Das falsche Leben - Hans-Joachim Maaz - E-Book

Das falsche Leben E-Book

Hans-Joachim Maaz

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Beschreibung

Ein Normopath ist stets normal und angepasst, sein Verhalten überkorrekt und überkonform. Die Zwanghaftigkeit, mit der er den Erwartungen entspricht, verrät indes, dass er ein falsches, ein unechtes Leben führt. Krank ist nicht nur er, sondern vor allem die Gesellschaft, in der er lebt und deren Anpassungsdruck er sich unterwirft - bis er die Gelegenheit gekommen sieht, seine aufgestaute Wut an noch Schwächeren oder am "System" abzureagieren. Der Hallener Psychoanalytiker und Psychiater Hans-Joachim Maaz ist bekannt für seine brillanten, zukunftsweisenden Analysen kollektiver Befindlichkeiten und gesellschaftlicher Zustände - vom Gefühlsstau, einem Psychogramm der DDR, bis zur narzisstischen Gesellschaft, einer Psycho-Analyse unserer Promi- und Leistungsgesellschaft. In seinem neuen Buch nimmt er Phänomene wie Pegida und AfD, den zunehmenden Hass auf Ausländer, aber auch die Selbstgerechtigkeit der politischen Elite zum Anlass, ein konturenscharfes Bild unseres falschen Lebens zu zeichnen, in dem wir uns lange eingerichtet haben und aus dem uns nun die zunehmende Polarisierung und Barbarisierung unserer sozialen und politischen Verhältnisse herausreißt. Das falsche Leben ist das Buch zur Stunde - Augen öffnend und alles andere als Mainstream.

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Hans-Joachim Maaz

Das falsche Leben

Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft

C.H.Beck

Zum Buch

Die Überangepassten:

Ein Normopath ist stets normal und angepasst, sein Verhalten überkorrekt und überkonform. Die Zwanghaftigkeit, mit der er den Erwartungen entspricht, verrät indes, dass er ein falsches, ein unechtes Leben führt. Krank ist nicht nur er, sondern vor allem die Gesellschaft, in der er lebt und deren Anpassungsdruck er sich unterwirft – bis er die Gelegenheit gekommen sieht, seine aufgestaute Wut an noch Schwächeren oder am «System» abzureagieren.

Der Hallenser Psychoanalytiker und Psychiater Hans-Joachim Maaz ist bekannt für seine brillanten, zukunftsweisenden Analysen kollektiver Befindlichkeiten und gesellschaftlicher Zustände. In seinem neuen Buch nimmt er Phänomene wie Pegida und AfD, den zunehmenden Hass auf Ausländer, aber auch die Selbstgerechtigkeit der politischen Elite zum Anlass, ein konturscharfes Bild unseres falschen Lebens zu zeichnen, in dem wir uns lange eingerichtet haben und aus dem uns nun die zunehmende Polarisierung und Barbarisierung unserer sozialen und politischen Verhältnisse herausreißt. «Das falsche Leben» ist das Buch zur Stunde – Augen öffnend und alles andere als Mainstream.

Über den Autor

Hans-Joachim Maaz, Bestsellerautor und seit 40 Jahren praktizierender Psychiater und Psychoanalytiker, war lange Zeit Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik des Diakoniekrankenhauses Halle. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. Der Gefühlsstau. Psychogramm einer Gesellschaft (22014) sowie Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm (42013).

Inhalt

Teil I

1 Wie entsteht die Fälschung?

2 Selbst und Ich

3 Das Falsche Selbst begründet falsches Leben

Das bedrohte Selbst («Mutterbedrohung»)

Das gequälte Selbst («Mutterbesetzung»)

Das ungeliebte Selbst («Muttermangel»)

Das abhängige Selbst («Muttervergiftung»)

Das gehemmte Selbst («Vaterterror»)

Das vernachlässigte (ungeförderte) Selbst («Vaterflucht»)

Das überforderte Selbst («Vatermissbrauch»)

4 Die Grundmelodien des falschen Selbst

5 Die innerseelischen Schutzmechanismen der falschen Selbst

Spaltung

Projektion

Reaktionsbildung

6 Die äußeren Rettungsversuche des falschen Selbst

Kompensation und Ersatz

Anstrengung und Leistung

Anpassung

Ablenkung

Soziales Ausagieren

Masochistisches Aushalten

7 Krankheit und Gewalt

8 Die Krankheiten des falschen Selbst

Das bedrohte Selbst

Fallbeispiel für das «bedrohte Selbst»

Das gequälte Selbst

Fallbeispiel für das gequälte Selbst

Das ungeliebte Selbst

Fallbeispiel für das ungeliebte Selbst

Das abhängige Selbst

Fallbeispiel für das «abhängige Selbst»

Das gehemmte Selbst

Fallbeispiel für das «gehemmte Selbst»

Das vernachlässigte Selbst

Fallbeispiel für das vernachlässigte Selbst

Das überforderte Selbst

Fallbeispiel für das überforderte Selbst

Teil II

9 Die Grundbedürfnisse des Selbst

10 Woran erkenne ich mein falsches Selbst?

11 Der Weg aus dem falschen Leben

12 Das wahre Leben

Teil III

13 Normopathie

14 Die deutschen Normopathien

15 Die aktuelle deutsche Krise

16 Die gespaltene Gesellschaft

17 Willkommen im falschen Leben

18 Politische und psychische Demokratie

19 Der Fluch der Freiheit und Liberalität

20 Schuld und Selbst-Störungen

21 Protestbewegungen spiegeln falsches Leben

22 Populismus als Herausforderung

23 Zur Ehrenrettung der Ostdeutschen

Teil IV

24 Gefühlsfähigkeit ist das Tor zu echterem Leben

25 Was ist und will «Beziehungskultur»?

26 Beziehungskultur ringt um echtes Leben

27 Meine Selbstentfremdung

Fußnoten

Teil I

1 Wie entsteht die Fälschung?

Der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Beziehungen entscheiden über seine Entwicklung, und Beziehungskultur bestimmt die Lebensqualität. Durch Säuglingsforschung, Hirnforschung und die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie sind diese einfachen Aussagen in überzeugender Weise wissenschaftlich gesichert. Umso erstaunlicher, ja beunruhigender ist deshalb die Tatsache, dass in Politik und Wirtschaft dieses Wissen nicht ausreichend berücksichtigt wird und im menschlichen Zusammenleben psychosoziale Konflikte, Beziehungsängste und Feindseligkeiten das Leben mehr bestimmen als soziale Gemeinschaft, als die Erfahrung psychischer Verbundenheit und eines wechselseitigen empathischen Verstehens.

Die Säuglingsforschung hat uns gelehrt, dass der Mensch von Anfang an ein Subjekt von Beziehung ist. Dabei ist die Beziehungsqualität zwischen Mutter – Kind, Vater – Kind und Mutter – Vater – Kind von entscheidender Bedeutung. Der Säugling gestaltet in seiner Einmaligkeit und mit seinen Bedürfnissen die Beziehung aktiv mit. Das Kind macht die Frau zur Mutter und den Mann zum Vater. Es geht bei der Einschätzung der Beziehungsqualität um die Frage, wie die Eltern auf die originären Angebote ihres Kindes reagieren und welche individuellen Beziehungsangebote sie selbst machen. Die Beziehungspartner bilden allmählich ein spezifisches Beziehungsensemble – ein Familienmuster. Dabei liegt die Gestaltungsmacht mehr bei den Eltern, und die Kinder sind die Opfer der elterlichen Einflüsse. Aber auch die immer schon vorhandenen Eigenarten eines Kindes, sein einmaliges Sosein, verlangen empathisches Verstehen und adäquates Reagieren der Eltern. Mutter und Vater mit schwacher, ungeübter oder gestörter Elternfunktion werden schnell selbst zu Opfern ihrer Kinder, wenn sich diese aufgrund von vorenthaltenem Verständnis, erlittener Kränkung oder verweigerter Begrenzung in «Quälgeister» verwandeln. Auffälliges Verhalten von Kindern oder später die sogenannte «Pubertät» sind keine Krankheiten, sondern Symptome von Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kind. Wenn Kinder mit Handicaps geboren werden, ist das zumeist eine besondere Herausforderung für die Eltern. Sie müssen dann lernen, Ängste und Unsicherheit, aber auch Kränkungen aufgrund der Behinderung, für die sie sich zumeist verantwortlich fühlen, sowie mögliche eigene Ablehnungstendenzen gegen das Kind zu regulieren und zugleich eine schuldgefühlsgetragene falsche Fürsorge zu vermeiden.

Vor der Erforschung der Mutter-Kind-Interaktionen galt das Kind als ein Objekt der Erziehung, dem das «richtige» und «gute» Leben beigebracht werden müsse. Das Kind war den Erziehungsvorstellungen der Familie und damit in der Regel den gesellschaftlichen Normen und Entwicklungserwartungen ausgesetzt. Erziehung geschah überwiegend durch autoritären Druck, durch Einschüchterung, mittels Manipulation durch Lob und Strafe und endete am häufigsten in der Unterwerfung des Kindes unter den Willen der Erwachsenen. Nicht selten führte dieses Verhalten zu Erkrankungen des Kindes und manchmal auch zu rebellischen Kämpfen. Heute wissen wir, dass die Entwicklungschancen eines Menschen ganz wesentlich davon abhängen, ob und wie die ersten Beziehungspartner (Eltern, Geschwister, Großeltern, Krippenerzieher, Tagesmütter) in der Lage sind, die Beziehungsangebote des Kindes richtig zu verstehen und angemessen darauf einzugehen. Dabei ist mit «angemessen» eine Antwort auf das Signal des Säuglings im Sinne einer optimalen Befriedigung (qualitativ und quantitativ) des gezeigten Bedürfnisses gemeint, optimal nach dem Empfinden des Kindes und nicht nach den Vorstellungen der Betreuungspersonen. Solange keine krankheitswertige Störung vorliegt, äußern nicht frustrierte Säuglinge kein falsches oder überzogenes Verlangen. Es ist alles echt und unmittelbar und sollte so auch verstanden und beantwortet werden. Der Säugling erfährt Lust oder Unlust noch ohne Möglichkeit einer rationalen Einsicht und kognitiven Verarbeitung der Betreuungsqualität. Deshalb ist die erlebte Qualität der frühen mütterlichen Versorgung für das Wohlbefinden und die Entwicklung des Kindes so wichtig.

Mit dem Heranwachsen des Kindes sollte die immer auch vorhandene Begrenzung an guter Mütterlichkeit[1] als aktuelle Schwierigkeit der Mutter kommuniziert werden (z.B.: «Es geht jetzt nicht …, Ich habe jetzt keine Zeit …, Ich bin jetzt überfordert …, Ich bin jetzt mit mir/meiner Arbeit beschäftigt … Es tut mir leid!»). Solche Reaktionen sind natürlich auf das Alter des Kindes und das jeweilige Anliegen abzustimmen, aber immer kommt es darauf an, dass verständlich gemacht wird, dass das Beziehungsproblem beim Erwachsenen liegt und sich das Kind nicht als unverstanden, abgelehnt oder als falsch erleben muss. Das gilt auch, wenn Kinder überzogene und unerfüllbare Wünsche äußern. Dann ist es entscheidend für das Wohl des Kindes, ob es die Information erhält: «Nein, ich kann/will das jetzt leider nicht …», «Nein, das ist nicht möglich, weil …» oder ob es wegen seines Bedürfnisses gekränkt oder ganz und gar abgelehnt wird: «Du bist doch unmöglich …, wie kannst du nur so etwas wollen? … Du musst doch Rücksicht auf mich nehmen!»

Eine Mutter sollte wissen, dass sie vom kleinen Kind ausschließlich als «Mutter» wahrgenommen wird und nicht als eigenständige Person mit individuellen Bedürfnissen, Interessen und Verpflichtungen. Die Mutter ist kein «Mensch» für das Kind, sondern ausschließlich versorgendes Objekt, das entweder als lustvoll wahrgenommen wird oder Unlust erzeugt. Dabei ist es für die emotionale Verarbeitung des kindlichen Erlebens und für seine Orientierung entscheidend, ob der Erwachsene mit einer Ich-Botschaft reagiert oder mit einer Du-Bewertung des Kindes. Wenn dem Kind etwas nicht erfüllt werden kann, sollte es wenigstens traurig sein dürfen, auch enttäuscht reagieren und vielleicht sogar wütend seinen Unmut zeigen dürfen. So bleibt es mit dem angemessenen Gefühlsausdruck gesund, weil es den Enttäuschungsstress emotional abführen kann. Und es lernt dabei, mit einer der wichtigsten Lebenserfahrungen umzugehen: der Begrenzung.

Begrenzung ist in jeder Hinsicht normal, unbegrenzte Erfüllung würde in die Sucht führen. Unendliches Wollen ist bereits ein Krankheitssymptom unerfüllter basaler Bedürftigkeit. Das Kind, das sich bei immer auch notwendiger Ablehnung eines Wunsches kaum beruhigen lässt, macht bereits sehr nachdrücklich auf seinen defizitären Status aufmerksam, bei dem der quengelnde Wunsch zusammen mit der heftigen Erregung Symptom eines grundlegenden Unbefriedigtseins ist. Je weniger die basalen Grundbedürfnisse des Kleinkindes erfüllt werden, desto mehr sucht es nach Ersatz und Kompensation. Nur die Not lässt horten, geizen, tricksen und kämpfen; Überlebensnot macht den Menschen böse, gefährlich und gewaltbereit. Und Not entsteht nicht nur aus Nahrungs- und Wassermangel, sondern ebenso aus Liebes- und Bestätigungsmangel sowie bei sozialer Ablehnung und Ausgrenzung. Von den Suchterkrankungen wissen wir, dass es nicht so sehr die Drogen sind, die den Menschen süchtig machen. Vielmehr sucht der ungestillte Mensch sich Mittel, die seine Qual lindern sollen, die er dann aber ständig braucht, weil sie die Bedürftigkeit nicht löschen, sondern nur betäuben. Bei dann zwangsläufig ständigem Mittelgebrauch können zusätzliche biochemische Abhängigkeiten entstehen, die einen Entzug – nicht nur psychisch, sondern dann auch körperlich – so schwer machen.

Kollektiv gesehen, versammelt das Ersatzstreben ungestillter Menschen süchtige Energien, um immer mehr «Drogen» zu gewinnen und zu konsumieren. Das kann sich zu einer basalen Pathologie einer Leistungs- und Wachstumsgesellschaft auswachsen, wenn die Menschen vor allem nach materiellem Ersatz für Beziehungsdefizite streben. Süchtigkeit macht aus Begrenzung Bedrohung, egoistische Überlebensnot verhindert soziale Erfüllung in Beziehungskultur. Der Nachbar ist dann kein Mensch mehr zur sozialen Bereicherung, sondern bedrohlicher Konkurrent, während die Gemeinschaft, die am ehesten Schutz, Hilfe und Unterstützung gewähren und Verständnis, individuelle Bedeutung und Anerkennung vermitteln könnte, in Gewinner und Verlierer, in Starke und Schwache, in Mächtige und Ohnmächtige, in Reiche und Arme zerfällt.

In Deutschland ist materielle Not mehrheitlich so gut wie überwunden. Das süchtige Verhalten vieler Menschen muss deshalb vor allem als Symptom seelischer Defizite verstanden werden. Der narzisstische Liebes- und Bestätigungsmangel speist die materielle egoistische Wachstumssucht; das dadurch verursachte Konkurrenzstreben produziert dann Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Im Verteilungskampf schaffen Gewinner zwangsläufig Verlierer. Wird infolge traumatisierender Beziehungserfahrungen ein Leben in Gemeinschaft nicht mehr als befriedigend und lustvoll erlebt, dann will man «Herr» sein, um die erlittene Schmach zu überdecken und sich zu rächen. Tragischerweise zieht auch der «Knecht» noch Vorteile aus der ungleichen Verteilung, indem er per Projektion glauben kann, die «Herren» allein seien schuld an seinem Elend; so verwandelt er seinen entwicklungspsychologisch begründeten innerseelischen Stress in Protest und Kampf gegen Außenfeinde. Auf diese Weise entstehen Feindschaften, und keiner weiß mehr – und will es auch nicht wissen –, dass eine tiefe seelische Not auf beiden Seiten der Front die eigentliche Quelle der wechselseitigen Vorwürfe bis hin zur gezielten Gewalt gegen den erklärten Gegner ist. Dabei sitzen Arm und Reich, Oben und Unten, Links und Rechts in Wirklichkeit in einem Boot, nämlich dem des «falschen Lebens», und keine Seite ist, psychodynamisch gesehen, besser dran als die andere. Keiner von beiden ist nur gut oder böse, liegt nur richtig oder falsch. Wahrheit ist die größte Gefahr, mit der eigenen Fehlentwicklung konfrontiert zu werden, die ja in aller Regel mit vermeintlich guten Argumenten heftig verteidigt wird.

Ich bin weit davon entfernt, das Elend von Benachteiligten zu bagatellisieren. Aber ich vermag auch nicht das Leben der Erfolgreichen zu glorifizieren, deren psychosoziale Probleme weder durch Reichtum noch durch Macht oder Ruhm beseitigt werden. Eher werden sie damit noch vermehrt, weil die Falschheit ihres Lebens unter der «Goldkruste» besonders schwierig zu erkennen ist. Eine Veränderung wird dann vor allem als Verlust erlebt – wie bei jeder Sucht, wenn auf die Droge verzichtet werden soll. Die Plattitüde «Geld beruhigt, macht aber nicht glücklich!» ist inzwischen halbwegs akzeptiert. Aber das wichtigste Therapeutikum – Liebe statt Geld! – ist keineswegs einfach zu haben. Eine wirkliche Chance für ein friedliches Zusammenleben besteht aber nur dann, wenn Reiche und Arme bei ausreichendem materiellen Ausgleich in einer «Beziehungskultur» lernen, sich lebensechter zu begegnen und soziale Grundbedürfnisse der Anerkennung und Bestätigung beidseitig zu befriedigen. Unterschiede wird es immer geben, doch müssen sie nicht zu Feindseligkeiten führen, solange sie nicht durch Ungerechtigkeiten erzwungen worden sind.

Natur ist Werden und Vergehen, Wachsen und Schrumpfen. Falsches Leben ist Wachstumssucht und Verleugnung der Begrenzung und des Endes. Natur ist Vielfalt und Verschiedenheit, natürlich ist das systemische Zusammenspiel der unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen. Falsches Leben ist die Dominanz der einen über die anderen durch politische, militärische, religiöse und ökonomische Macht mit Selbstüberhöhung und Fremdabwertung.

Das Schicksal einer Gesellschaft entscheidet sich an der Frage, ob Kinder erzogen werden sollen oder ob ihre Entwicklung durch reflektierte und optimierte Beziehung gestaltet wird: Erziehung oder Beziehung! Erziehung erzeugt «gute» und «böse» Kinder, teilt in Gewinner und Verlierer, in richtiges und falsches Verhalten. Erziehung ist verantwortlich für Fehlentwicklungen, für viele Krankheiten und Verbrechen. Beziehung hingegen verzichtet auf Entwicklungsziele und Bewertung. Beziehung fördert Verstehen, würdigt Verschiedenheit, stärkt den Selbstwert und ermöglicht soziale Integration. Beziehung statt Erziehung heißt Liebe statt Macht, Gemeinschaft statt Konkurrenz, natürliche Leistungsdynamik statt künstlicher übertriebener Anstrengung.

Die wichtigste Erkenntnis der Hirnforschung liegt darin, dass die ersten Beziehungserfahrungen des Kindes die Gehirnentwicklung wesentlich beeinflussen, und zwar bereits zu einer Zeit, bevor das Kind sprechen kann. So bekommt die präverbale Beziehungsqualität eine prägende Bedeutung. Diese hängt wesentlich von der Beziehungsfähigkeit des Erwachsenen, von seiner Einstellung zum Kind, von seiner Empathiefähigkeit, sich in das Kind einfühlen zu wollen und zu können, und von seiner Reaktions-(d.h. auch Befriedigungs-)Fähigkeit ab. Nicht, was ein Erwachsener für richtig hält, ist entscheidend, sondern was davon beim Kind ankommt. Es gibt unzählige Eltern, die überzeugt sind, nur das Beste für ihr Kind zu tun. Womöglich wird das von dem betreffenden Kind aber ganz anders empfunden, wenn sein Befinden nicht richtig erkannt und verstanden wird. Dieser tragische Dissens bestimmt sehr oft das pädagogisch orientierte Erziehungsverhalten in Kitas, Schulen und Heimen. Auch in Krankenhäusern dominieren in der Regel medizinisch begründete Maßnahmen über die Bedürfnislage des Kindes. Das mag einerseits unvermeidbar sein. Andererseits ließe sich durch ein empathisches Eingehen auf das kindliche Erleben eine wesentliche Brücke schlagen zwischen dem medizinisch Notwendigen und dem kindlichen Befinden. Das würde nicht nur das Kind aus einer Stresssituation befreien, sondern auch seine Heilungschancen verbessern. Wenn jetzt in den Kitas frühkindliche Bildung auf Kosten der notwendigen Bindung des Kindes propagiert wird, gefährdet das auch den Erfolg jedes Bildungsangebots. Bei sicherer und bestätigender Bindung dagegen kann sich das Kind aus innerem Antrieb frei entwickeln und wird ganz von alleine ein Bildungsbedürfnis entfalten und zunehmend auch artikulieren.

Die für eine gesunde Entwicklung des Kindes so wichtige frühe Bindung lässt sich deshalb nie durch Bildung ersetzen. Gerade Letzteres wird aber von vielen Politikern zunehmend als Begründung für eine Kita-Betreuung vorgebracht. So kommentierte etwa die NRW-Familienministerin Sylvia Löhrmann das Entfallen des Betreuungsgeldes, einer Sozialleistung für Familien, die ihre Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr ohne Inanspruchnahme öffentlicher Angebote wie etwa Kitas selbst betreuen, mit den bezeichnenden Worten: «Die Antibildungsprämie ist vom Tisch», während die Sozialministerin von Baden-Württemberg Katrin Altpeter meinte: «Das Betreuungsgeld setzt falsche Anreize, weil es Eltern ermuntert, ihre Kinder von den vorschulischen Bildungseinrichtungen fernzuhalten.»

Fest steht: Es sollte keinen ideologisch oder ökonomisch begründeten Streit und Kampf um Familien- oder Krippenbetreuung geben. An erster Stelle sollte das Wohl des Kindes stehen. Und das heißt, Eltern so zu unterstützen, dass sie ihre Aufgaben als Mutter und Vater so gut wie möglich erfüllen können, zum Beispiel durch Elternschulen und ein angemessenes Betreuungsgeld, etwa in Analogie zur staatlichen Subvention eines Krippenplatzes in Höhe von 1000 bis 1500€ monatlich. Wenn Eltern ihre Pflicht nicht gut erfüllen, sollte eine optimale Fremdbetreuung möglich sein, die vor allem durch die Beziehungsqualität der Krippenerzieherin («Herzensbildung» sollte hierbei über jeder pädagogischen Lehre stehen!), durch die Gruppengröße der zu betreuenden Kinder und durch eine zuverlässige Bindung an eine Betreuungsperson gewährleistet werden muss.

Die für die Gehirnentwicklung des Kindes und damit für dessen spätere Persönlichkeitsstrukturen verantwortliche frühe Beziehungsqualität muss man aus der Sicht des Kindes beurteilen. In Entsprechung zu den wesentlichen mütterlichen und väterlichen Funktionen lauten die entscheidenden Fragen zur Beziehungsqualität aus kindlicher Perspektive:

Bin ich gewollt? Ist mein Leben erwünscht? Bin ich existenzberechtigt? Oder soll ich besser nicht sein («Mutterannahme» oder «Mutterbedrohung»)?

Werde ich in meiner Existenz freigelassen, oder werde ich von der Mutter besetzt, energetisch für Mutters Leben ausgesaugt? Wird mein einmaliges Leben akzeptiert, oder muss ich für Mutter leben («Mutterbesetzung» durch eine «Vampir-Mutter» oder «Mutterfreiheit»)?

Bin ich wirklich geliebt? Werden alle meine normalen Bedürfnisse erkannt und zuverlässig und ausreichend bestätigt und erfüllt («Mutterliebe» oder «Muttermangel»)?

Darf ich mich erkennen? Darf ich so sein, wie ich bin? Oder muss ich erkennen, was von mir erwartet wird und wie ich sein soll («Mutterbestätigung» oder «Muttervergiftung»)?

Darf ich mich entfalten? Meine Fähigkeiten entdecken und entwickeln? Oder werde ich eingeschüchtert, geängstigt, abgewertet («Vaterliebe» oder «Vaterterror»)?

Werde ich hinreichend gefördert, ermutigt und unterstützt und hilfreich gefordert? Oder hat keiner Interesse an mir, kümmert sich keiner um mich, und bekomme ich keine Unterstützung und Anleitung («Vaterförderung» oder «Vaterflucht»)?

Werden auch meine Grenzen gesehen und respektiert? Oder muss ich mich über meine Möglichkeiten hinaus immer nur anstrengen («Vaterverständnis» oder «Vatermissbrauch»)?

«Beziehungsqualität» von Erwachsenen ist eine innere Einstellung, eine Haltung, die sich dem Kind übermittelt. Vonseiten des Kindes ist sie ein Verhaltensangebot und eine Erlebniserfahrung, die auf Spiegelung und Resonanz wartet. Beziehung spielt sich sehr viel mehr «energetisch» und emotional ab als rational-pädagogisch. Wer nur pädagogische Erkenntnisse, rationale Überzeugungen und «richtiges» Verhalten zur Grundlage seiner Beziehungsangebote macht, der bewirkt eine Entfremdung des «Erziehungsobjektes» von sich selbst, bestenfalls mit dem Ziel der Anpassung und schlimmstenfalls mit dem Ergebnis von Trotz, Verweigerung und Verhaltensstörung. Durch Anpassung kann man im Wertekanon der dominierenden Normen sehr erfolgreich werden. Das aber ist häufig mit erhöhtem Erkrankungspotential verbunden und immer mit einer Entfremdung von sich selbst. Bei massenwirksamer autoritärer und repressiver Beeinflussung durch Erziehung entsteht eine gesellschaftliche Fehlentwicklung. Das falsche Leben erscheint dann als das richtige und erwünschte, weil es zunächst durchaus erfolgreich ist – bemessen an den Mainstream-Werten – und gar nicht mehr als Fehlentwicklung wahrgenommen wird, weil ja alle (oder zumindest die meisten) so denken, urteilen und sich verhalten («Normopathie»).

Ich fasse zusammen:

Das falsche Leben ist die Folge von Beziehungsstörungen – von Anfang an.

Die frühe Beziehungsqualität prägt die Persönlichkeit und entscheidet über «echtes» oder «falsches Leben».

Fehlentwicklungen und Fehlverhalten als Folge von Beziehungsstörungen sind schwer erkennbar, wenn eine Mehrheit davon betroffen ist.

So können Störung, Abnormität und Destruktivität als normal, richtig und notwendig erscheinen, wie wir dies etwa im Nationalsozialismus und Sozialismus zur Kenntnis nehmen mussten und heute in einer narzisstischen Gesellschaft als Gefahr einer bedrohlichen Fehlentwicklung erkennen sollten.

2 Selbst und Ich

Der Begriff des «Selbst» wird sehr unterschiedlich verstanden und psychologisch, soziologisch, philosophisch oder theologisch interpretiert. Hier ist nicht der Ort, diesen Begriff mit seinen theoretischen und praktischen Implikationen zu diskutieren, sondern ich beschreibe lediglich, wie ich «Selbst» im Kontext dieses Buches verstehe und verwende. Dabei ist es hilfreich, «Selbst» und «Ich» zu unterscheiden.

Das Selbst repräsentiert die Struktur der Person. Als einmalige und unverwechselbare Grundmatrix ist es angeboren und von Anfang an schon vorhanden. Es besteht aus wahrnehmbaren innerseelischen Vorgängen (Gefühlen, Impulsen, Befindlichkeiten), aber auch aus einem unbestimmten Existenzerleben, das zu allen Zeiten und in allen Kulturen in Begriffen einer Lebensenergie zu beschreiben versucht wurde («Orgon» bei Wilhelm Reich, Qi im Daoismus, Prana im Hinduismus, Ruach im Hebräischen, Pneuma im Griechischen, Ki im Japanischen).

Das Selbst als Ausdruck der Persönlichkeitsstruktur wird durch Umwelteinflüsse in seiner Entfaltung beeinflusst: Es kann gefördert, behindert und zerstört werden. Nach meiner Erfahrung – und orientiert an psychodynamisch/psychoanalytischen Theorien – ist die frühe Beziehungsqualität, die Kinder vor, während und nach der Geburt – vor allem in den ersten drei Lebensjahren – erleben, prägend für die Selbstentfaltung. So gibt es immer ein angeborenes Selbstpotential, das man auch als «von Gott geschenkt», zur «Natur des Menschen gehörend» oder «genetisch verankert» verstehen kann und dessen Entwicklungsschicksal vor allem sozial beeinflusst wird. Aber natürlich haben auch andere Faktoren, beispielsweise Ernährungsfragen, Umweltgifte oder Erkrankungsfolgen, Einfluss auf das Selbstpotential. So definiere ich das Selbst als das Gesamt der angeborenen Persönlichkeitsstruktur, deren Entwicklung vielfach beeinflusst wird. Diese Beeinflussung führt dazu, dass das reale Selbst mehr oder weniger abweicht von dem gegebenen Selbstpotential. So kann das Selbsterleben zum Beispiel bedrohlich, angstvoll, selbstwertgestört, abhängig, gehemmt, überwertig, verzerrt, verstört, defizitär, brüchig, instabil u.a.m. sein.

Hier kommt das «Ich» ins Spiel als seelische Funktion, die bemüht ist, Störungen des Selbst auszugleichen, zu regulieren, zu kompensieren und zwischen Spaltungen und Fragmenten des Selbst zu vermitteln und zu versöhnen. Das «Selbst» ist die zur Struktur «geronnene» Persönlichkeit. Die frühe Prägung der vorgegebenen Strukturmatrix ist später nicht mehr grundlegend veränderbar. Das «Ich» sind die sekundären psychosozialen Leistungen, um zwischen strukturellen Möglichkeiten und Begrenzungen und den Anforderungen der Realität zu vermitteln, Diskrepanzen zu regulieren und auf hilfreiche äußere Veränderungen hinzuwirken. Das Ich ermöglicht Anpassung, Veränderung und Entwicklung mit der Gefahr, dass sich die Ich-Leistungen weit von der strukturellen Basis des Menschen entfernen können, so dass die Ich-Erfolge nicht mehr gegründet sind und sicher gehalten werden können. Das entscheidende Problem entsteht dann, wenn Ich und Selbst verwechselt werden. Wenn die Hilfs- und Rettungsfunktion des Ichs als Essenz der Persönlichkeit verstanden wird, ohne noch zu realisieren, dass das Ich nur helfen will, das bedrohte, defizitäre oder verwirrte Selbst zu stabilisieren oder seine Störungen und Entfremdungen zu bagatellisieren, zu vertuschen oder ganz und gar zu leugnen.

Will man die Unterschiedlichkeit von «Ich» und «Selbst» verstehbar machen, sind folgende Merkmale hilfreich:

Ich

Selbst

gemacht, erworben

gegeben

veränderbar, lebenslang lernfähig

grundsätzlich, basale Matrix, nur in der frühen Lebenszeit ausformbar

bildet die soziale Fassade und die sozialen Rollen

ist der Kern der Persönlichkeit

objektivierbares Verhalten

subjektives Erleben

auf etwas gerichtet, auf Wirkung orientiert

in sich ruhend, auf das Sein bezogen

außenorientiert

innenorientiert

egoistisch, kämpfend, verbindend, parteiisch

schutzbedürftig, würdevoll

Es ist der Unterschied zwischen Haben und Sein. Das Ich hat, aber es ist nicht. Das Selbst ist, aber es hat nicht.

Die Leistungen des Ichs, um Selbst-Störungen zu vertuschen, verbrauchen wertvolle Lebensenergie, die für die differenzierte Entfaltung des Selbst nicht mehr zur Verfügung steht. Je größer die Selbst-Störungen sind, desto mehr Ich-Leistungen sind notwendig, um das falsche Leben auszubauen, von inneren Zweifeln und äußerer Infragestellung abzupanzern und das falsche Leben zur Anerkennung zu bringen. So können mit den Fähigkeiten des Ichs großartige Leistungen vollbracht werden, die auf das Siegerpodest oder in die Führungsetagen führen, und niemand hält es für möglich, dass sich dahinter ein sehr verletztes Selbst verbirgt. Das vom Ich getragene Ersatzleben findet auf der Bühne statt, die eigentliche Selbst-Not meldet sich im Privaten, in den Träumen, im Ausgebrannt-Sein und den späteren Erkrankungen, wenn die Scheinwerfer erloschen und der Beifall verklungen sind.

3 Das Falsche Selbst begründet falsches Leben

Betrachten wir also das Selbst als ein Geschenk, das wir nicht ablehnen können, das die Basis unserer Individualität bildet und die Einzigartigkeit und Einmaligkeit unserer Existenz begründet. Erfahrbar ist es am ehesten in der subjektiven Befindlichkeit, in der erlebbaren Innerlichkeit und spürbaren Intentionalität – also in subjektiven psychischen Qualitäten, die nur mir zugänglich sind, über die ich bestenfalls berichten, die ich aber nicht objektivierbar belegen kann. So gesehen wird klar, dass das Gegebene, Geschenkte gehegt, behütet und verwaltet werden muss. Die Eltern sind die ersten und wichtigsten Hüter und Pfleger des Selbst ihres Kindes. Die Eltern bestimmen darüber, wie frei sich das Selbst entfalten kann oder wie sehr es behindert, verstört und beschädigt wird.

So tragen die Eltern und jede frühbetreuende Person die Verantwortung dafür, ob sich ein gesundes Selbst entfalten kann oder ob die Selbst-Entwicklung behindert und verstört wird und sich ein «falsches Selbst» bilden muss.

Ich habe die wesentlichen Beziehungsangebote für die Frühentwicklung des Kindes nach mütterlichen und väterlichen Beziehungsqualitäten unterschieden, um damit spezifische Selbst-Störungen differenzieren und verstehen zu können. Keine Unisex-Debatte kann darüber hinwegtäuschen, dass Mütterliches und Väterliches grundverschiedene Beziehungsformen sind, die nicht austauschbar und nicht verzichtbar sind, soll sich ein Kind nach seinen Möglichkeiten entwickeln dürfen. Allerdings kann auch ein Mann, ein Vater mütterlich und eine Frau, eine Mutter väterlich sein. Das kann bei guter Abstimmung der unterschiedlichen elterlichen Funktionen sehr hilfreich sein, ändert aber zunächst nichts an dem Vorlauf der Beziehungsbedeutung der leiblichen Mutter, die durch Schwangerschaft, Geburt und Stillen begründet wird und erst im Laufe der ersten Jahre allmählich auch von anderen Betreuungspersonen übernommen werden kann. Der Ruf nach dem Vater als Ersatzmutter kann nur auf seine mütterlichen Fähigkeiten – sofern er diese zur Verfügung hat – orientiert sein und sollte nicht als ideologisch-feministische Forderung, wonach die Mutter ohne Weiteres durch den Vater ersetzbar sei, die Familienpolitik beeinflussen.

Bei guter Mütterlichkeit fühlt sich das Kind prinzipiell willkommen und berechtigt, auch wenn es selbstverständlich manchmal begrenzt werden muss und ein «Nein» zu hören bekommt. Die mütterliche Zuwendung sichert dem Kind, dass es so erkannt und verstanden wird, wie es wirklich empfindet und bedürftig ist. Durch eine möglichst unverzerrte mütterliche Spiegelung erfährt das Kind zuverlässige Bestätigung und Befriedigung seiner Bedürfnisse und ebenso eine unvermeidbare Begrenzung durch Realitätsbezug. So erlebt das Kind die körperliche, die psychische und soziale Versorgung als zweifelsfrei und selbstverständlich. Der passive Teil des Mütterlichen ist Einfühlen, Wahrnehmen und Erkennen, der aktive Teil ist Bestätigen, Versorgen, Befriedigen, Beschützen und Trösten.

Im Gesamt dieser mütterlichen Funktionen wird die «Bindung» zum Kind hergestellt. Eine gute Bindung bildet die Grundlage für die individuelle und ungestörte Entfaltung des Selbst. Man darf «Bindung» aber nicht mit symbiotischer Verschmelzung verwechseln, die keine Distanz, keinen individuellen Freiraum und keine Verschiedenheit erlaubt. Bindung ist vielmehr eine dynamische Abstimmung zwischen Mutter und Kind über ihre wechselseitigen Bedürfnisse und Möglichkeiten mit der sichernden Zuversicht einer erreichbaren beidseitigen Zufriedenheit, die auch Spannung, konflikthafte Auseinandersetzung und Kompromisse mit einschließt.

Mit guter Väterlichkeit erfährt das Kind Interesse an seinen Möglichkeiten und Verständnis für seine Schwierigkeiten und Grenzen. Das Väterliche weckt Begabungen und Talente, erkennt die Veranlagungen und fördert diese ohne ehrgeizige Überforderung. Aber Kinder wollen auch gefordert sein, sie wollen zeigen, was sie können, und zur eigenen Entwicklung und auch zu Leistungen angeregt werden. Die Kunst des Väterlichen besteht darin, dem Kind berechtigten Stolz zu ermöglichen, dabei Leistungssteigerung zu unterstützen, aber auch Leistungsgrenzen wohlwollend zu bestätigen und das Kind nicht um des väterlichen Stolzes willen hochzuzüchten. Das gute väterliche Fördern und Fordern orientiert sich auch an den sozialen Verpflichtungen, die sich aus der individuellen Entwicklung ergeben, sowie an den Chancen und Folgen der besonderen Leistungen und Begabungen des Kindes mit Verantwortlichkeit für Handeln und Unterlassen.

In der Entwicklungspsychologie spielt das Väterliche mit seiner triangulierenden Funktion eine wesentliche Rolle. Mutter und Kind bilden anfangs eine exklusive Zweierbeziehung mit möglichst optimaler Bindungsqualität. Zu dieser Dyade kommt der Vater als ein Dritter hinzu: Mit dieser Triangulierung bietet das Väterliche neue Beziehungserfahrungen und neue Erlebnisinhalte – und damit erweiterte Selbstentfaltungschancen. Dabei ist es wichtig, dass die Mutter diese Erweiterung der Dyade zur Triade wohlwollend bejaht und aktiv unterstützt, so dass die Bindungssicherheit des Kindes nicht infrage gestellt und die Persönlichkeitsentwicklung mit der Hauptfunktion des Väterlichen, der Forderung der Selbständigkeit und Weltgestaltung, vervollständigt wird.

Die Selbst-Störungen:

Das bedrohte Selbst («Mutterbedrohung»)

Das von der Mutter nicht erwünschte, nicht gewollte Kind, das prinzipiell abgelehnt ist und bedrohliche Vernachlässigung, aber auch physische und psychische Gewalt erlebt, wird auch in seiner Selbst-Entwicklung unsicher, labil, bedroht, brüchig und fragmentiert bleiben. Die Wahrnehmung von sich selbst lautet dann etwa: Ich bin nicht berechtigt! Ich darf nicht sein! Ich bin grundsätzlich falsch! Ich bin furchtbar! Ich bin eklig! Ich bin unerträglich!

Um mit diesem unerträglichen Selbsterleben überlebensfähig zu werden, können die Ich-Funktionen zwei Wege einschlagen: Das Ich identifiziert sich mit der existenziellen Bedrohung und entwickelt selbst destruktive Verhaltensweisen (etwa über Alkohol und Drogen oder durch Selbstverletzungen und durch – unbewusste – Provokation von heftigen Konflikten, Streit und Gewalt). Mit einem zerstörerischen und konfliktreichen Verhalten gibt man im Grunde der mütterlichen Ablehnung recht – man macht sich real eklig und unerträglich, was leichter auszuhalten ist als die vernichtende mütterliche Botschaft. Auch durch lebensbedrohliche Verhaltensweisen in der Freizeit, bei der Arbeit oder im Sport lässt sich das dunkle Bedrohungserleben ausagieren. Oder es werden mit dem Ich im trotzigen Aufbegehren gegen dieses furchtbare Schicksal Wege und Mittel gesucht, um sich zu rächen. Um als Täter nicht mehr Opfer sein zu müssen.

Die Tragik liegt dabei darin, dass die Ursachen und Zusammenhänge des Opferseins (die früheste existenzielle Ablehnung) individuell nicht mehr erkannt und verstanden werden, sondern die Bedrohung im blinden Hass an irgendwelchen Sündenböcken abreagiert wird. Durch die Folgen der Täterschaft wird dann auch in der äußeren Bewertung die tiefe Not des Täters nicht mehr gesehen. Die innerseelische (verleugnete) Bedrohung ist die eigentliche Quelle jeder Radikalisierung und jeder ausgeübten Gewalt. Es gibt keinen Gewalttrieb. Jeder Gewalttäter ist ursprünglich Opfer selbst erlittener physischer oder psychischer Gewalt. Radikalismus lässt sich niemals durch Ausgrenzung oder Strafe wirkungsvoll vermindern, sondern nur durch langfristige psychosoziale Hilfen eindämmen oder – am besten – durch Prävention einer Frühbedrohung des Selbst verhindern.

Die Selbstbeschädigung im Sinne der «Identifikation mit dem Aggressor», wie auch die Fremdbeschädigung (Gewalt, Kriminalität, Kriegslust, Radikalisierung, Fremdenfeindlichkeit) stehen beide im Dienst einer pervertierten Selbsterhaltung. Auf jeden Fall muss die erlittene prinzipielle Existenzbedrohung verdrängt, verleugnet, übertüncht oder ganz und gar aus der Wahrnehmung und Erkenntnis abgespalten werden, weil die Wahrheit lebensgefährlich ist. Kommt man später durch irgendeine Form der Selbstbeschädigung zu Tode, wird nur der frühe Fluch (unbewusst) erfüllt. Tötet man andere (oder folgt zumindest solchen Gelüsten), wird der berechtigte, aus der Frühbedrohung folgende Hass auf tragische Weise gegen Unschuldige ausgetragen. Es ist kein Krieg möglich ohne erhebliche Selbst-Beschädigung der Beteiligten vor Kriegsbeginn, egal, welche Argumente für Kriegserklärung und Kriegsführung verwendet werden.

«Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin» – ist eine sehr sympathische Überlegung. Allerdings suggeriert das Ansinnen einen Freiheitsgrad und eine Verantwortlichkeit, die im «falschen Selbst» nicht gegeben sind. Ich bin dagegen von folgender Formel überzeugt: Solange Kinder schweren Beziehungsstörungen ausgesetzt sind und ein «falsches Selbst» ausbilden müssen, werden sie auch Gewalt und Kriege brauchen und wollen.

Das Ich will das bedrohte Selbst schützen und seine verlorene Ehre vermeintlich wiederherstellen, indem es selbst bedroht und zur Rache bereit ist. Das Ich der Bedrohten ist der Kriegstreiber und Gewaltprovokateur. Kriegerische Gewalt wird auch gegen die Natur, gegen Tiere oder im Sozialkampf ausgeübt.

Das gequälte Selbst («Mutterbesetzung»)

Es kommt vor, dass ein Kind regelrecht von seiner Mutter besetzt wird. Die Mutter braucht das Kind zur Bestätigung ihrer Wichtigkeit und zur Ich-Aufwertung, aber auch für ihre Ablenkung und Kompensation. Ich spreche von einer «Vampir-Mutter», die ihr Kind energetisch aussagt, um nicht unter ihrer eigenen Leere, Minderwertigkeit und Bedeutungslosigkeit als Ausdruck ihrer Selbst-Störung zu leiden. Ein Kind «zu haben» ist dann ein Hauptmotiv für die Mutterschaft. Die Einstellung der Mutter zu ihrem Kind ist: Du kommst von mir! Du gehörst mir! Ich kann mit dir machen, was ich will! Du bist mein Besitz!