Der Gefühlsstau - Hans-Joachim Maaz - E-Book

Der Gefühlsstau E-Book

Hans-Joachim Maaz

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Beschreibung

«Wir waren ein gefühlsunterdrücktes Volk. Wir blieben auf unseren Gefühlen sitzen, Der Gefühlsstau beherrschte und bestimmte unser ganzes Leben. Wir waren emotional so eingemauert, wie die Berliner Mauer unser Land abgeschlossen hatte», schrieb der bekannte Psychiater Hans-Joachim Maaz in seinem 1990 erschienenen Bestseller Der Gefühlsstau. Auch zwanzig Jahre später bleibt seine Analyse aktuell, die Vergangenheit vergeht langsamer als erhofft. Die Mauer, in der Realität seit langem eingerissen, existiert weiterhin, und das nicht nur in unseren Köpfen, wie viele meinen, sondern vor allem in unseren Gefühlen. Psychischen Druck und infolgedessen ein ausgeprägtes Mangelsyndrom kann nicht nur ein umfassendes System autoritärer Unterwerfung wie die DDR erzeugen – auch eine scheinbar offene Gesellschaft, die ganz auf Wachstum und Konsum sowie auf egoistische Interessen setzt, die Begrenzungen unseres Lebens dabei aber leugnet, führt zu elementaren seelischen Blockierungen. Diese zu benennen, zu analysieren und einen Beitrag zu ihrer Auflösung zu leisten, ist und bleibt das große Anliegen von Hans-Joachim Maaz.

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HANS-JOACHIM MAAZ

Der Gefühlsstau

PSYCHOGRAMM EINER GESELLSCHAFT

VERLAG C.H.BECK

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Zum Buch

«Wir waren ein gefühlsunterdrücktes Volk. Wir blieben auf unseren Gefühlen sitzen, der Gefühlsstau beherrschte und bestimmte unser ganzes Leben. Wir waren emotional so eingemauert, wie die Berliner Mauer unser Land abgeschlossen hatte», schrieb der bekannte Psychiater Hans-Joachim Maaz in seinem 1990 erschienenen Bestseller Der Gefühlsstau. Auch zwanzig Jahre später bleibt seine Analyse aktuell, die Vergangenheit vergeht langsamer als erhofft. Die Mauer, in der Realität seit langem eingerissen, existiert weiterhin, und das nicht nur in unseren Köpfen, wie viele meinen, sondern vor allem in unseren Gefühlen. Psychischen Druck und infolgedessen ein ausgeprägtes Mangelsyndrom kann nicht nur ein umfassendes System autoritärer Unterwerfung wie die DDR erzeugen – auch eine scheinbar offene Gesellschaft, die ganz auf Wachstum und Konsum sowie auf egoistische Interessen setzt, die Begrenzungen unseres Lebens dabei aber leugnet, führt zu elementaren seelischen Blockierungen. Diese zu benennen, zu analysieren und einen Beitrag zu ihrer Auflösung zu leisten, ist und bleibt das große Anliegen von Hans-Joachim Maaz.

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Über den Autor

Hans-Joachim Maaz, seit 40 Jahren praktizierender Psychiater und Psychoanalytiker, war lange Zeit Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik des Diakoniekrankenhauses Halle. Bei C.H.Beck erschienen von ihm zuletzt Die Liebesfalle. Spielregeln für eine neue Beziehungskultur (4. Auflage 2009) und Die neue Lustschule. Sexualität und Beziehungskultur (2009).

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Gewidmet den Menschen, die den Weg der psychischen Revolution gehen

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Inhalt

Zwanzig Jahre danach

 

Der «real existierende Sozialismus» als repressives System

 

Wir sind alle betroffen

Die staatliche Repression

Die führende Rolle der Partei

Die Macht der Staatssicherheit

Die Repression durch die Justiz

Die repressive staatliche Erziehung

Die familiäre Repression

Die repressive Medizin

Die autoritäre Entbindung

Die kirchliche Repression

Zusammenfassung

 

 

Die Folgen der Repression

 

Das Mangelsyndrom und der Gefühlsstau als Folge der Repression

 

Der innere Mangelzustand

Die äußere Mangelsituation

 

Die Folgen des Mangelsyndroms

 

Die Entfremdung von der Natürlichkeit

Die Blockierung der Emotionalität

Die Spaltung der Persönlichkeit

 

 

Die Kompensationsbemühungen gegen das Mangelsyndrom

 

Die allgemeine Lebensweise als Kompensation

 

Die Charakterdeformierungen

 

Der gehemmte Charakter

Der zwanghafte Charakter

 

Die sozialen Rollen als Möglichkeiten der Kompensation

 

Die Machthaber

Die Karrieristen

Die Mitläufer

Die Oppositionellen

Die Ausreisenden und Flüchtenden

Die Utopisten

 

 

Zur Psychologie der «Wende»

 

Die sozialpsychologischen Vorbedingungen

Die situative Krise

Der Ablauf der «friedlichen Revolution» aus psychologischer Sicht

Das Scheitern eines eigenständigen Weges der Demokratisierung

Die Grenzöffnung – «Deutschland eilig Vaterland»

Zur psychologischen Deutung des Wahlergebnisses

Die psychischen Folgen der «Wende»

Nachtrag zum Problem der «Gewaltfreiheit»

 

 

Der Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten als sozialpsychologisches Problem

 

Die psychologische Bedeutung der Spaltung Deutschlands

Der Vereinigungsprozess als psychischer Abwehrvorgang

Die psychischen Gefahren der Vereinigung

 

 

Die Psychotherapie im Dienste der «psychischen Revolution»

 

Die Psychotherapie der DDR zwischen «Anpassungsund Veränderungstherapie»

Unsere Therapieerfahrungen

 

 

Die «therapeutische Kultur»

 

Die Kultur des Zusammenlebens

Die natürliche Geburt

Begleiten statt Erziehen

Ganzheitliche Medizin

Wider die autoritäre Religion

Schlusswort

 

 

Von mir

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Zwanzig Jahre danach

Nach knapp zwanzig Jahren habe ich mein Buch «Der Gefühlsstau» wieder gelesen. Dabei hat mich meine damalige «Prophetie» hinsichtlich der Probleme unserer Zukunft selbst überrascht. Einerseits hatte ich Hoffnungen und Sehnsüchte, dass sich mit dem Untergang der DDR alles nur zum Besseren wenden würde. Andererseits war mir aufgrund der bitteren Erkenntnisse und Hypothesen meiner tiefenpsychologischen Analysen bereits damals klar, dass es ohne eine grundlegende Veränderung der psychosozialen Wurzeln gesellschaftlicher Fehlentwicklung keine wirkliche Verbesserung geben kann.

So wählte ich als «Logo» für den «Gefühlsstau» die Skizze einer Wende beim Schwimmen, um auf die Verleugnungstendenz hinzuweisen, dass es nach einer «Wende» – wie die politischen Veränderungen in der DDR bezeichnet wurden – in der gleichen Bahn weitergehen könne, man also nur an der Oberfläche die Richtung wechselt, nicht aber tiefere Fehlentwicklungen erkennt und beseitigt. Ich hatte die psychischen Kräfte im Blick, die schmerzliche Erkenntnis und anstrengende Veränderungen zu vermeiden suchen. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist ohne kritische Infragestellung der psychosozialen Strukturen in Ost und West vollzogen worden. Der Vereinigungsprozess wurde fast widerspruchslos unter der Doktrin vom siegreichen und damit in allem überlegenen Westen auf der einen Seite und dem ausschließlich erfolglosen und vom Unrecht dominierten Osten auf der anderen Seite gestaltet. Die systemtypischen Sozialisationsziele von Dominanz im Westen und Anpassung im Osten haben sich in der Vereinigung als eine kollektive Herrschafts-Unterwerfungs-Kollusion zusammengefunden. Eins passte zum anderen wie Schlüssel und Schloss. Infolgedessen blieben die gesellschaftstypischen Abwehrvorgänge, mit denen bereits die psychosozialen Quellen der pathogenen Dynamik des Nationalsozialismus verleugnet worden waren, erneut unangetastet. Die Frage, wie individuelle Fehlentwicklungen einer Mehrheit von Menschen eine Gesellschaftspathologie ausgestalten, wurde nicht ausreichend analysiert und beantwortet. Im Westen hatte die Anstrengungsbereitschaft zum wirtschaftlichen Erfolg der Verdrängung gedient; im Osten hatte man geglaubt, durch eine Friedensideologie geläutert werden zu können. Zugleich war «das Böse» auf die jeweils andere Seite der Front des «Kalten Krieges» projiziert worden, um damit eigenes schuldhaftes Fehlverhalten gar nicht erst erkennen und schon gar nicht anerkennen zu müssen. Und was nicht projektiv gebunden werden konnte, hat in der westlichen Leistungsgesellschaft das Konkurrenzverhalten zur Sucht werden lassen und führt zunehmend zu sozialer Ungleichheit, Zerstörung der natürlichen Umwelt und zu Belastungen der Zukunft. Die westliche Lebensform ist inzwischen mit dem Symptom der Gier – einem Symptom nicht mehr kontrollierbarer Süchtigkeit – in die Krise geraten. In der DDR hingegen war das Destruktive, das nicht ausreichend projektiv nach außen abgewehrt werden konnte, im inneren sozialistischen Machtbereich durch Unterdrückung, Einschüchterung und Denunziation ausgelebt worden. Der totalitäre Machtanspruch der Partei hat zusammen mit der Unterwerfungssucht der Mehrheit des Volkes das gesamte System erstickt und schließlich kollabieren lassen. So gesehen hat 1989 keine «Revolution» stattgefunden, sondern es hat anfangs noch angstvoll-mutige, dann immer mehr volksfestähnliche Begleitdemonstrationen beim Untergang eines inzwischen sinnentleerten, bankrotten und zunehmend auch verhassten Systems gegeben. Dass wir von einer «friedlichen» Revolution sprechen können, ist vor allem denjenigen zu verdanken, die nicht mehr ihre Schusswaffen zwecks Erhaltung ihrer Macht zum Einsatz gebracht haben. Die Visionen der Macht waren nicht nur ökonomisch erschöpft, sondern vor allem auch psychologisch erlahmt. Dass bei der Organisation der «Wende» viele Stasi-Leute führende Funktionen eingenommen haben, lässt sogar die Deutung zu, dass bei einem Teil der Mächtigen längst ein Paradigmenwechsel für die Werte des Westens vollzogen worden war. Für die Historiker könnte es eine spannende Aufgabe sein, zu erforschen, wie viel Vermögen und Macht die sozialistischen Machthaber für sich haben retten können.

Für die meisten Ostdeutschen gehören die Proteste der Wende zu den wichtigsten und besten Erfahrungen ihres Lebens. Doch im Taumel von Befreiung und Genugtuung waren die Verantwortung und die Verpflichtung zum Aufbau eines selbstbestimmten Lebens vergessen worden. Man darf auch feststellen, dass sich kritische, kreative und progressive Kräfte zur politischen und ökonomischen Gestaltung der Gesellschaft im Machtbereich sozialistischer Strukturen nicht wesentlich entwickeln konnten. Die Demonstranten waren sich darin einig, was sie nicht mehr wollten, aber nicht mehr, wohin es gehen sollte. Mit dem «Schlachtruf»: «Wir sind das Volk!» wurde mit sarkastischem Humor die sozialistische Phrase von der Herrschaft des Volkes nun gegen die Politbürokratie zurückgeschleudert. Das war ein trotzig-befreiender Protest, in Bezug auf den politischen Willen indessen ziellos und inhaltsleer, im Grunde wie ein pubertär-unreifes Aufbegehren. So ist es nicht verwunderlich, dass die Demonstrationen alsbald von einer anderen Protestklientel beherrscht wurden, die mit dem Slogan «Wir sind ein Volk!» kritische Erkenntnis und notwendige Entwicklung offenbar verhindern wollten und auf äußere Befreiung hofften. Bereits 1945 mussten die Deutschen befreit werden, ein notwendiger Befreiungskampf hatte kaum stattgefunden. So hatte nach dem «Kriegsrausch» und dem Kriegswahnsinn mit emotional nicht mehr fassbaren Verbrechen die Spaltung der Welt in ein kapitalistisches und ein sozialistisches Lager wesentlich dazu beigetragen, eine tiefere Einsicht in die psychosozialen Strukturen hochpathologischer gesellschaftlicher Fehlentwicklungen zu vermeiden. Der sich anschließende «Kalte Krieg» kann nahezu als Ausdruck einer kollektiven Abwehr schuldigen Verhaltens verstanden werden. Durch den entbrennenden Wettkampf der Systeme wurden vor allem oberflächliche Erfolge zur Geltung gebracht. In den sozialistischen Ländern durfte man glauben, durch «Frieden und Sozialismus» zu besseren Menschen zu werden; in den kapitalistischen Ländern wurde der materielle Wohlstand als Zeichen der nun besseren Verhältnisse gedeutet. So konnten die Menschen in den sozialistischen Ländern angesichts des Bankrotts der Planwirtschaft hoffen, dass es anderswo ein «besseres Leben» gebe, und die Menschen in den westlich-kapitalistischen Ländern konnten glauben, sie seien angesichts der ökonomischen Schwächen und politischen Verbrechen der sozialistischen Staaten tatsächlich die Sieger der Geschichte und die eigenen Probleme könnten vernachlässigt werden.

Zwar waren die meisten Ostdeutschen 1989 für «Freiheit und Demokratie» auf die Straße gegangen. Sie forderten die demokratischen Grundrechte: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, freie Wahlen, Redefreiheit, Reisefreiheit, Rechtsstaatlichkeit – und hatten dabei auch das Wirtschaftswunder mit seinem materiellen Wohlstand im Blick. Dass aber «Freiheit und Demokratie» nicht nur Phrasen sein dürfen, sondern auch innerseelisch und beziehungsdynamisch erworben und geübt werden müssen, das wurde nicht akzeptiert, vermutlich von den meisten nicht einmal verstanden. So wurde der deutsche Vereinigungsprozess auf der Basis kollektiver Abwehrvorgänge von Mehrheiten auf beiden Seiten vollzogen.

Es hat keine Vereinigung der unterschiedlichen Lebensformen mit kritischer Auseinandersetzung über jeweilige Vor- und Nachteile gegeben, sondern es ist ein bloßer «Beitritt» erfolgt. Die Auswirkungen kapitalistisch oder sozialistisch geprägter Lebensformen auf das Zusammenleben der Menschen, auf Familie, Partnerschaft und Sexualität, auf den Umgang mit Kindern, auf Erkrankungen und Kriminalität, auf psychosoziale Fehlentwicklungen mit ökologischen und globalen Folgen, sind nie wirklich zum Thema der Vereinigung gemacht worden. Die Ostdeutschen haben mehrheitlich auf eine Revolution verzichtet, sie haben die Chancen ihres Protestes verschenkt bzw. sehr billig verkauft: Die Macht wurde nicht übernommen, strafrechtlich relevantes Verhalten in der DDR wurde nicht durch eigens zu schaffende Gesetze geahndet, das «Volkseigentum» wurde nicht in Besitz genommen, individuelle Schuld wurde nicht akzeptiert, kritisch analysiert sowie moralisch bewertet, Raum und Zeit für Reifeprozesse wurden nicht geschaffen. Auf westdeutscher Seite dagegen war das gefühlte «Sieger-Syndrom» so selbstverständlich, dass den allermeisten eine selbstkritische Infragestellung der eigenen Lebensform überhaupt nicht in den Sinn kam; die Anpassung des Ostens an die westdeutschen Verhältnisse wurde als einzig mögliche Strategie eingeschätzt. Die notwendige Erkenntnis, dass es einige Jahre der Annäherung, der Verständigung, der Verhandlung, der Kompromisse bedürfen würde, um das Verständnis und die Grundlagen für eine Vereinigung zu entwickeln, in der auch einseitige Sozialisationsfolgen mit den jeweiligen Möglichkeiten und Begrenzungen der Menschen berücksichtigt würden, ist im wechselseitigen Feuer illusionärer Erwartungen und irrtümlicher Überzeugungen untergegangen. «Runde Tische» als eine neue Form erweiterter Demokratie, wie sie sich am Ende der DDR zur Verständigung verschiedenster Interessengruppen bewährt hatten, wurden vor allem von westlicher Seite abgewertet und damit auch für die politische Praxis der Vereinigung abgelehnt.

Mit dem Kollaps der sozialistischen Ideale und Gesellschaften war zu erwarten, dass die im «Kalten Krieg» gebundenen destruktiven Kräfte wieder frei würden und nach neuen Auseinandersetzungen suchten. Dazu haben die Ereignisse des 11. September 2001 auf globaler Ebene rasch die Gelegenheit geboten. Mit den «Islamisten» wurden neue Erzfeinde der westlichen Welt erkannt; neue kriegerische Auseinandersetzungen im Irak und in Afghanistan wurden möglich. Dass selbst unter demokratischen Verhältnissen ein Krieg auf der Basis lügnerischer Behauptungen geführt werden kann, weist auf «dunkle» psychische Kräfte hin, die unter der demokratischen Fassade weiterwirken und zur Entfaltung drängen, wenn die Abwehrmechanismen schwach werden. Diese Gefahr droht einer wachstumsorientierten Gesellschaft, wenn der wirtschaftliche Erfolg ausbleibt oder reale Wachstumsgrenzen erreicht werden. Mit der Ernüchterung und Enttäuschung im deutschen Vereinigungsprozess haben sich auch die systemtypischen Fehlentwicklungen in den wechselseitigen aggressiven Projektionen gezeigt.

Mit der Wortschöpfung «Besser-Wessis» prangerten Ostdeutsche die nicht selten arrogant und überzogen daherkommende Selbstsicherheit, das Durchsetzungsvermögen und das Dominanzstreben Westdeutscher an, um nicht ihre eigenen – DDR-bedingten – Selbstwertprobleme anerkennen zu müssen und verbessern zu lernen. Die Westdeutschen hingegen machten sich mit dem Begriff «Jammer-Ossis» abwertend lustig über die Bereitschaft und Fähigkeit Ostdeutscher, ihre Schwächen, Fehler, Ängste und Begrenzungen zuzugeben – was natürlich auch lästig sein kann –, statt zu erkennen, wie der Konkurrenzkampf sie dazu nötigt, sich besser darzustellen, als sie wirklich sind und ihre Bedürfnisse nach Abhängigkeit und einem stressärmeren Leben permanent zurückzustellen.

Mit der Verwestlichung mussten die Ostdeutschen erfahren, welche enorme Macht vom Existenzdruck aufgrund der Angst um den Arbeitsplatz und vom Normdruck des Zeitgeistes und der Mode ausgehen. Der Freiheitsbegriff entpuppte sich einmal mehr als Phrase, verbunden mit der erschreckenden Einsicht, mit wie viel Mühe und Aufwand Menschen ihre Freiheit aufgeben und sich dem sozialen und dem Gruppendruck beugen. Der Wunsch, dazuzugehören, im Trend zu liegen, mit der Mode zu gehen, sich hervorzutun und darzustellen, aber vor allem erfolgreich und Sieger zu sein, setzt sehr enge Grenzen, denn er erzwingt Anpassung an den Leistungsdruck, Wohlverhalten und Unterwerfung unter die Macht der Arbeitgeber, um den Arbeitsplatz zu sichern. Der Kampf um die zu knapp gehaltene Ressource Arbeit hat eine repressivere Wirkung, als sie durch einen Überwachungsstaat erreicht werden konnte. Die durchaus sehr engen Grenzen, in die Partei und Staatssicherheitsdienst der DDR die Menschen gezwängt hatten, waren dennoch halbwegs berechenbar geblieben und ein relativer Widerstand dagegen war durchaus ehrenhaft. Demgegenüber sind die Mechanismen, die zur Arbeitslosigkeit führen können, ganz und gar nicht berechenbar und vor allem entwürdigend. Die sogenannte Freiheit des Marktes wird mit der Abhängigkeit und Unfreiheit der Arbeitnehmer bezahlt.

Dass der westliche Freiheitsbegriff durch ökonomische Bedingungen ganz real wesentlich eingeschränkt wird, war wohl die bitterste Erfahrung für Ostdeutsche. Fast alle DDR-Bürger waren im Zuge der «friedlichen Revolution» auch von den Früchten ihrer Anpassungsleistungen, die meisten von ihrer beruflichen Erfahrung und Kompetenz und von ihrer Lebensleistung und sehr viele von ihrer Arbeit «befreit» worden. Darin bestand die erste reale Erfahrung mit einem Freiheitsbegriff neuer Entfremdung und Anpassung. Aus «Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit» wurde «Freiheit ist die Anpassung an die ökonomischen Machtverhältnisse». Wer das nicht begreifen wollte und weiterhin einem Freiheitsideal nachhing, der konnte bei leerem Geldbeutel alsbald erfahren, dass die Freiheiten des Konsums, der Vergnügungen und der Reisen rasch ihre Grenzen finden und dass sich durch die Freiheiten des Denkens, des Redens und Wählens kaum spürbare Wirkungen erzielen lassen. Dass mittlerweile 30 bis 40 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung ihr Wahlrecht nicht mehr wahrnehmen – dieser passive Widerstand und die darin zum Ausdruck kommende Resignation werden in ihrer potentiell destruktiven Gefahr nicht ernst genommen und führen bisher nicht zu einer Diskussion der politischen Praxis. Aus psychoanalytischer Sicht sind die Außenseiter einer «Ordnung» immer die wichtigsten Vertreter einer verleugneten Wahrheit.

Nach zwanzig Jahren ähneln die Krankheitssymptome des «real existierenden Kapitalismus» denen des «real existierenden Sozialismus» auf erschreckende Weise. Es ist vor allem die Unfähigkeit, Ursachen einer krisenhaften Fehlentwicklung zu erkennen und dementsprechend umzusteuern. Der Sozialismus ist gescheitert, weil die Menschen mehr haben wollten als zur Verfügung stand. Der Kapitalismus scheitert, weil die Menschen mehr konsumieren und in Anspruch nehmen als sie verdient haben. Die Menschen der DDR sind mehrheitlich in den Westen übergelaufen, weil sie glaubten, nun auch alles bekommen zu können, was in Überfülle zur Verfügung steht, aber ohne es sich verdient zu haben. Sie sind von einem Leben organisierten Mangels in ein Leben organisierter Schulden übergewechselt. Das sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Und die Medaille heißt: Narzissmus. In meinen späteren Publikationen («Der Lilith-Komplex», «Die Liebesfalle», «Die neue Lustschule») habe ich die Quellen irrationalen narzisstischen Verhaltens und ihrer Folgen untersucht. Es geht um die frühen Entwicklungsbedingungen des Menschen, deren spätere Folgen durch die Qualität der erfahrenen «Mütterlichkeit» und «Väterlichkeit» determiniert sind. Auf diese Weise bemühe ich mich, die entwicklungspsychologischen Ursachen der in der DDR ausgestalteten Repression in der Gesellschaft zu erfassen und zu beschreiben. Dabei spielt der Mangel an primärer narzisstischer Befriedigung eine zentrale Rolle: Wie ist ein Kind willkommen, wie wird es bestätigt, geliebt, in seinen Bedürfnissen befriedigt und seinen Begrenzungen akzeptiert? Die Qualität der frühen Beziehungen entscheidet über Selbstwert oder Minderwertigkeit, über die Fähigkeit zur Zufriedenheit oder die Not unstillbarer Bedürftigkeit, über eine Orientierung am Haben oder am Sein (mit Erich Fromm gesprochen). Ein narzisstischer Mangel, den ich vor allem durch Mangel an guter Mütterlichkeit verursacht sehe, wird in der Regel auf zwei sehr unterschiedlichen – nahezu entgegengesetzten – Wegen kompensiert: durch Unterwerfung, verbunden mit der Illusion, sich Liebe durch Anpassung verdienen zu können, oder durch sekundär-narzisstische Überkompensation, um sich endlich die so sehr vermisste Anerkennung durch äußere Erfolge, durch Geld und Geltung, zu erwerben.

Geht man von einer narzisstischen Grundproblematik der Deutschen aus, die auch 1945 nicht erkannt und wesentlich verbessert, sondern nur auf neue Weise kollektiv abgewehrt und ausagiert worden ist, dann hat die Deutsche Demokratische Republik den «Untertan» hervorgebracht. Unterwarf man sich dem Willen der Partei, hatte man gesellschaftlich gute Überlebenschancen. In der Bundesrepublik Deutschland hingegen wurde der «Obertan» «gezüchtet», um im nötigen Konkurrenzkampf bestehen zu können. Die «Untertanen» haben ihr Gesellschaftssystem mithilfe indirekter Aggression kollabieren lassen. Die «Obertanen» produzieren automatisch mit jedem Erfolg auch Verlierer und sorgen damit für zunehmende soziale Ungleichheit. Aber vor allem das äußere Erfolgreich-sein-Müssen aus innerem Bestätigungsmangel führt zu einer Wachstumsideologie mit Suchtcharakter. Notwendige Begrenzung wird dann wie ein Entzug erlebt. «Soziale Marktwirtschaft» soll dieses Risiko etwas abfedern, erweist sich aber zunehmend als Illusion. Denn es sind die Menschen, die Geld und Macht brauchen und einsetzen, um ihre narzisstischen Defizite zu kompensieren. Menschen, die besonders aufgrund ihrer innerseelischen Bedürftigkeit zur politischen oder ökonomischen Macht drängen. Auch die 89er-«Revolution» ist letztlich an narzisstischen Störungsfolgen erstickt. Dabei spielte Geld als Symptomträger narzisstischer Bedürftigkeiten eine entscheidende Rolle. Die zentrale Formel dazu lautet: «Geld statt Liebe». Das «Begrüßungsgeld», das die DDR-Bürger von der Bundesrepublik bekamen, war die erste Verabreichung der «Droge» Geld, mit der die neue Abhängigkeit organisiert worden ist. Mit dieser Aktion wurden die Menschen im Osten mit der zentralen Sucht des Kapitalismus infiziert. Damit war das kurze Aufflackern der Freiheit bereits wieder in Fesseln gelegt. Aber die moderne Suchttherapie hat verstanden, dass es nicht die Droge ist, die süchtig macht. Vielmehr sucht der bedürftige Mensch nach Mitteln, mit denen er seine Unzufriedenheit und Spannung mildern oder betäuben kann. Erst wenn es gelänge, die frühen Ursachen narzisstischer Bedürftigkeit weitgehend zu vermeiden, indem sich das Verständnis für Kinder und ihre Begleiter verbessert, würden auch Menschen heranwachsen, die weniger Sekundäres haben müssen, weil sie primär mehr sind. Aber das bleibt eine Vision für die Zukunft. Denn inzwischen regiert das Geld auch den Osten Deutschlands und teilt die Ostgesellschaft in Gewinner und Verlierer der Vereinigung. Aber selbst die materiellen Gewinner leiden gar nicht so selten an der veränderten Lebensweise, die sie annehmen mussten, um im Wertesystem des Westens erfolgreich zu werden und auch bleiben zu können.

Während die Westdeutschen in Umfragen Werte wie «Freiheit» und «Wohlstand» favorisieren, so sind es bei den Ostdeutschen immer noch «soziale Gerechtigkeit» und «Sicherheit». Dies lässt darauf hoffen, dass sich die Wertmaßstäbe doch noch relativieren und einander angleichen lassen, was nach 1989 nicht gelungen ist.

Mit dem Heraufziehen der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise sind die Deutschen nun wirklich vereint, und zwar in der Herausforderung, nach der weiteren Gestaltung des gemeinsamen Lebens zu fragen und zusammen um eine friedliche und gerechte Entwicklung der Gesellschaft zu ringen. Wir sind gefordert, grundlegende Strukturveränderungen zu vollziehen, die bestehenden Verunsicherungen und Ängste zu gestalten und mit ihnen zu leben. Was die «Droge» Geld betrifft, so steht uns ein Entzug bevor, der wie bei jeder Suchtbehandlung zu einer anschließenden Entwöhnungskur mit neuen Lebensformen führen müsste. Aber leider ähneln die aktuell agierenden Politiker durchaus den sogenannten «Betonköpfen» der untergehenden DDR, die nicht mehr in der Lage waren, Fehleinschätzungen zu revidieren und Veränderungen voranzubringen. Dabei geht es vor allem um die Angst, den seelisch stabilisierenden Kompensationsmechanismus des materiellen Erfolgs zu verlieren und damit «nackt» vor dem eigenen Inneren (dem narzisstischen Mangel) dazustehen. Vergleichbares geschieht jetzt, wenn man tatsächlich glaubt, man könne unter Aufwendung von Milliardenbeträgen, die nichts anderes als ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft sind, sogar «gestärkt» wieder aus der Krise hervorgehen. Es wird nicht gesehen und akzeptiert, dass das Suchtpotential des Geldes längst eine kritische Grenze überschritten hat, mit der Folge, dass grundlegenden Veränderungen eine prinzipielle «Kapitulation» der bisherigen Lebensart vorangehen müsste. Ein heutiger Manager oder Politiker wird angesichts des Vergleichs mit dem hilflosen Agieren der Bonzen zum Ende der DDR hin verächtlich mit den Schultern zucken. (Allerdings war die «Mutation» ehemaliger Parteifunktionäre oder Stasimitarbeiter in Mitarbeiter des westdeutschen Managements oder von Behörden und Ämtern meistens kein großes Problem und hat nur bei wenigen Westlern Unbehagen oder kritisches Nachdenken ausgelöst.) Aber aus der Perspektive narzisstischer Bedürftigkeit – unter der Decke der psychosozialen Fassaden – lässt sich dieser Vergleich verstehen: es geht um die Kompensation unerfüllter seelischer Bedürfnisse. Um einen Mangel an Bestätigung und Liebe ausgleichen zu wollen, sind Geld, Macht und Wichtigkeit die wirkungsvollsten «Drogen», bleiben aber dennoch immer nur Ersatz. Versteht man Geld als Droge, wird auch die Gier begreiflich, die als eine Ursache der gegenwärtigen Finanzkrise ausgemacht worden ist. Selbst das «Wendehals-Syndrom» muss uns dann nicht mehr verwundern, denn es geht nicht wirklich um Gesinnung und Authentizität, sondern um unbewusste Heilungsversuche früher ungestillt gebliebener Bedürftigkeit.

Die wirkliche Freiheit – und nicht die ideologisch verkündete – endet an der Notwendigkeit narzisstischer Regulierung innerseelischer Bedürftigkeit. Wer nicht viel ist, muss viel haben, wer der Liebe und Bestätigung bedürftig geblieben ist, der muss viel in Äußerlichkeiten investieren. Äußeres Wachstum ist deshalb das Symptom einer kollektiven Suchterkrankung. Dazu passt die Unfähigkeit zur Abstinenz von dieser Lebensform. Trotz ausreichenden Wissens um die Umwelt- und Naturzerstörung, die Klimakatastrophe, die psychosozialen Quellen von Gewalt und vielfachen Erkrankungen gelingen keine ursächlich-strukturellen Veränderungen. Dies ist ein ernstzunehmender Hinweis auf eine erneute kollektive Fehlentwicklung.

Der notwendige demokratische Reifeschritt von Ost- wie Westdeutschen erfordert eine Emanzipation des demokratischen Verhaltens weg vom materiellen Wachstum und hin zur innerseelischen Demokratie einer Beziehungskultur. Wer eigene Schwächen, Ängste, Fehler und Begrenzungen nicht mehr verbergen und verleugnen muss, sondern erkennen und kommunizieren kann und darin Verständnis, mitmenschlichen Kontakt und emotional getragene Nähe findet, der erfährt mehr Entspannung und Zufriedenheit, als dies im Konsumvergnügen jemals möglich wäre. Vor allem muss er die Abwehr seelischer Realitäten nicht länger auf vermeintliche Gegner projizieren und süchtig abwehren. Die Finanz- und Wirtschaftskrise bietet insofern eine Chance, aus wachsender realer Not durch die Verknappung der «Droge» Geld zu einer tieferen Realität des eigenen Lebens vorzudringen. Dabei könnten die Ostdeutschen eine wichtige Funktion übernehmen, da sie noch nicht so lange am «Tropf» des Geldes hängen und der Absturz aus Vermögenshöhen in die raue Wirklichkeit begrenzten Wachstums und zu akzeptierender Bescheidenheit bei ihnen noch nicht so schwer wiegt.

Im «Gefühlsstau» habe ich die Charakterverformungen im Kontext einer repressiven Gesellschaft ausführlich beschrieben. Daran habe ich auch nach zwanzig Jahren nichts zu korrigieren. Hinzu kommt aber die Erfahrung von Charakterverformungen im Kontext einer Wachstums- und Leistungsgesellschaft, deren überhöhte Erwartungen und Ansprüche in vergleichbarer Weise aus psychischen Quellen erwachsen und in der Folge auch entsprechende psychosoziale Fehlentwicklungen zeitigen.

Es gab in der schmerzlich-schönen Vereinigungseuphorie eine ganz kurze Zeit, in der sich die Deutschen in ihren Umarmungen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Begrenzungen hätten erkennen können. Diese Chance wurde nicht genutzt. Zwanzig Jahre später, auf der Basis von Ernüchterungen, Enttäuschungen und der gemeinsamen Bedrohung durch die Finanz- und Wirtschaftskrise ergibt sich eine neue Chance, dass die unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen aus ost- und westdeutscher Sozialisation wirklich zusammenfinden.

Die Ostdeutschen könnten deutlich machen, dass eine Beziehungskultur stark auf kommunikative Offenheit und Ehrlichkeit angewiesen ist, also auf Kompetenzen, die im Bild des «Jammer-Ossis» bislang dem Spott preisgegeben und abgewehrt wurden. Und die Westdeutschen könnten ihr Wissens- und Erfahrungs-Know-how für die Organisation neuer Lebensformen nutzen und damit das «Besser-Wessi»-Syndrom zur kreativen Weiterentwicklung unserer Gesellschaft nutzen.

 

Im Grunde genommen stehen wir vor folgenden Fragen:

– Wie kann eine Gesellschaft ohne materielles Wachstum funktionieren?

– Wie können Arbeit, Geld und Geltung ausreichend gerecht verteilt und erworben werden?

– Wie lassen sich Banken auf eine Weise organisieren und kontrollieren, dass sie nicht bloß gewinnorientiert agieren, sondern in den Dienste der Unternehmen und Menschen gestellt sind?

– Wie lässt sich die Drogenfunktion des Geldes und der materiellen Werte überwinden?

– Wie können neue, befriedigendere Lebensformen im Sinne einer Beziehungskultur vermittelt, organisiert und geübt werden?

– Wie lässt sich äußere Demokratie durch innerseelische Demokratie stabilisieren?

– Wie lässt sich eine Kampf-Politik um Mehrheitsverhältnisse in eine Verstehens-Politik der Konsensfindung weiterentwickeln?

 

Mit diesen Fragen müssen wir uns ernsthaft beschäftigen, dazu müssen wir Ideen und Vorschläge entwickeln und auch von den Politikern Antworten fordern bzw. Politiker wählen, die dazu in der Lage sind, solche Antworten zu geben. Auch die Einbettung Deutschlands in ein gemeinsames Europa und in die globalisierte Welt darf nicht auf billigere Produktionsstandorte und die weitere Ausbeutung von Menschen und natürlicher Ressourcen verkürzt bleiben. Den Schlüssel für die Annahme dieser schwierigen Aufgaben sehe ich in einer Beziehungskultur, in der die Funktionen von Mütterlichkeit und Väterlichkeit, von Elternschaft, Partnerschaft und Sexualität angemessen gewürdigt, gelehrt, gelernt und gelebt werden. In der Qualität dieser Funktionen wurzeln die Chancen für Vereinigungsprozesse im intimsten wie auch im globalsten Sinne, ohne Verschiedenheit und Begrenzung zu missachten. Eine Wachstumsideologie macht uns am Ende alle zu Verlierern, die Anerkennung von Begrenzung fördert hingegen die bewusste und verantwortliche Gestaltung der Gegenwart.

Der «real existierende Sozialismus»als repressives System

Wir sind alle betroffen

Die DDR hat 40 Jahre bestehen können. Die in den letzten Jahren übliche Bezeichnung unseres Gesellschaftssystems als «real existierender Sozialismus» trägt schon uneingestanden den Stempel des Verfalls einer Idee. Es war immer weniger zu verbergen, dass sich die Lebenswirklichkeit von den verkündeten Idealen weit entfernt hatte. Das «Realitätsprinzip» aus der sonst so verpönten psychoanalytischen Terminologie musste zu Hilfe genommen werden, um die erhebliche Einschränkung des «Lustprinzips» halbwegs noch erklären zu können. Jede kritische Anfrage wurde mit der Vertröstung auf die Zukunft beantwortet: Jetzt hätten wir es noch mit diesen oder jenen realen Schwächen und Mängeln zu tun, vorübergehend und prinzipiell überwindbar, meist durch Außenfeinde und Naturbedingungen verursacht, oder es handele sich überhaupt nur um Relikte der Vergangenheit – aber die Idee des Kommunismus und Sozialismus sei ungebrochen wahr und richtig, so dass wir unseren Weg nur unbeirrt weitergehen müssten, der «Sieg des Sozialismus» sei ganz gewiss.

Die ganze DDR glich einem Riesentempel pseudoreligiösen Kults: gottgleiche Führerverehrung, «Heiligenbilder» und Zitate ihrer Lehren, Prozessionen, Massenrituale, Gelöbnisse, strenge moralische Forderungen und Gebote, verwaltet von Propagandisten und Parteisekretären mit priesterlicher «Würde».

Mit dem Zusammenbruch der Macht der Politbürokratie war mit «Stalinismus» sehr schnell ein Begriff gefunden, mit dem etwas erklärt und abgespalten werden sollte, um der Wahrheit zu entfliehen. Die ewige Vertröstung auf eine bessere Zukunft (Kommunismus) und die magische Verbannung in eine fremdländische Vergangenheit (Stalinismus) sind die zwei Seiten einer Illusion: Wir, die Gegenwärtigen, die jetzt und hier Lebenden, sind nicht wirklich betroffen. Unser Elend, unsere Not, unsere Schuld und unsere Ohnmacht finden nicht wirklich statt, weil es entweder immer besser wird oder wir endlich alles Übel hinter uns lassen können. Mit dieser Bezeichnung «Stalinismus» lag es doch nahe, stellvertretend für ein umfassendes Problem einige Schuldige, nämlich die sogenannten «Stalinisten» zu finden, zu denunzieren und abzuurteilen. So geschah es dann ja auch: Zunächst Honecker, dann das Politbüro, das ZK, die SED sollten schuld sein an der ganzen Misere.

Bereits 1945 war es so schon einmal abgelaufen: Einige Nazis und Kriegsverbrecher wurden benannt, verurteilt oder vertrieben – das Böse schien damit gebannt, und nun sollte mit der «Stunde null» alles Gute bei uns blühen und gedeihen. Die DDR hatte diese absurde Idee tatsächlich zur Grundlage ihrer «antifaschistischen» Gesinnung und Moral gemacht. Unter völliger Verkennung der sozialpsychologischen und charakterlichen Zusammenhänge wurde stets gelehrt, dass in Ostdeutschland der Nationalsozialismus per Gesetz mit Stumpf und Stiel vernichtet sei. Die sogenannte «Entnazifizierung» wie auch die Proklamation des Endes der Stalinismusära (wie es Gysi auf dem Sonderparteitag der SED nach der «Wende» demagogisch behauptete) sollten vor allem vertuschen, dass die große Mehrzahl der Deutschen damals und heute begeisterte Täter oder wenigstens bereitwillige Mitläufer waren. Der Einzelne wollte unbedingt geschont bleiben – und in der Tat, wie schon gehabt: wieder wollte kaum jemand wirklich etwas gewusst haben oder gar verantwortlich und schuldig mitbeteiligt gewesen sein.

«Stalinismus» wurde so in der sich wendenden DDR eher ein Begriff für einen psychischen Abwehrmechanismus, um zu verschleiern, dass die Lebensweise eines ganzen Volkes schwer gestört war. Nicht nur die Politik und Gesellschaftswissenschaft waren davon betroffen, sondern jeder Zweig der Wissenschaft, der Wirtschaft, des Rechtswesens, der Kunst, der Bildung bis in die Alltagskultur des zwischenmenschlichen Zusammenlebens und vor allem bis in die psychischen Strukturen jedes Einzelnen hinein. Ich will in diesem Buch deutlich machen, dass es nicht möglich war, sich der Deformierung zu entziehen, und dass es doch Unterschiede gab, wie man auf repressive Gewalt reagieren konnte, und dass dabei Freiräume blieben, die durchaus auch moralisch bewertet werden können und müssen. Und ich will damit einen Beitrag leisten, dass nicht erneut mit Hilfe eines Etikettenschwindels die Aufdeckung unser aller Betroffenheit als Täter und Opfer verhindert wird.

Das Wort «Stalinismus» war plötzlich oft und aus aller Munde zu hören – es war vor allem der sprachliche Versuch, sich von der eigenen Täterschaft reinzuwaschen. Mit einem Mal wollten sich alle nur noch als Opfer sehen, und es scheint so, dass wir schon wieder nur ein Volk von «Widerstandskämpfern» gewesen waren. Alle hatten Interesse daran: Der Parteiapparat opferte einige Führer und konnte damit zugleich längst fällige Autoritätsprobleme lösen – so wurden Karrierismus, Opportunismus, moralischer Verfall und Schuld der Mitglieder im Partei- und Staatsapparat verdeckt und abgespalten. Für die Antikommunisten war nun endgültig «bewiesen», dass der Sozialismus nur als kriminelle Fehlentwicklung denkbar sei, und alle Mitläufer konnten sich schlechthin als die betrogenen armen Opfer fühlen. Durch die fleißigen Enthüllungen wurden Entrüstung und Empörung gefördert, um die eigene beschämende Verformung, die Schuld und unerträgliche Ohnmacht abreagieren zu können.

Das entscheidende Wirkungsprinzip des «real existierenden Sozialismus» war Gewalt: Es gab die direkte offene Gewalt durch Mord, Folter, Schießbefehl, Inhaftierung und Ausbürgerung, und es gab die indirekte Gewalt durch Rechtsunsicherheit, Repressalien, Drohungen, Beschämungen, durch Indoktrination und durch ein System von Nötigung, Einschüchterung und Angst. Mit «demokratischem Zentralismus» war ein gnadenlos autoritäres Herrschaftssystem verharmlosend umschrieben, das als ständige Einbahnstraße nur von oben nach unten Maßnahmen und Entscheidungen «durchstellte». In der Gegenrichtung lief gar nichts. Die Parole «Plane mit, arbeite mit, regiere mit!» war der blanke Hohn, denn jede Initiative von unten blieb nicht nur ohne sinnvollen Effekt, sondern hat den eigenständig Mitdenkenden und Handelnden fast automatisch zum Provokateur, Unruhestifter, «Weltverbesserer» (konnte ein Einzelner denn bessere Erkenntnisse haben als die allmächtige Partei?) gestempelt. So lief man sich mit innovativer Aktivität und Kreativität nicht nur wund, sondern wurde regelmäßig diffamiert, belehrt und eingeschüchtert.

Die unausbleibliche Folge der permanenten Disziplinierung und Demagogie mit kleinlicher Intoleranz gegen jede Abweichung war die Verwandlung des äußeren Zwanges in innere Unterdrückung. Das System hat jeden Einzelnen so lange bearbeitet, bis der psychologische Mechanismus der Selbstversklavung und Selbstzerstörung gesichert war. Dieser Vorgang war deshalb so übel und bitter, weil der Einzelne seine Entfremdung schließlich nicht mehr wahrnahm, sein wirkliches Leiden nicht mehr kannte und sein gestörtes Verhalten rationalisierte: im Dienste der «großen Idee», als patriotische Pflicht, zum Schutz der Heimat, für den Sieg des Sozialismus und natürlich alles zum Wohle des Volkes. Man musste unsere «Helden» nur reden hören, wenn sie für ihre seelische Verformung der Partei und Regierung noch ihren Dank abstatteten und ihr psychisches Elend zur bescheidenen heroischen Tat ummünzten. Auch im Privatbereich gab es hinreichend «Entschuldigungen»: um die Familie nicht zu gefährden, mit Rücksicht auf die Kinder oder auch nur, um das Beste daraus zu machen, und als Einzelner könne man doch sowieso nichts ändern. So wurden selbst Sport, Kunst, Wissenschaft zur Ehre der sozialistischen Kultur verbogen, und Erfolg sollte die Entfremdung verbergen.

Am unverfrorensten ist der Abwehrmechanismus «Stalinismus» von vielen SED-Mitgliedern benutzt worden. Viele von ihnen waren ja schon längst nur noch aus Karrieregründen und als Folge ihrer seelischen Labilität Mitglieder dieser Partei. Die Ich-Schwachen wollten ihre Unsicherheit und ihre Minderwertigkeitsgefühle durch eine stramme Ideologie und billige Verheißung besänftigen. Aber dafür war die «Droge» Partei immer weniger wirksam, und mit «Dosissteigerung» (Parteikarriere) konnten nur wenige Aufsteiger noch gegensteuern und sich weiter berauschen. So benutzten viele die sogenannten Entlarvungen über ihre vorher so innig verehrten und heroischen Führer als willkommenen Anlass und als scheinbar glaubwürdiges Argument für ihren Absprung vom sinkenden Schiff. Wenn es nicht so bittere Realität wäre, müsste man lachen über den Eifer der Entrüstung, den die Genossen über die nur allzu menschlichen Bereicherungsdelikte und den spießigen «Luxus» im armseligen Wandlitzghetto brauchten, um ihre eigene Täterschaft am Verrat einer großen Idee, an der Deformierung eines ganzen Volkes und der Schändung und dem Verfall der natürlichen und kulturellen Umwelt zu verleugnen. Die «Wende» der SED zur PDS sollte in die deutschen Geschichtsbücher als mahnendes Beispiel für menschliche Unreife und Würdelosigkeit eingehen, als ein unheilvolles menschliches Versagen, wenn vor der Erkenntnis der inneren Not und Verfehlung in Politik und Kampf um die Macht ausgewichen wird.

Der «real existierende Sozialismus» hat wirklich vierzig Jahre bestehen können: Die Wahlfarce wurde von 99 Prozent der Bevölkerung mitgemacht, Millionen von Menschen haben sich regelmäßig an den großen Jubelaufmärschen beteiligt, die überwiegende Mehrzahl von uns war Mitglied der Jungen Pioniere, der FDJ, ging zur Sozialistischen Jugendweihe und hat im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund die eigenen Interessen verraten. Mehr als eine halbe Million Menschen soll sich an der entwürdigenden Schnüffelpraxis des Staatssicherheitsdienstes beteiligt haben. Und es kann bestimmt keiner behaupten, er hätte die gnadenlose Vergiftung und Zerstörung unserer Umwelt, den Verfall unserer Städte, die zynische Verlogenheit in den Medien und öffentlichen Verlautbarungen, die albernen Losungen, den Verfall der Moral und die Zerstörung der Beziehungen durch Korruption, Bespitzelung, Denunziation, Speichelleckerei und Anbiederung an die Macht nicht gesehen, erlebt oder irgendwie mitgemacht. Das auffälligste Symptom ist eher, dass wir duldsam geschwiegen und weggeschaut haben.

Wenn wir also von «Stalinismus» sprechen, dann ist damit die Lebensweise unseres Volkes genannt, dann sind wir alle hier und jetzt gemeint. Aus meiner Erkenntnis ist es also nicht richtig zu behaupten, wir seien nur von einem Unrechtssystem unterdrückt, verbogen und geschunden worden. Dies ist zwar leider auch wahr, doch dieser Staat war auch ein Abbild unserer psychischen Strukturen und setzte etwas äußerlich ins Bild, was wir in unserem Inneren nicht sehen und wahrhaben wollten. Keiner kann sich auf eine Tribüne stellen, wenn es nicht ein Volk gibt, das willig defiliert. Oder in Abwandlung eines psychotherapeutischen Zynismus – Jeder hat den Partner, den er verdient! –: Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient!

Die staatliche Repression

Die DDR – das war das Sinnbild des eingemauerten und begrenzten Lebens. Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl stellten den äußeren Rahmen dar, damit sich im Inneren des Landes ein repressives Erziehungssystem, autoritäre Strukturen in allen Bereichen der Gesellschaft, ein einschüchternder Sicherheitsapparat und ein banales, aber sehr wirksames Konditionierungssystem von Belohnung und Strafe zur Unterwerfung eines Volkes austoben konnten. Die Druckmittel waren existentiell, psychologisch und moralisch so umfassend, dass sie in den meisten Menschen ernste Folgen verursachen mussten. Die tödliche Gewalt am 17. Juni 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei ließ keinen Zweifel an der sicheren und blutigen Unterwerfung jeglichen Widerstandes und Reformwunsches; dies überzog unser Land immer wieder mit lähmender Angst und Resignation. Solche Erfahrungen waren der zwingende Hintergrund für psychosoziale Einengungen und charakterliche Verformungen. Die Schwäche der «sozialistischen» Systeme war über Jahrzehnte nur durch äußere Verstärkung – die russische «Panzerung» – zu kompensieren gewesen. Dies hatte die Hoffnung auf die Kraft der eigenen Befreiung oder Liberalisierung des Systems zerschlagen. Wer nicht in Apathie verfallen oder sich in knirschendem Protest zerreiben wollte, der versuchte sich nach seinen Möglichkeiten in diesem Lande einzurichten.

Bereits der Aufbau der DDR erfolgte auf durch und durch morbiden Strukturen: der faschistischen Vergangenheit mit der unerträglichen Schuld an einem wahnsinnigen Krieg und der brutalen Ermordung und Vernichtung von Millionen von Menschen, den durch Tod, Gefangenschaft und Kriegsverletzungen belasteten Familien, den zerstörten Städten, dem durch Demontage und Reparationsleistungen behinderten Neuanfang und der durch eine fremde Macht aufgezwungenen neuen Lebensweise. Die DDR begann ihre staatliche Existenz mit einem Riesenberg an Schuld, Demütigung, Kränkung, Verletzung und Entfremdung, der niemals bearbeitet wurde, ja nicht einmal benannt werden durfte. Von Anfang an waren Verdrängung und Projektion die Basis der ideologisierten Staatsdoktrin. Die antifaschistische Tradition wurde behauptet und die marxistisch-leninistische Weltanschauung durch ihre angeblich unwiderlegbare Wissenschaftlichkeit in den Rang einer Glaubenslehre erhoben. Allein die sogenannte «antifaschistische» Gesinnung der neuen Führer, die öffentlich bekundeten Parolen und der neugeschaffene Gesetzesrahmen sollten der Garant für eine neue Gesellschaftsordnung sein und ein Phänomen beenden, das tief in den Seelen der Menschen verwurzelt war.

Natürlich war der «Antifaschismus» offiziell über jeden Zweifel erhaben, und Fragen nach seinen psychischen Motiven wurden nie gestellt: Es wurde darin ungeprüft eine reifere und gesündere menschliche Haltung angenommen, die schon allein zur neuen Führung berechtigte. Aber dass sich darin nur eine andere Variante «faschistischer» seelischer Deformierung ausdrücken könnte, wäre als absurd abgetan worden. Allerdings war bereits die Etablierung der neuen Macht – trotz des «antifaschistischen» Bonus – nur mit Betrug, Wahlfälschung, Gewalt und militärischer Fremdherrschaft möglich.

Die errichtete Diktatur war der politische Ausdruck der seelischen Störung der neuen Machthaber, und ihre Einengung ergoss sich als ein System von Nötigungen über den Alltag der DDR-Bürger: Gehorchen, Lippenbekenntnisse liefern, sich an Kundgebungen, Veranstaltungen, Initiativen, Wettbewerben, Programmen beteiligen, Massenorganisationen beitreten, Losungen, Parolen und verzerrte Wahrheiten über sich ergehen lassen und wenn es ganz schlimm kam, nachplappern. Jeder Widerstand wurde systematisch gebrochen. War man noch Kind, dann durch Belehrung, Beschämung, Ausgrenzen und Distanzieren. War man erwachsen, dann durch Behinderung, Bedrohung und Bestrafung. Die ganz einfachen Rechte eines jeden Menschen, die Rechte auf unverstelltes Dasein, auf eine eigene Meinung, auf Verstanden- und Angenommensein in den persönlichen Eigenarten, auf Individualität, waren in dieser Gesellschaft nirgendwo gesichert. Die Rechte auf Gemeinschaft, auf Bildung, auf Förderung und Entwicklung, auf Anerkennung wurden nur gewährt bei Wohlverhalten und Unterwerfung unter die Normen der Macht. Wohnungen, Reisen, Auszeichnungen, berufliche Karriere waren Privilegien für die Meister der Verstellung und Anpassung.

In diesem System konnte nur halbwegs unbehelligt leben, wer sich anpasste und das heißt, wer seine spontane Lebendigkeit, seine Offenheit und Ehrlichkeit, seine Kritikfähigkeit dem öden und einengenden, aber relativ ungefährlichen Leben eines Untertanen opferte. Wer ehrgeizig war und zur Geltung kommen wollte, musste «mit den Wölfen heulen», und der Preis für seinen Erfolg war unvermeidbar ein Verlust an moralischer Würde und persönlicher Integrität.

Die führende Rolle der Partei

«Real existierender Sozialismus» – das war die Formel für die Diktatur einer Politbürokratie! Das gesellschaftliche Leben war autoritär-hierarchisch durchstrukturiert, es wurde ausschließlich von oben nach unten administriert und kommandiert. Die Macht lag allein in den Händen der militärisch durchorganisierten SED. Unter dem Deckmantel von «Parteidisziplin» und mit moralischen und psychologischen Druckmitteln stand die SED praktisch unter Befehlsgehorsam. Sogenannte Diskussionen und Aussprachen waren letztlich nichts anderes als das Durchsetzen der jeweils von oben vorgegebenen Parteilinie. Wer eigenständige oder abweichende Meinungen vertrat, wurde so lange «bearbeitet», bis er seine «Fehler» einsah und auf die verordnete Linie einlenkte. Bei hartnäckigem Dissens erfolgte unweigerlich ein Parteiverfahren und Ausschluss aus der Partei, wodurch der- oder diejenige vom weiteren Einfluss in der Gesellschaft ausgeschlossen blieb und nur noch subalterne Tätigkeiten ausüben durfte. Alle Leitungsposten waren fast ausschließlich von Genossen /-innen besetzt. So war gesichert, dass die SED absolut dominierte. Wenige Führungsposten waren als Alibi nach statistischen Gesichtspunkten von Vertretern der sogenannten «Blockparteien» besetzt, die verpflichtet waren, die führende Rolle der SED anzuerkennen. Wenn in ganz seltenen Fällen Parteilose leitende Funktionen übertragen bekamen, dann war durch deren Persönlichkeit gesichert, dass sie zu keinem Widerspruch gegen die Linie der Partei fähig waren.

Die Kaderauslese für den Machtapparat begann mit der sogenannten sozialen Herkunft: bevorzugt wurden anfangs Arbeiter- und Bauernkinder, später zunehmend der Nachwuchs aus den Familien des Apparates, also Kinder von Parteifunktionären, Militärs und Stasiangehörigen. Dadurch war zunächst die kommunistische Indoktrinierung in der Erziehung durch die Eltern die wichtigste Grundlage für die Kaderentwicklung. Da diese Familien praktisch in einem sozialen Ghetto lebten, war die einseitige Ausrichtung garantiert. Klassisches bürgerlich-humanistisches, christliches und geisteswissenschaftlich-philosophisches Gedanken- oder Erfahrungsgut blieben damit ausgesperrt oder wurden arg verkürzt und tendenziös interpretiert. Die Erziehungsideale solcher Familien waren Unterordnung, Disziplin, Anstrengung und Leistung. Letztendlich war der Grad der charakterlichen Deformierung der Maßstab für die Karriere im Staats- und Parteiapparat, aber auch für alle leitenden Posten innerhalb des gesellschaftlichen Lebens. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil selbst die Prominenz in Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Sport – also alle Leistungsträger der Gesellschaft – den Unterwerfungsakt unter die Linie der Partei mit allen deformierenden Auswirkungen auf die Seele und Moral vollziehen mussten. Diese Tatsache sollte nicht vernachlässigt werden, wenn der Frage nachgegangen wird, ob fachliche Kompetenz und wissenschaftliche Leistung überhaupt unabhängig von den Persönlichkeitsstrukturen betrachtet werden dürfen. Oder ist der Wert solcher Leistungen nicht als äußerst zweifelhaft zu beurteilen?

Zu den Mechanismen der Macht gehörten Propaganda und Demagogie. Die beschwörenden Behauptungen (Antifaschismus, Friedenspolitik, «Im Mittelpunkt steht der Mensch!», «Alles zum Wohle des Volkes!») sollten die gegensätzliche Wahrheit verbergen. Psychologisch gesehen, war dies der Abwehrmechanismus «Verkehrung ins Gegenteil». Die Verheißungen sollten die verletzten Seelen trösten und einen pseudoreligiösen Halt bieten.

Der ganze Staat war also autoritär strukturiert. Das Prinzip des «demokratischen Zentralismus» umschrieb nur schamvoll die einem solchen System innewohnende Tendenz der unweigerlichen Machtkonzentration in den Händen des Politbüros und letztlich in denen des Generalsekretärs, was den unvermeidbaren Personenkult und die immer rigider werdende Bürokratie erklärt, weil schließlich auf untergeordnetem Posten keiner mehr wirklich Verantwortung und Entscheidung zu tragen bereit oder überhaupt in der Lage war. Die lähmenden und zerstörerischen Folgen solcher Art Diktatur waren unverkennbar und erklären den allseitigen Verfall der Gesellschaft. Allein das Beharrungsvermögen deformierter Charaktere, die genötigt sind, einengende und abnorme Verhältnisse immer wieder fortzusetzen, sonst droht – wie ich später beschreiben werde – schmerzliche Erkenntnis, hat das System so lange erhalten können. Und die Deformierung wurde natürlich durch reale Repressionserfahrungen und ängstigende Praktiken der Volksbildung, des Sicherheits- und Justizapparates permanent verfestigt.

Die Macht der Staatssicherheit

Die Macht der Stasi beruhte auf Angst. Macht durch Angst gründet sich unmittelbar auf den seelischen Strukturen der Menschen. Die Staatssicherheit konnte ihre wirksame Herrschaft nur dadurch errichten, weil für ihre Zwecke hinreichend dienstbares «Material» zur Verfügung stand: latente Angst. Darunter versteht die Psychotherapie einen unbewussten seelischen Spannungszustand, der aus unbefriedigten Grundbedürfnissen und verbotenen Gefühlen entsteht. Wie ich später noch beschreiben werde, ist dies stets die Folge autoritär-repressiver Erziehung. Auch reale, aber nicht zugegebene Schuld verstärkt latente Angst. Eine solche seelische Befindlichkeit aus Mangelerlebnissen, Gefühlsstau und Schuld scheint mir für das Deutschland nach 1945 ein Massenphänomen gewesen zu sein.

Latente Angst braucht Unterdrückung, Kontrolle und Beherrschung, sonst wird sie manifest und verursacht bedrohliche Zustände (z.B. Panik, psychotische Verwirrung, akute Neurosen und psychosomatische Krisen). Die Stasi gab diesem Unterdrückungsbedürfnis die Form und formte zugleich das eigene latente Angstpotential zum Ängstigen um. Angst ausüben und ängstigende Macht sich gefallen lassen sind nur zwei verschiedene Seiten desselben innerseelischen Grundproblems. Dass die Stasi-Mitarbeiter von einer geradezu paranoiden Angst betroffen sein mussten, lässt sich aus dem Wuchern des suchtartigen Sicherheitsbedürfnisses schließen. Denn das war ja die Hauptaufgabe: das Land nach innen und außen zu sichern. Die Stasi war das Symptom seelisch kranker Herrscher, die zur Abwehr der eigenen inneren Unsicherheit einen wirksamen Schutzapparat brauchten. Mit Hilfe der Stasi sollte die eigene latente Angst gebannt werden. Das chronische Minderwertigkeitsgefühl einer von sowjetischer Gnade verliehenen Macht, die weder durch Sachkompetenz noch durch gesunde Führungsfähigkeiten getragen war – die Politik der DDR ließe sich auch als ein ewiges Ringen um Souveränität und Anerkennung beschreiben –, sollte kompensiert und schließlich das ganze seelische Dilemma stets nach außen projiziert werden. Dazu brauchte es Feindbilder und schließlich auch leibhaftige Feinde, und so hat die Propaganda unser Land stets als außerordentlich bedroht dargestellt. Wir waren ein Land mit einem Bedrohungs- und infolgedessen auch mit einem Sicherheitswahn. Auch darin lassen sich projektive Vorgänge erkennen. Kein Wunder, wenn man die illegitime Macht und den seelischen Hintergrund der Potentaten bedenkt. Es ist ein Unterschied zwischen notwendiger Sicherung bei realer Gefahr und einer Sicherheitsideologie als Ausfluss seelischer Unsicherheit. Ich betone dies, weil es inzwischen glaubhafte Berichte gibt, wie tatsächlich «Gegner» erfunden, aufgebaut und provoziert werden mussten, nur um im zwanghaften Sichern nicht innehalten zu müssen. Die zahlenmäßig wirklich wenigen und in ihrer politischen Bedeutung harmlosen oppositionellen Gruppen waren mitunter so stark mit Stasi-Mitarbeitern und Spitzeln unterwandert, dass die Arbeit solcher Gruppen zusammengebrochen wäre, wenn sich alle Sicherheitskräfte zurückgezogen hätten. Da natürlich, wie in jedem ordentlichen deutschen Apparat, das Leistungsprinzip dominierte – und das hieß in der ost-deutschen Variante: Wettbewerb, Planerfüllung und Erfolgsmeldung –, kamen die wackeren «Tschekisten» mitunter so unter Druck, dass auch sie erfundene Falschmeldungen von erfolgreicher Abwehr und Feindbekämpfung oder von angeblich angeworbenen Spitzeln weitergaben. Entweder mussten dazu geeignete Personen zu Feinden erklärt werden, wobei ehrgeizige Denunzianten dann auch die gewünschten Dossiers lieferten, oder es sind auch Menschen als angeworbene IM (Inoffizielle Mitarbeiter) geführt worden, die nie etwas von ihrem «Glück» wussten. So etwas konnte einem z.B. passieren, wenn ein Bekannter für die Stasi arbeitete und die geführten freundschaftlichen Gespräche als Informationen weitergab.