DREI PAAR NYLONSTRÜMPFE - Bill Knox - E-Book

DREI PAAR NYLONSTRÜMPFE E-Book

Bill Knox

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

"Nichts als Routine-Arbeit..." Gelangweilt machte sich Kriminalinspektor Colin Thane aus Glasgow auf den Weg zum Kaufhaus Hillman. Diebstähle in der Abteilung Damenbekleidung waren gemeldet worden. Kaum hatte er mit der üblichen Routine-Arbeit begonnen, wurde er schon vor eine schwere Aufgabe gestellt: Die Abteilungsleiterin Judith Marchand wurde erwürgt aufgefunden. War sie die Diebin? In ihrem Schreibtisch fand man drei Paar nagelneue Nylonstrümpfe, die vom Verkaufstisch stammten... Der Roman DREI PAAR NYLONSTRÜMPFE von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1999) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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BILL KNOX

 

 

Drei Paar Nylonstrümpfe

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 136

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DREI PAAR NYLONSTRÜMPFE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

»Nichts als Routine-Arbeit...«

Gelangweilt machte sich Kriminalinspektor Colin Thane aus Glasgow auf den Weg zum Kaufhaus Hillman. Diebstähle in der Abteilung Damenbekleidung waren gemeldet worden.

Kaum hatte er mit der üblichen Routine-Arbeit begonnen, wurde er schon vor eine schwere Aufgabe gestellt: Die Abteilungsleiterin Judith Marchand wurde erwürgt aufgefunden. War sie die Diebin? In ihrem Schreibtisch fand man drei Paar nagelneue Nylonstrümpfe, die vom Verkaufstisch stammten...

 

Der Roman Drei Paar Nylonstrümpfe von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1999) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  DREI PAAR NYLONSTRÜMPFE

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Sieben Stockwerke hoch ragte der riesige Steinklotz über die im Sonnenglast liegenden Dächer der Stadt. Ein Fels aus Menschenhand, dessen blauer Anstrich das grelle Licht des Sommertages reflektierte. Das Kaufhaus Hillman war eine kleine Stadt für sich, in der eine ganze Armee von Angestellten arbeitete. Tausende Einheimische und auch Fremde passierten täglich die lange Reihe der Schaufenster, die mit einem sorgfältig ausgewählten Warenangebot Käufer anzulocken versuchten. Eine Mannschaft von Dekorateuren stand bereit, um nach neuesten psychologischen Erkenntnissen die Käuferwünsche zu wecken und die Schlacht an dieser gläsernen Front zu gewinnen.

Die Bodenfläche der sieben Stockwerke aneinandergereiht, hätte genügt, um einen ganzen Stadtteil darauf unterzubringen. Das Kaufhaus besaß seinen eigenen Arzt, Krankenschwestern, einen Rechtsanwalt, eigene Detektive, Elektriker und Klempner. Die Italer hatten ihre Arbeit am Eröffnungstag begonnen und würden vermutlich erst dann ihre Pinsel niederlegen, wenn das Kaufhaus eines Tages seine Pforten für immer schließen sollte - was allerdings völlig unwahrscheinlich war.

Es war Juni, und die Hitzewelle lag drückend über der Stadt. Trotzdem flutete der Strom der Käufer ununterbrochen durch sämtliche Eingänge.

Der Sommerschlussverkauf stand vor der Tür, und überall machten mit leuchtender Farbe beschriftete Plakate darauf aufmerksam.

Im Innern des Kaufhauses war es nur um wenige Grade kühler als draußen in der heißen, staubigen Sauchiehall Street. Die Verkäuferinnen schwitzten in ihren schwarz-roten Kitteln und beneideten die Kundinnen um ihre luftige Kleidung. Die Registrierkassen klingelten ununterbrochen und sangen ihr monotones Lied. Die leitenden Angestellten hätten an diesem Vormittag mit dem Geschäftsgang zufrieden sein müssen, doch auf der breiten, schweißbedeckten Stirn des Kaufhausdirektors standen tiefe Sorgenfalten. Er saß in seinem Büro, das als kleiner Aufbau über das Dach hinausragte.

»Diese verflixten Ladendiebstähle kosten uns jede Woche ein kleines Vermögen«, sagte er wütend und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Und Sie bringen weiter nichts fertig, als dumme Fragen zu stellen. Ich verlange, dass Sie endlich etwas unternehmen, anstatt fortwährend die unsinnigsten Vermutungen anzustellen.«

Charles Farringdon war ein kahlköpfiger, korpulenter Mann von ungefähr sechzig Jahren. Er wirkte beinahe unscheinbar, und auf den ersten Blick hätte ihn niemand für den verantwortlichen Mann dieses großen Kaufhauses gehalten.

Dieser erste Eindruck täuschte jedoch. Wenn man Charles Farringdon während der Arbeit beobachtete und hörte, wie er mit barscher Stimme seine Anweisungen gab, merkte man schnell, welch unerhörte Energie in diesem Mann steckte, der kein anderes Ziel zu kennen schien, als die Umsätze des ihm anvertrauten Unternehmens immer mehr zu steigern. Diese Energie ging jedoch ausschließlich von dem großen Mahagonischreibtisch aus: Charles Farringdon hielt es für absolute Zeitverschwendung, die Verkaufsräume oder - während seiner Freizeit - den Golfplatz zu besuchen.

Seine kleinen Augen funkelten ärgerlich die Herren an, die er an diesem Morgen in sein luxuriös eingerichtetes Büro gebeten hatte. Jerry Watford, der Prokurist und Geschäftsführer, erwiderte den Blick, schloss aber dann seine blauen Augen und senkte den Kopf mit den blonden, kurzgeschnittenen Haaren. Nervös scharrten seine Schuhe über den dicken, dunkelblauen Teppich. Der leitende Hausdetektiv, James Rose, errötete und rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. Er hatte seine Abreibung bereits vor Beginn der Besprechung bekommen. Henry Allen, der Leiter der Einkaufsabteilung, fixierte über den Kopf des Direktors hinweg die winzigen Staubkörnchen, die, durch das helle Sonnenlicht sichtbar gemacht, Zum offenen Fenster hereinschwebten.

Farringdon wandte sich den beiden anderen Herren zu, die seinen Ausbruch offensichtlich unbeeindruckt zur Kenntnis genommen hatten. Der größere der beiden erwiderte gelassen den herausfordernden Blick des Direktors, und diesmal war es Farringdon, der den Kopf senkte. Mit ostentativer Unhöflichkeit nahm er sich aus seiner silbernen Dose eine Zigarette und zündete sie an. Inspektor Colin Thane, der Leiter der Kriminalaußenstelle Glasgow-Millside, wartete geduldig, bis Farringdon den ersten tiefen Zug getan hatte.

»Es hat wirklich gar keinen Sinn, den wilden Mann zu spielen, Sir«, sagte er ruhig. »Ihre Sorgen sind uns bekannt. Deshalb sind wir ja hier. Mein Sergeant und ich können Ihnen jedoch nur helfen, wenn Sie bereit sind, rückhaltlos mit uns zusammenzuarbeiten. Ich will damit sagen, dass Sie sich entschließen müssen, uns gewisse Fragen zu beantworten. Erst dann können wir entsprechende Maßnahmen ergreifen - und sie werden schnellstens ergriffen, das versichere ich Ihnen.« Farringdon schien explodieren zu wollen. Aber dann zuckte es plötzlich um seine Mundwinkel, und lächelnd nickte er. Die Zigarette verbrannte ungeraucht in dem gläsernen Aschenbecher. Seine Stimme klang immer noch brüsk, aber nicht mehr so unduldsam.

»Schön! Was wollen Sie also wissen? Viel verspreche ich mir allerdings nicht davon.«

Inspektor Thane seufzte nachsichtig. »Ich hatte Sie gefragt, ob Grund zu der Annahme besteht, dass das Anwachsen der Diebstähle nicht nur saisonbedingt ist. Vergessen Sie nicht, dass jetzt in der Urlaubszeit mancher, der knapp bei Kasse ist, in Versuchung gerät, sich kostenlos zu bedienen.«

»Saisonbedingt!«, knurrte Farringdon. »Watford, nennen Sie den Herren die statistischen Zahlen.«

Jerry Watford, der Geschäftsführer, schreckte aus der Betrachtung des Teppichs hoch und nahm von dem Aktenbündel, das er auf seinen Knien balancierte, das zuoberst liegende Blatt.

»Wir führen eine Monatsstatistik über vermutlich gestohlene Waren, über den Wert dieser Waren, über die Personen, die beim Diebstahl ertappt wurden, und so weiter«, erklärte er mit liebenswürdigem Lächeln. »Das ist ein Teil der normalen Betriebsstatistik. Im Jahresdurchschnitt beträgt der Verlust durch Ladendiebstähle rund dreißigtausend Pfund.«

Inspektor Thane pfiff überrascht durch die Zähne. Watford blickte den neben ihm sitzenden Hausdetektiv entschuldigend an und fuhr dann fort: »Mr. Rose und seine Mitarbeiter sind natürlich unermüdlich tätig, sonst würden unsere Verluste noch bedeutend größer sein. Tatsache ist, dass Woche für Woche Ware im Wert von etwa sechshundert Pfund unbemerkt verschwindet. Ich möchte jedoch bemerken, dass dieser Verlust als durchaus normal anzusehen ist. Kein Kaufhaus bleibt davon verschont. Aber dies hier wird bedenklich!« Er tippte mit dem Finger auf seine Statistik. »Seit etwa drei Monaten vermehrt sich der Wochendurchschnitt dieser Verluste laufend. In der ersten Aprilwoche betrug der Schaden siebenhundertfünfzig Pfund. Anfang Mai waren es achthundert Pfund pro Woche, und in diesem Monat überschreiten wir bereits die Tausendpfundgrenze. Laut Statistik beträgt aber der Wochendurchschnitt im Monat Juni seit fünf Jahren siebenhundert Pfund.«

Inspektor Thane fuhr sich mit dem Daumen über das Kinn und beugte sich vor. »Um wieviel weichen die Gesamtverluste vom Durchschnitt ab?«

»In den letzten drei Monaten lagen sie um viertausend Pfund über dem Durchschnitt«, warf Farringdon mit bullernder Stimme ein. »Und da kommen Sie mir mit einem saisonbedingten Ansteigen!« Er schlug erneut mit der Faust auf den Schreibtisch. »Hier ist eine gutorganisierte Bande am Werk. Unsere paar Hausdetektive sind dagegen machtlos. Als wir uns zum ersten Mal an Sie wandten, stellten Sie uns zwei Polizeibeamte zur Verfügung. Bis heute erwiesen sie sich nicht als die geringste Hilfe. Aus diesem Grunde baten wir Sie heute selbst zu dieser Besprechung. Sie sind der Chef der Kriminalaußenstelle in Millside, Mr. Thane. Dieses Kaufhaus liegt in Millside! Ich verlange, dass jetzt endlich etwas geschieht - und zwar schnellstens!«

Thane schwieg einige Sekunden lang. Hillman hatte sich vor einigen Wochen wegen der überhandnehmenden Ladendiebstähle an die Polizei gewandt, und er, Thane, hatte einen Sergeant und einen Wachtmeister in Zivil mit dem Fall beauftragt. Den beiden Beamten war es gelungen, zwei Frauen auf frischer Tat zu ertappen, die bereits einschlägig vorbestraft waren. Ansonsten aber war ihnen nichts Verdächtiges aufgefallen.

»Man hat meine Leute über den Umfang der Diebstähle nicht aufgeklärt«, sagte der Inspektor schließlich ärgerlich.

»Warum haben Sie ihnen nicht reinen Wein eingeschenkt? Woher sollten wir wissen, dass die Situation derart besorgniserregend ist?«

»Das ist meine Schuld«, gab Farringdon zu. »Wir waren zunächst der Meinung, das Ansteigen der Diebstähle sei reiner Zufall. Dann erkannten wir unseren Irrtum und wandten uns an Sie. Natürlich gaben wir Ihnen keine Einzelheiten. Wir wollten verhindern, dass diese unerfreuliche Geschichte in den Zeitungen breitgetreten wird. Ganz Glasgow hätte nämlich dann gewusst, dass es die einfachste Sache der Welt ist, bei Hillman kostenlos einzukaufen - angefangen bei einem Stück Seife bis zum Wintermantel. Wir hielten also den Mund und hofften, dass Ihre Leute die Diebstähle aufklären würden. Da sie keinen Erfolg hatten, sind wir jetzt gezwungen, mit der Sprache herauszurücken.« Er warf einen Blick auf die goldene Armbanduhr an seinem behaarten Handgelenk. »In fünf Minuten habe ich eine Verabredung. Diese drei Herren hier...« - er wies auf seine Angestellten -, »...werden Sie in jeder Hinsicht unterstützen. Sie müssen Verständnis dafür haben, dass ich mich nicht um die Einzelheiten kümmern kann.«

Er nahm sich eine neue Zigarette aus der Dose, zündete sie an und nickte kurz. Dann vertiefte er sich in die Post. Die Konferenz war offensichtlich beendet.

Inspektor Thane und Sergeant Moss verließen das Büro, gefolgt von den drei Angestellten. Die beiden Kriminalbeamten kochten innerlich über diese brüske Verabschiedung. Als sie über den schmalen Korridor zum Lift gingen, brach Jerry Watford das Schweigen.

»Machen Sie sich nichts daraus«, sagte er. »Der Chef ist ein alter Brummbär, aber gebissen hat er noch niemanden. Wir haben weniger Personalwechsel als andere Firmen in Glasgow. Farringdon ist ein grober Klotz mit einem guten Herzen - und ein ausgezeichneter Geschäftsmann.«

Thane nickte. »Das will ich gern glauben. Man braucht sich ja nur diesen Riesenklotz von Kaufhaus anzusehen. Aber abgesehen von einigen seiner persönlichen Ansichten ist die Anregung nicht schlecht, dass wir noch einmal die Einzelheiten besprechen sollten. Ich habe jetzt einige dringende Sachen zu erledigen, aber vielleicht könnten wir uns nach dem Mittagessen noch einmal zusammensetzen?«

»Da habe ich einen besseren Vorschlag«, meinte Watford. »Ich werde in unserem Restaurant in einer ruhigen Ecke einen Tisch reservieren lassen. Wir könnten uns beim Mittagessen weiterunterhalten.«

Der Hausdetektiv und der Einkaufsleiter nickten zustimmend.

»Einverstanden«, erwiderte Thane.

 

Es war nicht ganz einfach gewesen, mit den beiden schottischen Nationalisten fertig zu werden, die den Eingang einer englischen Firma mit ihren Parolen beschmiert hatten. Als Inspektor Thane und Sergeant Moss endlich die Polizeistation verlassen konnten und in den Wagen der Kriminalbereitschaft stiegen, zeigte die Uhr bereits einige Minuten nach eins.

Der Jaguar glitt in rascher Fahrt durch die staubigen Straßen. Thane sank zufrieden in den bequemen Rücksitz und schob seinen grauen Hut ins Genick.

»Wir scheinen hier einer dicken Sache auf die Spur gekommen zu sein«, meinte er. »Wenn man diese Statistik betrachtet, muss man Farringdon zustimmen, dass es sich um organisierte Diebstähle handelt. Der Umfang der üblichen Ladendiebstähle ist jahreszeitlich bedingt - vor Weihnachten- und vor Beginn der Urlaubszeit ist ein absolutes Maximum festzustellen. Ein derartiges Ansteigen der Diebstähle, wie es zur Zeit bei Hillman der Fall ist, scheint mir durchaus ungewöhnlich.«

Sergeant Moss nickte mürrisch. »Ich habe veranlasst, dass eine Aufstellung aller bekannten Ladendiebe gemacht wird. Ebenfalls Fotos und Angaben über ihre Arbeitsmethoden. Das müsste bis spätestens morgen früh fertig sein.« Moss griff in die Tasche seines dicken Tweedjacketts, das er ungeachtet der drückenden Hitze trug, und brachte eine runde Dose zum Vorschein. »Man weiß ja nie, wie dieses Gaststättenessen ist«, murmelte er und schob eine Tablette in den Mund. »Das ist ein Ärztemuster, hat mir der Mann meiner Cousine geschenkt. Sie wissen ja, der ist Arzt. Kreide - bildet eine Schutzschicht über die Magenwand.«

Colin Thane schüttelte lächelnd den Kopf. Er arbeitete nun schon seit vielen Jahren mit Phil Moss zusammen, und so hatte ich trotz des Rangunterschiedes eine engere Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Seit Thane sich erinnern konnte, konsumierte der Sergeant Pillen und Tropfen und versuchte immer neue Mittelchen, um seine Magengeschwüre zu besänftigen. Thane war allerdings der Ansicht, dass dieses Magenleiden mehr psychischer als physischer Natur war. Von diesem Spleen abgesehen, war Moss ein ungemein tüchtiger Beamter. Thane besaß allerdings eine raschere Auffassungsgabe und hatte es darum schon bis zum Inspektor gebracht. Beide Beamten bildeten ein unzertrennliches Gespann.

Der Inspektor war ein großer, dunkelhaariger, glattrasierter Mann Anfang der Vierzig. Vor fünfzehn Jahren hatte er sich als hervorragender Leichtathlet ausgezeichnet. Heute mochte er zehn Pfund mehr wiegen als damals, war aber noch bei bester körperlicher Verfassung. Sein Name tauchte immer wieder in den Polizeimeldungen auf.

»Meine Frau war vor einigen Tagen mit den Kindern bei Hillman«, sagte der Inspektor lächelnd. »Wir brauchen angeblich einen neuen Teppich. Mary hat sich umgeschaut, will aber noch bis zum Schlussverkauf warten. Fragen Sie mich nicht, wie ich das bezahlen soll, Phil. Nun, vielleicht hat Mary von ihrem Wirtschaftsgeld genügend beiseite geschummelt!«

Moss grinste - ganz der überlegene Junggeselle. »Passen Sie nur auf, dass sie sich nicht einfach einen Teppich klaut. Stellen Sie sich das Gesicht von diesem bulligen Direktor vor - es wäre direkt einen Versuch wert.«

»Unterschälzein Sie Farringdon nicht«, sagte Thane warnend. »Ich erinnere mich, einiges von ihm gehört zu haben. Als Hillman damals sein Geschäft aufmachte - einen Laden mit zwei Räumen -, fing Farringdon als kleiner Verkäufer bei ihm an. Seine Karriere ging Hand in Hand mit dem Aufstieg der Firma. Es wird sogar behauptet, der Aufschwung des Geschäfts. sei vor allem seiner Initiative zu verdanken. Als der alte Hillman vor einigen Jahren starb, übernahm Farringdon das Kaufhaus. Er dürfte wohl nicht die Aktienmehrheit besitzen, aber er kann praktisch schalten und walten, wie es ihm passt, solange er genügend Dividende zahlt.«

»Und diese Ladendiebstähle erhöhen natürlich das Verlustkonto und schmälern damit den Gewinn«, stellte Moss fest.

Thane schnitt eine Grimasse. »So ist es. Und darum macht Farringdon uns jetzt die Hölle heiß.«

Das Thermometer zeigte über dreißig Grad im Schatten. Die beiden Beamten stiegen aus, und während sie zu der breiten Eingangstür schritten, spürten sie das heiße Pflaster des Bürgersteigs durch die Schuhsohlen hindurch. Der uniformierte Portier trat auf sie zu.

»Guten Tag, Sir. Können Sie sich noch an mich erinnern?«

Thane blickte überrascht auf. »Andy Richards! Also hier trifft man Sie wieder? Eine ziemliche Umstellung für einen Polizeibeamten, wie?«

Der Mann hatte bis zu seiner Pensionierung vor anderthalb Jahren Streifendienst beim Revier Millside gemacht. Er schüttelte den Kopf. »So groß ist die Umstellung gar nicht, Mr. Thane. Wenn man einen Tag hier gestanden hat, merkt man seine Füße - genau wie früher. Aber die Bezahlung ist gut, die Arbeitszeit nicht zu lang, und vor allem gibt es keine Nachtschicht. Außerdem haben wir eine schöne Kantine, geregelten Urlaub, und die Kollegen sind »sehr nett. Wenn man dazu noch meine Pension rechnet, geht es mir nicht schlecht.«

Während dieses Gesprächs hatte der Portier Thane und Moss durch das Labyrinth von Verkaufstischen zu den Fahrstühlen geführt.

»Mr. Watford bat mich, Sie zum Ahorn-Restaurant im dritten Stock zu geleiten«, erklärte er. »Er erwartet Sie dort zusammen mit Mr. Allen und Mr. Rose, unserem Hausdetektiv.«

»Was sind das eigentlich für Leute?«, fragte Thane.

»Rose ist ziemlich... Nun, er hält sich für klüger, als er ist. Er ist Amateur - keine Ausbildung bei der Polizei«, erwiderte der Portier wegwerfend. »An den beiden anderen habe ich nichts auszusetzen. Watford ist ein heller Kopf, Allen sehr verschlossen, scheint aber in Ordnung zu sein. Ich nehme an, dass Sie wegen der Diebstähle hier sind?«

»Hm.« Thane nickte. »Was wissen Sie eigentlich davon, Richards?

»Nicht viel, Sir.« Der Portier beschlagnahmte einen Lift, der gerade angekommen war und sich leerte. Mit ausgebreiteten Armen hinderte er die nachdrängenden Menschen am Einsteigen, schob seine beiden Schützlinge hinein und nickte dem Fahrstuhlführer zu. Während der Aufzug summend zum dritten Stock glitt, pfiff Richards leise vor sich hin. Als sie den breiten, ahorngetäfelten Korridor entlanggingen, nach dem das Restaurant seinen Namen hatte, sagte er: »Es ist eine äußerst rätselhafte Geschichte, Mr. Thane. Wer der Täter auch sein mag - er geht äußerst gerissen vor. Das gesamte Personal weiß ja Bescheid. Schließlich lassen sich solche Verluste auch nicht verheimlichen, und außerdem ist unser Mr. Sherlock Rose ganz wild. Dazu müssen fortwährend Bestandsaufnahmen gemacht werden. Die Abteilungsleiter stehen alle am Rande eines Nervenzusammenbruchs.« Er zwinkerte Thane zu.

»Ich habe natürlich meine Augen offengehalten«, fuhr er fort. »Hin und wieder tauchen ein paar alte Bekannte auf. Sergeant MacLean erwischte die lange Lizzie, die den Einkaufstaschentrick versuchte. Ein anderer Dieb, der zwei Mäntel übereinander gezogen hatte, wurde geschnappt, und auch noch ein paar kleine Fische. Alles in allem Amateure. Nein, hier muss eine gerissene Bande am Werk sein, und es würde mich wirklich interessieren, mit welchem Trick sie arbeitet. Sie müssen nämlich wissen, dass - trotz Rose - die Sicherheitsvorkehrungen nicht schlecht sind.«

»Wollen Sie Augen und Ohren für uns offenhalten, Richards?«, fragte Moss.

»Aber klar, Sergeant. Mit Vergnügen.« Der ehemalige Polizeibeamte riss die breite Glastür auf. »Sie sitzen da drüben in der Ecke. Ich muss jetzt wieder auf meinen Posten. Wenn ich etwas herausbekomme, werde ich mich sofort mit Ihnen in Verbindung setzen.« Er nickte Thane und Moss zu und entfernte sich.

Jerry Watford kam den beiden Kriminalbeamten entgegen, die sich einen Weg durch die dichtbesetzten Tische bahnten.

»Schön, dass Sie gekommen sind«, rief er. »Wir sind bereits vollzählig versammelt. Es ist jemand anwesend, den Sie noch nicht kennen.«

Der Tisch stand an einem breiten Fenster, durch das man einen wundervollen Blick auf die tief unten liegende Sauchiehall Street hatte. Der Einkaufsleiter und der Hausdetektiv unterhielten sich mit einer zierlichen, gutaussehenden Dame in den Vierzigern, deren kurzgeschnittenes Haar einige graue Strähnen aufwies. Sie blickte auf und lächelte den Beamten zu.

»Das ist Miss Marchand, die Leiterin der Abteilung Damenbekleidung«, stellte Watford vor. »Wir hielten Miss Marchands Anwesenheit bei dieser Besprechung für notwendig, da ihre Abteilung am stärksten betroffen ist.«

Nachdem man sich begrüßt hatte, nahmen die Herren Platz. Während des Essens unterhielt man sich über alltägliche Dinge. Erst als der Kaffee serviert wurde, beugte sich Watford vor.

»Ich denke, Mr. Thane, wir können jetzt zum Thema kommen. Schießen Sie los. Wir werden Ihnen nach Möglichkeit Auskunft geben.«

Allen bot Thane eine Zigarette an, und Watford reichte ihm Feuer.

»Zunächst einmal: Sind Sie absolut sicher, dass die Waren hier im Geschäft verschwinden?«, begann der Inspektor. »Könnten Sie nicht ebenso gut auf dem Weg vom Hersteller beziehungsweise Großhändler verlorengehen?«

»Das ist ausgeschlossen«, erwiderte Henry Allen, der Einkaufsleiter. Er war ein kleiner, korpulenter Mann in den Vierzigerjahren, der sein dünnes Haar sorgfältig über die kahlen Stellen seines Schädels verteilt hatte. »Ausgeschlossen! Die hereinkommenden Sendungen werden von der Warenannahme anhand der Rechnungen genau geprüft. Danach werden sie, ehe sie auf die betreffenden Lager genommen werden, nochmals von den einzelnen Abteilungen kontrolliert.«

Thane zuckte die Achseln. »Das müsste durchaus genügen. Und wie sind Ihre innerbetrieblichen Maßnahmen, Mr, Rose?«

Der Hausdetektiv, ein magerer Mann mit scharfen Gesichtszügen, trug zu seinem eleganten Zweireiher eine blaue Krawatte. Nachlässig, mit der Zigarette im Mundwinkel, beschrieb er die Sicherheitsvorkehrungen.

»Ich habe vier Leute zur Verfügung - zwei Herren und zwei Damen -, die ständig durch die Verkaufsabteilungen patrouillieren. Ihre Arbeit war bis in jüngster Zeit absolut zufriedenstellend. Die Verkäuferinnen und Substitutinnen sind natürlich ebenfalls angehalten, ihre Augen offenzuhalten. Außerdem habe ich noch einen Assistenten, der im Büro auf Abruf wartet. Wir gehen juristisch völlig einwandfrei vor. Wenn der Verdächtige das Haus verlassen will, bitten wir ihn, in unser Büro zu kommen und für die Waren, die er bei sich hat, Kassenbelege vorzuweisen. Weigert er sich, rufen wir die Polizei.«

»Sie selbst waren nie bei der Polizei, Mr. Rose?«, fragte Thane.

»Himmel, nein«, rief Rose temperamentvoll. »Aber was soll diese Frage? Wollen Sie etwa andeuten, dass ich mein Metier nicht verstehe?«

»Aber nein, das wollte ich keineswegs andeuten«, beruhigte ihn Thane. »Es war nur Neugier, weiter nichts.«

»Hm. Das ist jedenfalls unsere Situation. Natürlich könnte ich mehr Personal brauchen. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht und es auch Watford gegenüber immer wieder betont. Es besteht meines Erachtens durchaus die Möglichkeit, dass die Diebe Helfer unter dem Verkaufspersonal haben.«

»Diese Behauptung ist aber wirklich unfair«, protestierte Judith Marchand. »In meiner Abteilung Sind die größten Verluste aufgetreten, und ich versichere Ihnen, Mr. Thane, dass ich trotzdem für meine Mädchen die Hand ins Feuer lege. Außerdem wollen wir nicht die Kontrollagenturen vergessen - und von dort sind keinerlei Unregelmäßigkeiten gemeldet worden.«

»Die Kontrollagentur?«, fragte Thane.

»Das ist so«, erklärte Jerry Watford. »Fast alle großen Warenhäuser beauftragen eine Agentur mit Testkäufen. Für uns arbeitet beispielsweise die Apex-Agentur in der Argyle Street. Sie schickt von Zeit zu Zeit Leute herüber, die Testkäufe tätigen. Sie beobachten die Verkäuferinnen, achten darauf, dass der Kassenzettel auf den richtigen Betrag lautet, das Wechselgeld korrekt zurückgegeben wird und so weiter. Außerdem erfahren wir auf diese Weise, ob sich das Verkaufspersonal zuvorkommend benimmt. Wenn sich irgendjemand von den Angestellten verdächtig gemacht hätte, würden wir es auf diese Weise erfahren haben.«

Sergeant Moss stieß langsam den Zigarettenrauch durch die Nasenlöcher. »...Wieviel Personal ist eigentlich in einem derartigen Betrieb nötig?«

Der Geschäftsführer zog eine Grimasse. »In einem modernen Kaufhaus braucht man, genau wie bei der Armee, für jeden Mann an der Front einen Mann im Hinterland. Wir beschäftigen etwas über tausend Leute - aber nur fünfhundert stehen ah den Verkaufstischen. Die anderen arbeiten in den Büros, in der Buchhaltung, im Zustelldienst, in der Warenannahme und in all den anderen für den Kunden unsichtbaren Abteilungen. Der Chef ist nicht sehr glücklich darüber, und das ist auch der Grund, weshalb Mr. Rose bis jetzt keine weiteren Kräfte bekommen hat.«

»Tausend Leute!« Inspektor Thane pfiff überrascht durch die Zähne.

»Ja, das klingt enorm«, meinte der Geschäftsführer. »Wir haben eine eigene Kantine und müssen trotzdem die Leute schichtweise zum Essen schicken.«

»Werden bei Neueinstellungen vorher Erkundigungen eingezogen?«

»Nur sehr oberflächlich. Der überwiegende Teil arbeitet ja bereits seit Jahren bei uns.«

»Und ich behaupte trotzdem, dass jemand vom Personal mit den Dieben unter einer Decke steckt«, brummte Rose. »Dabei denke ich besonders an Ihre Abteilung, Miss Marchand. Sie haben da ein oder zwei Typen, denen ich nicht über den Weg traue.«

Die Wangen der Frau röteten-sich, und ihre Augen blitzten. »Diese Aversion beruht wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit, Mr. Rose. Ich weiß so gewisse Dinge, die sich nach Geschäftsschluss ereignet...«

»Ein Kaufhaus wie dieses muss doch täglich von einem enormen Kundenstrom besucht werden«, warf Thane rasch ein? um die beiden Streithähne zu besänftigen. »Und entsprechend groß muss ja auch der Umsatz sein.«

Henry Allen nickte und seine Stimme klang sehr zufrieden. »Jede Woche kommen rund hunderttausend Kunden zu uns. Im Durchschnitt werden vierzigtausend Käufe getätigt. Wenn nächste Woche der Sommerschlussverkauf beginnt, hoffen wir, diese Zahlen um ein Vielfaches zu übertreffen.«

Watford drückte seine Zigarette in der Untertasse aus, obwohl dicht vor ihm ein Aschenbecher stand. »Und eben deshalb mache ich mir große Sorgen. Wenn die Verluste durch Diebstähle normalerweise schon tausend Pfund wöchentlich übersteigen, was wird uns dann erst beim Schlussverkauf blühen? Es ist ja völlig unmöglich, unter diesen Umständen eine normale Überwachung durchzuführen.«

»Erzählen Sie mir doch einmal Näheres über die Lagerüberprüfungen«, bat Thane den Geschäftsführer. »Sie sagten mir bereits, auf welche Weise Sie die Verluste entdeckten. Wie oft linden die Bestandsaufnahmen statt?«

»Gewöhnlich einmal wöchentlich«, erwiderte Watford und erklärte das System ausführlicher. Jede Abteilung mache am Donnerstag Inventur. »Das ist der ruhigste Tag der Woche, weil die meisten Leute ihr Geld zu diesem Zeitpunkt schon ausgegeben haben. Der vorhandene Bestand wird mit dem buchmäßigen Bestand, der sich aus der Differenz zwischen den erfolgten Lieferungen und den durch Kassenzettel belegten Verkäufen ergibt, verglichen.«

»Und die Abteilung Damenbekleidung - also Kleider, Wäsche und so weiter - wurde am meisten betroffen? Oder sind noch in anderen Abteilungen auffällige Verluste aufgetreten?«, wollte Thane weiter wissen.

»Kinderbekleidung und Herrenartikel«, erwiderte Allen. »Die Sehreibwarenabteilung hat ebenfalls einige Defizite aufzuweisen, ebenso wie die Tabakwarenabteilung. Lebensmittel und Haushaltwaren sind nicht so schlimm betroffen - es handelt sich da lediglich um Kleinigkeiten, die man rasch in der Tasche verschwinden lassen kann. Möbel, Teppiche und andere schwer transportable Gegenstände bleiben naturgemäß verschont.«

Thane fühlte, wie ihn Moss bei der Erwähnung der Teppiche unter dem Tisch anstieß, und musste sich ein Lächeln verbeißen.      

»Ich möchte mich gern einmal bei Ihnen umsehen«, erklärte er schließlich. »Besonders in Ihrer Abteilung, Miss Marchand. Und um eine bessere Übersicht zu bekommen, bitte ich Sie um eine Aufstellung derjenigen Gegenstände, die in der vergangenen Woche vermisst wurden. Die nächste Inventur würde ja - wir haben heute Montag - in drei Tagen fällig sein. Auch von dieser Bestandsaufnahme hätte ich gern eine Liste der abhanden gekommenen Waren. Ihnen, Mr. Rose, werden wir Fotos und Beschreibungen von einschlägig vorbestraften Dieben zur Verfügung stellen, obwohl Ihre Leute die notorischen Ladendiebe ja bereits kennen dürften. Zudem werde ich ein paar Beamte in Zivil einsetzen - auch einige weibliche, sofern sie beim Präsidium entbehrt werden können -, die während der Verkaufszeit durch das Haus patrouillieren. Ferner will ich veranlassen, dass die Eingänge überwacht werden. Ich glaube zwar nicht, dass wir auf Anhieb dem Spuk ein Ende setzen, aber es wird immerhin ein Anfang sein.«

Die Besprechung war beendet. Henry Allen entschuldigte sich - er müsse noch mit Farringdon und dem Chef der Werbeabteilung Einzelheiten für den Sommerschlussverkauf besprechen. Der Hausdetektiv hatte ebenfalls zu tun und empfahl sich.

Jerry Watford blickte auf die Uhr. »Ich werde Sie bei Ihrem Rundgang begleiten, wenn Sie gestatten. Schließlich muss ich Ihnen doch im Reich der Damen moralische Unterstützung gewähren - wie, Miss Marchand?«

Sie lächelte. »Ich kann mir Ihren wirklichen Grund schon denken, Watford.«   

 

Die Damenbekleidungs-Abteilung nahm den gesamten zweiten Stock ein. An den Tischen mit Hüten und Blusen herrschte reger Betrieb. In der Kosmetikecke war eine Vorführdame dabei, mit beredten Worten die Vorzüge eines neuen Lippenlackes anzupreisen. Ein Schwarm von etwa fünfzig bis sechzig Stenotypistinnen benutzte den Rest der Mittagspause, um ihr zuzuhören. In den Sektionen für Damenmäntel und Kostüme war es ausgesprochen ruhig. Judith Marchand führte die drei Männer durch ihr Reich, nickte hier einen kurzen Gruß, beantwortete dort eine Frage, während ihr Mitarbeiterstab die Kundinnen bediente.

Ein großes, schlankes Mädchen mit hübschem, sonnengebräuntem Gesicht trat näher.

»Könnte ich Sie einen Augenblick sprechen?«, flüsterte sie Judith Marchand zu. Auf ihrer Stirn bemerkte Thane ein paar steile Kummerfalten. 

Das ist wohl eine der Substitutinnen, dachte er und musterte ihr Schneiderkostüm aus grünem Cord. Am Revers hatte sie ein ganzes Sortiment von Stecknadeln stecken. Die Verkäuferinnen hingegen schienen alle diese rot-schwarzen Kittel zu tragen.

»Ich habe Sie ohnehin gesucht, Pat«, erwiderte Judith Marchand. »Meine Herren, hier sehen Sie Miss Miller, meine Stellvertreterin - und dies ist Inspektor Thane und Sergeant Moss. Die Herren versuchen, die mysteriösen Vorgänge aufzuklären, Pat.«

Das Mädchen lächelte den beiden Kriminalbeamten zu, aber trotz des Lächelns schwand nicht der Kummer aus ihrem Gesicht.

»Hallo, Mr. Watford«, rief sie, und ihre Augen leuchteten beim Anblick des Geschäftsführers kurz auf. »Was ich zu sagen habe, wird Sie ebenfalls interessieren. Leider habe ich wieder schlechte Nachrichten. Nun - vielleicht können mir die Herren von der Polizei die Sorgen abnehmen.«

»Schlechte Nachrichten?« Judith Marchand runzelte die Stirn. »Es ist doch nicht schon wieder etwas verschwunden!«

»Ich fürchte, ja.« Das Mädchen verzog bekümmert die vollen roten Lippen und schüttelte ihr dunkles Haar. »Eine Kundin wünschte ein Kostüm. Eines der Mädchen wollte ihr das dunkelblaue aus Gabardine mit der weißen Pikeekante zeigen - aber sie fand es nicht. Gestern Abend war es noch da, ich habe es selbst gesehen. Außerdem scheint ein Tweedkostüm zu fehlen. Ich habe alle Verkäuferinnen gefragt. Die beiden Stücke sind nicht verkauft worden.«

»Könnten sie nicht im Lager sein, Pat?«, fragte Jerry Watford. »Vielleicht sind sie aus Versehen weggehängt worden?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Das Gabardinekostüm hing gestern Abend an seinem Ständer, das kann ich beschwören. Kurz bevor wir schlossen, kam noch eine Kundin, der dieses Kostüm besonders gut gefiel. Sie entschloss sich dann aber doch nicht zum Kauf. Ich habe gesehen, wie die Verkäuferin das Kostüm zurück an den Ständer hängte. Nach Ladenschluss war es noch da - und es wurde nichts ins Lager zurückgebracht. Selbstverständlich habe ich trotzdem dort nachgesehen, aber natürlich vergeblich.«   

»Wieviel waren die Beiden Kostüme wert, Miss Miller?«, fragte Sergeant Moss.

»Das blaue war mit achtzehn Pfund ausgezeichnet, das Tweedkostüm mit zwanzig«, erwiderte das Mädchen. Sie seufzte. »Ich fürchte, unsere Abteilung schießt diesen Monat den Vogel ab, was die Diebstähle anbelangt. Aber jetzt kommt das Schlimmste: Die Verkäuferin, die den Verlust entdeckte, glaubt zu wissen, wer das Gabardinekostüm genommen hat... Sie sagt, sie habe beobachtet, wie Jenny Rey heute Morgen etwas in ihren Schrank steckte - es habe ausgesehen wie das Kostüm. Es hat also ganz den Anschein, als ob Jenny an den Diebstählen beteiligt sei.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Jenny Rey war ein sommersprossiges Ding von etwa neunzehn Jahren, mit wasserstoffblondem Haar und tiefen Schatten unter den Augen. Mit kalkweißem Gesicht und mürrischem Blick stand sie neben dem Schreibtisch im Büro der Damenbekleidungs-Abteilung. Ihre Augen hingen wie gebannt an dem blauen Gabardinekostüm, das vor ihr lag.