Der blaue Amtsrichter - Erdmann Graeser - E-Book

Der blaue Amtsrichter E-Book

Erdmann Graeser

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Beschreibung

"Jriener Aal mit Jurkensalat" und der legendäre Gänsebraten – das waren für Frau Lemke echte Delikatessen, als sie noch in ihrem Weißbiergarten in Schöneberg hinter dem Herd stand. Jetzt nennt sich jedes Geschäft Delikatessenhandlung, selbst wenn es nur Rollmöpse führt. Und Onkel Karls Artischocken, die er genüsslich am Abendbrottisch speist, sind für sie nur olle "Stachelblätta". Dass essbare Zeug klebt oben am Gaumen oder "mang de Zähne" fest und eigentlich kann man die braune Butter lieber gleich vom Löffel ablecken. Für Mutter Lemke tut es auch weiterhin die bewährte Butterstulle und überhaupt hat sie ganz andere Sorgen. Tochter Lieschen läuft nur noch mit traurigem Blick durch die Gegend und Frau Lemke weiß genau, woran es fehlt. Heiraten müsste Lieschen und Onkel Karl hat eine geniale Idee, wie man am schnellsten an einen geeigneten Kandidaten herankommt: Lemkes schalten eine Heiratsannonce. Das erste Rendezvous im Botanischen Garten wird von einem Pickel auf Lieschens Knollennase überschattet und dann stellt sich der Kandidat auch noch als Hans Zillmann heraus – der freche Bengel, der ihr als kleines Mädchen immer am Zopf gerissen hat. Doch er wird Lieschens Herz erobern und auch Onkel Karl ist hingerissen von dem Familienzuwachs , das heißt: vor allem von Zillmanns Flugmaschinenfabrik ... "Blauer Amtsrichter" wird die Straßenbahn in Richtung Amtsgericht Charlottenburg genannt und das ist nur eine der Kuriositäten aus dem vierten Band der Romanfolge um die Familie Lemke. Ihr vor Sprachwitz und Komik sprühenden Alltag lässt die spannende Gründerzeit des aufstrebenden Berlins wieder lebendig werden.Erdmann Graeser (1870–1937) war ein deutscher Schriftsteller. Als Sohn eines Geheimen Kanzleirats im Finanzministerium in Berlin geboren, ist Graeser zwischen Nollendorfplatz und Bülowbogen im Berliner Westen aufgewachsen. Graeser studierte Naturwissenschaften, brach jedoch das Studium ab und arbeitete zunächst als Redakteur für die "Berliner Morgenpost" und später als freier Schriftsteller. Er wohnte viele Jahre in Berlin-Schöneberg und zog nach seinem literarischen Erfolg nach Berlin-Schlachtensee im Bezirk Zehlendorf. 1937 starb er an einem Herzleiden. Sein Grab liegt auf dem Gemeindefriedhof an der Onkel-Tom-Straße in Zehlendorf. In seinen Unterhaltungsromanen thematisierte Graeser die Lebenswelt der kleinen Leute im Berlin seiner Zeit und legte dabei auch großen Wert auf den Berliner Dialekt. Zu seinen bekanntesten Romanen gehören "Lemkes sel. Witwe", "Koblanks", "Koblanks Kinder" und "Spreelore". Einige seiner Romane wurden später auch für Hörfunk und Fernsehen bearbeitet.-

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Erdmann Graeser

Der blaue Amtsrichter

Humoristische Erzählungen aus der RomanfolgeLemkes sel. Wwe.

Saga

Der blaue Amtsrichter

© 1977 Erdmann Graeser

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592427

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Die Heirats-Annonce

„Wenn ick so bedenke“, sagte Frau Lemke, „frieha — so vor zehn, fufzehn Jahren, als Jroßvata noch lebte und wir hier in die Jejend jezogen waren — da jab’s in janz Berlin keene drei Jeschäfte, die sich Delikatessenhandlungen nannten. Heitzutaje is jedet Buttajeschäft ’ne Delikatessenhandlung, wenn’t man ooch bloß Rollmöpser führt.“

Onkel Karl blickte sich befriedigt in dem „stilvoll altdeutsch“ eingerichteten Eßzimmer um: „Det is der Jrößenwahnsinn von die neie Zeit“, sagte er.

„Wennste mir damit etwan ’n Hax jeben willst, denn sei lieba still, denn du hast dir mit entwickelt. Frieha warste mit ’ne Buttastulle zufrieden und nu, a’s wenn’t nich jenuch bei uns zu essen jiebt, koofste dir jar Attischocken zu’t Abendbrot!“

Herr Lemke hatte sich bis jetzt damit gequält, die rechte Seite seines Halskragens, die ihm immer beim Essen absprang, wieder an dem Hornknöpfchen zu befestigen. Jetzt mischte er sich in die Unterhaltung: „Jott, Mutta, rede doch nich, nu hat er sich wirklich mal son jrienet Dings jekooft, nu tuste aber jleich wieda, a’s wenn er sich jeden Tach Attischocken in’n Kaffee tunkt!“

„Et heeßt ibahaupt Arrr—ti—schocken“ — sagte Onkel Karl, „et is doch een Fremdwort.“

Aber Frau Lemke beachtete diese Belehrung nicht, sie ärgerte sich über die Einmischung ihres Mannes: „Du wirst schon uff deen’n Karrel nischt kommen lassen“, sagte sie, „aba aklärt mir doch mal, wa’m man die braune Butta erst von sonne jriene Stachelblätta ablecken muß. Wenn det die Delikatesse is — denn eß ick die Butta lieba jleich mit’n kleenen Löffel!“

„Unten an die Blätta sitzt doch die eijentliche Delikatesse — det Fleischije, wat dran hackt“, sagte Onkel Karl.

„Jeh mir doch damit“, fertigte ihn Frau Lemke ab. „Det klebt oben an’n Jaumen oda mang de Zähne fest, runtakriejen kriecht man nischt!“

„Wenn man’n falschet Jebiß hat, denn natirlich“, sagte Onkel Karl achselzuckend und zog sich nach seiner Gewohnheit die Weste stramm.

„Wenn keena mehr ißt“, sagte Frau Lemke — Onkel Karl mit Nichtachtung strafend — „denn kann die Minna ja abräumen. Liesken klingle mal!“

„Minna hört ja doch nicht auf die Klingelei“, sagte Fräulein Lieschen, „ich werd lieber ’rausgehen und sie rufen!“

„Du klingelst — se soll druffhören“, sagte Frau Lemke, „wozu haben wir denn sonst die teire elektrische Anlage machen lassen!“

„Komm’, Willem“, sagte Onkel Karl aufstehend und faßte den etwas schwerfälligen Herrn Lemke am Arm, „komm, wir roochen unsan Piejatz hinten in’n Jarten, hier wird’s jetz unjemietlich!“

Als sie aus der Stube waren, sagte Frau Lemke: „Laß man, Liesken, mach die Klingel nicht kaputt. Ick wollte die beeden bloß raushaben, weil ick dir wat fragen möchte.“ Und mit einem bekümmerten Blick auf das fahlblonde, bleichsüchtige Mädchen setzte sie hinzu: „Wat is denn nu wieda mal mit Dir? Du eßt ja reene janischt mehr, bloß noch Sauret. Du solltest keen Korsett nich tragen, det schniert dir den Magen zu sehr in. Und denn die engen Stumpenbända, det zwickt dir doch allet!“

„Nee!“

„Mit det bloße Nee is det nich abjetan“, sagte Frau Lemke, „damit vascheichste meene Sorjen nich. Wat sonne Mutta ooch aussteht mit ihre Kinna! Erst die Zucht mit Edwin bis der Junge mit Hach und Krach det Einjährige jekriecht hat und nu jeht’s mit Dir los! Hätte ick Dir bloß nich in die höhere Töchtaschule jeschickt — wat haste nu von die janze Selekta und die Schemie? Du bist und bleebst een kränklichet Jeschöpf und hast doch sonne jesunde Mutta!“

„Hör’ doch auf, Mama!“

„Warum denn? Det muß mal jrindlich besprochen werden und wat Ernstlichet jeschehen. Ick wüßte schon, wat dir helfen könnte: Heiraten mißteste, sobald als möchlich. Ick vasteh’s nich, wa’m keena bei Dir anbeißen will!“

„Ick ooch nich“, sagte Onkel Karl, der in die Stube getreten war.

„Wat willst du denn hier“, sagte Frau Lemke, „ick denke, ihr seid hinten in’n Jarten?“ —

„Sind wir ooch“, sagte Onkel Karl, „ick bin bloß zufällich noch mal zurückjekommen.“ Und mit spürenden Blicken sah er unter den Eßtisch.

„Wat suchste denn?“

„Meen’n Bauchriemen, ick hat ihn vorhin beit Essen abjemacht. Attischocken blähen nehmlich uff!“

„Da liecht er ja, sehste’n nich“, sagte Frau Lemke, „da untan Stuhl, biste denn blind?“

„Nee“, sagte Onkel Karl, „ooch nich taub, brauchst also nich so zu schreien.“ Und während er sich den Riemen umschnallte, nickte er Frau Lemke freundlich zu: „Wenn ihr sonne wichtjen Untaredungen habt, solltet ihr mir imma bei zuziehen!“

„Ick werd’ mir scheen hieten“, sagte Frau Lemke verächtlich.

„Denn ick wißte wat“, setzte Onkel Karl hinzu.

„Wat weeßte denn?“

„Wie man Männa fängt!“

„Jeh doch mit det Jequatsch“, sagte Frau Lemke, „die Sache ist doch die, det wir kee’n rechten Umjang nich haben!“

„Eben drum!“

„Ärjere mir doch nich, jeh doch ’raus, denn wat willste mit die dumme Redensart besagen?“

„Det ick mir Umjang beschaffen wirde“, sagte Onkel Karl.

„Und wie wirdste det machen?“ fragte Frau Lemke höhnisch.

„Ihr werd’t denken, ick mach Spaß, aba et is blutja Ernst. Ick wirde nach die Zeitung jehen und uff diesen nich mehr unjewöhnlichen Wege meenen zukinftjen Jatterich suchen!“

„Du bist ja varrickt“, sagte Frau Lemke.

„Janz und janich“, sagte Onkel Karl unbeirrt, „wenn ihr wollt, kann ick die Annongse morjen frieh mitnehmen, denn ick muß ooch eene uffjeben!“

„Wat suchst du denn?“

„Ach“ — er machte eine ärgerliche Handbewegung — „Joldelse hat wieda jejungt!“

„Deene Sorjen möcht’ ick haben“, sagte Frau Lemke.

Aber Onkel Karl hatte Sorgen, die ihm wirklich zu schaffen machten. Vor einigen Jahren hatte er sich einen jungen, echten Pudel gekauft. „Ick hab mir een weiblichet Exemplar jenommen“, hatte er damals gesagt, „denn ick will mir ’ne janze Zucht anlegen!“ In bestimmten Zwischenräumen beschenkte dann „Joldelse“ ihren Herrn auch mit Sprößlingen, zu Onkel Karls Verwunderung waren es aber immer Mischlinge, die manchmal wie Dachshunde, zumeist aber wie Spitze oder Foxe aussahen.

„Ick hoffe und harre“, pflegte Onkel Karl zu sagen, wenn er die Bescherung sah, „vielleicht werden’s doch mal Pudel!“

„Wat sind’s denn diesmal for welche?“ fragte Frau Lemke.

Er kratzte sich hinter den Ohren. „Wer weeß, wat draus wird, wenn se erst jrößer sind, vorleifich sehen sie wie Windhunde aus. Nu kann ick wieda Jeld for die teiren Annongsen rausschmeißen und Liebhaba für die Jungen suchen.“

Denn Onkel Karl hatte nie das Herz gehabt, die kleinen Hunde zu ersäufen. Er inserierte stets mit einer dicken Überschrift: „Gratis zu verschenken junge Hunde“ und wer sich daraufhin bei ihm meldete, hatte erst ein peinliches Verhör zu bestehen und seine Qualitäten als Tierfreund nachzuweisen.

„Also — wie is?“ fragte er jetzt, „soll ick eich sonne Heiratsannongse uffsetzen und morjen mitnehmen?“

„Sowat muß ibalecht werden“, sagte Frau Lemke, „det jeht doch nich so wie mit junge Hunde!“

„Da haste ooch recht“, sagte Onkel Karl, „außadem mißte Liesken doch erst mal sagen, wat for Eijenschaften der Zukinftje haben soll.“

„Ich will überhaupt nicht heiraten“, sagte Lieschen.

„Det sagen alle Meechens so lange wie sie keene Aussichten haben, det kennen wir schon“, sagte Onkel Karl.

Großer Besuch

Am nächsten Sonntag standen die beiden Anzeigen in der „Vossischen“.

„Nu bin ick jespannt, wer sich druff meldet“, sagte Onkel Karl, „meene Windhunde werde ick ja los, da is mir janich bange, aba wie wird det mit Liesken werden?“

„Ick weeß nich“, sagte Frau Lemke und las kopfschüttelnd das Inserat nochmals durch, „mir is bei die janze Schohse unheimlich zu Mute. In meene Zeit kannte man sowat janich. Eh ick Willem kennen lernte — wie ick als junget Meechen in Dienst jekommen war — da konnt’ ick nich iba die Straße jehen, ohne det se mir die Arme blaukniffen vor lauta Liebe. Und wenn’t an die Hintatiere kloppte und ick uffmachte, denn kißte mir ooch schon eena, eh’ ick noch wußte, wer’t war!“

„Und det haste dir so jefallen lassen?“ fragte Onkel Karl.

„Ach — quitsch, quatsch“, machte Frau Lemke, „wenn mir eena nich paßte, haute ick ihn vorn Bauch, denn jing er ab!“

„Heitzutage“, sagte Onkel Karl und zog die Augenbrauen hoch, heitzutage spielt sich det allet in jebildetere Formen ab!“

„Ja, se machen ville zu ville Umstände, die sojenannten höhan Töchta“, sagte Frau Lemke, „da valangen se alle möglichen Seeleneigenschaften von ihren Zukinftjen — du lieba Jott — die bringt man sein’n Mann doch nachher in die Ehe bei. Wat ha’ick Willem nich allet so peuhapeu anjewöhnt und abjelernt. Der hatte ’ne anjeborne Schwäche for, ohne Stiebein und Kragen rumzuloofen — na und jetz? Wenn ick nich uffpasse, lecht er sich mit Stiebeln und Kragen int Bette!“

„Wo is er denn ibahaupt?“

„Rasieren — scheen machen for Nachmittach, wir kriejen doch Besuch“, sagte Frau Lemke.

„Wer kommt denn heite?“ fragte Onkel Karl.

„Tante Marie is sicha, an die hat Liesken jeschrieben, villeicht kommt aba ooch Onkel Aujust.“

„Mit seene Olle?“

Frau Lemke zuckte die Achseln.

„Denn jeh ick wech“, sagte Onkel Karl, „denn jeh ick nach Wilmasdorf baden — et is so wie so nötich.“

„Dette det nich za Hause kannst, in die Wanne, wie an’nere Leite!“

„Ick muß schwimmen“, sagte Onkel Karl, ick muß mir int’ Wassa Bewegung machen können. Det is nischt for mir, so stille in die Wanne liegen und mir ablaugen lassen!“

„Und ’bei kannste doch janich schwimmen und jehst imma in’t Kinnabassäng“, sagte Frau Lemke, „aba“ — und sie richtete sich im Stuhle auf und schnüffelte umher — „riecht det nich wieda anjebrannt? Wenn bloß nischt mit den Kalbsbraten is — vorichten Sonntag hat s’en ooch anbrennen lassen — die Minna wird imma schuhserija!“

Und unruhig geworden, faltete Frau Lemke die Zeitung zusammen, nahm ihre Kaffeetasse und ging aus der Laube über den Hof nach der Küche.

Auch Onkel Karl nahm seine Beschäftigung wieder auf, goß die Blumen, harkte die Wege im Garten und ärgerte sich über die Zigarettenstummel, die der junge Lemke zum Fenster hinausgeworfen hatte.

„Det er det nich lassen kann!“ Und hinaufblickend rief er: „Edwin — — —?“

Aber niemand zeigte sich da oben hinter den Gardinen. „Natirlich is er die janze Nacht wieda nich za Hause jekommen und denn liecht er wie’n Tota da! Aba warte man, Jungekin, ick komm’ dir uff deene Springe und denn sollste Onkel Karrel mal wieda kennen lernen!“

Die Kirchenglocken begannen zu läuten und Onkel hielt es nun für angebracht, seinen äußeren Menschen ebenfalls etwas sonntäglich zu machen.

Am Nachmittag kam dann wirklich Tante Marie. Merkwürdig, wie das alte Frauchen, dem doch damals, nach der Petroleumkur, kein Mensch mehr ein langes Leben prophezeit, sich frisch und regsam erhalten hatte.

„An die Potsdamabricke“, erzählte sie triumphierend, „bin ick von’n Omdibus ausjestiejen und det janze Sticke bis hier jeloofen.“

„Aba wozu denn?“ sagte Frau Lemke vorwurfsvoll. „Nu setz Dir hier uffs Sofa, Kaffee wird schon uffjebrieht, und nu azehle!“

„Ick hab’ nischt zu azehlen“, sagte sie und nickte allen vergnügt zu: „Liesken, dir leg ick nachher die Karten!“

„Und wo is deen Mann?“ fragte Frau Lemke.

„Arinnere mir bloß nich! Wo wird er denn sind? Denkste, der jiebt ooch nur een’n Dreia aus, wenn er nich muß! Weil ick dunnemals, wo er mir mit Petrolium abjerieben hatte, nich jestorben bin, denkt er, er vasteht wat vont Kurieren — der Schafskopp! Jetzt will er ’ne Lexiere afinden jejen Bandwirma!“

„Wat will er afinden?“ fragte Onkel Karl interessiert.

„’ne Lexiere!“

„Wat is denn det?“

„Weeß ick — et sieht blau aus“, sagte Tante Marie.

„Is’s flissich oder pulverich?“

„Et is klibberich“, sagte Tante Marie.

„Denn is’s keene Lexiere, Lexiere is janz wat an’ners“, entschied Onkel Karl, „ibahaupt heeßt det ooch an’ners, ick werd nachher mal int Konsavatsjonslexkon nachsehen!“

„Na — und haste nischt von Onkel Aujusten jehört?“ erkundigte sich Herr Lemke, der sich bisher begnügt hatte, von einem zum andern zu sehen.

„Onkel Aujust“, wiederholte das alte Frauchen, während es vorsichtig die Hutbänder unter dem Kinn löste, „von Onkel Aujust nischt, aba von seene Olle. Tante Liese hatte sich ’n neiet Kleid machen lassen — lila mit schwazzen Samt, und ihre Jertrud kriecht jetzt ooch Klavierstunden.“

„Det is doch ejentlich unsa Klavier“, sagte Frau Lemke, „aba fangt bloß nich wieda mit die olle Jeschichte an, ick will nischt mehr von hören.“

„Wenn se“ — sagte Herr Lemke — „wenn se sich ’n neiet Kleid hat machen lassen, denn kommt se ooch bei uns!“

„Da is se schon“, sagte Onkel Karl, als es gleich darauf klingelte, „wer könnte det an’ners sind? So reißt die bloß an die Klingel. Liesken, jeh man, kiek aba ma’ erst durch’t Guckloch, und wenn se’t wirklich is, denn sach mir erst Bescheid — denn drick ick mir, ick kann det Jemache und Jetue von sie nich mit ansehen!“

Lieschen mußte wohl nicht mit der nötigen Umsicht vorgegangen sein, denn ehe man es noch erwartet, wurden im Korridor draußen Stimmen laut.

„Det is sie wah’haftich“ — sagte Onkel Karl — „ick akenne ihr an ihre hohe Piepstimme.“

„Aba Onkel Aujust is ooch mit bei“, sagte Herr Lemke vergnügt, „nu können wir wenijstens ’n Schkat dreschen.“

„Uff mir is nich zu rechnen, ick jehe baden ...“ vermochte Onkel Karl noch zu sagen, dann öffnete sich die Tür und Lieschen führte die Gäste herein.

Wie immer bei solchen Begrüßungen, bildeten die Damen, ohne die Männer überhaupt zu beachten, sofort eine erregte Gruppe, und Onkel August, der sich anfänglich etwas im Hintergrund gehalten und dann den vergeblichen Versuch gemacht hatte, Frau Lemke oder Tante Marie zu begrüßen, wurde von Onkel Karl energisch an den Rockschößen gezogen.

„Laß dir doch nich wie’n Drachen aus die Luft holen — mang die mang kommste jetzt doch nich mang — die müssen sich doch erst mal jrindlich ausschnattern“, sagte er.

„Det is doch keen Jrund nich, dette mir den juten schwazzen Rock zareißt, wat knautschte denn ibahaupt an mir rum“, sagte August verdrießlich und versuchte die Stellen, an denen Onkel Karls Handgriffe noch sichtbar, wieder zu glätten.

„Zu dir soll eena mal freindlich sind“, sagte Onkel Karl vorwurfsvoll.

„Aba nich so ...“ und Onkel August wandte sich zu Herrn Lemke: „Tach, Willem!“

„Tach, Aujust! Na?“ sagte Herr Lemke erwartungsvoll und schüttelte ihm die Hand.

„Watten na? Jakeen na! Ick frage, na?“ sagte Onkel August.

„Na, denn is ja jut, bessa janischt als wat Schlimmet“, sagte Herr Lemke.

„Derf ick an diese jroßartje Untahaltung teilnehmen?“ fragte Onkel Karl.

„Wennste mir nicht bei anfaßt“, sagte Onkel August.

Aber in diesem Augenblick teilte sich der Kreis der Damen, Tante Liese schob ihre Tochter, einen hübschen Backfisch vor sich her und ermunterte dabei: „Zier dir doch nich so, sach die Onkels jun’ Tach!“

„Trägste imma noch Ponnis?“ fragte Onkel Karl freundlich, „is doch janich mehr Mode nich! Son jroßet Mechen, bald ’n Freilein —“ schmeichelte er — „und ’n Breitjam haste doch ooch schon, wahr?“

„Karrel — schämste dir nich!“ verwarnte ihn Frau Lemke, „wo kannste denn sonne Redensarten zu det Kind machen! Jertrud, jeh bei Liesken, die wird dir untahalten. Und denn, bitte scheen, meene Herrschaften, wollen wir uns doch setzen, wozu sind denn die Stiehle da?“

„Jertrud vasteht mir schon“, verteidigte sich Onkel Karl, aber niemand hörte auf ihn, jeder suchte an dem schon gedeckten Kaffeetisch Platz zu nehmen.

„Ick sitz wieda hier“, sagte Tante Liese, auf die Sofaecke deutend.

„Und ick dricke mir“, sagte Onkel Karl zu sich selbst und verschwand, ohne daß es bemerkt wurde.

Im Seebad Wilmersdorf

Während Tante Liese ihre Meinung äußerte, daß es „mit die sojenannten Heiratannongse man so so sei“ und Onkel August nicht begriff, warum Lieschens Bruder Edwin keinen seiner Freunde, unter denen doch gewiß einer wäre, als Heiratskandidaten ins Haus brächte, während dieses Thema etwas umständlich behandelt wurde, hatte Onkel Karl längst seine rote Badehose zusammengerollt, das „Rubbelhandtuch“ genommen und war auf dem Wege nach der Badeanstalt in Wilmersdorf.

Er ging langsam und behaglich und benutzte die Gelegenheit, sich von den baulichen Veränderungen hier draußen zu überzeugen. Dieses Interesse rührte noch aus der Zeit her, da er — wie er mit Stolz zu sagen pflegte — „selba jebaut, et aba wieda uffjejeben hatte. Warum? Weil man als Wirt zu ville Scheererei hat“ — pflegte er stets hinzuzusetzen. Seit Großvaters Tod hatte er sich übrigens den Titel „Vizewirt“ zugelegt, da ihn Herr Lemke mit den polizeilichen An- und Abmeldungen der Mieter betraut und ihm auch hin und wieder in kleinen Angelegenheiten Vollmacht erteilt hatte. „Und dieser Titel jenügt mir“, versicherte er oftmals, „ick jehöre, Jott sei Dank, nicht zu die Leite, die for sonne Eißalichkeiten sind!“

Die Inspizierung, die er vornahm, ließ an Gründlichkeit nichts zu wünschen übrig. Schon wenn er in der Potsdamer Straße aus der Tür trat, ging er stets erst hinüber auf die andere Straßenseite und musterte das Lemkesche Haus, als wollte er sehen, ob es gegen die Neubauten ringsum auch noch standhalten könnte.

Und es hielt stand, nicht nur wegen des schönen braunen Anstrichs, den Herr Lemke auf Onkel Karls Veranlassung im Frühjahr hatte machen lassen, sondern weil es von solider, tüchtiger Bauart war — man sah sofort, daß kein Stuck, kein künstlicher Marmor blenden sollte, selbst wenn es mit seinen beiden kleinen Vorgärten gegen die neuen Mietskasernen etwas altmodisch auf den ersten Blick anmutete.