Das Flüstern der Vergangenheit - Sabine Neuffer - E-Book
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Das Flüstern der Vergangenheit E-Book

Sabine Neuffer

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Beschreibung

Diese Entdeckung verändert alles: Der mitreißende Familiengeheimnisroman »Das Flüstern der Vergangenheit« von Sabine Neuffer als eBook bei dotbooks. München in den turbulenten 60er Jahren. Die junge Elisabeth träumt davon, Modeschneiderin zu werden und ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen – doch dann wird sie ungewollt schwanger, von einem Mann, der sie nicht liebt. Muss sie ihren Wunsch nun für immer aufgeben? Das beschauliche Lüneburg, 2018. Als die Grafikdesignerin Nell ein altes Familienfoto findet, stellt dies ihr Leben völlig auf den Kopf: Darauf ist sie als Baby zu sehen – im Arm einer Unbekannten. Plötzlich steht diese große, erschütternde Frage im Raum: Ist es möglich, dass sie ihre richtige Mutter nie kennengelernt hat? Bei ihren Nachforschungen stößt Nell auf eine Spur, die sie nach Spanien führt. Eine emotionale Reise beginnt … Zwei bewegende Frauenschicksale, fesselnd erzählt von der Autorin des Bestsellers »Eine Liebe zwischen den Zeiten«. Jetzt als eBook kaufen und genießen: der gefühlvolle Familiengeheimnisroman »Das Flüstern der Vergangenheit« von Sabine Neuffer wird die Fans von Theresa Simon und von Stephanie Schusters »Wunderfrauen« begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 556

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Über dieses Buch:

München in den turbulenten 60er Jahren. Die junge Elisabeth träumt davon, Modeschneiderin zu werden und ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen – doch dann wird sie ungewollt schwanger, von einem Mann, der sie nicht liebt. Muss sie ihren Wunsch nun für immer aufgeben?

Das beschauliche Lüneburg, 2018. Als die Grafikdesignerin Nell ein altes Familienfoto findet, stellt dies ihr Leben völlig auf den Kopf: Darauf ist sie als Baby zu sehen – im Arm einer Unbekannten. Plötzlich steht diese große, erschütternde Frage im Raum: Ist es möglich, dass sie ihre richtige Mutter nie kennengelernt hat? Bei ihren Nachforschungen stößt Nell auf eine Spur, die sie nach Spanien führt. Eine emotionale Reise beginnt …

Zwei bewegende Frauenschicksale, fesselnd erzählt von der Autorin des Bestsellers »Eine Liebe zwischen den Zeiten«.

Über die Autorin:

Sabine Neuffer wurde 1953 in Hannover geboren. Nach dem Studium arbeitete sie als Lehrerin und für eine PR-Agentur, bevor sie ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckte.

Bei dotbooks erschienen bereits Sabine Neuffers Romane »Eine Liebe zwischen den Zeiten«, »Sommerblumenküsse«, »Sommerrosenträume«, »Unter weitem Frühlingshimmel« und »Was uns nach diesem Sommer bleibt« sowie ihre Kinderbücher »Das Papa-Projekt«, »Das Oma-Projekt« und »Das Geschwister-Projekt«.

***

Originalausgabe März 2023

Copyright © der Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Sabine Zürn

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Masson / Dean Drobot / Vector / Neil Lang; © 123RF / pashabo; © pixabay / stux / KenStock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-186-8

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Sabine Neuffer

Das Flüstern der Vergangenheit

Roman

dotbooks.

Prolog

1982

Das Meer lag bleigrau im Morgenlicht. Und wie Blei fühlten sich ihre Glieder an, beinahe gelähmt durch das Gewicht der durchnässten Kleidung, erstarrt vor Kälte, mit der sie nicht gerechnet hatte. Mit jedem Schwimmzug wurde ihr klarer, dass sie sich verschätzt hatte. Und mit jeder ihrer immer schwerfälliger werdenden Bewegungen schien sich das Ufer weiter zu entfernen.

Es gelang ihr kaum, die Arme hochzureißen, als die Lichter des Patrouillenbootes der Küstenwacht aufblinkten, und ihre Hilferufe gingen in den Wogen unter. Noch einmal bäumte sie sich auf, spürte den ersten glitzernden Sonnenstrahl auf ihrem Gesicht. Panik stieg in ihr auf. Sollte dieser 24. April 1982 doch nicht ihr zweiter Geburtstag werden, wie sie es sich so lange erträumt hatte?

Zitternd kam sie zu sich, in eine Decke gehüllt, heißer Tee rann ihr über das Kinn.

»Gekentert oder aufgebracht?«

Verständnislos sah sie in ein Paar blauer Augen, hell zwischen Falten, wie nur Seeluft sie bleicht.

Sie nickte. Ihre Zähne schlugen aufeinander.

»Lass sie, Piet. Sie ist ja völlig fertig.« Eine zweite Stimme, andere Augen, blass und grau.

»Sie muss ins Krankenhaus«, sagte der mit den blauen Augen.

Der andere, der die Panik in ihren Augen bemerkt hatte, schüttelte den Kopf. »Wir bringen sie zu Greta.«

»Na, die wird sich freuen, so früh am Morgen.«

»Aber du weißt doch, dass sie sich über jeden freut, der es schafft.«

Sie schloss die Augen, und trotz der Kälte, die bis ins Innerste von ihr Besitz ergriffen hatte, spürte sie, schwach nur und undeutlich, ein lang vergessenes Gefühl – Freude. Sie hatte es geschafft. Fast. Wenn sie in den nächsten Stunden keinen Fehler machte.

Dazu gab ihr Greta, eine dralle Mittfünfzigerin, zunächst einmal keine Gelegenheit. Sie öffnete unter unwilligem Gemurmel die Tür, doch als sie die bleiche, zitternde Frau zwischen den beiden Männern erblickte, war sie sofort hellwach und zurrte energisch den Gürtel ihres Morgenmantels zusammen. »Kindchen, Sie brauchen sofort ein heißes Bad!«, sagte sie mit diesem gemütlichen holsteinischen Zungenschlag, der sofort beruhigend auf sie wirkte. Greta nickte den Männern zu. »Sagt, wenn ihr euren Bericht abliefert, dass Jörn sie hier befragt. Und Sie«, ihre Stimme wurde weich, »kommen mal mit rein.« Sie zog die Fremde ins Haus.

Sie stellte keine Fragen. Sie half ihrem Gast aus der nassen Kleidung, hielt ein Badetuch bereit, füllte die Wanne mit heißem Wasser, drehte die Heizung höher und verschwand, um kurze Zeit später mit einem Becher heißem Tee zurückzukehren.

Die Frau lag in der Wanne. Sie zitterte immer noch. Greta hielt ihr den Becher an die Lippen. »Trinken Sie.«

Der Tee enthielt eine kräftige Portion Rum, der sofort in die Adern schoss, warm und belebend. Das Zittern hörte schlagartig auf, sie öffnete die Augen und lächelte.

Greta lächelte zurück. »Wie heißen Sie?«

»Eh… Julica. Julica Sommer.«

»Ich bin Greta Jansen. Nennen Sie mich Greta. Sie sind von drüben, stimmt’s?«, fragte sie und setzte sich in ihrem gestreiften Morgenrock auf den Wannenrand. Es klang weniger wie eine Frage, eher wie eine Feststellung, und als Julica kaum merklich nickte, gab sie einen Laut der Zufriedenheit von sich.

»Schön«, sagte sie mit einem breiten Lächeln. »Ich freu mich immer, wenn es klappt. Passiert ja nur selten, leider. Es war gut, dass die Jungs Sie zu mir gebracht haben. Eigentlich haben sie Anweisung, Flüchtlinge entweder sofort auf die Wache zu bringen oder – in Ihrem Fall – direkt ins Krankenhaus, aber das ist zwanzig Kilometer weit weg. So ein Quatsch! Als ob die mehr für Sie tun könnten als ich!« Sie stand auf. »Bleiben Sie mal noch ein Weilchen liegen, ich suche Ihnen inzwischen etwas Warmes zum Anziehen heraus. Dann gibt’s ein anständiges Frühstück, und danach ruhen Sie sich aus. Alles andere kann warten.«

Julica drehte noch einmal das heiße Wasser auf und ließ sich zurücksinken. Sie fühlte sich so erschöpft, als habe sie die gesamte Ostsee durchschwommen, und war dankbar für den Aufschub, den Greta ihr gewährte.

Eingepackt in einen viel zu weiten Pullover und eine leidlich passende Jeans, verspeiste Julica mit großem Appetit Gretas Bratkartoffeln mit Speck und Spiegelei und stellte fest, dass ihr seit Jahren kaum etwas so gut geschmeckt hatte. Nach dem Essen verabreichte Greta ihr einen Holunderschnaps und kommandierte sie ins Gästebett, breitete eine Daunendecke über sie und steckte eine Wärmflasche darunter.

Julica schlief augenblicklich ein. Sie erwachte erst am Abend, seltsam gelöst, als habe erst der Schlaf ihre Flucht real gemacht. Sie war frei. Sie lag warm und lebendig in Gretas kleinem Haus, irgendwo in Neustadt in Holstein, und wenn sie aufstand, konnte sie gehen, wohin sie wollte. Er würde sie nicht finden, niemals.

Beim Abendessen – diesmal gab es Pellkartoffeln mit gebratener Scholle und grünem Salat – lernte sie Gretas Mann Jörn kennen. Er war der Hauptwachtmeister des Ortes und somit derjenige, der für ihr »Verhör« zuständig war.

»Das erledigen wir gleich hier«, erklärte er und nippte bedächtig an seinem Bier. »Ist gemütlicher als auf der Wache.«

Als Greta die leeren Teller wegräumte, legte er seinen Schreibblock zurecht und zückte einen Kugelschreiber. »Also, dann erzählen Sie mal.«

Julica sah ihn unsicher an. »Was?«

»Na, erst mal die Personalien. Und dann, was passiert ist.«

Julica schob ihr Glas von sich und räusperte sich. »Ich heiße Julica Sommer. Geboren am 24. April 1948 in Schwerin …«

»Aber, Kindchen«, Greta, die am Spülbecken stand, fuhr herum, »dann haben Sie ja heute Geburtstag! Darauf müssen wir aber anstoßen!«

»Später.« Ihr Mann machte eine abwehrende Handbewegung. Er trug eine altmodische Hornbrille und war ganz Hauptwachtmeister, wenig empfänglich für Irritationen. »Wo haben Sie zuletzt gewohnt?«

»In Ostberlin«, sagte Julica. »Marzahn, Märkische Allee 95.«

»Beruf?«

»Gaststättenfacharbeiterin.«

Er schaute fragend auf.

Julica lächelte. »Kellnerin.«

»Familienstand?«

»Geschieden. Ich habe einen Sohn, aber der …«

Er winkte ab. »Dann erzählen Sie mir mal, was letzte Nacht passiert ist.«

Julica berichtete in dürren Worten: Sie war nachts gestartet mit einem Segelbrett, der Wind stand richtig, und zuerst ging alles besser als gedacht. Doch dann frischte der Wind auf, riss ihr das Segel aus der Hand. Sie konnte sich gerade noch an das Brett klammern, sich wieder hinaufziehen, aber das Segel war weg, hatte ja nur so locker in dem Brett gesteckt. Sie hatte sich einfach treiben lassen, anscheinend in die richtige Richtung. Kurz bevor das Boot der Küstenwacht sie aufgegriffen hatte, hatte sie das Brett auch noch verloren, war einfach abgerutscht.

Jörn Jansen schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie haben mehr Glück als Verstand gehabt. Die Ostsee hat zurzeit gerade mal neun Grad, das überlebt man keine Stunde.«

»Ja, das ist wie ein Wunder«, mischte sich nun Greta ein. »Damit sollten Sie an die Presse gehen, das würde Ihnen ein gutes Startgeld bringen.«

»Nein, bitte!« Julica wehrte erschrocken ab. »Ich möchte keine Öffentlichkeit, auf keinen Fall. Nur ein ganz normales Leben.«

Greta betrachtete sie nachdenklich. »Kann ich verstehen«, meinte sie nach einer Weile. »Aber haben Sie denn jemanden hier im Westen?«

»Eine Tante«, sagte Julica, »in Duisburg. Bei ihr kann ich erst mal unterkommen. Aber ich habe meine Papiere verloren und mein Geld auch. Der Brustbeutel ist abgerissen, als ich das Brett verloren habe.«

»Sie hätten ihn unter der Kleidung tragen sollen«, sagte der Hauptwachtmeister tadelnd.

»Hab ich ja. Er muss rausgerutscht sein«, sagte Julica. »Und nun?«

»Nun«, er legte den Stift aus der Hand, schob den Schreibblock von sich und kippte den Rest seines Glases in einem Zug hinunter, »müsste ich Sie eigentlich an ein Aufnahmelager überstellen.«

Julica schluckte schwer. »Muss das sein?«, fragte sie tonlos. »Kann ich nicht gleich zu meiner Tante?«

Jörn Jansen betrachtete sie nun ebenso nachdenklich wie seine Frau vorhin. »Wissen Sie was?«, sagte er dann und setzte sich auf. »Wir machen das ganz anders. Wir stellen Ihnen einen vorläufigen Ausweis aus. Mit unserer Adresse hier. Mein Schwager ist Amtsleiter im Einwohnermeldeamt, der macht das schon. Damit gehen Sie dann in Duisburg zum Einwohnermeldeamt und beantragen einen Personalausweis. Sagen Sie einfach, Sie seien umgezogen und hätten Ihren alten Ausweis verloren, das geht dann schon klar. Wenn wir das so machen, bleibt Ihnen nämlich einiges erspart. Wenn rauskommt, dass Sie rübergemacht haben, geraten Sie garantiert erst einmal in die Fänge des BND, die stürzen sich auf DDR-Flüchtlinge wie Haie auf ihre Beute.« Er sah sie mitleidig an. »Und dass Sie keine Agentin sind, das ist ja wohl klar. Dann hätten Sie garantiert eins a Papiere«, ergänzte er mit einem behäbigen Lachen.

Greta nickte zustimmend. »Dann müssen Sie allerdings auf die hundert Mark Begrüßungsgeld verzichten, aber keine Sorge, wir leihen Ihnen was. Zu Ihrer Tante kommen Sie schon. Wollen Sie sie nicht gleich mal anrufen?«

»Ja, sehr gern, danke. Sie sind sehr freundlich«, sagte Julica.

»Ach was!« Greta trocknete sich die Hände. »Kommen Sie, der Apparat steht im Wohnzimmer.«

»Und was kann ich ihr sagen, wann ich komme? Morgen schon?«

Jörn Jansen überlegte einen Moment. »Na klar, das kriegen wir hin. Ich ruf den Uwe gleich noch an, dass wir das morgen als Erstes machen mit dem Ausweis, dann können Sie den Zug um 9.01 Uhr nach Lübeck nehmen. Von da fahren Sie nach Hamburg und …«

Julica unterbrach ihn: »Das kriege ich schon hin.« Diese Jansens waren ein Gottesgeschenk. Welch ein Glück, dass sie gerade an sie geraten war.

»Nun telefonieren Sie aber erst mal«, drängte Greta. »Und dann stoßen wir endlich auf Ihren Geburtstag an.«

»Ich mache es kurz«, versprach Julica. Sie schloss die Küchentür hinter sich und die Wohnzimmertür auch.

Als sie zurückkam, standen drei gefüllte Schnapsgläser auf dem Tisch.

»Auf Ihr neues Leben!«, sagte Greta feierlich.

Julica hob ihr Glas. »Auf mein neues Leben.«

Jörn Jansen grunzte wohlwollend.

»Was haben Sie denn jetzt vor?«, erkundigte sich Greta.

»Ich werde mir natürlich Arbeit suchen«, sagte Julica. »Dass es nicht leicht wird, ist mir klar, aber irgendetwas werde ich schon finden. Und wenn es erst mal eine Putzstelle ist.«

Greta musterte sie. »Sie finden bestimmt etwas Besseres. So wie Sie aussehen.«

Julica blickte an sich herab. »Na, ich weiß nicht.«

»Kindchen, das wird schon!« Greta tätschelte ihre Hand. »Ihre Tante kann Ihnen doch bestimmt etwas unter die Arme greifen, oder?«

»Ja, gewiss. Und das Geld für die Fahrkarte bekommen Sie per Postanweisung, sowie ich angekommen bin.«

»Die Sachen schicke ich Ihnen natürlich auch zurück«, sagte sie, als Greta und sie am nächsten Morgen auf dem Bahnsteig standen und auf den Zug nach Lübeck warteten. Sie betrachtete die ältere Frau gerührt. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Sie haben mir so geholfen.«

Greta strahlte. »Das haben wir gern getan. Wie gesagt, wir freuen uns über jeden, der denen da drüben entkommt. Ist doch kein Staat, so was, wenn sie die eigenen Leute einsperren. Schreiben Sie uns mal, wie es Ihnen im Westen ergangen ist?«

»Das mache ich bestimmt«, sagte Julica. Sie tastete nach ihrem provisorischen Ausweis, der neben der Fahrkarte in der Baumwolltasche steckte, die Greta ihr, gefüllt mit Reiseproviant, mit auf den Weg gegeben hatte. Es gefiel ihr, die Reise mit so leichtem Gepäck anzutreten.

»Und machen Sie sich keine Sorgen, in Hamburg haben Sie zwanzig Minuten Zeit zum Umsteigen, Sie werden sich schon zurechtfinden«, rief Greta ihr nach, als sie einstieg. »Sonst fragen Sie jemanden!«

Julica drehte sich noch einmal um und winkte.

Zwei Stunden später stieg sie am Hamburger Hauptbahnhof in einen Bummelzug nach Cuxhaven.

Kapitel 1

2018

Als die Trauergemeinde sich allmählich zerstreute und nur die engsten Freunde ihres Vaters noch unschlüssig am Grab verweilten, fiel Nells Blick auf eine hochgewachsene, in Schwarz gekleidete Dame, die abseits der anderen stand und, ein zerknülltes Taschentuch in den Händen, verloren auf den aufgetürmten Blumenschmuck starrte, der an diesem trüben Märztag trotz der vielen Blüten seltsam farblos wirkte.

Nell stieß ihre Mutter an und deutete mit einer Kopfbewegung auf die einsame Gestalt. »Wer ist das?«, fragte sie leise.

Ihre Mutter erbleichte, als sie die Frau bemerkte. »Ach je! Ist die auch gekommen!«

»Wer ist es denn?«, drängte Nell.

»Das ist Hilda, die Schwester deines Vaters«, erwiderte ihre Mutter. »Am besten beachten wir sie gar nicht.«

»Aber Mutter, das geht doch nicht!«, protestierte Nell. »Sie muss natürlich zum Essen mitkommen.« Sie machte Anstalten, auf die Frau zuzugehen, doch ihre Mutter hielt sie am Arm zurück.

»Untersteh dich«, zischte sie. »Wir hatten seit über dreißig Jahren keinen Kontakt zu ihr, das müssen wir jetzt nicht wieder anfangen.«

Nell entzog sich dem Griff ihrer Mutter mit einer schroffen Bewegung. »Mutter, das ist unmöglich! Worum auch immer es gegangen sein mag, gerade Vaters Tod könnte doch ein Anlass sein, diese alten Familienfehden zu beenden. Immerhin ist Tante Hilda extra aus – wo wohnt sie, Baden-Baden?«

»Freiburg«, antwortete ihre Mutter mechanisch.

»… aus Freiburg angereist«, vollendete Nell ihren Satz. »Ich gehe jetzt zu ihr!«

Wieder hielt ihre Mutter sie fest. »Lass dich bloß nicht von ihr einwickeln! Sie wird dir bestimmt irgendwelche Lügenmärchen erzählen, so war sie schon immer, hinterhältig und intrigant.«

Nell blickte unschlüssig zu der fremden Tante hinüber. Sie war trotz ihres Alters und ihrer offensichtlichen Trauer eine Schönheit – hohe Wangenknochen, große dunkle Augen unter geschwungenen Brauen, eine gerade Nase, volle Lippen. Hinterhältig und intrigant wirkte sie nicht.

Nells Blick wanderte zurück zum Gesicht ihrer Mutter, das einen bösen und, wie ihr schien, gleichzeitig ängstlichen Ausdruck angenommen hatte. Eine Schönheit war sie nie gewesen, ihre blassblauen Augen standen zu eng beieinander und um ihren Mund lag ein verkniffener, von Unzufriedenheit kündender Zug. Jetzt hatte sie die Brauen finster zusammengezogen, sodass sich zwei tiefe Stirnfalten bildeten.

»Du brauchst ja nichts mit ihr zu tun zu haben, wenn du partout nicht willst«, sagte Nell, machte sich los und ging um das offene Grab herum. Wie alt mochte ihre Tante sein, siebzig? Jedenfalls einige Jahre älter als Nells Vater, der so unerwartet mit siebenundsechzig Jahren verstorben war.

Als Nell sich näherte, drehte ihre Tante sich zu ihr um und lächelte. Ein warmes Lächeln, das ihre Augen mit den vom Weinen geröteten Rändern erstrahlen ließ und die vielen Fältchen in ihrem Gesicht vergessen machte. »Du bist Cornelia, stimmt’s?«, sagte sie mit überraschend tiefer Stimme und streckte Nell die Hand entgegen.

Nell ergriff sie und lächelte zurück. Sie mochte diese Frau auf Anhieb, fühlte sich sofort zu ihr hingezogen und war sich sicher, dass die offene und herzliche Anteilnahme, die ihr entgegenschlug, echt war. »Ja, aber nenn mich doch bitte Nell, das sagen alle, Tante Hilda.«

»Die ›Tante‹ lass mal getrost weg, das macht mich so alt«, erwiderte Hilda und betupfte ihre Augen noch einmal mit dem Taschentuch, das sie dann wegsteckte.

Nell nahm sie beim Arm. »Du kommst doch mit zum Mittagessen? Es gibt nur eine Kleinigkeit, Suppe und ein paar belegte Brote, das Übliche eben.«

»Aber ich bin doch gar nicht eingeladen«, wandte Hilda ein.

»Nur, weil wir nicht wussten, dass du kommst«, sagte Nell. »Wie hast du eigentlich von Papas Tod erfahren?«

Hilda sah sie überrascht an. »Ich habe eine Trauerkarte bekommen. Hast du die nicht geschickt?«

»Ich?«, fragte Nell erstaunt, doch dann fiel der Groschen. »Das war Lars. Mein Bruder, der stämmige Blonde da drüben neben meiner Mutter. Er hat an alle, die in Papas Adressbuch standen, eine Karte verschickt.« Sie schenkte ihrer Tante ein warmes Lächeln. »Zum Glück! Komm, ich nehme dich in meinem Auto mit, das Restaurant ist etwa zehn Minuten von hier entfernt. So kannst du auch gleich meine Tochter kennenlernen.«

Hilda schüttelte den Kopf. »Das wird deiner …«, sie zögerte, »deiner Mutter gar nicht recht sein.«

»Ach, Hilda«, erwiderte Nell, »meiner Mutter ist so vieles nicht recht, wenn ich darauf immer Rücksicht nehmen würde …« Sie zog ihre Tante mit zu der Gruppe der anderen.

»Darf ich vorstellen, das ist meine Tante Hilda, Papas Schwester, Hilda …«, sie sah die alte Dame verlegen an. »Ich kenne nicht mal deinen Nachnamen.«

»Haas«, sagte Hilda und nahm die weitere Vorstellung selbst in die Hand. Die Begrüßung zwischen Nells Mutter und ihr fiel frostig aus, Hilda wandte sich schnell Lars, dann Nells zwölfjähriger Tochter Ilka und schließlich den Freunden der Familie zu.

Nell beobachtete sie mit Bewunderung. Wie ruhig und selbstsicher sie auftrat, wie freundlich und zugewandt sie wirkte. Nell fiel auf, dass auch Ilka den Bewegungen dieser neuen Tante mit großen Augen folgte.

Nachdem auch die letzten Kondolenzbekundungen abgeschlossen waren und Nells Mutter noch einmal die neben dem Grab aufgetürmten Blumengebinde gemustert hatte, drängte Lars zum Aufbruch. Er schlug vor, dass außer seiner Mutter noch ein befreundetes Ehepaar, das zu Fuß zum Friedhof gekommen war, in seinem Auto mitfahren sollte.

Nell wies in die entgegengesetzte Richtung. »Ich habe dahinten geparkt. Bis gleich!«, rief sie den anderen zu und hakte Hilda unter, streckte die andere Hand nach Ilka aus, und so gingen sie zu dritt zu ihrem Wagen, einem alten dunkelgrünen Mazda-Kombi, der seine besten Jahre lange hinter sich hatte. Der Lack war stumpf, und das Auto hatte einige Beulen und Kratzer.

»Auf Statussymbole scheinst du wenig Wert zu legen«, bemerkte Hilda lächelnd, als sie auf dem Vordersitz Platz nahm.

»Sag nichts gegen mein Auto«, erwiderte Nell, »ich hänge daran. Wir haben vor acht Jahren ein altes Haus gekauft und es mehr oder weniger selbst renoviert. Da hat mir dieses Auto gute Dienste geleistet, obwohl es schon damals nicht mehr neu war. Du glaubst nicht, was hier alles reingeht.«

»Trotzdem«, meldete sich jetzt Ilka von der Rückbank, »du könntest ruhig mal ein neues Auto kaufen, Mami. So eins, wie Kathys Vater hat, das ist voll cool.«

Nell zwinkerte Hilda zu. »Das ist unser Nachbar, ein Herr von und zu. Er hat sich gerade den neuesten Landrover gekauft – unentbehrlich hier im norddeutschen Flachland. Und so klimafreundlich! Aber lassen wir das. Sag mir lieber, wie lange du bleibst. Wo hast du dich überhaupt einquartiert?«

»Im Hotel Bergström. Und ich bleibe bis morgen«, sagte Hilda.

Nell warf ihr einen schnellen Blick zu. »Musst du gleich wieder abreisen? Ich würde mich freuen, wenn du noch ein paar Tage bei uns bleiben könntest. Also, bei Ilka und mir. Wir leben ein paar Kilometer außerhalb von Lüneburg in einem kleinen Nest in der Heide, sehr romantisch!«

Hilda überlegte einen Moment. »Ja«, sagte sie dann, »das nehme ich sehr gern an. Einen Tag länger kann ich auf jeden Fall bleiben. Danke für die Einladung.«

Nell drückte kurz ihren Arm. »Wie schön! Ich freu mich! Was meinst du, willst du nachher gleich mit zu uns kommen oder lieber erst noch eine Nacht im Bergström-Rote-Rosen-Luxus schwelgen?«

»Rote-Rosen-Luxus?«, fragte Hilda verständnislos.

»Tante Hilda!« Ilka klang äußerst empört. »Kennst du etwa ›Rote Rosen‹ nicht? Das ist die angesagte Telenovela aus Lüneburg! Die läuft jeden Mittag! Seit Urzeiten! Die lief schon, als Mami noch jung war.«

Nell warf ihrer Tochter über den Rückspiegel einen amüsierten Blick zu. »Also in der Steinzeit!« Dann wandte sie sich an Hilda. »Man muss die Serie nicht kennen. Aber das Hotel Bergström spielt eine zentrale Rolle darin.«

Hilda lachte. »Ich denke, ich kann auf eine so prominente Umgebung gut verzichten. Ich komme gern gleich heute mit zu euch.«

Nell freute sich. Sie hatte sich vor dem Abend nach der Beerdigung gefürchtet, und eine bessere Gesellschaft als die Schwester ihres Vaters, die sie nie hatte kennenlernen dürfen, hätte sie sich nicht wünschen können.

Als sie den für die Feier reservierten Raum des Restaurants betraten, waren etwa dreißig Trauergäste versammelt. Nell sah sofort, dass ihre Mutter ihre Tasche bereits im Zentrum der hufeisenförmig angeordneten Tafel deponiert hatte, die Stühle rechts und links von ihr offensichtlich für Lars, Ilka und sie frei hielt und die am nächsten stehenden Freunde direkt daneben zu platzieren suchte, um auszuschließen, dass Hilda in ihrer Nähe sitzen würde. Also steuerte Nell zusammen mit ihrer Tante und Ilka die rechte Tischseite an, wo sie neben den Nachbarn ihrer Eltern zu sitzen kamen. Den wütenden Blick, den ihre Mutter auf sie abschoss, übersah sie.

Das Essen verlief, wie es zu erwarten war. Bei der Suppe herrschte noch bedrücktes Schweigen. Als die Schnittchen gereicht wurden, keimten die ersten, noch mit gedämpften Stimmen geführten Gespräche auf, und ganz allmählich wurden sie lebhafter, und man hörte schon das ein oder andere Lachen, wenn jemand eine heitere Begebenheit aus Ralf Schuberts Leben schilderte. Beim Kaffee plauderte man schon recht fröhlich in normaler Lautstärke. Auch Hilda war bald in angeregte Unterhaltungen vertieft, offensichtlich hatte sie nicht die geringsten Schwierigkeiten, mit Fremden ins Gespräch zu kommen.

Nell verließ die Tafel, um auf die Toilette zu gehen und für einen Moment allein zu sein. Sie spürte den Schlafmangel der letzten Nächte, in denen die Gedanken an ihren Vater, der Schock über seinen plötzlichen Tod und ihre Traurigkeit sie nicht hatten zur Ruhe kommen lassen. Der Toilettenvorraum war zum Glück leer. Nell stellte sich vor den Spiegel und versuchte, die Strähnen, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatten, wieder festzustecken, gab es aber bald auf. Lange hielten diese eleganten Frisuren bei ihr nie, also zog sie alle Klemmen heraus und schüttelte ihr Haar, bis es ihren Kopf wieder in dem gewohnten, schulterlangen Lockengewirr umstand. Einen Augenblick lang betrachtete sie sich. Ihr Gesicht schien schmaler als sonst und sehr blass, die Augen übergroß, die Iris fast dunkelgrau, der Mund wie immer zu breit. Und müde wirkte sie, das schwarze Kleid machte die Sache nicht besser.

»Da bist du ja! Hab ich’s mir doch gedacht, dass du dich mal wieder aus dem Staub machst, statt unsere Gäste zu unterhalten.«

Nell zuckte zusammen. Ihre Mutter hatte wirklich ein Talent dafür, in den unmöglichsten Momenten wie aus dem Nichts aufzutauchen und völlig abstruse Vorwürfe oder Anschuldigungen auszustoßen. »Man wird ja wohl noch mal aufs Klo gehen dürfen«, verteidigte sie sich. Sie merkte selbst, dass sie wie eine aufsässige Vierzehnjährige klang.

Ihre Mutter, die in ihrer Handtasche nach Puderdose und Lippenstift kramte, war noch nicht fertig: »Du benimmst dich mal wieder unmöglich! Was sollen denn die Leute denken, wenn du dich so weit von uns wegsetzt? Schließlich gehörst du auch zu den Hauptleidtragenden.«

Das klingt wie »Hauptdarsteller«, dachte Nell, und wahrscheinlich war es auch so gemeint. »Ich hätte mich zu dir gesetzt, wenn du Platz für Hilda gelassen hättest«, erwiderte sie. »Sie gehört ja wohl auch in diesen illustren Kreis.«

»Deine Ironie kannst du dir sparen, die ist völlig unangebracht. Du solltest an deinen Vater denken!«

»Ich denke an meinen Vater! Glaubst du, er hätte gewollt, dass seine Schwester heute so von dir behandelt wird? Was auch immer zwischen euch vorgefallen sein mag …«

Ihre Mutter unterbrach sie. »Das geht dich gar nichts an. Und ich verbiete dir, Hilda danach zu fragen!«

»Mutter!« Nell rollte die Augen. »Ich denke gar nicht daran, Hilda danach zu fragen. Ich weiß, dass es mich nichts angeht. Trotzdem meine ich, du könntest die alten Animositäten wenigstens heute einmal ruhen lassen.«

»Animositäten? Monstrositäten, das trifft es wohl eher! Du hast doch keine Ahnung, wovon du sprichst!«

»Stimmt. Es ist mir, ehrlich gesagt, auch egal. Ich freue mich jedenfalls, dass Hilda gekommen ist, und möchte sie jetzt kennenlernen. Darum habe ich sie auch zu uns eingeladen.«

Ihre Mutter, die gerade ihren dunkelroten Lippenstift hatte ansetzen wollen, fuhr herum. »Du hast was?«

»Ich habe Hilda eingeladen, das Wochenende bei Ilka und mir in Heidemark zu verbringen, und sie war so lieb, die Einladung anzunehmen und ihre Rückreise zu verschieben.«

»Na, dann sind wir geschiedene Leute«, stieß ihre Mutter hervor, wandte sich wieder dem Spiegel zu und begann mit zitternden Händen, ihre Lippen nachzuziehen.

»Warum?«, fragte Nell verblüfft und betrachtete ihre Mutter im Spiegel. Wie wenig sie einander glichen, hier sie selbst, klein, schmal, blass und dunkelhaarig, daneben ihre Mutter, groß und kräftig, wie immer ein wenig gebräunt und sehr blond, naturblond, blauäugig. »Das Kind kommt wohl ganz nach dem Vater«, hatten die Leute immer bemerkt, wenn sie an der Hand ihrer Mutter irgendwo aufgetaucht war. Seltsam, dachte Nell plötzlich, Papa hatte doch gar kein dunkles Haar, eher ein Mausbraun. Und blaue Augen, keine grauen.

»Das wirst du schon noch sehen«, erwiderte ihre Mutter. Und damit pfefferte sie Puderdose und Lippenstift zurück in die Handtasche, ließ die Bügel zuschnappen und rauschte zur Tür hinaus.

Nell sah ihr stirnrunzelnd nach. Was war nur in ihre Mutter gefahren? Eine besonders zartfühlende Person war sie nie gewesen, doch so kratzbürstig und gehässig zeigte sie sich nur, wenn ihr etwas ganz furchtbar gegen den Strich ging. Oder wenn sie Angst hatte …

Kapitel 2

Nells Haus stand am Rande des kleinen Dorfs auf einem Grundstück, das früher der Gutsfamilie von Benecke gehört hatte. Im Gegensatz zu den meisten alten Häusern im Ort war es kein Fachwerkhaus, sondern ein weiß verputzter Steinbau mit großen Rundbogenfenstern und Jugendstilornamenten. Insofern fiel es ein wenig aus dem Rahmen und hob sich auch wohltuend von dem viel früher errichteten Gutshaus aus rotem Backstein ab. Nells Haus war zu einer Zeit, als der Adel noch etwas galt und die von Beneckes richtig reich gewesen waren, als Witwensitz erbaut worden.

Als Nell es vor acht Jahren entdeckte, hatte es – grau und halb verfallen – schon zwei Jahre lang zum Verkauf gestanden. Niemand außer ihr schien sein Potenzial zu erkennen. Es hatte sie viel Mühe gekostet, ihren Mann zum Kauf zu überreden, denn weder war Gert ein passionierter Heimwerker, noch interessierte ihn der schöne alte Garten. Später fragte Nell sich oft, ob der Hauskauf nicht der Anfang vom Ende ihrer Ehe gewesen war.

Damals hatte sie sich mit Begeisterung in die Renovierungsarbeiten gestürzt, und jeden Auftrag angenommen, den sie als freie Grafikdesignerin ergattern konnte, um die Handwerker bezahlen zu können, da sie vieles nicht selbst erledigen konnte. Auch Gert hatte viel gearbeitet – er hatte gerade den Posten eines Abteilungsleiters in einer Computerfirma übernommen – und zeigte sich so desinteressiert an dem Haus, dass Nell ihn bald an ihren Überlegungen, wie sie es umbauen und einrichten wollte, kaum noch teilhaben ließ. Das war natürlich keine besonders fruchtbare Basis für ein glückliches Zusammenleben gewesen. Ihre Ehe glich allerdings auch schon vor dem Umzug in das Haus eher einer mehr schlecht als recht funktionierenden Wohngemeinschaft. Gert und sie hatten kaum noch etwas gemeinsam unternommen. Auch zu Familienfeiern waren sie immer häufiger getrennt gegangen, jeder allein zu seiner Familie. Irgendwie hatten sie es immer geschafft, einen wichtigen beruflichen Termin zu haben oder krank zu sein, wenn auf der »Gegenseite« ein Treffen geplant war.

Bis Gerts Affäre mit einer Kollegin diesem Zustand ein Ende bereitete. Zwei Jahre nach ihrem Einzug in das renovierte Haus war Gert ausgezogen, und sie stellten beide fest, dass sie seit Jahren nicht mehr so konstruktive Gespräche miteinander geführt hatten wie über die Trennungsmodalitäten. So war es ihnen wenigstens gelungen, befreundet zu bleiben und immer gute Lösungen zu finden, wenn es um Ilka ging. Die gewöhnte sich schnell daran, zwischen ihren Eltern zu pendeln. Gerts Wohnung war für sie die »Stadtwohnung«, was sie ausgesprochen schick fand und worum sie von ihren Klassenkameradinnen glühend beneidet wurde. Auch mit Gerts neuer Lebensgefährtin verstand sie sich gut, allerdings störte sich ihr Sinn für Gerechtigkeit daran, dass Nell keinen neuen Partner hatte.

Nell selbst störte sich daran auch manchmal, sie hätte gern ab und zu jemanden zum Kuscheln und zum Reden gehabt, doch genau da lag der Haken – ab und zu. Tatsächlich hatte sie gar keine Zeit für einen Mann in ihrem Leben. Genügend Zeit für ihre Tochter zu haben und gleichzeitig so viele Aufträge anzunehmen, dass sie in der Lage war, das Haus zu halten und Gert seinen Anteil auszuzahlen, füllte sie völlig aus. Denn daran, das Haus wieder aufzugeben, hatte sie keinen Moment lang gedacht. Es gehörte zu ihr, sie fühlte sich darin wohl und geborgen, es war wie ihre dritte Haut.

Und es erfüllte sie immer wieder mit Stolz, es vorzuführen. Hilda bekam jetzt, wie alle speziellen Gäste, die große Tour, inklusive den Schlafzimmern, Bädern und sogar Nells Arbeitszimmer, in dem sie einige ihrer – wie sie selbst fand – besten Arbeiten aufgehängt hatte, Fotos, Plakatentwürfe, Buchcover.

Hilda sah sich um. »Du scheinst ja recht erfolgreich zu sein«, bemerkte sie.

»Es läuft ganz gut«, sagte Nell bescheiden. »Im Moment arbeite ich an einer Präsentation für ein kleines Modelabel, Strickmoden, guck mal, sie machen tolle Sachen!« Sie zog einen Katalog hervor.

»Ach, Julica-Moden.« Hilda nahm ihr den Katalog aus den Händen und blätterte ihn durch. »Die Sachen kenne ich. Fantastisch zu tragen und so schlicht und elegant. Guck mal, dieser Pulli, den habe ich auch. Der sieht an mir fast so gut aus wie an dieser Zwanzigjährigen.« Mit einem kleinen Schmunzeln gab sie Nell den Katalog zurück.

Die lachte. »Vielleicht sollte ich dich in meine Werbekampagne einbauen.« Sie betrachtete ihre Tante nachdenklich. Sie war wirklich attraktiv. Ihr weißes Haar trug sie in einem perfekt geschnittenen, kinnlangen Bob, der weich ihr Gesicht umrahmte. Und trotz ihrer Falten wirkte sie jung. Sie wäre ein wunderbares Model für Julica-Moden.

Doch ihre Tante winkte ab. »Such dir lieber ein echtes Model, ich wäre viel zu ungeduldig für eine Fotosession.«

Nell löste ihren forschenden Blick von ihr und machte sich schnell eine Notiz auf ihrer To-do-Liste. »Soll ich uns jetzt etwas zu essen machen? Vielleicht einfach ein bisschen Käse zum Wein? Und dann klönen wir«, schlug sie vor.

»Wunderbar«, stimmte Hilda zu. »Aber was ist mit Ilka? Wo steckt sie überhaupt?«

»Nebenan im Gutshaus bei ihrer Freundin Kathy. Die beiden sind unzertrennlich, und an den Wochenenden dürfen sie zusammen übernachten. Meistens tun sie das hier, aber heute sind sie ausnahmsweise mal drüben. Passt ja auch ganz gut, so haben wir mehr Ruhe.«

»Eine schöne Lösung für ein Einzelkind. Dann verstehst du dich also gut mit Kathys Eltern?«

»Sie lebt allein mit ihrem Vater, die sind auch geschieden. Aber es gibt eine Haushälterin, die jeden Tag kommt, manchmal auch am Wochenende für ein paar Stunden. Sie ist eine Seele von einer Frau. Ihre eigenen Kinder sind aus dem Haus, und sie hat Kathy und Ilka in ihr Herz geschlossen. Sie ist wirklich großartig.«

»Das klingt ja perfekt. Und wie ist Kathys Vater so?«

Nell bemerkte den kalkulierenden Blick ihrer Tante und winkte ab. »Na, wie man sich einen Aristokraten so vorstellt«, meinte sie nur. »Erhaben irgendwie. Sehr gut aussehend, sehr gepflegt, sehr vornehm und dem normalen Fußvolk eher fern. Insofern wundert es mich auch nicht, dass seine Frau ihn gegen ein etwas irdischeres Modell ausgetauscht hat. Ich verstehe allerdings nicht, dass sie Kathy so einfach aufgegeben hat. Sie sieht sie fast nur noch in den Schulferien, dann lädt sie sie – und Ilka meistens auch – in ihr Ferienhaus auf Ibiza ein. Eine ziemlich mondäne Angelegenheit, das neue Modell ist nicht nur bodenständiger, sondern auch erheblich wohlhabender als der Landjunker. Und er ist wirklich nett, er kümmert sich sehr um die Kinder, wenn sie dort sind.«

»Du hast ihn also kennengelernt?«

»Na, hör mal! Sonst würde ich Ilka doch nicht allein dahinfahren lassen. Die beiden wohnen in Hamburg, wir haben uns oft gesehen, bevor ich Ilka erlaubt habe, mit nach Ibiza zu fahren. – Was trinkst du lieber – Rotwein oder Weißwein?«

»Weißwein, wenn du hast. Und wenn er trocken ist.«

»Im Kühlschrank liegt ein Sauvignon blanc, holst du den mal raus, bitte? Und Gläser sind da oben in dem Schrank.« Nell nahm die Käseplatte, die sie mit Oliven, Kapernäpfeln und frisch aufgeschnittenen Paprikastreifen garniert hatte, und trug sie ins Wohnzimmer. Hilda folgte ihr, und sie machten es sich auf den hellbraunen Ledersofas bequem.

»Gemütlich hast du es hier«, sagte Hilda und schaute sich noch einmal in dem Raum um. Hinter den bodentiefen Fenstern lag der Garten, effektvoll erleuchtet, innen warfen verschiedene Lampen ihr warmes Licht auf Bücherregale, Bilder und bunte Kissen.

Nell lächelte. »Schön, dass es dir gefällt. Aber nun lass uns anstoßen, und dann musst du mir von dir erzählen. Ich weiß ja gar nichts über dich, ich bin so gespannt.«

Je länger ihre Tante erzählte, desto faszinierter war Nell. Welch ein erfülltes, buntes Leben! Hilda war Jahrgang 1940 – sie war elf Jahre älter als Nells Vater. Sie hatte Französisch studiert, die letzten Semester an der Sorbonne, dann dank eines Stipendiums einige Monate in Kanada. Nach ihrem Examen hatte sie eine der begehrten Stellen an der deutschen Botschaft in Paris ergattert. Das war in den Sechzigerjahren gewesen. Nell bohrte nach, und Hilda erzählte mehr. Von ihrer Liaison mit einem jungen französischen Literaten, den Abenden in den legendären Cafés Les deux Magots und Café de Flore, wo sie hin und wieder Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, ja, auch einmal Picasso und den Regisseur Truffaut zumindest von Weitem gesehen hatte.

Später dann, Anfang der Siebzigerjahre, hatte sie Ernst Haas kennengelernt, der als Jurist beim Deutsch-Französischen Jugendwerk arbeitete und ständig zwischen Paris und Bonn pendelte. Zwei Jahre später begann Ernst, beim Europäischen Rat in Brüssel zu arbeiten. Für Hilda war es nicht schwer, dort eine Stelle als Dolmetscherin zu finden. Also verabschiedete sie sich von der Pariser Boheme, heiratete ihren Ernst, und sie zogen zusammen nach Brüssel. Anfang der Zweitausenderjahre hatten sie dann beide aufgehört, zu arbeiten, und waren nach Freiburg gezogen.

»Es ist ideal für uns«, schloss Hilda. »Wir haben eine sehr schöne, große Wohnung in Herdern, nahe der Altstadt, da fühlen wir uns sehr wohl. Und Frankreich liegt ja direkt vor der Haustür, das genießen wir sehr.«

»Und geht es euch beiden gut?«, fragte Nell. »Ich meine, dir sieht man es ja an, aber dein Ernst, wie alt ist der überhaupt?«

»Fünf Jahre jünger als ich«, sagte Hilda fröhlich. »Das stimmt mich sehr optimistisch.«

Nell lachte, wurde jedoch gleich darauf wieder ernst und gab, obwohl sie sich vorgenommen hatte, es nicht zu tun, ihrer Neugier nach. »Warum gab es eigentlich keinen Kontakt zwischen meinen Eltern und dir? Bei uns wurde nie über dich gesprochen. Warst du das Enfant terrible der Familie?«

Hilda zögerte mit ihrer Antwort. »Ja, vielleicht war ich das – für deine … Mutter jedenfalls. Dein Vater und ich, wir hatten immer Kontakt. Er hat uns auch regelmäßig besucht.«

»Ohne meine Mutter?«

Hilda nickte. »Ich habe sogar den Verdacht, dass sie von diesen Besuchen gar nichts wusste.«

»Aber was hat sie gegen dich?«

Hilda spießte eine Olive auf ihre Gabel. »Wir sollten das ruhen lassen, Nell. Wenn deine Mutter es dir erklären möchte, soll sie es tun. Ich möchte mich da raushalten.«

Nell nickte. So viel dazu, dass Hilda mir Lügenmärchen auftischen würde, dachte sie.

Dann wechselte sie das Thema: »Habt ihr Kinder, Ernst und du?«

»Nein. Kinder zu bekommen hätte damals bedeutet, dass ich meinen Beruf hätte aufgeben müssen, und das wollte ich nicht. Es war auch nicht wichtig für uns, wir waren auch so sehr glücklich.«

Nell blickte gedankenverloren vor sich hin. »Glaubst du …«, begann sie zögernd und sah ihre Tante an, »glaubst du, dass Papa glücklich war?«

Hilda seufzte. »Ich weiß es nicht, Nell.«

»Er hat getrunken, weißt du.«

»Ja, ich weiß. Bei seinen Besuchen ist es mir aufgefallen, und ich habe mir natürlich Sorgen gemacht. Aber er hat jeden Versuch, ihn darauf anzusprechen, im Keim erstickt.«

»Das hat meine Mutter, glaube ich, nicht mal versucht«, sagte Nell bitter. »Im Gegenteil, sie hat immer dafür gesorgt, dass genug Alkohol im Haus war. Als Papa vor fünf Jahren aufgehört hat zu arbeiten, ist es noch schlimmer geworden. Bis dahin hatte ich das Gefühl, dass er sich ganz gut im Griff hatte. Ich glaube, er hat nie während der Arbeit getrunken, immer erst hinterher. Aber ich habe mich gefragt, ob er seine Praxis so früh verkauft hat, weil er sich dann nicht mehr so zusammennehmen musste. Und in den letzten ein, zwei Jahren wurde es extrem, da war er meistens schon mittags betrunken. Ich glaube, das hat ihn umgebracht.« Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen.

Hilda nickte schweigend und suchte nach ihrem Taschentuch.

»Aber er war so lieb«, sagte Nell schluchzend. »Er war immer für mich da, ich konnte über alles mit ihm sprechen. Na ja, über alles, was mich betraf. Bei der Trennung von Gert war er wirklich mein Fels in der Brandung. Er war so klug und verständnisvoll. Wir haben abendelang miteinander geredet, ich war wütend und verletzt, weil Gert eine andere hatte, aber Papa hat mich sehr liebevoll aufgebaut. Vor allem«, fuhr sie etwas ruhiger fort, »hat er mir geholfen, auch meinen Anteil am Scheitern unserer Ehe zu sehen, das hat unheimlich geholfen. Als ich begriffen habe, dass Gert sich jahrelang von mir allein gelassen fühlte und unglücklich war, weil ich auf seine Bedürfnisse oft überhaupt keine Rücksicht genommen habe, war das zwar nicht wirklich ein Trost, aber es hat geholfen, die Dinge klarer zu sehen.« Sie brach erneut in Tränen aus. »Papa wird mir so fehlen, Hilda, ich weiß gar nicht, wie ich das aushalten soll.«

Hilda setzte sich neben sie und umarmte sie, hielt sie fest, ließ sie weinen.

Schließlich löste Nell sich aus ihren Armen, setzte sich auf, putzte die Nase und lächelte ihre Tante unter Tränen an. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Es ist fast so, als seist du ein Stück Papa.«

Auch Hilda wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich bin auch froh, dass ich gekommen bin«, sagte sie. »Und wenn du mich brauchst, bin ich jederzeit für dich da, du kannst mich immer anrufen oder zu mir kommen.«

»Danke«, sagte Nell. »Darf ich auch kommen, wenn ich keine Probleme habe? Ich würde auch gern deinen Mann kennenlernen.«

»Aber, Kind, komm, wann immer du willst«, sagte Hilda erfreut. »Und Ilka musst du natürlich mitbringen!«

Kapitel 3

Am folgenden Tag, einem Samstag, herrschte sonniges Frühlingswetter. Nach dem Frühstück schlug Nell vor, Hilda die Lüneburger Altstadt zu zeigen. »Wir können da eine Kleinigkeit zu Mittag essen und für heute Abend Steaks und Salat auf dem Markt kaufen, was meinst du?«

»Das klingt gut«, sagte Hilda. »Bekomme ich heute auch ein bisschen von deiner Tochter zu sehen, oder steckt sie die ganze Zeit mit ihrer Freundin zusammen?«

Nell lachte. »Sowohl als auch. Die beiden wollen heute Nachmittag hierher übersiedeln. Da wirst du noch genug von ihnen zu sehen kriegen.«

Das Wochenende verlief sehr entspannt. Hilda bei sich zu haben, war für Nell ein großer Trost. Sie konnte mit ihr ebenso offen reden wie mit ihrem Vater, und es kam ihr vor, als seien sie sich seit Langem vertraut. Und sie genoss es, Hilda zuzuhören, wenn sie von früher erzählte, von den Jahren, als Nells Vater noch klein gewesen war. Leider wusste Hilda über seine Jugend und seine Studentenjahre nur wenig, das war die Zeit, in der sie schon im Ausland gelebt hatte. Aber irgendwo in jener Zeit lag der Grund für das Zerwürfnis zwischen Hilda und Nells Mutter.

Als Hilda sich am Sonntagnachmittag verabschiedete – Nell hatte sie zum Hamburger Bahnhof gefahren, sodass sie eine Direktverbindung mit dem ICE hatte –, bedankte sie sich noch einmal überschwänglich: »Nell, es war wunderschön bei dir. Ich bin so froh, dass wir uns endlich kennengelernt haben, wir müssen uns unbedingt bald wiedersehen. Sobald wir aus Kanada zurück sind.«

Ernst und sie wollten in der kommenden Woche nach Kanada fliegen, wo Hildas besten Freunde lebten, die sie während ihres Studienaufenthalts dort kennengelernt hatte. Sie würden erst im Mai oder Juni zurückkommen. »Wer weiß, wie oft wir das noch machen können, darum wollen wir möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen«, hatte Hilda erklärt.

Nell war traurig, nachdem sie sich verabschiedet hatten, und dankbar, dass Ilka mitgekommen war, die auf der Rückfahrt munter plauderte, von dem Film erzählte, den sie am Abend vorher gesehen hatte, und von ihren Plänen für die nächste Woche. Sie wollte am Dienstag mit Kathy zum Schwimmen gehen, dann war sie zu einem Geburtstag bei einer Klassenkameradin eingeladen, und – »voll blöd!« – eine Mathearbeit stand auch auf dem Programm.

Nell hörte ihr anfangs noch zu, doch schon bald schweiften ihre Gedanken ab, zurück zu ihrer Arbeit. Sie hatte beschlossen, die Präsentation für Julica-Moden noch einmal zu überarbeiten. Die Idee, Models zwischen achtzehn bis achtzig einzusetzen, war einfach genial, und sie war sicher, dass das funktionieren würde. Aber das musste sie unbedingt erst mit Helga und Ole besprechen, der Fotografin und dem Texter. Sie hatten sich zu dritt zu einem lockeren Team zusammengeschlossen, und wann immer einer von ihnen einen größeren Auftrag witterte, holte er die beiden anderen mit ins Boot. Die Ausschreibung für die PR-Kampagne von Julica-Moden hatte Nell entdeckt, und sie hatten beschlossen, dass sie auch den Kontakt aufnehmen und als Repräsentantin von »Text und Bild in Form«, wie sie sich nannten, auftreten sollte.

Und um diese Stiftung Hamburger Heimatpflege musste sie sich auch kümmern, die die Neugestaltung ihres Corporate Designs ausgeschrieben hatte. Das wäre ein lukrativer Auftrag, den Nell allein bewältigen konnte, und wenn das mit Julica-Moden nicht klappte, was sie natürlich viel lieber machen würde … Oder konnte sie beides schaffen? Ach, erst einmal musste sie diese Aufträge überhaupt haben.

»Mami!«, drang plötzlich Ilkas aufgebrachte Stimme an ihr Ohr. »Hörst du mir denn gar nicht zu? Nun sag doch schon!«

Nell blinzelte und katapultierte sich ins Hier und Jetzt zurück. Auwei, wie lange hatte sie schon auf Autopilot geschaltet? Das Letzte, was sie bewusst wahrgenommen hatte, war der Abzweig auf die A 39 gewesen, und nun waren sie schon fast zu Hause. »Entschuldige, Schatz, ich habe wirklich nicht zugehört. Was soll ich sagen?«

»Ob Kathy nach der Feier bei Melissa bei uns schlafen kann«, wiederholte Ilka ungeduldig. »Wir haben nach solchen Feiern immer so viel zu besprechen, da wäre es doch praktisch, wenn …«

Nell unterbrach sie. »Nein. Ich wundere mich, dass du es überhaupt versuchst, Ilka, du kennst die Regel – ihr schlaft nur am Wochenende zusammen.«

»Menno! Das ist am Donnerstag, das ist doch schon fast Wochenende! Und ab Freitag bin ich bei Papa, da sehe ich Kathy dann ja ewig nicht!«

»Vielleicht kannst du Papa fragen, ob es okay ist, wenn du erst am Samstag kommst«, schlug Nell vor. »Oder erst ein Wochenende später.«

»Da bin ich bei Oma, hast du das vergessen? Das habe ich ihr doch versprochen, weil sie jetzt so einsam ist und so.«

»Das war lieb von dir. Darüber hat sie sich sehr gefreut.«

Ilka nickte bedeutsam. »Ich weiß. Aber, Mami, um Oma kann ich mich jetzt nicht auch noch kümmern, ich hab auch so schon voll den Stress.«

Nell lachte auf. »Ja, da hast du recht! Aber mach dir keine Sorgen. Wir werden Oma ab und zu besuchen, in der nächsten Zeit ein bisschen öfter als sonst, aber du musst nicht ganze Wochenenden bei ihr verbringen. Und Papa hat bestimmt Verständnis, wenn du nicht ganz so lange bei ihm bleibst.«

Ilka nickte. »Wenn ich ihm sage, dass du an den Wochenenden genauso wenig von mir hast, dann versteht er das schon.«

Nell schmunzelte. Wären doch alle Tugenden bei Ilka so ausgeprägt wie ihr Gerechtigkeitssinn.

Im Grunde war sie froh, dass ihre Tochter beschäftigt war und sie im Moment wenig brauchte, so konnte sie sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren. Und eigentlich wünschte sie sich für die nächste Zeit nichts anderes, als so viel zu arbeiten, dass sie abends todmüde ins Bett fiel und sofort einschlief.

An diesem Abend wurde ihr dieser Wunsch erfüllt. Sie arbeitete bis weit nach Mitternacht, bevor sie sich endlich schlafen legte.

Als um sechs der Wecker klingelte, war sie zu ihrer eigenen Überraschung sofort hellwach. Sie bereitete, noch im Morgenmantel, das Frühstück zu. Nachdem Ilka sich zur Bushaltestelle aufgemacht hatte – wie immer mit einem Umweg über das Gutshaus, um Kathy abzuholen –, kümmerte Nell sich um die notwendigsten Hausarbeiten. Um neun saß sie wieder am Schreibtisch und schaltete alle anderen Gedanken aus. Am Freitag sollte die Präsentation für Julica-Moden im Firmensitz in Stade stattfinden, am Dienstag darauf hatte sie einen Termin bei der Hamburger Stiftung. Vielleicht konnte sie dort absagen, wenn in Stade alles gut lief.

Nell unterbrach ihre Arbeit nur, um sich am Mittwochabend mit ihrer Freundin Rebecca in Lüneburg zum Essen zu treffen. Diese Treffen kamen in der letzten Zeit viel zu kurz, was allerdings nicht an Nell lag. Rebecca, Lehrerin an der Gesamtschule, hatte immer schrecklich viel zu tun. Vor allem erdrückten sie die Korrekturen. »Welcher Teufel hat mich geritten, Deutsch und Englisch zu studieren?«, stöhnte sie immer wieder. »Sport und Werken, das wär’s gewesen!«

Seit einem halben Jahr hatte Rebecca wieder einen Partner. Florian war Orthopäde in Hamburg, was bedeutete, dass Rebecca ihre Wochenenden meistens dort verbrachte. So schade Nell es fand, dass damit ihre regelmäßigen gemeinsamen Wochenendunternehmungen ein jähes Ende gefunden hatten, so sehr gönnte sie ihrer Freundin dieses neue Glück. Rebecca hatte nach einer beschwerlichen, von allerlei schmerzvollen Wiedervereinigungen unterbrochenen Trennung von ihrem langjährigen Freund Tim vor fünf Jahren den Männern und der Liebe abgeschworen und sich in ihren Beruf gestürzt. Inzwischen hatte sie die stellvertretende Leitung der Schule übernommen. Immerhin schaffte sie es, sich konsequent die Wochenenden für ihre Treffen mit Florian frei zu halten. Nell sah ein, dass sie selbst in dieser Situation erst einmal zurückstehen musste.

Umso mehr freute sie sich jetzt auf den gemeinsamen Abend. Wie immer trafen sie sich bei dem kleinen Italiener Am Sand, der den runden Tisch in dem kleinen Erker mit Blick auf den weitläufigen Platz für sie reserviert hatte.

»Du siehst großartig aus«, stellte Nell fest. »Die Liebe scheint dir zu bekommen.«

Rebecca lächelte. »Ja, wer hätte das gedacht, dass ich mich noch einmal auf so etwas einlasse! Es ist großartig, Nell, du solltest es auch mal wieder versuchen.«

Nell schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Im Moment habe ich alle Hände voll zu tun. Und dann ist da ja auch noch Ilka.«

»Na und? Sie wird immer selbstständiger, das erzählst du mir doch dauernd. Warte es nur ab! Die paar Jahre, bis sie aus dem Haus geht und dich gar nicht mehr braucht, vergehen schneller, als du denkst. Und dann sitzt du da, alt und vertrocknet und verbittert vor Einsamkeit. Dann will dich keiner mehr!«

Nell winkte lachend ab. »So ein Quatsch! Dann bin ich Anfang vierzig, da fängt das Leben erst an.« Doch als sie Rebecca so betrachtete, kamen ihr plötzlich Zweifel. Vielleicht hatte ihre Freundin ja recht? Vielleicht alterte und vertrocknete sie selbst schneller, als sie glaubte? Rebecca jedenfalls sah völlig verwandelt aus. Ihre Augen blitzten, ihr Haar glänzte, das Glück schien aus jeder ihrer Poren zu strahlen. Sie leuchtete. Auf einmal fühlte Nell sich matt und unscheinbar neben ihr.

»Erzähl mir von der Beerdigung«, sagte Rebecca jetzt. »Es tut mir so leid, dass ich nicht dabei sein konnte.«

»Das habe ich doch verstanden«, erwiderte Nell, die zuerst sehr traurig gewesen war, dass Rebecca ausgerechnet zu der Zeit an einer Fortbildung teilnahm, aus der sie nicht ausscheren konnte. Aber das Zusammentreffen mit Hilda hatte sie über Rebeccas Abwesenheit hinweggetröstet. Nun berichtete sie von dieser neuen Tante, von deren Existenz sie früher wohl einmal gehört hatte, die ihr aber bisher unbekannt gewesen war. »Das ist so schade, Becca! Wenn ich als Kind oder als junges Mädchen zu ihr Kontakt gehabt hätte, hätte mir das sicher gutgetan. Sie ist so ganz anders als meine Mutter.«

»Wer weiß, vielleicht war es dann gerade gut, dass du sie nicht kanntest«, entgegnete Rebecca nachdenklich. »Dann wäre dir deine Mutter bloß noch schrecklicher vorgekommen. Wie geht es der jetzt überhaupt?«

»Ach, es geht. Soweit ich es beurteilen kann, ist sie ziemlich stabil. Sie trifft sich jedenfalls weiter mit ihren Kränzchendamen.« Nell verzog das Gesicht, dieses Wort war aber auch zu schrecklich. »Sie geht zu ihrer Gymnastikgruppe und das alles. Manchmal frage ich mich, ob sich ihr Leben nach dem Tod meines Vaters überhaupt geändert hat. Vielleicht merkt sie gar nicht, dass er nicht mehr da ist.«

»Das ist jetzt aber ein bisschen gemein, oder?«

»Ja, vielleicht«, räumte Nell ein, »aber weißt du, ich fand das immer so schlimm, wie die beiden gelebt haben, besonders in den letzten Jahren, da haben sie ja gar nichts mehr zusammen gemacht. Meine Mutter war ständig auf Achse, und mein Vater saß zu Hause und hat gelesen und ferngesehen. Das war so trostlos.«

»Vielleicht war ihm das ganz recht so? Er hätte ja auch etwas unternehmen können, wenn er gewollt hätte.«

Nell schüttelte bedrückt den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich glaube, zum Schluss hatte er zu nichts mehr Lust. Möglicherweise hatte er eine Art Altersdepression. Und meine Mutter hat ihm genügend Stoff hingestellt, damit er es aushalten konnte.«

»Vielleicht hat sie aber auch versucht, mit ihm zu reden, und kam nicht mehr an ihn heran?«

Nell sah ihre Freundin skeptisch an. »Vielleicht«, sagte sie dann, »aber ich glaube es eigentlich nicht. Sie haben ja auch früher nie viel miteinander geredet. Ich finde, sie haben eine ganz schön beschissene Ehe geführt, eigentlich war es eher so eine Art Zwangsgemeinschaft mit Freigang.«

Rebecca lachte kurz auf, wurde aber gleich wieder ernst. »Das ist ein Albtraum, so zu enden, findest du nicht? Dann ist es wirklich besser, allein zu bleiben.«

Nell nickte. »Aber es muss ja nicht so enden. Meine Eltern haben einfach nicht zueinandergepasst. Mein Vater wäre mit einer anderen Frau bestimmt glücklicher gewesen. Bei meiner Mutter bin ich mir da nicht so sicher, ich glaube, sie kann gar nicht glücklich sein. Sie ist nur zufrieden, wenn sie unzufrieden sein kann. Aber lassen wir das. Erzähl lieber, wie es dir geht. Schwebt ihr immer noch auf Wolke sieben?«

Rebecca strahlte. »O ja, Florian ist einfach großartig, so verständnisvoll, so interessiert … Wir gehen oft ins Theater und in Ausstellungen, da haben wir fast immer den gleichen Geschmack. Und wenn nicht, können wir uns wunderbar streiten. Und stell dir vor, er liest sogar Romane!«

»Na, siehst du«, sagte Nell, »dann werdet ihr sicher nie so enden wie meine Eltern.«

Kapitel 4

In Stade lief es nicht nur gut, es lief fantastisch. Der Firmensitz von Julica-Moden befand sich in einem Industriegebiet am Stadtrand. Offensichtlich war die Fabrik erst vor Kurzem erbaut worden, denn die Anlage wirkte so steril wie eine Computeranimation.

Innen jedoch war es hell und freundlich, an den weißen Wänden hingen große, farbige Fotos von Julica-Modellen.

Der Geschäftsführer, Herr Ullrich, und die Chefin der Marketingabteilung, Frau Lamprecht, empfingen Nell in einem Besprechungsraum mit Blick auf mickrige, frisch angepflanzte Bäume auf einer akkurat geschorenen Rasenfläche. Sie nahmen an einem ovalen Tisch auf den Tulip-Stühlen des Designers Eero Saarinen Platz, die Nell schon seit ihrem Studium faszinierten. Auf der weißen Marmorplatte stand ein weißes Notebook, eine Wand, an der keine Bilder hingen, war als Projektionsfläche vorgesehen.

Das entsprach Nells Erwartungen, und sie hatte die Mappe mit den Ausdrucken ihrer Präsentation, die sie natürlich vorsichtshalber erstellt hatte, gleich im Auto gelassen. Nun zog sie den Speicherstick hervor und legte ihn auf den Tisch. Zum Glück war er auch weiß.

Der Small Talk der Eröffnungsphase gestaltete sich sehr entspannt. Nell und Herr Ullrich entdeckten ihre gemeinsame Liebe für Magritte, sie hatten beide die große Ausstellung in Frankfurt gesehen. Mit Frau Lamprecht kam Nell natürlich sofort über die Julica-Kollektion ins Gespräch. Sie erzählte von ihrer Tante, die die Mode so gern trug, und so gelangten sie zwanglos zu Nells Vorschlägen für die Neugestaltung der Kataloge und der Website. Sowohl Frau Lamprecht als auch Herr Ullrich waren von der Idee, mit Models aller Altersstufen zu arbeiten, begeistert, und sie lobten Nells Ideen in den höchsten Tönen. Und Nell sonnte sich in ihrer Anerkennung. Sie war sich sicher – den Auftrag hatte sie!

»Ich denke, Sie sollten gleich heute noch Frau Sommer kennenlernen«, sagte Herr Ullrich nach zwei intensiven Stunden. »Sie zieht sich zwar langsam aus der Firmenleitung zurück, aber das letzte Wort hat sie immer noch. Zufällig ist sie heute im Hause, also ist dies die ideale Gelegenheit. Natürlich wird sie keine Einwände haben, wenn Frau Lamprecht und ich uns einig sind, aber ich bin sicher, sie würde Sie gern kennenlernen.«

Nell nickte erfreut. Auf Julica Sommer war sie sehr gespannt. Natürlich hatte sie sie gegoogelt, doch Bilder von ihr schien es einfach nicht zu geben. Auch keinen Lebenslauf – nichts. Sie hatte auf der Website der Firma nur den knappen Hinweis entdeckt, dass Frau Sommer den Betrieb in den Achtzigerjahren gegründet und aus kleinsten Anfängen in einer Mietwohnung zu einem florierenden Unternehmen entwickelt hatte.

Frau Lamprecht stand auf. »Ich hole sie eben«, sagte sie und verließ den Raum.

Nell und Herr Ullrich tauschten sich angeregt über die Hamburger Restaurantszene aus, als sich die Tür wieder öffnete. Herein trat eine Frau, bei deren Anblick Nell der Atem stockte. La Grande Dame, schoss es ihr durch den Kopf. Julica Sommer war nicht einmal besonders groß, doch sehr schlank, und ihre Haltung war absolut königlich. Stolz aufgerichtet stand sie da, in einem schwarzen Strickkleid, das an Einfachheit und Eleganz nicht zu überbieten war, das dicke, weiße Haar zu einem eleganten Chignon hochgesteckt, die grauen Augen sehr klar, sehr wach. Fasziniert starrte Nell die alte Dame an.

Diese starrte zurück – ein irritiertes Aufflackern in den Augen. Sekundenlang fixierte sie Nell mit einem entsetzten Blick, dann wandte sie sich wortlos um und verließ fluchtartig den Raum. Das hastige Klackern ihrer Stilettos, die sie trotz ihres Alters trug, verklang auf dem Flur. Frau Lamprecht warf Nell einen bestürzten Blick zu und lief ihrer Chefin hinterher.

Herr Ullrich hob verlegen die Hände. »Verzeihen Sie … Vielleicht ein kleiner Schwächeanfall, Frau Sommer hat manchmal Kreislaufprobleme.«

Und dann stakelt sie in dem Tempo den Flur entlang?, überlegte Nell irritiert. Das war doch sehr merkwürdig.

Herr Ullrich versuchte, die Situation zu retten. »Wir holen die Vorstellung nach. Darf ich Sie jetzt zu Ihrem Wagen begleiten?«

Nell, die jedes Mal, wenn einer ihrer Kunden ihr Auto sah, in Erklärungsnöte geriet, winkte ab. »Ich finde allein hinaus.«

Herr Ullrich brachte sie zur Tür. »Sie hören von uns, sehr bald«, sagte er warm und reichte ihr die Hand. »Und ich bin sicher, im Laufe unserer Zusammenarbeit finden wir die ein oder andere Gelegenheit zu einem ausgezeichneten Essen. Selbst Stade hat kulinarische Highlights zu bieten.«

Nell strahlte ihn an. »Ich freue mich drauf!«

Zu Hause angekommen, warf sie ihre Handtasche und die Mappe mit den Ausdrucken auf den riesigen Ohrensessel, den sie vor Jahren bei einem Trödler erstanden und neu hatte beziehen lassen. Leider aber war das gute Stück so unbequem, dass es nur einen Platz im Flur gefunden hatte und dort als Ablage, nicht als Sitzgelegenheit diente.

Auf der Kommode lag ein Zettel von Ilka. Kathy und sie seien zusammen bei ihrer Klassenkameradin Paula und spätestens um sieben wieder zurück. Jetzt war es halb fünf, also hatte Nell noch viel Zeit – vor allem um zu duschen, wonach sie sich schon während der anstrengenden Rückfahrt im Freitagnachmittagsverkehr gesehnt hatte.

Sie war gerade auf halbem Wege die Treppe hinauf, als das Telefon klingelte. Unwillig machte sie kehrt. Vermutlich war es ihre Mutter. Doch das Display zeigte eine unbekannte Handynummer.

»Lages?«, meldete sich Nell.

»Frau Lages, es tut mir leid, dass ich Sie jetzt noch störe, aber ich dachte, Sie sollten es gleich erfahren …«

Jetzt erkannte Nell die Stimme. »Herr Ullrich?«, fragte sie dennoch.

»Ach Gott, ja, entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht richtig gemeldet … Frau Lages … es tut mir so leid … ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen sagen soll …«, stammelte der Mann, der Nell vor wenigen Stunden noch so souverän und eloquent gegenübergesessen hatte.

»Herr Ullrich«, unterbrach sie ihn amüsiert, »sagen Sie es einfach. Haben wir in unserem Gespräch heute etwas vergessen? Muss finanziell noch etwas nachverhandelt werden?«

»Nein … nein, das ist es nicht. Frau Lages, es tut mir furchtbar leid, aber aus unserer Zusammenarbeit wird leider nichts.«

Nell ließ sich nun doch auf den Sessel sinken, der durch ihre Mappe nicht bequemer wurde. »Aber warum denn nicht?«

Herr Ullrich seufzte hörbar. »Ich wünschte, ich könnte es Ihnen erklären. Frau Lamprecht und ich fanden Ihre Präsentation ausgezeichnet, und wir waren, das heißt, wir sind beide der Meinung, dass wir sehr erfolgreich miteinander hätten arbeiten können. Sie haben genau das richtige Feeling für unsere Kollektion, und Ihre Vorschläge entsprachen absolut dem, was wir uns erhofft hatten.«

»Ja, aber warum dann …?«

»Frau Lages, ich weiß es nicht. Frau Sommer hat die Zusammenarbeit mit Ihnen kategorisch abgelehnt – leider. Ohne ihre Entscheidung uns gegenüber zu begründen.«

»Aber sie war bei der Präsentation doch gar nicht dabei!«

»Eben! Und wir sind auch nicht mehr dazu gekommen, ihr davon zu berichten, da hatte sie ihre Entscheidung schon getroffen.«

Nell zog Mappe und Handtasche hinter ihrem Rücken hervor und rutschte tiefer in den Sessel. »Dann kann es nur daran gelegen haben, dass ich ihr von Anfang an unsympathisch war. Ich fand ihr Verhalten ja auch … etwas sonderbar.«

Herr Ullrich stimmte ihr zu. »Ich verstehe es überhaupt nicht. Sie hätten großartig zu uns gepasst.«

»Nun«, sagte Nell, »da kann man nichts machen. Ich bedaure es sehr, ich hätte gern für Julica-Moden gearbeitet. Aber danke, dass Sie mich so schnell informiert haben, so weiß ich, dass ich keinen weiteren Gedanken an diesen Auftrag mehr verschwenden muss. Schade, ich hatte auf der Rückfahrt vorhin noch ein paar gute Ideen.«

»Und ich wäre so gern mit Ihnen essen gegangen«, sagte er bedauernd. »Aber das können wir ja vielleicht trotzdem einmal tun?«

Wozu?, fragte sich Nell. Sie war so maßlos enttäuscht, dass ihr plötzlich alles sinnlos erschien. »Wir können ja mal sehen«, sagte sie vage. »Ich danke Ihnen nochmals für den Anruf, machen Sie es gut.«

»Sie auch«, erwiderte er. Es klang ehrlich traurig, und das gab Nell den Rest. Sie drückte die Aus-Taste und legte das Telefon behutsam auf die Kommode. Dann erhob sie sich und stieg schwerfällig die Treppe hinauf.

Als sie wenig später unter der Dusche stand und das heiße Wasser auf sich herabprasseln ließ, wich die Enttäuschung wütender Empörung. Wie kam diese hochmütige, arrogante Grande Dame