklich.

»Die Realität im Gefängnis hatte ich mir aber bis dahin nicht vorstellen können, dort gab es jede Menge Gewalt und Kriminalität.«

Thorsten Ritzing wurde zunächst im Jugendgefängnis im Vollzugsdienst eingesetzt, sorgte also mit seinen Kollegen für sichere Abläufe und Ordnung. Irgendwann wollte er sich weiterentwickeln und erhielt vom Anstaltsleiter das Angebot, eine Krankenpflegeausbildung zu absolvieren. Dafür wurde er vom Dienst freigestellt, bekam aber weiter sein Gehalt. Dank der Zusatzausbildung wurde er später Leiter der Krankenstation in der JVA. Ihm gefiel die Arbeit, und er fand es sehr befriedigend, sich in medizinischer Hinsicht für die Gefangenen einzusetzen.

Für die Belange der Kolleginnen und Kollegen hatte Thorsten Ritzing stets ein offenes Ohr. Einmal machte er an der Justizakademie sogar eine Fortbildung zum sozialen Ansprechpartner. Dabei lernte er beispielsweise, von anderen nicht immer zu viel zu fordern, und vor allem, sein Gegenüber erst mal ausreden zu lassen.

Der lodert wie eine Fackel

Schließlich kamen wir auf den Vorfall zu sprechen, der ihn überhaupt erst zu mir geführt hatte. An jenem Tag hatten die Gefangenen wie üblich eine Stunde Hofgang. Thorsten Ritzing, der eigentlich auf der Krankenstation arbeitete, hatte diesmal zusammen mit einem Kollegen Wachdienst. Es kam durchaus öfter vor, dass er einspringen musste, vor allem wenn es Engpässe aufgrund von Krankheit oder Urlaub gab.

Einer der Häftlinge sprach ihn an und begann ihm vertraulich zu erzählen, er habe gerade Stress mit seiner Frau.

Thorsten Ritzing, der solche Gespräche immer wichtig fand, hörte dem Mann aufmerksam zu und war dadurch kurzzeitig abgelenkt. Jedenfalls hatte er die anderen Gefangenen vorübergehend nicht im Blick, womit er – nach seinen Worten – ganz klar gegen die Vorschriften verstieß. Auch sein Kollege musste mit etwas anderem beschäftigt gewesen sein.

»Auf einmal höre ich hinter mir lautes Geschrei und drehe mich um. Mitten im Hof lodert einer der Gefangenen wie eine Fackel. Keine Ahnung, wie der das gemacht hat. Er brannte lichterloh, und wir hatten nur den Feuerlöscher. Mit dem haben wir ihn gleich abgespritzt, aber das hat nicht gereicht. Ich habe um Hilfe geschrien, eine Kollegin kam mit ein paar Decken angerannt, und endlich konnten wir den Brand löschen.«

Thorsten Ritzing schnitt dann noch die Kleidung des Gefangenen auf und versuchte ihn zu kühlen. Als der Notarzt eintraf, unterstützte er diesen, so gut er konnte. Es wurde Alarm für das ganze Haus ausgegeben, und alle Gefangenen mussten sofort in ihre Zellen. Kurz darauf landete ein Rettungshubschrauber im Hof, der den verletzten Gefangenen in die Klinik flog. Wie Thorsten Ritzing berichtete, erlag der Mann drei Tage später seinen schweren Brandverletzungen.

»Die ganze Situation war natürlich schrecklich. Man konnte dem nicht mehr helfen. Ich habe dann noch ein paar Wochen sehr oft daran denken müssen und die brennende Fackel vor mir gesehen. Auch den Geruch habe ich nicht aus der Nase bekommen.« Inzwischen sei beides zum Glück wieder weg.