Das erstarrte Schloss und andere Geschichten - Hannelore Hell - E-Book

Das erstarrte Schloss und andere Geschichten E-Book

Hannelore Hell

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Beschreibung

Als Mutter von sechs Kindern fragte ich einst meine Kinder in der Vorweihnachtszeit, was sie sich vom Weihnachtsmann wünschen. Nachdem ich alle Wünsche kannte, machte ich mich auf den Weg, dem Weihnachtsmann zu helfen und hatte bereits für fünf Kinder etwas besorgt – nur der Wunsch unserer jüngsten Tochter machte mir Sorgen. Sie wünschte sich ein »Rotes Märchenbuch«. Ich fand in unserer Stadt viele Buchläden und viele Märchenbücher, keines davon besaß aber einen roten Umschlag. Dann entdeckte ich ein rotes Poesiealbum. Das bestand nur aus einem roten Umschlag und vielen leeren Seiten. Kurzerhand kaufte ich es, schrieb selbst eine Geschichte hinein und hatte das perfekte Geschenk für unsere Jüngste. Später stellte sie es in der Schule vor. Alle Schüler waren begeistert und viele borgten sich das Buch aus, um es selber zu lesen. Leider kam es irgendwann nicht mehr zurück. Damit auch andere Kinder das Märchen lesen können, schrieb ich noch einige Geschichten dazu, sodass es nun als richtiges Buch erscheinen kann.

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Seitenzahl: 155

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Hannelore Hell

Das erstarrte Schlossund andere Geschichten

R. G. FISCHER KIDDY

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Titelbild: d0r0thy – © 123rf.com

Schriftart: Palatino 11 pt

Herstellung: rgf/bf/1B

ISBN 978-3-8301-9469-9 EPUB

Das erstarrte Schloss

Es war einmal ein kleines Mädchen. Es hatte blondes Haar und blaue Augen. Glücklich und zufrieden lebte es mit seinen Eltern in einer kleinen ärmlichen Hütte.

Der Vater des Mädchens war Holzfäller. Er war ein fleißiger und tüchtiger Mann. Trotzdem reichte das Geld, das er verdiente, immer nur für das Nötigste. Doch das störte unsere kleine Isabell nicht. Die Hütte, in der sie wohnten, stand direkt am Waldrand, und dort war es immer interessant.

Oft ging sie mit der Mutter Beeren und Kräuter sammeln, oder sie suchten Reisig fürs Feuer. Doch am liebsten ging unsere Isabell in den Wald, um Pilze zu sammeln. Sie kannte sich aus, wusste genau, welcher schmeckte und welcher nicht genießbar oder gar giftig war. Maronen, Steinpilze, Pfifferlinge, wie sie gerade nach der Jahreszeit dastanden, sammelte sie in ihren Körben. Zu Hause kochte ihre Mutti ein herrliches Essen daraus.

Obwohl die Hütte sehr abgelegen stand und sich nur selten ein Fremder dorthin verirrte, hatte unser kleiner Blondschopf viele Freunde. So wurde sie jeden Sommer täglich von einer kleinen Meise geweckt. Jeden Morgen sang sie ihr all ihre schönen Lieder vor, bis Isabell vor das Haus trat und einen »Guten Morgen« wünschte.

Isabell begrüßte dann auch den Hund Bello, der oft mit der Meise spielte. Sie schaute nach der Ziege Clara, lief zum Schaf Plüschi und schmuste mit dem Kaninchen Hoppel.

Hoppel war ein ganz besonderes Kaninchen. Der Vater brachte es ganz klein mit nach Hause. »So, Isabell, füttere es und pflege es gut«, sagte er, »und wir haben am Jahresende einen schönen Weihnachtsbraten.«

Isabell hegte und pflegte das Kaninchen. Sie ging sogar mit ihm spazieren. Bello kam dann immer mit und passte genau auf, dass es sich nicht zu weit entfernte. So verstrich der Sommer und das Weihnachtsfest rückte näher und näher.

Schließlich erinnerte der Vater Isabell an den Weihnachtsbraten. Das kleine, noch eben lebhafte Mädchen wurde ganz blass und still. Ihr Hoppel sollte nun in den Kochtopf wandern? Wo sie ihn doch so lieb hatte! Keinen Happen könnte sie davon hinunter bekommen.

Doch eines Morgens kam sie in den Stall – und ihr Hoppel war weg.

Tränenüberströmt lief sie ins Haus, legte sich aufs Bett und weinte. Als die Mutter nach ihr schaute, hatte sie bereits hohes Fieber. – Und das einen Tag vor Heiligabend.

Nur mit viel Mühe bekam die Mutter das Kind zur Ruhe und das Fieber etwas herunter.

Am nächsten Tag stand ein wunderschönes Weihnachtsbäumchen im Zimmer. Geschmückt war es mit Isabells selbstgebastelten Sternchen und Ketten. Äpfel und Nüsse konnte man auch entdecken. Herrlich sah das Bäumchen aus. Der Vater hatte es persönlich ausgesucht und mitgebracht.

Aber unser kleines, kummervolles Mädchen wollte das Bäumchen nicht sehen. Auch als der Vater sie rief, um ihr die Geschenke zu zeigen, kam sie nicht. So ging das natürlich nicht.

Also ging der Vater zu ihr, hob sie aus dem Bett und trug sie zum Weihnachtsbaum. Was machte sie dort für große Augen! Ihr Hoppel saß quietschvergnügt in einem neuen Käfig und fraß genüsslich eine Mohrrübe. Seit diesem Tage gehörte Hoppel mit zur Familie und niemand betrachtete ihn mehr als Festtagsbraten.

So wuchs Isabell zwischen ihren Tierfreunden heran.

Selbst bei den Waldtieren fand sie viele Freunde. Einmal fand sie mit ihrer Mutter beim Pilze sammeln ein kleines Reh mit einem gebrochenen Vorderlauf. Sie nahmen es mit nach Hause, legten eine Schiene an und pflegten es gesund. Obwohl Isabell ihrem Ricki, so hatte sie es inzwischen genannt, nach der Genesung sofort die Freiheit wiedergab, kam es oft zurück, schaute zu seiner großen Freundin und verschwand wieder im Wald. Manchmal kam es auch angesprungen, wenn Isabell im Wald war. Dann gingen sie gemeinsam ein Stück oder spielten ein wenig.

Eines Tages ging Isabell wieder in den Wald. Sie war inzwischen zu einem kleinen Fräulein herangewachsen und fand sich allein im Wald zurecht. Sie wollte Pilze sammeln. Dazu war sie extra sehr früh aufgestanden. Sie hoffte, viele zu finden, mehr als sie brauchten. Dann würde sie mit ihrer Mutti den Rest trocknen. Für den Winter mussten sie sich einen reichlichen Vorrat an Esswaren zulegen. Der Weg zum Dorf war meist sehr hoch zugeschneit und daher beschwerlich.

Also lief Isabell mit den ersten Sonnenstrahlen in den Wald. Rechts und links hielt sie ein Körbchen in den Armen, und vorneweg lief schwanzwedelnd ihr Bello. Er suchte natürlich mit. Jeden Pilz, den er entdeckte, umkreiste er und winselte oder bellte so lange, bis Isabell nachschaute, ob sie den Pilz gebrauchen könnte. Fand er einen essbaren, tänzelte er freudig um sie herum, aber wehe, der Pilz war giftig! Sofort ließ er seine Ohren hängen, zog den Schwanz ein und schlich fast beleidigt weiter und suchte nach neuen.

Sie suchten beide, Isabell und Bello, und schnell hatten sie ihr erstes Körbchen voll. Nun stand Isabell vor einer Entscheidung. Sie waren bereits sehr tief in den Wald vorgedrungen und standen auf einer Lichtung. Mit der Mutter machte sie hier immer Rast, und anschließend traten sie den Heimweg an. Sollten sie auch umkehren? Und was würde mit dem leeren Korb werden? Ob sie auf dem Rückweg noch mal so viele Pilze fänden? Sie glaubte es nicht, wo doch Bello so gründlich mitgesucht hatte. Eigentlich brauchte sie doch gar keine Angst zu haben, sich in dem noch unbekannten Wald zu verlaufen. Bello konnte doch auf dem Heimweg ihre Fährte aufnehmen und sie so sicher nach Hause führen. Gedacht, getan! Beide zogen weiter in eine ihnen völlig unbekannte Welt. Ihr zweites Körbchen füllte sich rasch. Wie freuten sich beide, als sie fertig waren.

»Lass uns etwas ausruhen, bevor wir den Heimweg antreten«, sprach Isabell zu ihrem Bello und setzte sich auf einen alten Baumstumpf. Bello legte sich ihr zu Füßen und sah abwechselnd von einem Korb zu Isabell, dann zu dem anderen Korb und wieder zurück. Plötzlich richtete er sich blitzschnell auf und blickte in eine ganz bestimmte Richtung. Isabell schaute auch dorthin und sah ein uraltes Mütterchen aus dem Dickicht hervorschlurfen.

»Einen schönen guten Tag«, wünschte Isabell und bot der alten Frau ihren Baumstamm zum Verschnaufen an. Dankbar ließ sich das Mütterchen nieder. »Oh, hast du wunderschöne Pilze gefunden. Bei ihrem Anblick läuft einem das Wasser im Mund zusammen. Weißt du, wie lange ich schon keine Pilze mehr gegessen habe? Seit Jahren habe ich’s im Kreuz und kann mich nur mit Mühe bücken. Von einer herrlichen Pilzsuppe kann ich nur träumen.« So redete die alte Frau und Isabell hörte zu. Die Frau tat ihr leid.

»Vielleicht möchtet Ihr den einen Korb von mir als Geschenk nehmen? Dann könnt Ihr Euren Wunsch erfüllen, eine Suppe davon kochen und den Rest trocknet Ihr, wie wir es immer machen.« Isabell reichte ihr lächelnd einen ihrer Körbe.

»Du bist ein liebes und gutmütiges Mädchen. Ich danke dir. Doch jetzt musst du sicher nach Hause? Geh diesen Weg!« Und sie zeigte auf einen Pfad, den Isabell vorher gar nicht gesehen hatte. »Er ist kürzer!«

Isabell staunte. Sie hatte doch bereits gesessen, als das Mütterchen erschien. Woher wusste es, aus welcher Richtung sie gekommen waren? Doch ehe sie fragen konnte, war die alte Frau verschwunden. Seltsam!

Es wurde aber nun wirklich Zeit, dass Isabell sich auf den Heimweg machte, und sie schlug mit Bello den schmalen Weg ein. Bellos Hundeverstand begriff nicht, warum sie nach so viel Mühe nur mit einem Korb nach Hause gingen. Immer wieder schaute er auf den Korb in Isabells Arm und dann zurück in die Richtung, in der das Mütterchen mit dem anderen Korb verschwunden war. Da aber Isabell nur noch die Hälfte zu tragen hatte, kamen sie zügig voran, und Isabell hielt Ausschau nach bekannten Bäumen und Sträuchern. Wenn der Weg wirklich kürzer wäre, müssten sie bald in eine ihr bekannte Gegend kommen. Doch der Weg nahm und nahm kein Ende. Hatten sie sich jetzt doch verlaufen?

Auf einmal sahen sie ein strahlendes, weißblaues Licht. Was mochte das sein? Sie gingen in diese Richtung und standen plötzlich vor einem fast durchsichtigen, gläsernen Schloss. Merkwürdig, was für eine Kälte es ausstrahlte.

Isabell trat an das große Eingangstor und berührte die Klinke. Erschrocken zog sie ihre Hand wieder zurück. Das Tor und die Schlossmauern waren nicht aus Glas, sondern aus glitzerndem Eis. Isabell staunte. Doch wie käme man hinein? Sie pochte leise ans Tor. Niemand öffnete. Schließlich wickelte sie ein Taschentuch um ihre kleine Hand, und siehe da, die Tür sprang bei der kleinsten Berührung wie von selbst auf.

Was erblickte sie alles: Blumen, Gräser, Bäume, und alles aus Eis, als wäre es kunstvoll angefertigt. Sogar eine glitzernde Hundehütte entdeckte sie. Von einem Hund allerdings keine Spur. Bello beschnupperte die Hütte von außen und innen. Sie sah zwar gut aus, war ihm aber nicht gemütlich genug. Die Gegend gefiel ihm sowieso nicht. Er fror. Stupste er mit seiner Schnauze gegen eine Blume, brach sie entzwei. So etwas Dummes!

Doch seine große Freundin ging weiter bis zum Eingang des Schlosses. Hier hörten sie aus weiter Ferne eine leise Stimme. Es war die Stimme der alten Frau, der sie im Wald begegnet waren.

»Isabell«, rief sie, »du warst so freundlich und gutmütig zu mir. Suche dir im Schloss etwas aus, was dir gefällt, und nimm es mit nach Hause! Es gehört dir!«

Isabell schaute sich um. Nirgends sah sie das alte Mütterchen. Von den eisigen Gegenständen wollte sie eigentlich nichts mit nach Hause nehmen. Die Blumen zu Hause, die sich im Sommerwind wiegten, gefielen ihr viel besser als all diese glitzernde Pracht. Sie trat in das Schloss. Prunkvoll war es anzusehen. Hier entdeckte sie sogar zu Eis erstarrte Dienstboten. Sie schlenderte durch die Gemächer, bis sie vor einem erstarrten Jüngling stand. Sein Körper war fast so durchsichtig wie alles hier. Doch seine Augen blickten traurig. Er tat ihr leid. Ob es ihr zu Hause möglich wäre, ihn aufzutauen? Sie durfte doch mitnehmen, was ihr gefiel. Sofort packte sie zu und wollte ihn hochheben. Doch er war ihr zu schwer. Sie blickte sich um. Dort auf dem Sofa fand sie eine Decke. So steifgefroren, wie sie war, drehte sie die Decke einfach um, so dass die Ecken, die vorher nach unten hingen, jetzt nach oben standen und legte den Jüngling wie in eine Kutsche hinein. Über das Eis gleitend schob sie ihn nun aus dem Schloss hinaus.

Bello betrachtete das alles mit misstrauischen Augen. Er begriff mal wieder nichts. Wollte sich seine Freundin jetzt bis nach Hause so abmühen? Was sollte dann aus den Pilzen werden?

Isabell aber zog und zog immer weiter. Und als er sah, wie sie sich abmühte, half er ihr beim Schieben. Sie schafften ihn aus dem Schloss durch den Garten hinaus durch das große Tor. Als sie endlich ihren rauschenden, grünenden und blühenden Wald wieder betraten, hielt Isabell plötzlich kein Eis mehr in ihrer Hand, sondern eine reichverzierte flauschige Decke. Und von der Decke erhob sich ein wahrhaft lebendiger Jüngling. Als Isabell sich umsah, war auch das Schloss nicht mehr aus Eis. Viele Leute schauten mit überglücklichen Gesichtern aus den Fenstern. Was war das? Isabell kam nun aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Jetzt fing der Jüngling an zu sprechen: »Du bist unsere Erlösung. Ich bin ein Prinz und bekam von meinen Eltern dieses Schloss und diesen Wald geschenkt. Stolz und überdurchschnittlich streng verwaltete ich meinen Besitz. Oft behandelte ich meine Leute herzlos und kalt. An einem verregneten Tag bat ein altes Mütterchen mich um ein Obdach für die Nacht. Da sie es nicht bezahlen konnte, warf ich sie hinaus. Alle meine Leute, die sie genauso behandelten wie ich, ließ sie mit mir und dem Schloss zu Eis erstarren. Alle anderen zogen woanders hin. Lange hatte ich nun Zeit, über mein Leben nachzudenken. Oft verirrte sich jemand in unser Schloss, schaute sich um und blieb zuletzt an unseren Schatztruhen stehen. Obwohl die Edelsteine nur aus Eis zu sein schienen, raffte sich ein jeder seine Taschen voll. Ich wurde immer trauriger und glaubte inzwischen nicht mehr, dass es auch noch bescheidene und freundliche Menschen gäbe. Doch dann kamst du und hast uns mit deinem warmen Herzen wieder zum Leben erweckt. Du bist nicht nur rein im Charakter, du bist auch sehr schön. Möchtest du meine Frau werden?«

Isabell willigte ein. Der Prinz gab Anweisungen für die Hochzeitsvorbereitungen und ließ die Kutsche anspannen, um die Eltern zum Fest zu holen. Bello fuhr natürlich ganz oben auf dem Kutschbock mit. Gemeinsam feierten sie alle eine lustige Hochzeit und lebten sehr, sehr lange glücklich und zufrieden.

Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute!

Das Kirschbäumchen

Es war einmal ein kleines Häuschen mit einem kleinen Garten. Dort wohnte eine Familie mit einem kleinen Jungen. Der Junge wollte gern einen Baum zum Klettern haben. Da der Garten nur sehr klein war, hatte noch niemand einen Baum gepflanzt. Normalerweise pflanzte man in dem Garten Kartoffeln, Gemüse, Erdbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren und was noch so rein passte. Nun entschlossen sich die Eltern, ein Kirschbäumchen zu pflanzen. Sie setzten es gleich vorne in die Nähe des Weges, der am Haus vorbei führte. Dann könnte er später vom Baum aus den ganzen Weg überblicken. Doch leider dauerte es einige Jahre, bis der Baum groß genug war, um auf ihm herum klettern zu können. Inzwischen bekam der Junge noch ein Schwesterchen und das Häuschen wurde zu klein für die Familie. Also zogen sie um in ein größeres Haus.

Für einige Zeit blieb das Häuschen leer. Unser Kirschbäumchen wuchs und wuchs und wurde langsam immer größer. Eines Tages zog eine Familie mit zwei kleinen Mädels ein. Es waren Zwillinge, aber trotzdem völlig unterschiedlich im Charakter. Das eine Mädel hieß Doreen und war sehr still und artig und das andere Mädel hieß Marleen, war sehr lebhaft und meist auch frech. Als sie das Kirschbäumchen sahen, freuten sie sich schon auf die ersten Kirschen. Da sie im Frühjahr einzogen, wurden zunächst ein paar Äste mit in die Wohnung genommen und in die Vase gestellt. Die Blüten sahen schön aus und dufteten herrlich. Um den beiden eine Spielmöglichkeit im Garten zu geben, säten die Eltern Rasen unter den Baum. Doch noch durften sie den Rasen nicht betreten. Er musste erst groß und fester werden. Also beobachteten sie das Bäumchen von weitem.

Viele Insekten kamen zu den Blüten. Was suchten sie in den Blüten? Von ihren Eltern erfuhren sie, dass die Blüten für die Bienen Nahrung haben. Dafür bestäuben sie den Stempel, einen kleinen, klebrigen weichen Zweig inmitten der Blüte. Ist die Blüte bestäubt, kann eine Kirsche wachsen. Ohne die Bestäubung fallen die Blüten ab und es werden keine Kirschen daraus. Nun passten sie auf, ob auch alle Blüten von den Insekten besucht würden. Sie freuten sich, als sie die ersten grünen kleinen Kirschen sahen. Der Rasen unter dem Bäumchen wurde auch langsam kräftig genug.

Dann baute ihnen ihr Vati eine Bank rund um das Bäumchen und sie saßen dort gerne im Schatten der Blätter.

Im Sommer saßen die Mädels gerne unter dem Baum und spielten mit ihren Puppen oder schauten sich Bilderbücher an. Dabei warteten sie ungeduldig, dass die Kirschen reif würden. Es waren sehr viele Kirschen an dem Baum. Doch leider waren sie sehr klein. Sie wurden zwar rot und sogar dunkelrot, aber einfach nicht größer. Sie hatten kaum Fruchtfleisch und schmeckten dadurch überhaupt nicht. Die Zwillinge waren traurig. So ein schöner Baum und keine schönen Kirschen. Der Vati tröstete sie: »Wenn der Baum abgeerntet ist, werde ich ihn beschneiden. Ihr werdet sehen, im nächsten Jahr wird er bessere Kirschen tragen.«

Es hatte sich noch niemand um das Bäumchen gekümmert, darum hatte es seine Energie in all die Äste gesteckt, die es so schön hatte wachsen lassen. Es hatte viele Äste, die es nicht brauchte, die ihm unnötig die Energie für die Kirschen raubten. Als die Kirschen alle vom Baum waren, machte sich der Vati an die Arbeit und schnitt alle überflüssigen Äste ab. Doreen und Marleen schauten dabei zu. Ob das wirklich helfen würde? So ganz konnten sie es nicht glauben. Um es zu erfahren, mussten sie nun aber bis zum nächsten Jahr und zur nächsten Ernte warten.

Doreen half ihrer Mutti ab und zu bei der Ernte im Garten. War ein Beet abgeerntet, wurde es neu umgegraben und für die nächste Saat vorbereitet. Dabei entdeckte sie allerhand Tiere im Boden. Mal eine weiße Raupe mit einem braunen Kopf. Sie erfuhr, dass es ein Engerling sei, der irgendwann zu einem Mai- oder Junikäfer wird. Viele Regenwürmer fanden sie auch. »Sehr schön«, meinte die Mutti, »wenn euer Vati angeln gehen möchte, kann er direkt aus unserem Garten Regenwürmer mitnehmen.«

Natürlich hat sich Doreen das alles gemerkt. Und irgendwann hörte sie, wie sich die Eltern unterhielten, weil der Vati noch nicht genau wusste, was er für Köder für die Fische zum Angeln mitnehmen wollte. Er ging ja immer alleine angeln. Die Zwillinge durften nicht mit, weil sie einfach zu laut waren und dadurch die Fische verscheuchten. Doch Doreen nahm schnell den Spaten und suchte im Garten nach Regenwürmern. Marleen wunderte sich und wollte nun auch nach Würmern suchen. Beide suchten um die Wette. Schließlich gab Doreen auf. Sie fand keine Würmer mehr. Sie hatte aber auch ganz schön viele gefunden. Marleen fand auch keine mehr und schaute, wie viele jede hatte. Doreen hatte früher angefangen, also hatte sie auch einige mehr. Marleen wollte aber besser sein als Doreen und wollte mehr haben. Sie griff nach Doreens Regenwürmern und nahm einfach welche heraus und packte sie zu ihren. Doreen ließ sich das nicht gefallen und holte die Regenwürmer zurück. Nun gab es eine Rangelei mit Gekreische. Schließlich hielten beide einen großen Wurm in der Hand und niemand wollte loslassen. Sie zerrten und zogen. Der Wurm wurde immer länger und plötzlich riss er auseinander. Doreen fing an zu weinen. Von dem Gezeter angelockt