Das gespaltene Land - Hans-Joachim Maaz - E-Book

Das gespaltene Land E-Book

Hans-Joachim Maaz

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

DEUTSCHLAND AUF DER COUCH - PSYCHOGRAMM EINES GESPALTENEN LANDES

Die Menschen in Deutschland haben Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft. Über 80 Prozent der Bevölkerung machen sich sehr große bzw. große Sorgen, dass die gesellschaftlichen Gruppen weiter auseinander driften. Auch bei der Frage, was die Gründe dafür sind, setzt sich die Spaltung fort. Der Psychiater und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz macht in seinem neuen Buch eine zu geringe innerseelische Verankerung der Demokratie dafür verantwortlich. Dass Spaltung und nicht eine reife Form der Auseinandersetzung die politische Bühne prägt, erklärt er aus der tiefen Selbst-Entfremdung großer Teile der west wie der ostdeutschen Bevölkerung. Den neuen Rechtsruck hingegen hält Maaz nicht für die eigentliche Krankheit unserer Gesellschaft. Vielmehr sieht er in ihm das Symptom einer Spaltung, die tiefer reicht als die herkömmlichen Gegensätze von links und rechts, fortschrittlich und reaktionär, Ost und West, Traditionalismus und Globalismus. Wer etwas gegen die Vertiefung der Spaltung unternehmen will, darf sich nicht auf eine der beiden Seiten schlagen, sondern muss die darin zum Ausdruck kommende Psychodynamik untersuchen und verändern.

  • Wie es zur Spaltung unserer Gesellschaft gekommen ist und was jeder dagegen tun kann
  • Die psychodynamischen Quellen unserer heutigen gesellschaftlichen Probleme
  • Von einem gefragten Analytiker ost- wie westdeutscher Befindlichkeiten

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 261

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



HANS-JOACHIM MAAZ

Das gespaltene Land

Ein Psychogramm

C.H.BECK

Über das Buch

«Ostdeutsche sind wie Scouts in der deutschen Krise. Den sich formierenden Protest könnte man als Avantgarde notwendiger Gesellschaftsveränderungen einordnen.»

Hans-Joachim Maaz, seit seinem Buch «Der Gefühlsstau» ein gefragter Analytiker ost- wie westdeutscher Befindlichkeiten, macht in seinem neuen Buch eine zu geringe innerseelische Verankerung der Demokratie für den Riss verantwortlich, der durch unsere Gesellschaft geht. Den neuen Rechtsruck hält er hingegen nur für das Symptom einer Spaltung, die tiefer reicht als die herkömmlichen Gegensätze von links und rechts, fortschrittlich und reaktionär, Ost und West, Traditionalismus und Globalismus. Wer etwas gegen die Vertiefung dieser Spaltung unternehmen will, darf sich nicht auf eine der beiden Seiten schlagen, sondern muss ihre Psychodynamik untersuchen und zu verändern versuchen.

Zum Autor

Hans-Joachim Maaz, Bestsellerautor und seit 40 Jahren praktizierender Psychiater und Psychoanalytiker, war Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik des Diakoniekrankenhauses Halle. Er ist ein gefragter Analytiker insbesondere der gesellschaftlichen Befindlichkeit in Ostdeutschland. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. Der Gefühlsstau. Psychogramm eine Gesellschaft (42019) sowie Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft (52019).

Inhalt

1 Einführung

2 Vom Opfer zum Täter

Die Folgen der frühen Beziehungsstörungen

Der bedrohte Mensch

Der besetzte Mensch

Der ungeliebte Mensch

Der abhängige Mensch

Der gehemmte Mensch

Der erpresste Mensch

Der vernachlässigte Mensch

Der überforderte Mensch

3 Irrationalität zerstört Demokratie

4 Warum müssen Normopathien scheitern?

5 Das gespaltene Land

6 Demokratie, Freiheit und Liberalität in Gefahr

6.1 Innerseelische Demokratie

Der bedrohte Mensch

Der besetzte Mensch

Der ungeliebte (narzisstische) Mensch

Der abhängige Mensch

Der gehemmte Mensch

Der erpresste Mensch

Der ungeförderte, vernachlässigte Mensch

Der überforderte Mensch

6.2 Innerseelische Freiheit

Der bedrohte Mensch

Der besetzte Mensch

Der ungeliebte Mensch

Der abhängige Mensch

Der gehemmte Mensch

Der erpresste Mensch

Der ungeförderte (vernachlässigte) Mensch

Der überforderte Mensch

6.3 Innerseelische Liberalität

Der bedrohte Mensch

Der besetzte Mensch

Der ungeliebte Mensch

Der abhängige Mensch

Der gehemmte Mensch

Der erpresste Mensch

Der vernachlässigte Mensch

Der überforderte Mensch

7 «Die Demokratie muss verteidigt werden» – was heißt das?

8 Der deutsche Schuldkomplex

9 Der Monster-Komplex

10 Der Kampf gegen das Volk

11 Vom Dialog zur Meinungsmacht

12 Hass und Hetze

13 Du Nazi! – Ich Nazi?

14 Neurotische Humanität

15 Die schweigende Mehrheit

16 Zur Psychodynamik möglicher gesellschaftlicher Krisenszenarien

1. Der Demokratiecrash

2. Der Finanzcrash

3. Der Klima- und Umwelt-Crash

4. Der Migrations-Crash

5. Der Islamisierungs-Crash

17 Gibt es eine kollektive Selbstzerstörung?

18 Zivilcourage – anders

19 Pessimismus, Realität und Hoffnung

1. Selbst-Erkenntnis wagen

2. Würde wahren

3. Beziehungskultur leben

1. Ich bin immer auch das Problem

2. Der Andere hat immer auch recht

3. Zuhören heißt wirklich hören

4. Beziehungskulturelle Kommunikation

Literatur

Fußnoten

1 Einführung

Ich kann dieses Buch nicht schreiben und veröffentlichen, ohne mich persönlich zu erklären. Meine «Weltanschauung» hat sich scheinbar gedreht, ohne dass ich mich bewusst oder für mich selbst erkennbar verändert hätte. Die Welt hat sich offenbar gedreht, so dass ich mich in einer anderen Position wiederfinde. Ich fand bei Oskar Roehler als einleitende Metapher seines Romans «Selbstverfickung» in Anlehnung an Franz Kafkas Erzählung «Die Verwandlung»:

«Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, stellte er fest, dass er nicht mehr linksliberal war. Und das war in dieser Gesellschaft schlimmer, als sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt zu haben.»

Diese Worte spiegeln meine Situation: Ich fühle mich ohnmächtig, hilflos ausgeliefert und verzweifelt. Ich bin zerrissen und irritiert, weil ich meine grundsätzliche soziale und ökologische Position keiner Partei mehr zuordnen kann. Meine prinzipiell therapeutische Einstellung, die ich auch für mein privates Leben als wesentliche Orientierung pflege – eine allen Menschen gegenüber respektvoll-empathische und verstehenwollende Einstellung –, findet in der gesellschaftlichen Situation immer weniger Resonanz. Stattdessen dominieren in zunehmendem Maße Feindseligkeit und Hass bis hin zur Hetze das gespaltene Land. Um nicht missverstanden zu werden: Verstehen heißt nicht gutheißen, Empathie schließt Abgrenzung mit ein, und Respekt fordert auch klare Kritik.

Ich habe mit größter Irritation und mit Abscheu zur Kenntnis nehmen müssen, dass Deutsche mit Begeisterung in den Krieg gezogen sind, der Verfolgung Andersartiger und der Vernichtung der Juden zugestimmt und beides vielfach aktiv mitvollzogen haben. Ich habe unter der Verlogenheit, der Repression, der Denunziation und der Gewalt gegen Andersdenkende in der DDR gelitten. Ich habe sowohl die nationalsozialistische als auch die sozialistisch-kommunistische Ideologie und Politik als schwere Pathologie erkennen müssen. Das millionenfache Duckmäuser- und Mitläuferverhalten ist mir immer zutiefst zuwider gewesen. Das hat sich als starkes Gefühl des Widerwillens auch nicht geändert mit der vor allem beruflich getragenen Erkenntnis, dass der Mitläufer zumeist aus seelischer Beeinträchtigung handelt. Dabei habe ich selbst die Gefahr des Opportunismus aus dem Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit erkennen und beherrschen lernen müssen. Und jetzt erschüttert mich der Gedanke, dass die Gefahr für unsere Gesellschaft meiner Einschätzung nach keineswegs nur von «rechts» ausgeht, sondern auch von meinen bisherigen «natürlichen» Verbündeten, den «Linken» im weitesten Sinne, die eine grundsätzliche Kapitalismuskritik aufgegeben haben und lieber mitregieren, statt überzeugende Konzepte für ökonomische und soziale Veränderungen zu entwickeln; auch von den «Sozialdemokraten», die in der großen Koalition verloren zu gehen drohen und selbst mit Mindestlohn und Grundrente an Profil verlieren; und von den «Grünen», die eine notwendige ökologische Realkritik zunehmend einer machtorientierten Ideologie und einem belehrenden Moralismus opfern.

Ich wollte das lange Zeit nicht für möglich halten und habe mich gegen diese Erkenntnis gewehrt, wohl aus Furcht, dass ich meine intellektuelle und emotionale Heimat verlöre, unter der Ablehnung vieler meiner Freunde leiden würde und mich immer wieder erklären müsste, ohne Verständnis zu erfahren. Doch der befürchtete Beziehungsverlust ist überhaupt nicht eingetreten, so gut wie allen meinen bisherigen «linken» Freunden geht es so ähnlich wie mir, und es bedeutet eine große Erleichterung, wenn wir uns über die angespannte politische Lage unserer Gesellschaft austauschen und verständigen können und eine breite Übereinstimmung in unserer kritischen Einschätzung feststellen. Dabei halte ich die Erfahrung, dass es Mut braucht, um die eigenen Bedenken, Sorgen und Bedrohungsgefühle öffentlich zu äußern, ohne dafür abgestraft zu werden, bereits für ein ernstes Zeichen von Demokratieverlust. Ich kenne inzwischen viele, die heimlich AfD wählen, ohne sich dazu zu bekennen, und darin einen letzten Versuch sehen, ihrem Protest gegen die Gesellschaftsentwicklung noch demokratisch Ausdruck zu verleihen. Da es über die aktuellen Themen der Gesellschaftskrise, insbesondere die ungelöste Migrationsproblematik und die europäische Geldpolitik, keinen überzeugenden demokratischen Diskurs mehr gibt, wird eine Partei gewählt, die von vielen ihrer Wähler gar nicht an die Macht gewünscht wird, die aber wenigstens den Unmut in die Länderparlamente und in den Bundestag bringt.

Ebenso absurd ist es, dass der Mainstream unserer Gesellschaft keine überzeugende und mehrheitsfähige Zukunftsvision mehr zustande bringt, sondern immer hilfloser darum bemüht ist, das Krisenhafte unserer Lage zu leugnen, zu vertuschen oder moralisierend und ideologisierend zu verteidigen, während in zahlreichen TV-Shows verstörte Seelen eine neue Primitivkultur zelebrieren. Andererseits wird der millionenfache Protest nicht als Potential für Erkenntnis und Veränderung genutzt, sondern soll am liebsten durch den Verfassungsschutz erstickt werden. Die Krise der Gesellschaft zeigt bereits an der Oberfläche auffällige Symptome, die Metastasen einer systemischen Erkrankung gleichen: die betrügerische Autoindustrie, die Skandale der Tier- und Pflanzenproduktion, die nicht mehr wirklich einsatzfähige Bundeswehr mit höchsten Beraterkosten, die Unfähigkeit, den Berliner Flughafen in Betrieb zu nehmen, der Dieselskandal mit den hochumstrittenen Grenz- und Messwerten, die fragwürdige Energiewende mit gleichzeitigem Atom- und Kohleausstieg, die finanziell hochgefährliche Euro-Rettungspolitik, die ungelösten Probleme der Deutschen Bahn, die Unfähigkeit, Asyl und Migration realitätsgerecht zu begrenzen, zu kontrollieren und zu regulieren. Das alles halte ich für Symptome einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung und eines Politikversagens, das aber mehrheitlich immer noch verleugnet, schöngeredet und geduldet wird.

Ich stimme Jakob Augstein, dem Verleger des «Freitag» zu, der als ein linksliberaler Journalist gilt: «Was dem Sozialismus nie gelungen ist – den Westen in die Enge zu treiben –, dafür hat der globalisierte Kapitalismus nur wenige Jahre gebraucht. Es ist kein Wunder, dass sogenannte bürgerliche Parteien und Zeitungen der Revolution von rechts so hilflos gegenüberstehen. Sie haben sie verursacht. Jetzt ist sie ihnen peinlich. Sie haben einem ökonomischen System Vorschub geleistet, das nicht nur Ungleichheit und Ungerechtigkeit produziert – sondern auch den Zynismus der Massen. Es ist der Zynismus, den die Eliten selber vorleben und den sie jetzt dem Wähler vorwerfen. Der Erfolg der Rechten ist das Fieber Europas. Die Rechten sind nicht die Krankheit. Sie sind das Symptom!»[1]

Ich sehe heute einen entscheidenden Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen. Westdeutsche dürfen sich einbilden, sie hätten wirklich Lehren aus der Geschichte gezogen und mit dem Wirtschaftserfolg sowie der Achtundsechziger-Bewegung eine erfolgreiche Entwicklung zum «Guten» geschafft. Dass bereits das «Wirtschaftswunder» einen erneuten Massenwahn signalisierte, ist im Genussrausch untergegangen mit der Überzeugung, dass die äußeren Erfolge die inneren Beschädigungen und Schuld getilgt hätten. Die Ostdeutschen dagegen haben erneut ein repressiv-autoritäres und ideologisiertes System ertragen müssen. Eine anfängliche Zustimmung zu einem friedlichen Neubeginn hat sich angesichts der Realität schnell erschöpft, der Widerwille hat das System kollabieren lassen. Ostdeutsche sind aus der Zeit ihrer DDR-Erfahrung gegenüber Verlogenheit, Heuchelei, der Manipulation politischer und medialer Macht ausgesprochen sensibel bis allergisch. Sie sind nicht so sehr durch Geld und soziale Anerkennung geblendet und korrumpiert – ganz einfach auch, weil sie weniger davon haben. In der westdeutschen Sozialisation hingegen dominieren seit über 70 Jahren materielle Werte und eine Abhängigkeit vom sozialen Status. Das ist der Grund, weshalb aktuell der politische Protest vor allem aus dem Osten kommt.

Nach meiner Erkenntnis sind Ostdeutsche, aber auch Ältere und Berentete politisch wesentlich besorgter und öffentlich kritischer als Westdeutsche sowie Jüngere, die von Arbeit und Anerkennung noch abhängig sind. Verlusterfahrungen und Bedrohungsszenarien sind sowohl im Osten Deutschlands als auch bei den Älteren wesentlich stärker ausgeprägt. Ich selbst bin in dieser Sache ein Betroffener: Im Alter von zwei Jahren habe ich mit der Vertreibung aus dem ehemaligen Sudetenland meine Geburtsheimat verloren. Die emotionale und soziale Heimat meiner Kindheit, Schul- und Studentenzeit sowie der Tätigkeit in der DDR – mit den damit verbundenen, mich prägenden menschlichen Erfahrungen von Liebe, Sexualität, Freundschaft, Verrat, Repression, Bewährung und Würde – habe ich mit der Vereinigung Deutschlands verloren. Der Verlust wurde mir aber erst nach der Euphorie der Wende und der ernüchternden Enttäuschung über das westliche Leben schmerzlich spürbar, als ich in den neuen Zwängen, Heucheleien und Betrügereien, in den Machtkämpfen nur eine andere Form problematischer Sozialisation zur Kenntnis nehmen musste, mit ebenso massenhaften Selbst-Entfremdungen der Menschen. Das Bemühen, auch in einer narzisstischen Gesellschaft die Würde zu wahren, sich nicht zu verkaufen, dem Geld keine Herrschaft über alle Beziehungen zu gestatten, das war die neue Herausforderung, ganz ähnlich wie ehemals in der DDR: keine ideologische Unterwerfung zu akzeptieren.

Aktuell geht es einmal mehr darum, nicht zum Opfer einer ideologisierenden und moralisierenden Manipulation zu werden. Erneut erlebe ich einen drohenden Heimatverlust bezogen auf Deutschland. Die Globalisierung, eine One-World-Vision – grenzenlos, staatenlos –, die Migration und die Angst vor einem politischen Islam bedrohen alle meine nationalen, traditionellen, kulturellen und religiösen Verankerungen, die den wesentlichen Halt und eine hilfreiche Orientierung für meine Lebensgestaltung und sichernden Beziehungserfahrungen bilden. Wir Menschen brauchen soziale Strukturen, in denen wir uns beheimaten können, und zwar umso mehr, je größer die persönliche Selbst-Entfremdung ist. Aus politischen, ideologischen, moralischen oder religiösen Gründen vorangetriebene gesellschaftliche Entwicklungen scheitern in der Regel am Beharrungsbedürfnis der oft mühevoll erworbenen psychosozialen Stabilisierung. Eine aufgenötigte gesellschaftliche Veränderung wird dann für viele Menschen zur Bedrohung mit der Gefahr, irrationalen Rettungsversuchen zu verfallen.

Der Nationalsozialismus ist am rassistischen Massenwahn gescheitert und hat sich via Krieg selbst zerstört. Der real existierende Sozialismus der DDR ist an der Illusion eines besseren Menschen sowie an ideologischen Lügen und ökonomischen Fehlern gescheitert. Die heutige narzisstische Gesellschaft betäubt sich mit Konsum und Animation und zerstört mit ihrer Wachstums- und Profitsucht die ökologischen Lebensgrundlagen und das soziale Miteinander der Menschen. Als Psychoanalytiker halte ich eine Deutung für möglich, wonach die unterdrückten, tabuisierten, unentwickelten gesunden Selbst-Anteile, die in einer normopathischen Gesellschaft den Selbst-Entfremdungen zum Opfer fallen, sich unbewusst zur Wehr setzen – sie bilden dann die Symptome, an denen die bisherige Gesellschaft zerfällt, kollabiert oder sich selbst zerstört, verbunden mit der Hoffnung auf Befreiung zu einem echteren Leben.

Ich weiß, dass man massenpsychologische Entwicklungen nicht wirklich aufhalten kann. Leider eröffnet erst eine Katastrophe – wie in der Medizin eine schwere Erkrankung – eine Chance für tiefere Erkenntnis und Veränderung. Solche Katastrophen haben wir in Deutschland schon mehrfach verursacht und erleiden müssen, die notwendigen Erkenntnisse und Konsequenzen haben nach meiner Einschätzung nie eine tiefenpsychologische Dimension erreicht, sondern immer nur zu äußeren Veränderungen geführt. Aber immer bleibt die ganz persönliche Frage – bin ich Mitläufer und Mittäter einer Gesellschaftspathologie oder bin ich ihr Kritiker? Bleibe ich der eigenen Würde verpflichtet, persönliche Selbst-Entfremdungen aufzudecken und so gut es geht zu überwinden? Auf die Frage, was richtig und gesund ist, gibt es niemals eine eindeutige und zeitlose Antwort, aber es gibt die lebenslange Verantwortung, das eigene Denken, Fühlen und Handeln immer wieder kritisch zu reflektieren. Bin ich nur angepasst, um Selbst-Entfremdungen zu kompensieren, oder vielmehr gefordert, gesunde Selbst-Anteile auch gegen Widerstände zu vertreten?

Alles, was ich seit meiner Jugend zu verstehen, zu riskieren, zu tun und zu lassen bemüht war und bin, diente und dient der Wahrung meiner Würde in dem Sinn, falsche elterliche Einflüsse zu überwinden, allen Experten auch zu misstrauen, alle politischen Positionen nach Sinn und Wert zu untersuchen und das vielfache Mitläuferverhalten, angefangen von der Mode, dem Lagerdenken, der Vereinsmeierei bis hin zur Macht des Mainstreams und dem moralischen Druck politischer Korrektheit kritisch zu hinterfragen. Die Krise einer Gesellschaft wird in ihrer Spaltung erkennbar: wenn die «Guten» und «Gerechten», wenn die, die sich auf der «richtigen Seite» fühlen, den «Gestrigen», den «Populisten» und «Feinden» gegenüberstehen und der Disput über unterschiedliche Positionen und Berechtigungen durch Machtkampf ersetzt wird. Die Front ist dann auf äußere Themen verschoben, um eine gemeinsame tiefreichende Betroffenheit im Symptomkampf abzuwehren. Der Feind ist dann das Wundpflaster und Racheopfer für die eigenen seelischen Verletzungen!

Meine Perspektive ist eine psychodynamische: Ich will menschliches Verhalten verstehen und vergleichen, das aus seelischer Entfremdung, sozialen Zwängen und Nöten resultiert. Sie bilden die Basis für persönliches Fehlverhalten und massenpsychologisch für die Entwicklung einer gesellschaftlichen Normopathie. Rechtsextreme und linksextreme Positionen sollten nicht als besser oder schlechter gegeneinander abgewogen werden, sondern als durchaus vergleichbare Störungen – wie zwei Seiten einer Medaille. Die Medaille, um die es dabei geht, ist unsere narzisstische Normopathie als eine Lebensform, die zur Krise geworden ist. Der «Geschwisterkrieg» zwischen «links» und «rechts» ist ein klassischer Stellvertreterkrieg gegenseitiger Schuldzuweisungen, um die gemeinsam zu verantwortende Bedrohung durch unsere süchtige Lebensform zu verleugnen. Die wachsende Diffamierung der jeweils anderen Seite diagnostiziere ich als ein Symptom des Demokratieverlustes bei zunehmender Irrationalität. Eine lohnende Aufgabe wäre es hingegen, aus «rechten» wie «linken» Extremen die berechtigten kritischen Inhalte herauszufiltern, die dabei helfen können, die Krise der Gesellschaft zu verstehen und verbesserte Lebensformen zu finden.

Von der aktuellen Gesellschaftskrise besonders gefährdet sind die herrschenden Eliten, denn sie haben am meisten zu verlieren, nicht nur Macht und Geld, es stehen auch ihre lebensprägenden und bisher so erfolgreichen Selbst-Entfremdungen zur Disposition. Die Minderheit der Protestler ist nicht unbedingt «echter» aufgestellt – den Beteiligten dient die Kritik vielleicht auch nur der Abwehr von Selbst-Entfremdung, lediglich auf einer anderen äußeren Bühne. Aber als Opposition sind sie natürlich unverzichtbar, da sie sich gegen den Strom stellen und Chancen der bitteren Erkenntnis und für Gesellschaftsveränderungen eröffnen. Dabei gibt es keine Garantie dafür, dass ein Machtwechsel wirklich zu Verbesserungen führt – wenn man, wie ich es tue, nicht nur äußere Veränderungen, sondern innerseelische Erkenntnis mit wirklicher psychosozialer Reife zum Maßstab macht. Indem ich das hier niederschreibe, folge ich meinem Pflichtgefühl – dank meiner therapeutischen Erfahrungen Diskussionsmaterial zur Verfügung zu stellen. Es geht um die tiefenpsychologischen seelischen Prozesse, die einem Therapeuten, meist erst bei krankheitswertiger Not, mit großen Mühen und erheblichen Widerständen allmählich anvertraut werden, dann aber die Ursachen für Erkrankung, Fehlverhalten und soziale Konflikte erschließen helfen.

Wer sich den mühevollen Weg durch meine Ausführungen ersparen will, dem sei folgende Zusammenfassung angeboten: Eine demokratische Gesellschaft muss innerseelisch und beziehungsdynamisch verankert sein. Eine nur äußere politische Demokratie fordert Anpassung aller Selbst-Entfremdeten, die entschädigt werden muss, etwa durch versprochenen Wohlstand und soziale Sicherheit für alle. Geht diese Kompensation verloren, verliert auch die nur politisch durchgesetzte Demokratie an Überzeugungskraft. Eine allein auf äußere Erfolge ausgerichtete normopathische Demokratie kommt dann in die Krise. Die bislang erfolgversprechenden Anpassungen werden fragwürdig und befriedigen nicht mehr ausreichend. Damit werden alle bisher nur entschädigten Selbst-Entfremdungen wieder ihrer Kompensationsfunktion entkleidet. Das ist die Geburtsstunde der Irrationalität als dem letzten Rettungsversuch eines falschen Lebens. Das ist unsere aktuelle gesellschaftliche Situation!

Ich bin mir im Klaren darüber, dass angesichts weltweiter Realbedrohungen durch Gewalt und Terror, durch Armut, Hunger und Wassermangel, durch Migration, durch Klimaveränderungen, Umweltzerstörung, durch gefährliche Finanz- und Wirtschaftskrisen meine Ausführungen als naiv, idealistisch oder utopisch abgetan werden können. Das wird jeder nach seinen Möglichkeiten bewerten. Die Frage, wie ich selbst mich unter dem nationalsozialistischen Machtsystem verhalten hätte, hat mich zeitlebens beschäftigt. Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht! Wer sich aus heutiger Sicht als Widerständler phantasiert, der hat nichts von den unbewussten Kräften der Entfremdung und eines Gruppendrucks verstanden. Meine Unklarheit war für mich ein ausschlaggebendes Motiv für eine klare Abgrenzung zu den antidemokratischen, repressiven Machtverhältnissen in der DDR und ist es auch heute wieder. 1933, 1945 und 1989 sind Jahreszahlen für bedeutende historische Umbrüche, ohne dass die Quellen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen wirklich erkannt oder gar ausgetrocknet worden wären. Die Farben normopathischer Politik können sich ändern, ohne dass die Menschen, die sie tragen, sich wesentlich verändert hätten.

Die Antwort auf meine Frage finde ich in den psychosozialen Entwicklungsbedingungen, die wir als Kinder förderlich erfahren oder verstörend erleiden und die das spätere Verhalten prägend beeinflussen. Als Arzt und Psychotherapeut in der DDR hatte ich umfassend Gelegenheit, individuelles und kollektives Fehlverhalten als Folge frühester Erziehungsrepression zu erkennen und zu behandeln. Diese Erfahrungen haben mich sensibilisiert, auch heutige gesellschaftliche Probleme auf ihre möglichen psychosozialen Quellen zu erforschen. Politik wird stets von Menschen gemacht. Sie beeinflussen oder beherrschen die Medien, die Kultur, die Wissenschaft und die Religion. Und das, was sie tun, was sie für richtig oder falsch halten, hängt vom Grad ihrer seelischen Gesundheit oder Entfremdung ab. In einem gespaltenen Land muss man leider davon ausgehen, dass sich jeweils einseitige Entfremdungen und Verstörungen feindselig gegenüberstehen. In diesem Buch bin ich bemüht, die Quellen eines destruktiven paranoischen Massenverhaltens, das feindselige Spaltungen fördert und den demokratischen Diskurs verhindert, zu erfassen und zu beschreiben. Eine normopathische Gesellschaft verbannt Einsicht und Vernunft. Der zu erwartende Kollaps ist eine Chance für tiefere Erkenntnis. Die eigene Selbst-Entfremdung zu verstehen ist die beste Vorbereitung.

2 Vom Opfer zum Täter

Die Folgen der frühen Beziehungsstörungen

Bindungsforschung, Säuglings- und Kleinkindforschung sowie die Hirnforschung haben die Bedeutung der frühesten Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kind wissenschaftlich so gesichert, dass wir heute nicht mehr von notwendiger Erziehung, sondern von optimaler Beziehung sprechen und nicht die frühkindliche Bildung, sondern die frühkindliche Bindung in den Mittelpunkt der Persönlichkeitsentwicklung stellen. Frühe Beziehungsqualitäten prägen nachhaltig die sich entwickelnde Persönlichkeitsstruktur, die später nicht mehr ohne größere Anstrengungen oder gar nicht mehr verändert, sondern nur kontrolliert und in den Wirkungen und Folgen durch sekundäre Ich-Leistungen gemildert werden kann. Sogenannte Frühstörungen machen später krank. Sie zwingen zu notwendigen Kompensationen (z.B. übertriebenen Leistungen), zu ständiger Ablenkung (z.B. mit Hilfe von TV, Internet, Handy) und fördern Betäubungen (z.B. durch Alkohol, Drogen, Medikamente, Amüsement). Da aber frühe Defizite und Kränkungen damit nicht beseitigt oder ungeschehen gemacht werden können, muss die jeweilige Dosis an Kompensation, Ablenkung und Betäubung suchtartig immer weiter erhöht werden, um noch Wirkung entfalten zu können. Deshalb hat für mich unter allen politischen Maßnahmen die Optimierung der Frühbetreuung Priorität. Das heißt: keine zu frühe Trennung von Mutter und Kind; Familien finanziell und psychologisch so zu unterstützen, dass sie ihre Kinder gut und gerne selbst betreuen können. Dass die gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse von der dominierenden Politik nicht umgesetzt werden, ist für mich die Quelle (die «Mutter») aller individuellen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.

Die psychotherapeutische Praxis konfrontiert uns mit Paradoxien, die ich so zusammenfasse: Es gibt (nicht wenige) Menschen, die haben vor nichts mehr Angst als vor Liebe und Frieden. Andererseits wissen wir, dass es zu den zentralen psychosozialen Grundbedürfnissen des Menschen gehört, Liebe zu erfahren, Liebe geben zu können und friedlich zusammenzuleben. Wobei «friedlich» natürlich auch den Konflikt, die Auseinandersetzung und den Streit mit einschließt. Unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse sind ja eher die Regel als die Ausnahme im menschlichen Zusammenleben. Sich wechselseitig abzustimmen, Lösungen und Kompromisse zu finden, sich mit Argumenten durchzusetzen oder anderen Meinungen nachzugeben, das macht ein friedvolles Zusammenleben spannend und interessant, ermöglicht neue Erfahrungen und fördert die gemeinsame Entwicklung. Eine solche dynamische Kommunikation basiert auf Respekt voreinander, ist keine Kampfarena und kommt ohne eine Abwertung des Anderen aus. Leider ist das aber alles andere als selbstverständlich, vielmehr an Voraussetzungen gebunden, die häufig nicht gegeben sind. So bleibt dann der Kontakt lieblos bis feindselig, die Kommunikation wird belehrend, vorwurfsvoll und kränkend. Man geht enttäuscht bis wütend auseinander oder lebt distanziert nebeneinanderher. Die Grundbedürfnisse nach Liebe und Frieden werden chronisch frustriert.

Wie sind Liebesflucht und Friedensangst zu verstehen? Wenn in der frühen Kindheit das angeborene Bedürfnis nach Liebe und nach friedvollen Beziehungen nicht ausreichend gut von den primären Beziehungspersonen (natürlich zuallererst von den Eltern) erfüllt wird, bleibt das Kind in einem unbefriedigten Zustand, der Stress und Unlust bedeutet und berechtigte Empörung, seelischen Schmerz und Trauer bedingt. Diese Affekte werden von den Eltern zumeist nicht verstanden und vor allem nicht akzeptiert. Das Kind muss die Unterdrückung seiner Gefühle lernen, um wenigstens Beziehungsgnade zu erfahren. Das für das weitere Leben entscheidende Problem entsteht dadurch, dass die unterdrückten Gefühle sich nicht einfach auflösen, sondern dann nur, energetisch verwandelt, in vegetativen Störungen oder Muskelverspannungen, in psychosomatischen Symptomen (Kopfschmerz, Rückenschmerzen, erhöhtem Blutdruck, Magen-Darm-Funktionsstörungen etc.) oder in psychischen Erkrankungen (z.B. Ängsten, Zwängen, Depressionen) stellvertretend zum Ausdruck kommen. Psychotherapie ist nichts anderes als das Bemühen, die vielfachen Symptome und sozialen Verhaltensauffälligkeiten wieder in die ursächlichen Beziehungsstörungen mit ihren spezifischen Affekten zurückzuübersetzen. Das ist immer eine schwierige, langwierige, schmerzliche und ängstigende Arbeit, bis es im besten Fall zu einer befreienden Erkenntnis und emotionalen Entladung kommen kann. Wir müssen wissen, dass verletzende frühe Erfahrungen nur unterdrückt sind, aber im Grunde bis zum Lebensende als pathogenes Potential den Menschen weiterhin belasten. Die Erinnerung an eine frühe traumatisierende Realität wird auf zweierlei Weise verhindert: zum einen mit großem unbewussten innerseelischen Aufwand – das nennen wir die psychischen Abwehrprozesse – und zum anderen mit rational ausgeklügelten und intellektuell umfassend begründbaren Fehlerklärungen, um mit Erkenntniswiderständen eine seelische Erschütterung zu vermeiden. So lebt ein jeder in seiner «Blase», umgibt sich nur mit Menschen und Informationen, die das eigene Widerstands- und Abwehrgebäude nicht infrage stellen oder erschüttern. Das Paradoxe daran ist, dass sehr kluge, intellektuell beeindruckende, ja sogar wissenschaftlich begründete Argumente gefunden und benutzt werden, um die bittere seelische Wahrheit zu unterdrücken und zu bekämpfen. Der Mensch demontiert sich selbst. Das wahre Leben wird tabuisiert oder aktiv verhindert, und das falsche Leben wird zur Norm und erreicht mit immer neuen Moden Kultstatus.

Auf der Grundlage dieser kleinen Analyse kann ich die destruktiven Folgen der verschiedenen frühen mütterlichen und väterlichen Beziehungsstörungen verständlich machen:[2]

Der bedrohte Mensch (Mutterbedrohung) erlebt ein Leben lang die Welt nicht nur als prinzipiell bedrohlich, sondern er wird (unbewusst) immer bemüht sein, reale Bedrohungen zu provozieren und auszugestalten, um seinem Bedrohungsgefühl eine reale Erklärung geben zu können. Er tut das, um nicht als Kranker und Verrückter identifiziert und ausgegrenzt zu werden und für die eigene angespannte innere (Bedrohungs-)Last eine reale Begründung angeben zu können. Dies erklärt, weshalb manche Menschen an einer unglücklichen Partnerschaft festhalten; sie tun dies, um nachweisen zu können, dass der Partner oder die Partnerin reales Fehlverhalten zeigt, unter dem man leiden kann oder bei dem man sich real als bedroht erlebt. Mit demselben Mechanismus wird auch Nachbarn, Freunden und Kollegen ein Bedrohungspotential zugeschrieben. (Dabei werden reale Fehler und Schwächen zur Begründung genutzt.) Das Gleiche lässt sich auf gesellschaftlicher und politischer Ebene beobachten: Der politische Gegner – der Erzfeind, der Klassenfeind, der Kommunist, der Imperialist, der Jude, der Ausländer, der Fremde, der Russe, der «Rechte», der «Linke» – wird gebraucht, um ein Bedrohungsszenario aufzubauen und um von der schon längst erlittenen frühen Bedrohung abzulenken. Vor diesem Hintergrund wird die therapeutische Erfahrung der Angst vor Liebe und Frieden verständlich. Der Feind wird stellvertretend gebraucht, um das sehr schmerzliche, mitunter als lebensbedrohlich erfahrene frühe Beziehungsdefizit nicht wiederzubeleben. Für das kleine Kind kann Liebesmangel tatsächlich eine lebensbedrohliche Qualität haben (Liebe wird gebraucht wie Nahrung!). Das eigentlich unverständliche destruktive Potential, das bis hin zu Mord und Krieg führen kann, bekommt seine Erklärung in der Äquivalenz der existenziellen Frühbedrohung. Das heißt nichts anderes, als dass einige Menschen lieber in den Krieg ziehen, um zu töten (was natürlich so nie benannt wird!), als noch einmal unter der eigenen Todesdrohung leiden zu müssen.