Das falsche Gebiss - Erdmann Graeser - E-Book

Das falsche Gebiss E-Book

Erdmann Graeser

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Beschreibung

Mit dem Verkauf ihres legendären Gartenlokals draußen in Schöneberg sind die "ollen Lemkes" nicht nur finanziell unabhängig geworden. Mit dem Umzug in die Potsdamer Straße beginnt für Frau Lemke auch der gesellschaftliche Aufstieg. Statt in Holzpantinen in den Keller zu laufen, um Weißen abzuzapfen, wohnt man jetzt in der "Bölletasche" und ist "wat Besseret" geworden. Und, wie Frau Lemke selbstbewusst feststellt: "Unse Kinna werden noch feina". Der Start ins neue Leben beginnt für sie vor allem mit neuen Zähnen. Ein mutiger Schritt, denn bisher war Anna Lemke jedes Mittel recht, die schmerzenden Ungeheuer in ihrem Mund zu bekämpfen, bis auf den Zahnarzt, den sie fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Allerdings ist ihr auch klar, dass ein blendendes Gebiss allein nicht reicht, um angemessen an der "Tablettote" mit zu sitzen. Der einzige in ihrem Haushalt, der ihr das gute Benehmen und den notwendigen Schliff beibringen könnte, ist Herr Anton Fiedler, der als Nachhilfelehrer von Enkelsohn Edwin erstaunliche Erfolge vorweisen kann. Eines Nachmittags überrascht sie den völlig überrumpelten jungen Mann mit dem Plan, Anstandsunterricht bei ihm zu nehmen, und zwar praktisch. Er soll mit ihr ausgehen und ihr das richtige Benehmen bei Tisch beibringen. Allerdings heimlich, denn ihr Mann würde das ganz bestimmt falsch verstehen ...Mit einem weiteren Band über die herzerfrischend komische Berliner Familie Lemke schreibt Erdmann Graeser weiter an seiner liebevollen Chronik der Gründerjahre des alten Berlin.-

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Erdmann Graeser

Das falsche Gebiss

SAGA Egmont

Das falsche Gebiss

Copyright © 1930, 2018 Erdmann Graeser und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711592441

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der „Bumerang“

Seit April wohnten Lemkens in der Potsdamer Straße. Das große Gartenlokal am Schöneberger Ufer hatten sie verkauft und der „olle Lemke“ war gern bereit gewesen, seinem Sohn und der Schwiegertochter die ganze erste Etage in seinem Hause einzuräumen.

„Platz müßt ihr haben, bewejen müßt ihr eich können“ — hatte der Alte gesagt — „schon wejen die Kinna!“

„Wat sollen wir denn ooch eenen fremden Wirt det Jeld in den Rachen schmeißen, zahlen wir dir doch lieberst die Miete, wahr Vata?“

Aber der Alte hatte seinem Sohn gutmütig auf die Schulter geklopft: „Machen wir uns doch nischt vor, Willem! Wat sollt ihr mir denn erst det Jeld zahlen, det ick’s denn bloß in’n Kasten schließe und ihr’t doch später erbt. Wendet’s man lieba jleich for die Kinna an!“

„Is ooch wahr“, hatte Frau Lemke gesagt, „wa’m denn erst sonne Umstände machen! Denk doch bloß mal an die loofenden Abjaben, die wir haben, alleene det teire Schuljeld for Edwin und Lieschen!“

„Und denn der Hauslehra —“ meinte Herr Lemke.

„Jott, det is nich det Schlimmste, die paar Marksen, die der Fiedler kricht — aba wat da noch allet kommen wird: Musikunterricht und Tanzstunde, und wat sonst noch zu jehört!“

„Na also, du wirst det Jeld schon kleen kriejen —“ sagte Herr Lemke voll Überzeugung.

„Willem“ — und Frau Lemke zog die Augenbrauen hoch — „Willem, kapier’t doch nu ma’ endlich — ja? Die Zeiten sind endjiltig vorüber, wo ick in Holzpantoffeln rumjeloofen bin und du in’n Kella Weißen abjezappt hast. Wir sind wat Besseret jeworden, sozusagen feine Leite. Und unse Kinna werden noch feina!“

„Und so jeht det immer weita, bis denn eenes Tages der letzte Jroschen weg is und die Kinneskinna wieda von vorn anfangen“, sagte Herr Lemke.

„Det jeht uns nischt an, wir haben se denn wenigstens uff ’ne höhere soziale Stufe jebracht!“

„Hach Jott, nu vazappste wieda die Weisheit von den Herrn Fiedler —“ sagte Herr Lemke verächtlich.

„Wat reden wir denn ibahaupt so ville drüba! Wenn wir hier in die Potsdamer Straße in die Bölletasche wohnen, denn missen wir ooch danach ufftreten —“ sagte Frau Lemke entschieden — „meenswejen blamier dir so ville, wieste willst, ick weeß jedenfalls det eene, det ick mir in die nächsten Tage neie Zähne insetzen lasse!“

„An deene Stelle wird’ ick so nach und nach allet aneuern lassen —“ und Herr Lemke machte mit einem Achselzucken kehrt und suchte Onkel Karl auf, der — seit Lemkes eingezogen waren — die Kutscherwohnung über der leerstehenden Remise übernommen hatte.

„Na — Willem—“ sagte Onkel, „du sehst ja so niedajeschmettert aus!“

„Sage mal, Karrel, bist du denn ooch so for’t Feine?“

„Wenn’t wat zu essen is!“

„Wirdest du dir neie Zehne insetzen lassen?“

„Det se noch ’mal hohl werden — danke“, lehnte Onkel Karl ab. Und nach einer Weile, während er an einem geheimnisvollen Gegenstand weiterbastelte, fragte er teilnehmend: „Du hast dir woll wieda mit deene Olle jekabbelt?“

„Det is jetzt so der jewöhnliche Zustand“, sagte Herr Lemke.

„Mir läßt se ja nu zufrieden, mir hat se nischt mehr zu sagen“ — meinte Onkel Karl triumphierend. „Dunnemals, a’s ick noch an’t Scheeneberjer Ufa bei eich wohnte, konnte se mir ja kommandieren. Det hat aba jeschnappt, seit mir Jroßvata in’t Haus jenommen, da ha’ick dieselbijen Rechte wie ihr und wohne for umsonst, wenn man ooch bloß hinten ’raus!“

„Ick winschte, ick könnte ooch hinter ’raus wohnen, natierlich aba ooch janz alleene“, sagte Herr Lemke seufzend.

Onkel Karl sah ihn prüfend von unten herauf an. „Seh ma’, Willem“, meinte er, auf das halbmondförmige Holzstück zeigend, an dem er gebastelt hatte, „seh ma’, Willem, det wird een sojenannter Bumerang, wie’n die Wilden in Australjen haben. Wenn ick diesen Bumerang bleistiftsweese nach eenen Spatz schleidere und er trefft nich, denn kommt er von janz alleene wieda zurück!“

„Det is ja höchst merkwürdig“, sagte Herr Lemke und schüttelte verwundert den Kopf, „woher weeßte denn det, Karrel?“

„Na — ick war doch frieha in Australjen — bei die Papuas —“ sagte Onkel, „wat ick dir aba mit den Bumerang beweisen wollte, war eijentlich wat an’neres! Nämlich, Willem, du mißtest ooch sonne Art Bumerang werden!“

„Woso?“

„Laß dir doch von ihr —“ er machte eine Kopfbewegung nach dem Vorderhaus — „von ihr Schleidern. Denn treffste mir und da broochste ja dann vorleifig nich zurückzukehren.“

„Du bist dann also der Spatz?“ fragte Herr Lemke und blinzelte pfiffig.

„Ja — aber keen toter!“

„Na — und denn?“

„Det wirste ja sehen, Willem, denn machen wir uns beede fein, und denn jehen wir los!“

Herr Lemke faßte in die Brusttasche, nahm das Zigarrenetui heraus und reichte es Onkel Karl: “Da — steck dir eene an!“

„Sehr vaknippert!“ Onkel biß die Spitze ab und rauchte die Zigarre an. „Sehr juta Brand“, lobte er, „det is keene von die Krausens’sche Presentsorte!“

„Nee!“

„Denn wat der nich vakoofen kann, det vaschenkt er an die Vawandtschaft. Ick hab’ uff den Kerl sonne Wut —“ sagte Onkel. „Haste ’mal wieda wat von Tante Marie jehört?“

„Meene Olle war vorichsten Sonntag bei sie — et soll sie nich jrade jut jehen“, sagte Herr Lemke.

„Det kommt beit Heiraten raus — ick hab’ ihr imma jewarnt“ — sagte Onkel — „und besonners vor den Krause!“

„Ick arinnere mir doch aba noch janz deitlich, det du dunnemals die Sache injefädelt hattest“, sagte Herr Lemke.

„Vawechsele die Tatsachen nich, Willem“, sagte Onkel, „als ick sah, det sich Marie rettungslos mit den Kerl vaheddert hatte, ha’ick mir natirlich hilfsbereit jezeicht. Det is so meene Natur, ick kann doch nischt vor meen jutet Herze.“

„Eena von uns beeden mißte ’mal diesen Herrn Krause janz jehörich Bescheed stechen“, meinte Herr Lemke.

„Et wirde entschieden mehr Indruck machen, wenn wir beede jleichzeitig anrickten“, sagte Onkel Karl.

„Und von da machen wir jleich eenen kleenen Abstecha int Fischaviertel und jehen bei Onkel Aujusten und Tante Liesen.“

„Du entwickelst dir janz jut a’s Bumerang“, sagte Onkel anerkennend, „wie ick Tante Liese aba kenne, wird se uns alle beede rausschmeißen — mir jedenfalls janz sicha!“

„Wa’m dir?“

„Ick bin nämlich hinta wat jekommen“, sagte Onkel Karl geheimnisvoll.

„Aba det varatste nich?“ fragte Herr Lemke neugierig.

„Nee — du kannst von selba hinta kommen, bloß eenen Fingazeich will ich dir jeben. Seh ma’: Onkel Aujust langt dir aus hundert Aale uff eenen Jriff den Aal wieda ’raus, den du ihn vor acht Tagen bezeichnet hast. Bei Karpen und Hechten ist det nicht janz so schwer, da jreift er den richtjen sogar in’t Stockdustere mit zujemachte Oojen!“

Herr Lemke nickte zustimmend.

„Also — womit ick bloß sagen will, wat een Fisch is, det weeß Aujust. Aba —“ und Onkel Karls Stimme nahm einen düsteren Klang an — „wat een Frauenzimma is, det weeß er nich!“

„Der hätte nie nich heiraten sollen“, stimmte Herr Lemke zu. „Wojejen ick aba protestieren möchte, Karrel, det du Tante Liese een Frauenzimma nennst!“

„Ick habe nur janz int alljemeine jesprochen“, sagte Onkel Karl. „Ick jebe dir jerne zu, det sie imma for det Feine jewesen is, wir haben ja stets von ihre Zimpabeene jesprochen! Ooch dunnemals, wo sie eich det Klavier abknöppte und nich bezahlte, geschah et nur aus ibajroßet Feinjefiehl!“

„Na — wat haste dann jejen ihr?“ fragte Herr Lemke verwundert, „denn jib mir doch den Fingazeich!“

„Arinnerste dir noch an meene Aklärung von die Muttaliebe?“

„Nee — du hast ja so ville Reden jehalten!“

„Na — an die wirste dir aba noch arinnern“, sagte Onkel Karl, „paß uff, laß uns ’mal erst den Besuch jemacht haben.“

Beim Zahnarzt

Frau Lemke hatte in der Nacht wieder entsetzliche Zahnschmerzen gehabt, und in dieser Nacht war sie zu der Überzeugung gekommen, daß die ganze Hausapotheke mit all ihren Mitteln „man bloß Schund“ sei.

„Et fangt schon wieda an, Willem“, hatte sie gesagt, kaum daß Herr Lemke ihr den Senfspiritus oder die spanische Fliege aus dem Medizinkästchen geholt.

„Et is een rechtet Unjlick mit dir“, sagte ihr Mann, „du hattest doch sonne scheenen Zehne, als ick dir kennen lernte. Aba ick jlobe, du hast zu ville Sißigkeeten jejessen, oda et kommt ooch von die sauren Jurken!“

Er war so müde, daß ihm die Augen zufielen, aber wenn er sich wieder legen wollte, begann seine Frau so zu jammern, daß er auf der Bettkante sitzen blieb, um sofort wieder hilfsbereit zu sein.

„Stöhne doch nicht so, Anna“ — sagte er schließlich ganz verzweifelt, „det hilft ja doch nischt. Nimm lieba meen Taschenmesser oder die Schere und stekere mal den Zahn mit, vielleicht kricht er denn ’n Schreck und hört uff!“

„Ick hab’ det Biest ja schon mit’ne Haarnadel jepolkt, aba det hat janischt jenutzt“, wimmerte Frau Lemke.

„Denn weeß ick nur noch een Mittel“ — sagte Herr Lemke — „ick werd’ dir aus’t Kichenspinde ’n ollen Brotkanten holen, den hälste uff den hohlen Zahn und denn beißte mal richtich druff!“

Und ohne ihre Antwort abzuwarten, tappte er sich in der Dunkelheit durch den Korridor und kam nach langem Rumoren draußen in der Küche mit einem Stück steinharten Brotes zurück.

„So — nun wird’s jleich uffhören“, sagte er tröstend. Und dann beobachtete er, wie Frau Lemke mühsam den geschwollenen Mund öffnete, den Kanten hineinklemmte und entschlossen zubiß.

Der Effekt war ziemlich überraschend. Herr Lemke erinnerte sich am andern Morgen, daß seine Frau im nächsten Augenblick in der entgegengesetzten Ecke der Schlafstube den Versuch machte, am Ofen hochzuklettern und daß sie gleich darauf mit Gewalt den Kopf unter ihr Bett zwängte.

„Anna — Anna —“, sagte er entsetzt, „wat wiste denn da unten, du wirst dir akälten.“ Als er sich aber näherte, telegraphierte sie ihm durch heftiges Schwenken ihres Beines, daß es nicht ratsam für ihn sei, auch nur einen Schritt weiterzukommen.

„Jott und Vata“ — sagte Herr Lemke kummervoll, „is det hier schon eene vaflixte Zucht bei uns! An’nere Leite schlafen jetz ruhich und friedlich, und wir missen hier son Theata machen. Und det is nu seit vierzehn Tagen jede Nacht so!“

Er bekam keine Antwort — hörte auch kein Stöhnen. Bis dann plötzlich Frau Lemke mit einem Ruck wieder im Bett saß und sich mit der Faust an die Backe schlug.

„Feste — feste“, ermunterte Herr Lemke, „hau det Biest, bis et wacklich is! Soll ick dir villeicht ’ne Strippedranbinden und mal ziehen?“

„Weg — jeh weg —“ schrie ihn seine Frau mit so furchtbarer Stimme an und machte dabei so haßerfüllte Augen, daß Herr Lemke ganz entsetzt zurückwich.

„Denn jeh ick raus und setz mir lieba in die Kiche“ — sagte er beleidigt. „Ick kann den Rummel hier nich mehr mit ansehen, sonst steck ick mir an und krieje ooch Zahnschmerzen.“

Frau Lemke weinte. „Ick wer’ ja noch varickt, ick komme ja um vor Schmerzen, wenn’t doch man bloß erst Tach wär’, det ick bein Dokta jehen könnte!“

Und dann schwur sie — es war ein feierliches Gelübde — Herrn Lemke wurde ganz sonderbar dabei ums Herz: „Morjen fackle ick nu nich länga und wenn er mir ooch sämtliche Zähne rausreißt, Amen!“

Es war, als habe der Zahn nur auf dieses Gelübde gewartet. Frau Lemkes Wimmern verstummte allmählich, sie streckte sich und begann leise zu schnarchen.

Herr Lemke aber schrieb diesen wunderbaren Erfolg dem Brotkanten zu und beschloß, das Mittel allen Zahnschmerzlern zu empfehlen. „Zuerst wird’s ja ’n bisken dolla, aba denn hört’s uff“ — sagte er und kroch befriedigt unters Deckbett. — — — — — — — — —

Am andern Morgen erinnerte sich Frau Lemke nur noch mühsam ihres nächtlichen Schwurs. Sie befühlte den kranken Zahn vorsichtig mit der Zunge und sagte: „Weh tut er eejentlich nich mehr, aba er is ’n janz Sticke jrößer als die an’nern Zehne!“

Nachher aber, als sie beim Kaffee saß und eben die eingeweichte Semmel in den Mund gesteckt hatte, sprang sie, wie von der Tarantel gestochen, plötzlich auf: „Ick hab’ ma wieda druffjebissen — ojottojottodoch!“

„Det schadt ja nischt — denn hört’s ja jleich wieda uff“, beschwichtigte Herr Lemke, „hab’ man bloß ’n bisken Jeduld!“

Aber Frau Lemke wußte, daß diese Schmerzen jetzt die Strafe für ihren vergessenen Schwur waren, und daß sie von ihrer Qual nur befreit werden könnte, wenn sie ihr Gelübde erfüllte.

Mit einem Gemisch von Bewunderung und Grauen beobachtete dann Herr Lemke aus dem Hintergrund, wie es seine Gattin plötzlich sehr eilig hatte, sich den Zangen des Zahnarztes auszuliefern. Man hätte darüber im Zweifel sein können, ob sie eigentlich schon frisiert gewesen war — jetzt machte sie diesen Zweifeln ein Ende, setzte sich — als wäre es der gut passende Deckel zu einem Topf — den Hut auf, nahm ihre Mantille — gleich den spanischen Stierkämpfern — nur auf eine Schulter und verließ, noch die gestickten, bunten Hausschuhe an den Füßen, ohne Adieu die Wohnung.

Im Sturmschritt sahen sie dann die Leute aus der Nachbarschaft bis zur nächsten Straßenecke marschieren und in dem Hause dort verschwinden. Auf der Treppe bemühte sie sich, etwas ruhiger zu werden, und ehe sie bei Dr. Beck klingelte, parlamentierte sie zum letztenmal mit dem Zahn.

„Wiste jetz uffhören — freiwillig — oda nich?“

Nein, er wollte nicht, gut, so sollte er sterben. In dem Augenblick aber, da sie das Wartezimmer betrat, wurde der Zahn schmerzlos — er verstellte sich und tat, als wäre er kerngesund, obwohl sie ihm mit einem Streichhölzchen malträtierte und reizte. Wenn sie gewußt, wie sie mit Anstand wieder aus dem Wartezimmer hätte kommen können, wäre sie jetzt sofort wieder nach Hause gegangen, aber da saßen ringsum auf den Stühlen andere Leidtragende, die in Albums und Zeitschriften blätterten und so behaglich und zufrieden taten, als säßen sie in einer Konditorei. Nun betrachteten sie plötzlich alle Frau Lemke und lächelten schmerzlich.

„Schafsköppe!“ dachte sie — ging gelassen auf das Polsterrondell mitten in der Stube zu, nahm — sozusagen — den Ehrenplatz ein und drapierte den Rock über den Morgenschuhen, die ihr nun selbst ein bißchen zu bunt vorkamen.

Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich allmählich wieder der Tür des Nebenzimmers zu. Wer dort herauskam, zeigte ein eignes Dulderlächeln oder preßte das Taschentuch vor den Mund. In seinen Mienen suchten dann alle ihr eignes Schicksal zu lesen, aber der Patient tat nun ebenso geheimnisvoll wie der elegante Herr Doktor Beck, der jedesmal verbindlich lächelnd, eine Kollektion Musterzähne entblößte. Und hinter ihm — durch die Türspalte konnte man ihn sehen — stand jener Stuhl, auf dem man „erlöst“ wurde.

Frau Lemke verfiel allmählich in eine Art Dämmerungszustand — sie wunderte sich, daß die Reihe plötzlich schon an ihr war, daß sie jetzt in dem Nebenzimmer stand und ihre Leidensgeschichte erzählte. Aber auf alles, was sie da sagte, machte der elegante Herr Doktor nur immer einladende Handbewegungen nach dem Stuhl.

„Ja, ick setz’ mir ja schon uff det kleene Schaffot, lassen Se mir doch aba mal erst azehlen, sonst reißen Se mir nachher ’n falschen raus —“ sagte sie entmutigt. „Et is villeicht bloß nötich, det Sie den Nerv töten oda ’ne Plombe rinmachen, et brauch ja nich imma jleich jehauen und jestochen zu sind!“

Doch da saß sie schon auf dem Stuhl, sah die Kollektion blendender Musterzähne plötzlich dicht vor sich, fühlte eine kräftige Hand an ihrem Hinterkopf und wurde zugleich dringend ersucht, den Mund nicht immerfort auf- und zu-, sondern nur aufzumachen.

Etwas Grausames, Hartes, Kaltes umklammerte plötzlich den Quälgeist — und dann war’s geschehen!

Verstört blickte Frau Lemke auf den eleganten Herrn Doktor, der lächelnd ein blutiges Knöchlein auf die Marmorplatte des Tischchens legte.

„Wo kann ick ’n ’mal ausspucken?“ brachte Frau Lemke mühsam hervor, als aber der Doktor auf das hübsche, blaue Glasgefäß neben dem Stuhl zeigte, gab sie ihm pantomimisch zu verstehen, daß ihr dieses zum Ausspucken doch zu schade sei.

Da sie der Doktor jedoch in liebenswürdigster Weise ermutigte, ließ sie sich nicht länger nötigen. „Wenn schon — denn schon“, sagte sie innehaltend, „uff die Rechnung kommt’s ja doch!“

Und dann ging sie nach dem Tischchen und nahm das blutige Knöchlein an sich. „Sehste, da biste“, sagte sie, „nu seh ick dir ma’ endlich — du vaflixtes Biest du! Und so’n Dreck kann een jahrelang pisacken und die Nachtruhe stören, soll man det for möchlich halten?“

Sie nahm ihr Taschentuch vor und knüpfte den Zahn hinein. „Den laß ick mir in’n Ring fassen zum ewijen Anjedenken!“

„Es werden noch mehr dazukommen“, sagte Herr Doktor Beck.