DAS FLÜSTERN IM SPIEGEL - Bill Knox - E-Book

DAS FLÜSTERN IM SPIEGEL E-Book

Bill Knox

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Bei einem Überfall in Glasgow wird versehentlich ein Motorradfahrer erschossen. Superintendent Colin Thane interessiert sich bald mehr für das scheinbar unschuldige Opfer, als für den flüchtigen Täter, denn bei dem Erschossenen wird die Video-Raubkopie eines neuen Film-Kassenknüllers gefunden. Thane ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, zu welchen Gewalttätigkeiten seine Ermittlungen führen werden und dass er selbst plötzlich mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird.   Der Roman DAS FLÜSTERN IM SPIEGEL von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1979) erschien erstmals im Jahr 1983; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte in Jahr 1985 (unter dem Titel Mit falschen Etiketten). Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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BILL KNOX

 

 

Das Flüstern im Spiegel

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 241

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS FLÜSTERN IM SPIEGEL 

Vorspiel 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Bei einem Überfall in Glasgow wird versehentlich ein Motorradfahrer erschossen. Superintendent Colin Thane interessiert sich bald mehr für das scheinbar unschuldige Opfer, als für den flüchtigen Täter, denn bei dem Erschossenen wird die Video-Raubkopie eines neuen Film-Kassenknüllers gefunden.

Thane ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, zu welchen Gewalttätigkeiten seine Ermittlungen führen werden und dass er selbst plötzlich mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird.

 

Der Roman Das Flüstern im Spiegel von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1979) erschien erstmals im Jahr 1983; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte in Jahr 1985 (unter dem Titel Mit falschen Etiketten).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  DAS FLÜSTERN IM SPIEGEL

 

 

 

 

 

 

  Vorspiel

 

 

Es gibt in der Stadt Glasgow mehr als eine Gegend wie Donaldhill. Es gibt, genaugenommen, in jeder größeren Stadt mehr als einen Stadtteil wie Donaldhill. Aber an diesem grauen, schottischen Septembermorgen sah Donaldhill besonders düster aus.

Donaldhill; das waren Straßen mit alten Mietskasernen, nur hier und da von modernen Hochhaus-Wohnblocks unterbrochen, wo die besseren Leute des Stadtviertels wohnten. Die wenigen Geschäfte schützten ihre Fenster mit Holzläden oder Jalousien aus Stahlblech, manche sowohl nachts als auch am Tage. Wenn man in Donaldhill lebte, nahm man Graffiti und eingeschlagene Fenster als Gegebenheiten hin und legte nach Einbruch der Dunkelheit das zusätzliche Sicherheitsschloss an der Haus- oder Wohnungstür vor. Wenn man in einem der alten Mietshäuser wohnte, schaute man neidisch auf die Hochhausblocks, weil die Mieter dort eigene Bäder hatten. Wenn man in einem der Hochhausblocks wohnte, blickte man hinunter auf die kleineren Mietskasernen und fragte sich, ob die Leute, die dort wohnten, etwas ahnten von der Feuchtigkeit in den Neubauten, die das Bettzeug schimmeln ließ, oder von den Vandalen, die in den Liftschächten Feuer legten.

Nur die wenigsten gaben zu, dass sie in Donaldhill lebten. Es war empfehlenswert, vor allem dann, wenn man sich um einen Job bemühte, eine andere Adresse anzugeben - ein Verwandter oder Freund konnte einem da von Nutzen sein.

Donaldhill war das Viertel mit der höchsten Prozentzahl von Einwohnern im Rentenalter. Und von den Rentnern einmal abgesehen, waren drei von fünf Erwachsenen arbeitslos, bezogen irgendwelche Sozialhilfen, hockten den größten Teil des Tages vor dem Fernsehapparat und klammerten sich an die vage Hoffnung, dass es eines Tages wieder besser werden würde.

Irgendwie.

Es war 8.45 Uhr, und die drei Männer in dem bunt bemalten Lieferwagen eines Blumengeschäftes wohnten nicht in Donaldhill. Der Lieferwagen war in der vergangenen Nacht gestohlen worden, auf der anderen Seite der Stadt. Zwei der Männer saßen versteckt auf der Ladefläche, wobei einer von ihnen eine abgesägte, doppelläufige Flinte auf seinem Schoß hielt. Er summte nervös vor sich hin; der andere, der weitaus entspannter wirkte, schniefte ständig und fand sich nach einer Weile damit ab, dass er wohl mit einer Erkältung rechnen musste. Der dritte, der älteste der drei Männer, hatte es sich, deutlich von außen sichtbar, auf dem Fahrersitz bequem gemacht. Jeder Passant, der vorüberkam, konnte erkennen, dass er eine Zeitung las - die Sportseiten.

Der Lieferwagen parkte genau gegenüber dem Postamt von Donaldhill, einem niedrigen Gebäude in einer Reihe gleichaussehender Häuser mit kleinen Geschäften. Das Postamt öffnete erst um neun, dennoch wartete bereits eine Schar von Leuten vor der Tür. Sie standen geduldig dort; der kühle Wind war ihnen so gleichgültig wie die Pfützen auf dem Gehsteig, die der Regen der vergangenen Nacht zurückgelassen hatte.

Es war Dienstag - der Tag, an dem sie ihre Renten abholen konnten oder den wöchentlichen Scheck von der Sozialhilfe.

Im Inneren des Postamts regten sich erste Anzeichen von Geschäftigkeit, dann wurde die Metalljalousie vor dem Eingang hochgezogen. Eine Schalterbeamtin trat vor das Gebäude, blickte sich um, ignorierte die sich rasch formierende Schlange der Wartenden und ging dann wieder hinein. Die Glastür fiel ins Schloss. Die Wartenden traten unruhig von einem Bein aufs andere und murrten leise, dann kehrte wieder Ruhe ein. Weitere Leute kamen dazu, darunter ein junges, schwangeres Mädchen, das einen Kinderwagen vor sich her schob. Der Mann, der vor ihr eingetroffen war, führte einen Hund an der Leine, eine abenteuerliche Promenadenmischung. Das Mädchen redete lockend auf den Hund ein, und das Tier wedelte freundlich mit dem Schwanz, wich zugleich aber zurück: die typische Verhaltensweise der Hunde von Donaldhill.

Fünf Minuten später näherte sich ein kleiner roter Wagen mit der Aufschrift Royal Mail an beiden Seitentüren und hielt vor dem Postamt. Der Postwagen war mit zwei uniformierten Beamten besetzt. Der Mann, der auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, stieg aus, ging auf die Tür des Postamts zu und klopfte an. Die Schalterbeamtin tauchte hinter der Glasscheibe auf; sie lächelte grüßend und nickte dann.

Der Postbeamte drehte sich um. Er war alt und erfahren genug, um vorsichtig und umsichtig zu sein. Jetzt warf er einen prüfenden Blick auf die Schlange der Wartenden, und dabei fiel ihm der Lieferwagen des Blumengeschäfts auf. Der Mann hinter dem Lenkrad las noch immer in seiner Zeitung. Gleich darauf schien der Postbeamte zu erstarren, als ein gelbes Ford-Coupé hinter dem Postwagen hielt. Ein Mann sprang heraus, lief in eines der Geschäfte und kam bald darauf mit einem Milchkarton wieder heraus.

Der Postbeamte entspannte sich wieder, wartete aber, bis das Ford-Coupé davongefahren war. Dann ging er auf den Postwagen zu und nickte. Der Fahrer stieg aus, öffnete die Seitentür, und jeder der beiden Postbeamten nahm einen Leinensack aus dem Fahrzeug, dann näherten sie sich dem Eingang des Postamts.

In diesem Augenblick flogen die hinteren Türen des Blumenlieferwagens auf. Zwei Gestalten, in unscheinbare blaue Overalls gekleidet, sprangen heraus und hasteten über die Straße. Der eine hatte die abgesägte Flinte unter dem Arm, der andere war mit einem schweren Hammer bewaffnet. Beide hatten sich mit wollenen Masken vermummt, die jeweils nur die Augenschlitze freiließen.

Die beiden Postbeamten blieben wie erstarrt bewegungslos stehen. Hinter ihnen, in der Menschenschlange vor der Tür des Postamts, begann eine Frau laut zu schreien und ließ ihre Einkaufstüte fallen.

»Die Säcke loslassen, und dann zurück an die Wand!«, befahl der Maskierte mit der Flinte. »Und spielt hier nicht die Helden!«

Der ältere Postbeamte, dessen Gesicht jegliche Farbe verloren hatte, ließ den Leinensack, den er in der Hand gehalten hatte, los. Sein Fahrer zögerte, war unsicher, was er tun sollte, und der schwere Hammer sauste durch die Luft und zerschmetterte ihm die Schulter. Der Postbeamte schrie auf, taumelte, brach beinahe zusammen, dann ließ auch er den Leinensack zu Boden fallen.

Einen Augenblick lang richtete sich der abgesägte Doppellauf der Flinte auf die Wartenden. Aber niemand hatte sich zu bewegen gewagt, niemand sprach ein Wort. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, wurde der Motor des Lieferwagens des Blumengeschäfts angelassen. Die beiden maskierten Räuber packten jeder einen der Säcke und rannten zu dem wartenden Wagen.

Dabei übersahen sie den Motorradfahrer. Er war jung, trug einen weißen Sturzhelm, einen weißen Pullover, und die ausgewaschenen Jeans steckten in Cowboystiefeln. Er war einfach so dahingefahren und hatte seine Aufmerksamkeit nicht voll auf die Straße vor sich gerichtet. Das erste, was er jetzt sah, waren die beiden Männer direkt vor ihm.

Er bremste, so fest er konnte. Die Maschine schlitterte und drohte auszubrechen, aber es gelang ihm, sie zum Stehen zu bringen. Dann starrte er offenen Mundes die beiden Männer an und bildete mit seinem Motorrad eine unerwartete Barriere zwischen ihnen und ihrem Fluchtfahrzeug.

Abgefeuert aus einer Entfernung von weniger als drei Metern, rissen ihn die Geschosse aus den beiden Läufen der Flinte aus dem Sattel, so dass er, Arme und Beine in die Luft werfend, auf die Straße stürzte. Das Motorrad fiel krachend neben ihn.

Die beiden Banditen hasteten an ihm vorbei und sprangen auf die Ladefläche des Lieferwagens. Der Wagen fuhr aufheulend an, noch bevor die hinteren Türen geschlossen waren und durch den Ruck hin und her schwangen.

Sekunden danach verschwand der Lieferwagen des Blumengeschäftes um die nächste Ecke.

Der Fahrer des Postautos lag auf den Knien, stöhnte und hielt sich die verletzte Schulter. Vom Postamt aus verfolgte die Schalterbeamtin gebannt die Szene und drückte dabei das Gesicht gegen die Glasscheibe. Die Leute in der Schlange standen da wie angewurzelt, gelähmt durch das Erlebnis dieser unerwarteten Gewalttat.

Der unverletzt gebliebene Postbeamte fing sich als erster wieder und lief zu dem auf der Straße liegenden Motorradfahrer hin. Er sah, was die doppelläufige Flinte angerichtet hatte, drehte sich um, unterdrückte ein Würgen im Hals, schloss die Augen, als wolle er den furchtbaren Anblick aus seinem Gedächtnis löschen.

»Ha!«, sagte eine Stimme neben ihm. »Alles in Ordnung, Mann?«

Dem Postbeamten gelang es zu nicken. Der alte Mann, der neben ihn getreten war, hatte weißes Haar, war klein und schmächtig von Gestalt, aber völlig ruhig. Der Postbeamte erinnerte sich daran, ihn zuvor unter den Wartenden gesehen zu haben.

»Ja, ja.« Der Alte schnalzte mit der Zunge und wies dann auf den toten Motorradfahrer. »Scheußlich, was? Aber ich hab’ noch viel Schlimmeres gesehen - bei der Armee. Erster Weltkrieg, das war wirklicher Krieg.« Er zögerte. »Die Säcke, die sie geraubt haben - war das das Geld für die Rentenauszahlung?«

»Ja«, antwortete der Postbeamte.

Jetzt vernahm er eine Polizeisirene, noch leise und weit entfernt. Die Tür des Postamts war geöffnet worden, und ein paar der Wartenden bemühten sich um seinen verletzten Kollegen.

»Wir brauchen Augenzeugen«, sagte er tonlos. »Sie haben doch alles genau gesehen, nicht wahr, Opa?«

»Ich?« Der alte Mann schüttelte den Kopf und setzte das Mienenspiel verfolgter Unschuld auf. »In meinem Alter lassen die Augen nach - tut mir leid.«

»Ich hab’ alles gesehen«, meldete sich eine andere, entschlossen klingende Stimme.

Sie gehörte dem schwangeren Mädchen mit dem Kinderwagen. Die junge Frau zitterte, und ihr Gesicht war kalkweiß, aber sie nickte, als der Postbeamte sie ansah. Sie seufzte, und dann hörte man, wie sich die Polizeisirene näherte. Die Frau war noch sehr jung. Der Postbeamte musste an seine eigene Tochter denken.

»Nein, haben Sie nicht«, erwiderte er mürrisch.

»Aber...«

»Seien Sie vernünftig, junge Frau.« Er lächelte bitter und warf einen Blick auf ihren gewölbten Leib. »Danke. Aber ich an Ihrer Stelle würde mich verdrücken. Wir finden schon noch Augenzeugen.«

Er hoffte bei Gott, dass er mit dieser Behauptung recht behielt. Die Menge der Neugierigen wuchs noch an, war begierig zu beobachten, was noch geschehen würde. Aber wer von ihnen hatte vorhin in der Schlange gewartet, und wer würde es zugeben? Vielleicht änderte die Tatsache, dass ein Mord geschehen war, einiges daran, aber in Donaldhill galt normalerweise der Grundsatz, dass man sich in nichts einmischte, was einen nichts anging.

Die junge Frau schien dem Postbeamten widersprechen zu wollen. Dann biss sie sich auf die Lippe, seufzte, nickte und schob mit ihrem Kinderwagen davon.

»He.« Das war wieder der Alte.

»Was wollen Sie denn schon wieder?«, fragte der Postbeamte ungehalten.

»Wieviel haben die denn erwischt?«

»Ungefähr siebzigtausend Pfund.«

»Jesus!« Der Alte ließ wieder dieses Schmalzen hören, diesmal klang es fast bewundernd. Dann zog er die Stirn in Falten. »Und was ist mit meinem Geld?«

»Es kommt vermutlich ein zweiter Geldtransport«, sagte der Postbeamte barsch, als sei seine Geduld erschöpft. »Bald.«

Er schaute wieder auf das umgestürzte Motorrad und auf den toten jungen Mann mit den Cowboystiefeln. Sein Gesicht war so zerfetzt, dass man es kaum identifizieren konnte. Plötzlich überfiel den Postbeamten ein Gefühl völliger Hilflosigkeit, und er hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

»He«, sagte der Alte ungeduldig und zupfte ihn am Arm. »Wegen dem Geld. Was verstehen Sie unter bald?«

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Superintendent, wir haben über die Rechte des Bürgers gesprochen, wenn dieser mit der Polizei zu tun hat.« Debby Kinster, eine Fernsehreporterin, der es auf geheimnisvolle Weise gelang, immer noch unschuldig und frisch auszusehen wie das sprichwörtliche Mädchen von nebenan, beugte sich im Licht der Studioscheinwerfer ein wenig nach vom. »Glauben Sie, der Durchschnittsbürger ist ausreichend über diese Rechte informiert?«

»Der Durchschnittskriminelle auf jeden Fall.« Detective Superintendent Colin Thane, der stellvertretende Leiter der Scottish Crime Squad, einer Sondereinheit zur Verbrechensaufklärung, rutschte etwas unbehaglich auf dem Sessel hin und her und versuchte, die Fernsehkamera zu ignorieren, die kaum einen Meter von ihm entfernt stand. »Er kann sie sogar auswendig hersagen.« Debby Kinster legte zweifelnd ihre Stirn in Falten, etwas, das sie sich im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeit zu eigen gemacht hatte und zu ihr gehörte wie ihre skeptischen Fragen.

»Jeder hat seine Rechte, Superintendent. Oder sieht das die Polizei manchmal etwas anders?«

»Jeder hat seine Rechte«, wiederholte Thane etwas ungehalten. »Und zwar ohne jede Ausnahme.«

Er schätzte, dass von der vereinbarten Interviewzeit höchstens noch eine Minute zur Verfügung stehen konnte. Bis jetzt war es nicht schlecht gelaufen. Sie hatten allgemein über die Polizei und über ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit gesprochen, aber Thane hatte sich dabei nicht angegriffen gefühlt. Jedenfalls nicht in dem Maße, wie man es ihm vorhergesagt hatte.

»Die Polizei in diesem Land kann zum Beispiel niemanden länger als sechs Stunden festhalten, ohne ihn dem Haftrichter vorzuführen oder ihn formell eines Verbrechens zu beschuldigen«, sagte Debby Kinster milde. »So lautet das Gesetz, Superintendent.« Sie lächelte und ließ ihre vollkommenen weißen Zähne blitzen, bleckte sie beinahe so, als habe sie es damit auf Thanes Kehle abgesehen. »Und wie war das in der vergangenen Woche, als Sie einen Mann vierzehn Stunden lang festgehalten haben, ohne dass ihm irgendeine Straftat vorgeworfen werden konnte?«

Thane starrte sie entgeistert an. Sie hatte ihn in eine Falle gelockt, ihn durch harmlose Fragen eingelullt und ihn so für den Todesstoß vorbereitet. Das Schlimmste daran: Es war wirklich so gewesen, er konnte es nicht einmal leugnen.

»Nun, Superintendent?« Sie wartete.

»Es ist nun mal passiert«, räumte Thane ein, in die Defensive gedrängt. Er warf einen kurzen Blick hinunter auf das kleine Mikrofon, das an seiner Krawatte befestigt war, und kam zu der Erkenntnis, dass er mit Vergnügen imstande gewesen wäre, Debby Kinster den Kragen umzudrehen. »Das war aber nicht Absicht.«

Es war nicht einmal seine Schuld gewesen, aber er war der Leiter der Operation. Eine Operation, die fast zwei Monate gedauert hatte und mit zehn Festnahmen erfolgreich zu Ende gegangen war. Man hatte eine ganze Serie von Einbrüchen und Überfällen auf Juweliergeschäfte aufgeklärt und einen wahren Berg von gestohlenem Schmuck wieder beigebracht.

»Warum wurde der Mann festgehalten, wenn nicht absichtlich?« forschte Debby Kinster nach.

Thane betrachtete sich selbst auf dem Studio-Monitor und fühlte sich noch miserabler als zuvor.

»Ein - äh - ein administratives Versagen«, erwiderte er schwach. »Niemand ist perfekt.«

»Nicht einmal die Polizei?«, fragte sie mit schneidendem, ungerührtem Sarkasmus.

In jener Nacht war beinahe alles drunter und drüber gegangen. Ein paar Mitglieder der Bande sangen, andere leugneten alles ab. Die Liste der Anklagen las sich wie ein Buch; verschiedene Leute versuchten, von der Polizei Erklärungen zu erhalten; der gefundene Schmuck musste gesichtet werden, und die Frau von einem der Festgenommenen erschien plötzlich auf der Szene - niemand konnte genau sagen, wie ihr das gelungen war - und fiel in völlige Hysterie.

Erst als alles schon so gut wie vorüber war, erinnerte man sich an Midge Reilly. Ein Mann in mittleren Jahren, gutmütig, kein geborener Verbrecher, der nur bei zwei Überfällen Schmiere gestanden hatte und im schlimmsten Fall bezahlter Helfer gewesen war.

Midge, um den sich niemand gekümmert hatte! Man hatte ihn schließlich gefunden, schlafend in seiner Zelle.

»Sie hätten Anklage erheben können gegen ihn, wenn es nicht dieses - wie sagten Sie? - dieses administrative Versagen gegeben hätte?«

»Ja.«

»Und deshalb wurde er dann entlassen?«

»Das ist richtig.«

Aber damit war die Sache noch nicht bereinigt gewesen. Fünf Minuten, nachdem man ihn freigelassen hatte, war Midge Reilly wieder im Revier aufgetaucht und hatte gesagt, er sei bereit aufzugeben und bekenne sich schuldig. Andernfalls könnten zu viele seiner Freunde auf die Idee kommen, er habe der Polizei ein paar Tips gegeben, und sein Leben würde keinen Pfifferling mehr wert sein.

Also sperrte man ihn wieder ein. Und anschließend wurden einige der zuständigen Polizeibeamten in die Mangel genommen.

»Wollen Sie noch einen abschließenden Kommentar dazu geben, Superintendent?«, fragte Debby Kinster steif. Und nahezu übergangslos begann sie in die Kamera zu lächeln. »Schnitt - er hat genug gelitten.«

Immer noch lächelnd kam sie zu ihm herüber und half ihm, das Mikrofon abzunehmen. Thane stand auf, schüttelte verständnislos den Kopf und atmete dann tief durch.

»Wer, zum Teufel, hat Ihnen das verraten?«, fuhr er Debby Kinster an.

»Wenn ich Ihnen das sage, stecke ich wirklich im Schlamassel.« Ihre blauen Augen blitzten. »Aber mir hat die Story gefallen, von Anfang an.«

Die Studiotür wurde aufgerissen. Der Schulungsleiter des Scottish Police College, der eintrat, schaute Thane an und begann dann schallend zu lachen. »Sie kommen mir vor wie ein ausgezählter Boxer«, erklärte er vergnügt. »Colin, diese Aufzeichnung kann das Image der Polizei um fünf Jahre zurückwerfen. Warten Sie, bis Sie das Playback sehen.«

Aber wenigstens war das Ganze nicht echt gewesen, sondern eine Übung im streng begrenzten Kreis der Polizeiakademie, die gerade eintägige Seminare für die leitenden Beamten einer jeden schottischen Polizeieinheit abhielt.

Thanes Gruppe, insgesamt ein Dutzend Männer, hatte den ganzen Vormittag Vorlesungen über die Notwendigkeit besserer Beziehungen zwischen der Polizei und den Medien über sich ergehen lassen - und über die Gefahren, die darin lagen, wenn solche Beziehungen zu eng wurden. Die Interviews begannen nach dem Lunch, wobei jeweils immer nur eine Person aus der Gruppe ausgewählt wurde, während den übrigen geheimgehalten wurde, was vor sich ging.

Aber die Lehrkräfte der Akademie hatten das Experiment nicht wegen der darauffolgenden Erleichterung und allgemeinen Heiterkeit organisiert. Man hatte bekannte Profis aus der Fernsehwelt eingeladen und warf ihnen die Polizeibeamten wie zum Fraß für die Interviews vor, wobei man die Fernsehleute ermuntert hatte, jeden Trick anzuwenden, und sei er noch so gemein und hinterhältig.

Die Lektion, die ihnen erteilt werden sollte, war nicht schwer zu begreifen. Das nächste Mal konnten die Fernsehkameras echt sein. Das nächste Mal war sich der Interviewte darüber im Klaren, was passieren konnte, und würde sich jedes Wort noch genauer überlegen. Das hieß freilich nicht, dass er in der entgegengesetzten Richtung übertreiben durfte.

»Fertig für die nächsten?«, fragte der Schulungsleiter und wandte sich dann wieder an Thane. »Colin, Sie müssen sich bei Ihrem Boss melden. Benutzen Sie mein Büro, wenn Sie wollen. Er hat vor ein paar Minuten hier angerufen, aber ich sagte ihm, Sie seien gerade beschäftigt.«

»Das wird ihm Freude gemacht haben«, erwiderte Thane trocken. Dann warf er dem Mädchen ein schiefes Lächeln zu. »Danke. Und wie ist es, wenn Sie mit harten Bandagen arbeiten?«

»Sie haben sich gar nicht schlecht gehalten.« Debby Kinster blinzelte ihn an, dann fuhr sie fort, die Informationen auf ihrem Notizblock zu studieren.

Thane verließ das Studio. Die Frau, die nach ihm hineingebeten wurde, das nächste Opfer also, arbeitete als Chefinspektor in Glasgow.

»Wie war’s?«, murmelte sie.

»Ein Kinderspiel«, log Thane.

Genau das hatte man ihm auch gesagt.

Das Büro des Schulungsleiters befand sich auf derselben Etage, nicht weit vom Studio entfernt. Eine breite Fensterfront ließ den Blick frei auf gepflegte Rasenflächen, sauber gestutzte Büsche und die dahinterliegende Parklandschaft und die sanften Hügel in der Ferne.

Colin Thane schloss die Tür hinter sich, hockte sich auf die Schreibtischkante, nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der Crime Squad in Glasgow.

Er war ein großer, grauäugiger Mann Anfang Vierzig. Heute trug er einen leichten, grauen Tweedanzug mit weißem Hemd und schlichter brauner Strickkrawatte; sein dichtes dunkles Haar hätte gelegentlich wieder einen Schnitt vertragen können, und seine Waage zu Hause sagte ihm allmorgendlich, dass er ein paar Pfund zu viel mit sich herumtrug. Aber noch war der durchtrainierte Körper eines Athleten unverkennbar, denn er hatte als durchaus aussichtsreicher Kämpfer an den alljährlichen Boxmeisterschaften der Polizei teilgenommen. Er hatte den Leistungssport erst aufgegeben, als er es leid geworden war, doch jeweils in den Semifinalrunden k. o. geschlagen zu werden.

Im Augenblick war er ein wenig verwirrt. Während er darauf wartete, dass am anderen Ende der Leitung jemand den Hörer abnahm, musste er daran denken, dass er zu diesem Eintages-Seminar geschickt worden war, ohne ihm eine Wahl gelassen zu haben. Jack Hart, der Leiter der Crime Squad, hatte entschieden, dass jemand teilnehmen müsse, und erklärt, Thane habe nichts auf der Pfanne, das nicht noch einen Tag länger vor sich hin schmoren könne.

Was hatte sich daran inzwischen geändert?

Er hörte ein Knacken in der Leitung, bevor sich der Mann in der Zentrale meldete, bat um Harts Nebenstelle und wurde sofort mit ihm verbunden.

»Freut mich sehr, dass Sie doch noch zurückrufen«, sagte Hart sarkastisch. »Ich bin wirklich sehr froh.«

Thane zuckte zusammen. Hart war normalerweise ein ruhiger, auf seine stille Art ein angenehmer und tüchtiger Mensch, den man nicht so leicht aus der Fassung bringen konnte. Er war ein guter Polizei- und Kriminalbeamter gewesen; jetzt war er ein noch besserer Abteilungsleiter und Chef. Wenn seine Stimme nervös klang, musste etwas Entscheidendes schiefgelaufen sein.

»Probleme?«, fragte Thane.

»Ja. Man bedrängt mich - und zwar hochnotpeinlich.« Für Hart ein ungewöhnliches Eingeständnis. »Man hat uns auf dem falschen Fuß und in einer verwundbaren Situation erwischt. Es trifft uns direkt.«

Thane zog die Stirn in Falten, er wusste, dass das großen Arger bedeutete. So, wie die Crime Squad im Allgemeinen funktionierte, würde die Nachrichtenabteilung zunächst einmal in aller Stille Einzelheiten über bestimmte Kriminelle oder Vorfälle sammeln. Dann, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein schien, würde Jack Hart einen gezielten Einsatz vorbereiten. Thane konnte sich allerdings nicht vorstellen, welche der anstehenden Angelegenheiten so schnell brisant hatte werden können.

»Also, ich brauche Sie hier.« Hart war offenbar froh darüber, dass Colin Thane schwieg. »Sie übernehmen die Sache mit Ihrem üblichen Team und erhalten jede Unterstützung, die Sie dabei brauchen. Im Augenblick sitzt jemand vom Crown Office hier bei mir.«

Thane pfiff leise durch die Zähne. Wenn das Crown Office sich einschaltete, das aus Spitzenbeamten bestand, denen alle Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung standen, dann lag etwas Besonderes in der Luft. Selbst Jack Hart, der immerhin den Rang eines Detective Chief Superintendent bekleidete, musste die Anordnungen des Crown Office befolgen.

»Wann soll ich bei Ihnen sein?«, fragte Thane.

»Sofort.« Hart brach ab und fluchte. Thane hörte aufgeregtes Stimmengemurmel, dann meldete sich Hart wieder. »Ich habe noch einen Anruf hier; warten Sie einen Augenblick.«

Thane wartete. Draußen vor dem Fenster stolzierte ein Pfau an einem Beet mit Buschrosen entlang. Ein paar Gärtner arbeiteten in der Nähe der ehemaligen Stallungen.

Es gab sicher nicht viele Abteilungen, die ein Schloss als Trainingszentrum für die Polizei benutzten. Doch Tulliallan Castle, ein schlossartiger Gebäudekomplex von viktorianischer Großzügigkeit und in die Vergangenheit zurückreichender Geschichte, war mit Bedacht für diesen Zweck ausgewählt worden. Er lag inmitten eines weitläufigen Geländes in der Stille der ländlichen Grafschaft Clackmannan. Von Glasgow und Edinburgh aus war es in einer Stunde zu erreichen, seine Lage war auch für die übrigen schottischen Einheiten nicht ungünstig, und obendrein bot es genügend Platz für eventuell notwendige Erweiterungen jeglicher Art.

Tulliallan Castle mit seinen Türmchen und vorgetäuschten Schießscharten, den eleganten Wohnräumen und den gediegenen Holztäfelungen, hatte schon erste Anzeichen drohenden Verfalls gezeigt, als es von den neuen Besitzern übernommen wurde. Man hatte einen Trakt mit Schlafsälen angebaut, eine Turnhalle, einen Swimming-Pool und weitere erforderliche Einrichtungen hinzugefügt. Aus der riesigen Eingangshalle hatte man Gobelins und Gemälde entfernt; stattdessen hatte man hier jetzt Ausstellungen von Schlagstöcken, alten Polizeisäbeln sowie Vitrinen mit Polizeiplaketten aus aller Welt eingerichtet.

Thane wartete noch immer; er konnte das Stimmengemurmel am anderen Ende der Leitung hören, aber nur undeutlich. Er atmete tief und gleichmäßig und versuchte, ruhig zu bleiben.

Der Pfau stolzierte unter dem Fenster vorbei. Thane musste bei seinem Anblick ein wenig lächeln.

Die früheren Besitzer wären vermutlich alles andere als glücklich gewesen über die uniformierten Einheiten, die jetzt durch die Korridore trampelten, von einer Vorlesung zur nächsten hastend. Sie behandelten so verschiedene Themen wie das Verhör von Opfern von Vergewaltigungen und die Probleme mit jugendlichen Gesetzesbrechern. Sie wären entsetzt gewesen über die Anlage einer Übungsstrecke für Verfolgungsfahrten neben der Hauptzufahrt - aber an der Pflege des Gartens hätten auch sie vermutlich nichts zu bemängeln gehabt.

Die Gärtner wurden täglich mit dem Bus hergefahren, ausgewählte Insassen aus einem der Gefängnisse Ihrer Majestät. Immerhin: Bis jetzt war noch keiner von den Pfauen, die zum Schlosspark gehörten, auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

»Tut mir leid«, sagte Jack Hart unvermittelt und sprach nun wieder mit Thane. »Aber es war sehr wichtig. Ein wichtiger Mann trifft mit dem nächsten Zubringerflug aus London am Flughafen ein - wir holen ihn ab.« Er brummte. »Der Mann ist das, was man einen interessierten Teilhaber nennen könnte. Aber er ist obendrein ein Experte - wir brauchen ihn.«

»Wozu?«, fragte Thane. »Hören Sie, ich...«

»Sie wollen wissen, worum es, verdammt noch mal, eigentlich geht«, sagte Hart trocken. »Also gut: Es begann heute Morgen mit einem bewaffneten Raubüberfall in Donaldhill. Ein zufällig vorbeikommender Motorradfahrer ist mitten in die Schusslinie geraten...« Er brach ab, machte eine kleine Pause und fuhr dann mit beinahe tonloser, leidenschaftsloser Stimme fort: »Einer von den Räubern hat verrückt gespielt, seine abgesägte Flinte durchgezogen und unseren Motorradfahrer abgeknallt.«

»Ganz schön brutal«, warf Thane ein. Aber er wunderte sich noch immer. Bewaffnete Raubüberfälle waren normalerweise nicht das, womit sich die Crime Squad befasste. Bei ihren Fällen ging es meist um wesentlich größere Fische. Er zog die Stirn in Falten. »Sie sagten, unser Motorradfahrer.«

»Stimmt«, erwiderte Hart. »Die Räuber können Sie vergessen. Die hatten wir schon nach dem Lunch hinter Gittern.«

»Also habe ich einen Toten als Ermittlungsziel?«, fragte Thane ungläubig.

»Als Aufhänger«, korrigierte Hart. Er lachte rau. »Mal was anderes. Sind Sie bereit für die Einzelheiten?«

»Ja.« Thane langte nach einem Schreibblock und Kugelschreiber, die auf dem Schreibtisch des Schulungsleiters lagen.

»Sein Name ist Edward Douglas. Er war ledig, ein arbeitsloser junger Mann mit abgeschlossener Ausbildung, Anfang zwanzig, wohnhaft in der Baron Avenue sechsundfünfzig. Das ist nördlich vom Fluss, das Millside-Revier - Ihre alte Gegend.«

»Weißwein, Salzletten beim Fernsehen und Partys, die die ganze Nacht dauerten - ja, das war es damals.« Thane schrieb schnell und riss dann das oberste Blatt vom Block, schaute auf seine Armbanduhr und dachte an die Fünfunddreißig-Meilen-Fahrt zurück in die Stadt. »Ich kann gegen vier Uhr dort sein.«

»Versuchen Sie es«, sagte Hart knapp. »Jetzt kommt die Sache, um die es geht. Haben Sie schon mal vom Baum zum Hängen gehört?«

Thane zögerte. »Ist das dieses Hollywood-Ding?«

»Dieses Ding ist ein verdammt großer, verdammt teurer amerikanischer Superknüller, ein richtiger Erfolgsfilm«, zischte Hart und gab damit seine Gefühle preis. »Läuft noch in den amerikanischen Erstaufführungskinos, gewinnt haufenweise Preise und Auszeichnungen, sogar Oscars. Eigentlich sollte er noch gar nicht in Europa sein. Aber Freund Douglas hatte drei Videokopien von Der Baum zum Hängen in seiner Satteltasche - natürlich Raubkopien. Es ist das erste Mal, dass sie irgendwo auftauchten.«

Allmählich bekam die Sache einen Sinn für Thane. Seit Wochen hatte sich die Nachrichtenabteilung auf Harts Befehl mit Raubkopien von Videobändern und mit denen befasst, die sie verbreiteten.

»Wir haben also offenbar einen Kurier der vordersten Front erwischt«, fuhr Hart in bitterem Ton fort. »Der Baum zum Hängen wurde von den Amerikanern wie unsere Kronjuwelen gehütet, und jetzt bricht natürlich die Hölle los - auf allen Ebenen. Interpol hat sich bereits eingeschaltet, und ich habe sogar schon vom Außenministerium die schlimmsten Drohungen vernommen.«

»Und wir haben nichts weiter als diesen Douglas?«

»Douglas und den Baum zum Hängen«, bestätigte Hart. »Den Medien ist bisher seine Identität noch nicht bekanntgegeben worden, aber ich fürchte, wir können die Presse und das Fernsehen nicht mehr lange hinhalten.« Er stieß ein knurrendes Geräusch aus, das übers Telefon seltsam rau klang. »Colin, ich weiß nicht, ob Sie so etwas nötig haben, aber lassen Sie sich das trotzdem eine Warnung von mir sein. Auf der untersten Ebene sind die Herstellung und der Vertrieb von Raubkopie-Videobändern ungefähr so kriminell wie falsches Parken - nur wesentlich unterhaltsamer. Doch oben an der Spitze, da ist das organisierte Verbrechen, so schmutzig und gemein, wie man es sich nur denken kann.«

Darin lag eine gewisse Ironie. Thane wusste, dass Jack Hart ein, wie er selbst oft von sich gesagt hatte, ausgesprochener Video-Narr war, wie übrigens viele Beamte der Polizei, wegen ihrer ungewöhnlichen Arbeitszeiten. Ihm war aber auch klar, dass Hart recht hatte. Thane hatte einiges Material aus den Akten des Nachrichtendienstes der Polizei eingesehen - zum Beispiel, wie in ziemlich kurzer Zeit das illegale Geschäft mit Raubkopien aus dem Nichts entstanden und inzwischen zu einer der gewinnträchtigsten Branchen geworden war - ein Geschäft, das den Drahtziehern ein Vermögen einbrachte.

»Wussten denn die Amerikaner, dass der Baum zum Hängen kopiert - ich meine gestohlen worden war?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte Hart müde. »Sie dachten, das Material sei rund um die Uhr geschützt.«

»Was ist dann mit diesem Douglas? Haben wir sonst noch irgendetwas über ihn?«

»Keine Spur von irgendwelchen Kontakten mit der Polizei, und bis jetzt auch noch nichts aus dem Computer«, antwortete Hart. »Ich schlage vor, Sie fangen da an, wo er gewohnt hat und versuchen dort alles herauszufinden, was Sie bekommen können - anschließend bitte ich Sie, um fünf Uhr zu einer Besprechung hier zu sein. Also, bis dann.«

Hart hatte aufgelegt. Thane seufzte, legte den Hörer auf die Gabel zurück, dann öffnete sich die Tür, und der Schulungsleiter kam herein.

»Wir sind fertig«, teilte er Thane kurz und bündig mit. »Es dauert nur noch ein paar Minuten, bis die Bänder zurückgespult sind, dann können wir mit der Playback-Sitzung anfangen.« Er nickte in Richtung auf das Telefon. »Sind Sie durchgekommen?«

Thane nickte. »Ich muss leider gleich weg.«

»Gleich?« Der Schulungsleiter setzte eine enttäuschte Miene auf. »Und was ist mit Ihrem Playback?«

»Mein Schaden«, entgegnete Thane hölzern. »Aber ich kann Ihnen sagen, was Sie damit anfangen können.«

»Sehr komisch«, erwiderte der Schulungsleiter unfreundlich. »Meinetwegen. Und weshalb diese plötzliche Abberufung?«

»Sie wissen ja, wie so etwas geht.« Thane grinste ihn an. »Mein Agent hatte eben ein besseres Angebot.«

»Was denn, zum Beispiel?«, knurrte der Schulungsleiter. »Ein Angebot, mit Dschingis Khan zu spielen? Sie beide wären ein reizendes Komiker-Paar.« Und nach einer Pause: »Viel Glück dabei - was es auch ist.«

Thane ließ ihn allein. Auf dem Weg nach draußen blieb er in einem der Korridore stehen, um eine Gruppe von Neuankömmlingen vorbeizulassen. Sie waren alle jung; ihre Uniformen sahen noch nagelneu aus, und ein schlanker, ehrgeizig wirkender Schulungs-Sergeant bellte ihnen beim Marschieren seine Befehle zu. Der junge Schulungs-Sergeant erkannte Thane; ihre Blicke begegneten sich, und der junge Mann blinzelte Thane kurz zu, was mehr sagte als alle Worte.

Die Gruppe verschwand. Thane ging weiter, ließ die Ausstellung von Schlagstöcken in der großen Eingangshalle hinter sich, verließ das Schloss und ging hinüber zum Parkplatz, wo er seinen Wagen abgestellt hatte.

Eine andere Gruppe von Neulingen in blauen Overalls übte auf dem Rasen den unbewaffneten Nahkampf, unter den wachsamen Augen eines Sergeants, Die Beste in der Gruppe war ein schlankes Mädchen mit pechschwarzem Haar. Sie drehte sich ruckartig um, machte eine Aufwärtsbewegung mit den Armen, und der schlaksige, einsfünfundachtzig große, junge Kerl, der ihr Übungspartner war, flog im Bogen über ihre Schulter. Das Mädchen lachte und trat ein paar Schritte zurück. Der Sergeant war mit zwei Schritten hinter ihr, packte sie unter den Armen und schleuderte sie auf den Boden, bevor sie auch nur begriff, was da vor sich ging.

»Wenn man einen Angreifer zu Boden geworfen hat, muss man damit rechnen, dass sein Kumpel auf eine Chance zum Eingreifen wartet«, brüllte er. »Ich sag’ es dir nun schon zum x-ten mal. Wie war’s, wenn du es dir endlich mal merken würdest?«

Es war eine ziemlich raue Lektion gewesen, aber der Sergeant hatte recht, dachte Thane, als er weiterging.

Für die Ausbildung standen nur ein paar Wochen zur Verfügung, um den neuen Bewerbern eine Menge Praxis für ihre spätere Arbeit beizubringen. Dann kehrten sie zu ihren Abteilungen zurück, immer noch Anfänger, und man gab ihnen einen erfahrenen Beamten zur Seite für die nächste Stufe der Ausbildung - auf den Straßen.

Diejenigen, die bei der Stange blieben, tauchten während ihrer Laufbahn immer wieder einmal auf Tulliallan Castle auf, ganz gleich, welchen Rang sie im Laufe der Jahre erreicht hatten. Es gab immer wieder neue Trainingskurse, neue Übungspläne.

Der Schutz der Gesellschaft erforderte mitdenkende Polizeibeamte - auch wenn dieses Ziel nicht immer erreicht wurde.

»Superintendent - Mr. Thane...«

Die Anrede veranlasste Thane sich umzudrehen. Der Schulungs-Sergeant der Klasse, die den unbewaffneten Kampf trainierte, kam zu ihm herübergelaufen, und jetzt erkannte Thane ihn. Er war bei der Squad gewesen, als Detective Constable, und am Ende der üblichen, dreijährigen Dienstzeit befördert und versetzt worden.

»Wollte nur mal fragen, wie es den Jungs geht, Sir«, sagte der Mann und grinste breit. »Ist Francey Dunbar noch Ihr Sergeant?«

»Den werde ich so leicht nicht los«, antwortete Thane trocken. »Es hat sich nicht viel verändert. Und wie kommen Sie voran?«

»Hier?« Der Sergeant warf einen Blick über die Schulter auf die jungen Leute. »Die Klasse ist nicht so schlecht, und das Leben hier auch nicht. Trotzdem...« Er schaute Thane fast wehmütig an. »Na ja, sagen Sie den Jungs alles Gute, ja, Sir?«

»Wird gemacht«, versprach Thane.

Er blickte dem Mann nach, wie er gedankenverloren zurücktrottete zu seiner Klasse, und dabei fiel ihm plötzlich ein, dass er Vass hieß. Er hatte die Crime Squad wenige Tage nach Thanes Auskunft verlassen - das lag nun auch schon fast wieder ein Jahr zurück.

Vor dieser Zeit hatte Thane als Detective Chief Inspector, also als Leiter der Kriminalpolizei, im Glasgower Stadtteil Millside Dienst getan. Millside war eine harte, unschöne Seite der Stadt, bestimmt von den Docks, den Slums und einem Vergnügungsviertel, das alles nur noch schlimmer machte. Aber es war sein Viertel gewesen, er hatte dort die Polizei geleitet, sich dort ausgekannt - und er hatte sich seltsam verloren gefühlt, nachdem man ihn zur Zentrale abberufen und zum Detective Superintendent befördert hatte - verbunden mit der Versetzung zur schottischen Crime Squad.

Danach war es ihm vorgekommen, als ob er ins Exil verbannt worden sei. Aber mittlerweile schien die Zeit von Millside Jahrhunderte zurückzuliegen. Wenn er jetzt dorthin zurückkehrte, war er der Außenseiter.

Er erreichte seinen Wagen, einen verdreckten Ford aus der Fahrbereitschaft der Squad. Während er sich hinter das Lenkrad setzte, warf er einen Blick auf das Paket, eingewickelt in Geschenkpapier, das auf dem Beifahrersitz lag, und zuckte zusammen.

Wenn die Konferenz bei Jack Hart länger dauerte, ergab sich für ihn ein weiteres Problem. Selbst einem Polizeibeamten sollte es möglich sein, an seinem Hochzeitstag mit seiner Frau zum Abendessen ausgehen zu können.

Er ließ den Motor des Ford an und versuchte, sich in Gedanken auf Videobänder zu konzentrieren.

Die Fahrt dauerte knapp eine Stunde, anfangs über kleinere Straßen zur Kincardine Bridge, dann in einem langgezogenen Bogen über den schlammigen Oberlauf des River Forth und von dort aus zur Einmündung in die stark befahrene M 80, die Schnellstraße, die von Norden her nach Glasgow führt.

Der Verkehr lief reibungslos bis zur Stadtgrenze, wo ein schleudernder Lastwagen einen Lieferwagen erfasst hatte und die beiden Wracks zwei Fahrspuren blockierten. Thane reihte sich in die Fahrzeugschlange ein und fuhr an der Engstelle vorbei, dann schaltete er die Scheibenwischer ein, da inzwischen leichter Nieselregen eingesetzt hatte.

Grau unter den tiefhängenden Wolken lag die Skyline von Glasgow vor ihm. Es war eine Mischung aus hohen, modernen Geschäftsblocks und schlanken Kirchtürmen, aus dunklen Mietshausdächern und düsteren Fabrikschornsteinen. Nur wenige der Schornsteine rauchten. Zu viele der Fabriken hatten ihre Tore geschlossen und die Zu-verkaufen-Schilder aufgestellt.

Glasgow hatte zu spüren bekommen, was Rezession bedeutete.

Der Nieselregen ließ nach, als Thane an einer Verkehrsampel rechts abbog und über eine Nebenstraßenroute fuhr, auf der er das Stadtzentrum meiden und Zeit sparen konnte. Stadtrandsiedlungen mit Bungalows machten älteren Häusern Platz; dann fuhr er durch eine Industriegegend, wo nur ungefähr die Hälfte der Betriebe noch zu arbeiten schien; bei den übrigen waren die Fenster zerbrochen.

Minuten später war er am Ziel.

Nichts hatte sich verändert.

Die Baron Avenue war in den dreißiger Jahren entstanden, ein Produkt jener damals beliebten Schuhkartonarchitektur aus Beton. An den dreistöckigen Blocks, die winzige Wohnungen beherbergten, hatte im Lauf der Jahre der Zahn der Zeit genagt, und sie sahen schäbig aus. Und die ursprünglich vorhandenen öffentlichen Gärten und Parks hatten Asphalt und Beton weichen müssen.

Immerhin waren die Wohnungen auf die Bedürfnisse der Alleinstehenden und der jungen, kinderlosen Ehepaare zugeschnitten, die hier wohnten. Sie arbeiteten entweder in Büros oder lebten von Stipendien fürs Studium. Sie hatten nichts gegen Rockmusik um drei Uhr nachts oder gegen Autotüren, die zu jeder Tages- und Nachtzeit zugeknallt wurden.

Und wenn, dann zogen sie wieder weg von hier. So lebte man eben in der Baron Avenue: Selten wurde mehr als gelegentliche Raufereien oder Einbrüche gemeldet, und die ältere Generation kam höchstens mal besuchsweise an den Sonntagnachmittagen bei den Kindern vorbei.

Colin Thane fuhr im Schritttempo dahin und sah sich nach den Hausnummern um. Doch dann entdeckte er einen grauen Mini aus dem Fuhrpark der Crime Squad, der am Randstein parkte. Er hielt dahinter und stieg aus.

Das Haus Nummer 56 war nur ein paar Meter entfernt. Ein schlanker dunkelhaariger Mann, gekleidet in eine schwarze Lederjacke und ausgebleichte Jeans und ein graues Sweatshirt aus Baumwolle lehnte an der Ziegelwand neben dem Eingang. Er richtete sich ein wenig auf, als Thane näher kam, und setzte ein schiefes Lächeln auf.

»Machen Sie Pause, Francey?«, fragte Thane mit mildem Sarkasmus.

»Ich verstecke mich, Sir.« Detective Sergeant Francey Dunbar wies mit dem Daumen auf die Haustür. »Die Freundin von Douglas ist vor zehn Minuten aufgetaucht. Sie wusste noch von nichts.«

Thanes Gesichtsausdruck bewies Mitgefühl. »Wer ist bei ihr?«

»Sandra«, antwortete Dunbar. »Die wird damit fertig.«

Thane nickte. Sandra Craig, ein Detective Constable aus seinem regulären Team, übernahm die Aufgaben, wie sie kamen. Aber manchmal war es doch sinnvoll, wenn man gewisse Angelegenheiten von Frau zu Frau regelte.

»Sonst noch jemand hier?«, fragte er.

»Momentan nicht«, antwortete Dunbar. Er war etwas über mittelgroß und Anfang Zwanzig, ein buschiger Schnurrbart unter der kräftigen, ausgeprägten Nase zierte sein Gesicht. »Die Kriminalbeamten des hiesigen Polizeireviers wollen später noch einmal herkommen - sie hatten die Schlüssel von Douglas, aber wir haben einen zweiten Satz in der Wohnung gefunden.« In seinen dunklen Augen blitzte ein kurzes, belustigtes Funkeln auf. »Die haben mir ein paar Storys erzählt aus der Zeit, als Sie noch hier in Millside Dienst taten.«

»Alles Lügen«, erklärte Thane mit Nachdruck. »Gibt es Videobänder in der Wohnung?«

»Ungefähr ein Dutzend, verschiedene Titel, in einem Schrank gestapelt«, meldete Dunbar mit geringer Begeisterung. »Ich habe sie Commander Hart geschickt - er will sie überprüfen lassen.«

»Sonst nichts?«

Dunbar zuckte mit den Schultern. »Ich habe die Wohnung mit Sandra zweimal durchsucht, aber wir haben nichts gefunden. Douglas war ein ganz gewöhnlicher Typ - so sieht es jedenfalls aus.«

»Wenn er ein so gewöhnlicher Typ gewesen wäre, dann wären wir nicht hier«, erinnerte ihn Thane mit steinerner Miene. »Ich habe gehört, man hat die Kerle, die mit dem Gewehr herumgeballert haben, schon hinter Schloss und Riegel. Wie ist das gelaufen?«

»Eine Streifenwagenbesatzung hat Glück gehabt«, berichtete Dunbar in seiner trockenen Art. »Die haben das Fluchtfahrzeug zufällig gesehen und sind ihm gefolgt; daraufhin hat der Bandit am Steuer in einer Kurve die Kontrolle über das Fahrzeug verloren und ist gegen eine Mauer gerast. Danach brauchten wir nur noch aufzuwischen - sozusagen. Drei ziemlich ramponierte Banditen, das Geld und das Gewehr.«

»Bekannte von uns?«