RALLYE INS JENSEITS - Bill Knox - E-Book

RALLYE INS JENSEITS E-Book

Bill Knox

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Doreen Ashton hatte mehrmals vergeblich versucht, Chefinspektor Thane persönlich zu sprechen. Jetzt lag sie tot im Kofferraum eines Autowracks. Und die Spur führt Thane zu einem Rallye-Club. War Doreens Mörder ein Autofan?   Der Roman RALLYE INS JENSEITS von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1979) erschien erstmals im Jahr 1975; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte in gleichen Jahr. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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BILL KNOX

 

 

Rallye ins Jenseits

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 238

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

RALLYE INS JENSEITS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Doreen Ashton hatte mehrmals vergeblich versucht, Chefinspektor Thane persönlich zu sprechen. Jetzt lag sie tot im Kofferraum eines Autowracks. Und die Spur führt Thane zu einem Rallye-Club. War Doreens Mörder ein Autofan?

 

Der Roman Rallye ins Jenseits von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1979) erschien erstmals im Jahr 1975; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte in gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  RALLYE INS JENSEITS

 

 

 

 

 

 

  

  Erstes Kapitel

 

 

»Als Polizeibeamter muss man sich immer vor Augen halten, dass sich der gesetzestreue Durchschnittsbürger stets unwohl fühlt, wenn man plötzlich an seiner Tür erscheint. Das ist ganz menschlich. Manche werden aggressiv, oder sie fühlen sich in die Defensive gedrängt, noch bevor Sie den Mund aufmachen, und auch das ist menschlich. Ein Polizist gehört einfach nicht zu ihrem normalen Lebensablauf. Er verstört die Menschen, selbst wenn sie ihn brauchen.«

Chefinspektor Colin Thane, Leiter der Kriminalpolizei Millside in Glasgow, hielt inne und hätte sich gern eine Zigarette angezündet. Dann blätterte er um und sah die letzte Seite seiner Notizen vor sich liegen. Jeder Abteilungschef kam reihum als Dozent an der Polizeischule in der Oxford Street an die Reihe. Thane fragte sich wieder einmal, wieviel von dem, was er in den letzten vierzig Minuten gesagt hatte, bei seinen Zuhörern tatsächlich hängengeblieben sein mochte.

In dem kleinen, hell erleuchteten Klassenzimmer saßen acht Männer und zwei junge Frauen. Ihre Uniformen waren noch so neu, dass man die vom Schneider aufgepressten Bügelfalten erkennen konnte. Noch vor ein paar Wochen hatten diese Menschen ein ganz normales Leben geführt, aber jetzt gehörten sie zu den verzweifelt benötigten Streifenbeamten in einer Stadt mit chronischem Personalmangel bei der Polizei: Von 3.200 Planstellen waren 600 unbesetzt.

Thane seufzte leise. Diese Leute schienen im Durchschnitt noch jünger zu sein als sonst. Es waren ein paar ausgesprochene Milchgesichter dabei, und eines der Mädchen, eine schlanke, gut aussehende Rothaarige mit dem Namensschild Katherine Manson, trug ihre Uniform so, als hätte sie früher Modellkleider vorgeführt. Der schlaksige, dunkelhaarige Mann neben ihr, ein gewisser Robert Deacon, unterdrückte ein Gähnen und schien sich mehr für die langen Beine der Rothaarigen zu interessieren als für irgendetwas anderes.

»Also schön«, sagte Thane mit einem leisen Unterton der Verzweiflung, »noch ein paar abschließende Bemerkungen, dann lassen wir’s gut sein.« An der Tür im Hintergrund nickte Sergeant Easter, Leiter des Ausbildungskurses, fast unmerklich und gab damit zu erkennen, dass auch nach seiner Auffassung die Redezeit abgelaufen sei. »Jeder von Ihnen ist wahrscheinlich mit etwas anderen Vorstellungen zur Polizei gekommen. Es könnte durchaus sein, dass einer von Ihnen mit Gottes Hilfe sogar Polizeipräsident wird.«

An dieser Stelle grinsten wie üblich ein paar Zuhörer. Der schlaksige Anwärter stieß die Rothaarige an und handelte sich einen finsteren Blick ein. Thane wartete, bis niemand mehr lachte, und dachte über Statistik nach: Jeder achte Constable durfte hoffen, im Lauf seiner Dienstzeit zum Sergeanten zu avancieren, jeder vierte Sergeant brachte es irgendwann zum Inspektor, und von da an hing die weitere Karriere von einer Mischung aus Glück, Können und der richtigen Nase ab.

»Andererseits sind einige von Ihnen vielleicht in der irrigen Hoffnung gekommen, in der Kriminalabteilung arbeiten zu wollen«, fuhr Thane trocken fort. »Ihnen kann ich nur sagen, dass man nie etwas als selbstverständlich voraussetzen sollte.

Vielleicht sagt Ihnen jemand, dass es draußen regnet, und es sieht auch ganz so aus. Also nehmen Sie vernünftigerweise einen Mantel mit - aber den eigentlichen Beweis haben Sie erst in der Hand, wenn Sie selbst nass geworden sind. Der andere Aspekt ist die Diskretion. Darunter verstehe ich die Freiheit und auch die Fähigkeit zu entscheiden, was absolut oder innerhalb gewisser Grenzen richtig ist. Diskretion und Entscheidungsvermögen lernt man nicht nur durch die harte Praxis, denn nicht einmal Sergeant Easter kann Ihnen das beibringen.«

Easter nickte grimmig. Einige Polizeianwärter machten ratlose

Gesichter, andere dachten gar nichts dabei, aber der schlaksige junge Mann namens Deacon zeigte sich plötzlich interessiert.

»Natürlich kann man die Definition von Diskretion im Wörterbuch nachlesen«, sagte Thane leise. »Aber ich habe meine eigene: Es ist eine Mischung aus gesundem Menschenverstand, Vorahnung und vielleicht einem Schuss menschlichen Gefühls - falls man es sich leisten kann. Trotzdem tragen Sie nachher für alles, was passiert, die volle Verantwortung.«

Er war am Ende angelangt. Ein heiseres Bellen von Sergeant Easter, dann sprangen die Zuhörer auf, wurden verabschiedet und verließen den Raum. Es war gerade Zeit für die Kaffeepause. Deacon zögerte etwas, und Thane glaubte schon, er wolle ihm eine Frage stellen. Aber dann rief ihn die Rothaarige von der Tür her, und Deacon folgte ihr lächelnd hinaus.

»Hübsch wie immer, Sir«, sagte Sergeant Easter, während Thane seine Notizen in der Rocktasche verstaute. Easter, ein vierschrötiger Mann von über vierzig Jahren, sprach mit rauer, halb erstickter Stimme, seit er als Streifenbeamter einmal in einer finsteren Seitengasse von einem Ganoven einen Fußtritt gegen die Gurgel bekommen hatte. Danach hatte man ihn in die Ausbildungsabteilung versetzt. Nun fragte er: »Die Sache mit der Diskretion war neu, nicht wahr?«

»Ich hielt das jedenfalls für richtig.« Thanes Lippen wurden schmaler, als er sich an den Grund erinnerte: Vor drei Tagen hatte man eine hagere Hausfrau in mittleren Jahren wegen eines kleinen Ladendiebstahls in sein Büro gebracht. Sie hatte heulend ein Kind an der Hand gehalten, und nach ein paar Telefongesprächen und ihrer Zusage, so etwas nie wieder zu tun, hatte man sie laufen lassen.

Erst später kam er dahinter, dass sie drüben im Revier Govan schon fünfmal einschlägig vorbestraft und als heulende Winnie polizeibekannt war.

»Vielleicht bleibt doch etwas davon hängen«, meinte Easter zweifelnd. Dann griente er. »Die meisten Burschen interessieren sich mehr für die Frage, wer es schaffen wird, die Rothaarige ins Bett zu kriegen.«

Thane hob fragend eine Augenbraue.

»Nichts zu machen«, erklärte Easter augenzwinkernd. »Kalt wie ein Eisberg. Aber alle werden nach ihrer Pfeife tanzen - und sie weiß es auch. Dieses Mädchen wird es im Leben zu etwas bringen.«

»Einen weiblichen Polizeipräsidenten hatten wir noch nicht«, murmelte Thane und sah auf die Uhr. »Ich muss zurück zur Millside.«

Sergeant Easter führte ihn durch einen langen Korridor an Schulzimmern vorbei, in denen ständig Gruppenunterricht abgehalten wurde. Manche der Kandidaten hatten ihre zweijährige Ausbildung fast abgeschlossen und warteten nur noch darauf, beamtete Constables zu werden. Hinter anderen Türen nahmen erfahrene Beamte an Auffrischungskursen teil. Die Themen reichten von Einsatztaktik bis zur Verhinderung des Drogenmissbrauchs.

Unten im Keller war ein Schießstand eingerichtet. Die schottische Polizei ist immer noch unbewaffnet, aber sie sorgt mehr und mehr dafür, dass sie in ihren Reihen genügend gute Schützen hat - und braucht sie auch oft.

Der Korridor führte an seinem Ende auf den Hof hinaus. Die milde Aprilsonne strahlte auf eine uniformierte Einheit herunter, die hier unter dem Befehl eines anderen Sergeanten exerzierte. Sie gingen hinüber zum Parkplatz auf der andere Seite des Hofs. Der Sergeant, der hier das Kommando führte, zwinkerte Thane zu, dann holte er tief Luft und brüllte seinen hackenklappernden Männern neue Befehle zu.

Früher einmal, als beide noch jung waren, hatten sie zweimal gegeneinander geboxt, und zweimal war es dem Sergeanten gelungen, Thane k. o. zu schlagen.

Kaum einer, der Colin Thane kennenlernte, vergaß ihn so schnell wieder. Er zählte zu den jüngsten und erfolgreichsten Revierchefs in der Stadt. Außerdem maß er weit über einsachtzig und war ein Hüne von einem Mann.

Dabei hatte er aber keinen Bauch, obgleich er seit jenen Tagen im Boxring ein paar Pfunde zugelegt hatte. Sein elastischer Gang verriet nicht, dass er die Vierzig schon hinter sich hatte.

Seine beiden Kinder überredeten ihn langsam dazu, sein dunkles Haar nicht mehr ganz so kurz schneiden zu lassen. Sein braungebranntes Gesicht würde man höflich als männlich-interessant einstufen, dazu hatte er braune, manchmal überraschend nachdenkliche Augen. Das cremefarbene Hemd und der blaue Schlips waren verspätete Weihnachtsgeschenke seiner Frau - sie hatte beides beim Winterschlussverkauf erstanden - und passten zu dem leichten grauen Tweedanzug und den Wildlederschuhen.

Außerdem stand Thane in dem Ruf, mit seiner unorthodoxen Handlungsweise dem Präsidium selbst dann Kopfschmerzen zu bereiten, wenn einmal alles klappte. Ging aber etwas schief...

Zumindest über die heulende Winnie würden sie kaum etwas erfahren. An sie dachte Thane, als er zu seinem Wagen hinüberging, einem zwei Jahre alten Hillman-Combi mit Roststellen rings um die Türen und einem Reservereifen ohne Profil.

Ein plötzlicher Zornesausbruch von Sergeant Easter rief ihn in die Gegenwart zurück.

»Dem dreh’ ich noch die Gurgel um, weiß Gott!«, krächzte Easter. »Verdammt noch mal, ich hab’ ihn genug gewarnt.« Er sah an Thanes Auto vorbei.

Der Gegenstand seines Ärgers war ein kleiner roter Mini-Cooper mit Richterauspuff, Rallye-Reifen, zwei weißen Dachstreifen und einer übertriebenen Beleuchtung an der Vorderseite. Thane ging belustigt darauf zu. Der Mini-Cooper wirkte zwar zerkratzt und mitgenommen, sah aber aus wie ein Auto, das von seinem Besitzer heiß geliebt wurde.

»Gehört der Ihnen, Sergeant?«, fragte Thane.

Easter fand die Frage nicht komisch. »Robby Deacon«, antwortete er knapp. »Das ist einer von den Neuen. Vielleicht ist er Ihnen auf gefallen, Sir: groß, schlaksig, dunkles Haar...«

»Ja, ich weiß.« Thane nickte. »Er scheint es bei der kleinen Manson schon ziemlich weit gebracht zu haben.«

»Und er bringt es noch so weit, dass er von mir einen Arschtritt kriegt«, knurrte Easter. »Er weiß genau, dass er dieses verdammte Spielzeug hier nicht parken soll. Auf dem Hof dürfen seit jeher nur die höheren Dienstränge ihre Fahrzeuge abstellen.«

»Geheiligter Boden«, sagte Thane fröhlich. »Unsere Privilegien sind dürftig genug. Das sollte jemand diesem Herrn Deacon klarmachen, bevor er noch größenwahnsinniger wird.«

»Jawohl, Sir.« Easter lächelte grimmig und freute sich auf seine Rache. Je früher, umso besser. »Vorige Woche haben wir ihn erstmals zum uniformierten Streifendienst eingeteilt, Sir - in Ihrem Revier, Mr. Thane.«

Thane verzog das Gesicht. Die Kriminalbeamten bekamen normalerweise die Leute vom Streifendienst kaum zu sehen, und besonders während der Ausbildungszeit zeigte man die Anfänger kaum her.

Er betrachtete den Mini-Cooper jetzt interessierter. Der Wagen war alt, aber in Ordnung. Am Armaturenbrett waren zusätzliche Instrumente und Hebel angebaut; das Lenkrad bestand aus Leichtmetall mit Ledereinfassung. Unter dem Dach war ein zusätzlicher Überschlagbügel angeschweißt, der Rücksitz war entfernt und durch zwei weitere Ersatzreifen, einen Spaten, Treibstoffkanister und diverses Werkzeug ersetzt worden.

»Ich habe gehört, dass er eine Menge von Autos versteht«, gab Easter widerwillig zu. »Aber verdammt noch mal - jetzt ist er bei der Polizei.«

»Wie würden Sie ihn als Polizisten beurteilen?«, fragte Thane.

»Schwierig.«

»Wie meinen Sie das?« Thane hob eine Augenbraue. Er wusste, wie genau Easter ansonsten die neuen Kandidaten beurteilen konnte.

Easter zuckte die Achseln. »Was die Fähigkeiten betrifft, ist er der Beste in der neuen Gruppe. Aber wenn man nicht aufpasst, erfindet er ein halbes Dutzend Gründe, um sich vor der Arbeit zu drücken. Man muss ihn so oder so im Auge behalten.«

»Die Verkehrspolizei kann einen guten Fahrer immer gebrauchen«, meinte Thane.

»Er will zum Kriminaldienst«, antwortete Easter mit unbeweglichem Gesicht. Er schien damit sagen zu wollen, dass es ohnehin am besten sei, problematische Polizisten zu den Kriminalisten abzuschieben.

»Danke für die Warnung«, meinte Thane trocken. »Ich weiß es immer gern vorher, wenn es jemand auf meinen Job abgesehen hat.«

Er verabschiedete sich von Easter, ging zu seinem Wagen zurück und fuhr aus dem Hof.

Die Polizeischule war in einem alten viktorianischen Gebäude untergebracht, dessen Inneres allerdings modern ausgestattet war, sogar mit einer hauseigenen Fernsehanlage. Die Straßen ringsum bestanden aus einer Mischung von heruntergekommenen Wohnvierteln, abgerissenen Gebäuden und nagelneuen, teuren Apartmenthäusern.

Irgendein unbekannter, aber zweifellos praktisch denkender Planer hatte in der Viktorianischen Zeit die Polizeischule von Glasgow mitten im berüchtigten Getto von Gorbal untergebracht. Generationen frisch gebackener Beamter konnten so genau vor ihrer eigenen Haustür die ersten Erfahrungen sammeln.

Aber inzwischen war Gorbal wie auch die anderen berüchtigten Slums von Glasgow beinahe verschwunden. Man hatte die Bewohner anderswo untergebracht und damit auch die Gewalttätigkeit auf andere Bezirke verteilt. Was von Gorbal noch übrig war, wurde teilweise von freundlicheren Leuten bewohnt, von indischen und pakistanischen Kaufleuten oder Omnibusfahrern. Die Männer arbeiteten hart, die Frauen waren schüchtern und in bunte Saris gekleidet, und abgesehen davon stellten sie eine solche Minderheit dar, dass es keine Integrationsprobleme gab.

Am Gorbal Cross, dem einstigen Treffpunkt der Gangster, war sogar eine Grünfläche mit Bäumen und Büschen entstanden. Ein Schild besagte Betreten des Rasens verboten und wurde im allgemeinen auch respektiert.

Trotzdem waren die Slums von Gorbal noch nicht ganz unter Kontrolle. Die Altstadt war unberechenbar und gefährlich. Aber Gras und Bäume spielten für Menschen, die zwischen Betonwänden aufgewachsen waren, eine große Rolle.

 

Zwanzig Minuten später hatte Colin Thane die Fahrt quer durch die Stadt hinter sich und stellte seinen Wagen auf dem Privatparkplatz des Polizeireviers Millside ab. Die blasse Frühlingssonne spiegelte sich in einer Glasscherbe neben dem Eingang, eine leichte Brise trieb Papierfetzen und anderen Unrat gegen den Drahtzaun.

Das Millside-Polizeirevier passte genau ins Viertel: ein Gebäude in düsterer Pseudo-Gotik aus grauem Granit, das im Laufe der Jahre nach allen Seiten hin Backsteinanbauten bekommen hatte. Über dem Dache ragte eine Funkantenne auf. Aber in einigen Monaten würde es verlassen sein. Für das Revier wurde in der Nähe des Hafens ein neues Gebäude errichtet, und zwar anstelle abgerissener Lagerhäuser.

Thane erreichte den Haupteingang. Eine der Fahndungsnotizen war entfernt worden: die Suche nach einem Doppelmörder im Osten der Stadt. Der Gesuchte war mit Steinen in den Taschen aus dem Clyde-Fluss gefischt worden.

Zwei Beamte kamen aus dem Gebäude und salutierten. Thane nickte ihnen zu und trat ein. Aus dem Funkraum hörte er das Knattern von Störungen und verzerrte Stimmen, dann lief er rasch die Haupttreppe hinauf zur Kriminalabteilung.

Diese Abteilung bestand aus einem Großraumbüro und einigen kleineren Räumen am anderen Ende. Die Möbel waren schlicht und zerkratzt, die Wände wurden jedes zweite Jahr hellgelb getüncht, das dicke braune Linoleum war nach jahrelangem Gebrauch an verschiedenen Stellen abgetreten.

Die Abteilung machte, wie immer am Spätnachmittag, einen ruhigen Eindruck. Der größte Teil der Tagschicht war dienstlich unterwegs, ein Beamter in Hemdsärmeln tippte einen Bericht, ein anderer telefonierte, und MacLeod, der Sergeant vom Dienst, saß an seinem Schreibtisch und sprach mit leiser Stimme auf eine gut gekleidete Frau ein, die sich krampfhaft an ihrer Handtasche festhielt.

Thanes Bürotür stand offen. Er trat ein und sah eine untersetzte Gestalt, die an seinem Schreibtisch die Papiere durchblätterte. Inspektor Phil Moss, Thanes Stellvertreter, gab einen Knurrlaut von sich, der wohl als Gruß gedacht war.

»Etwas verloren?«, fragte Thane freundlich. Er ließ sich in den alten Drehstuhl fallen, der noch von seinem Vorgänger stammte. »Nicht aufregen, Phil, Sie machen ein Gesicht, als könnte morgen die Welt untergehen.«

»In diesem Fall wüssten Sie nicht einmal, wo Sie die Aktennotiz darüber hingelegt haben.« Moss ließ von seiner Suchaktion ab. »Während Sie einem staunenden Publikum Ihre Lebensgeschichte zum besten gaben, hatte ich das Stadtbauamt wegen des Neubaus am Hals. Ich konnte nicht einmal den Plan der Löschanlagen finden!«

»Irgendwo muss er liegen«, murmelte Thane und überlegte, welchen Eindruck Moss auf die Abordnung des Stadtbauamtes gemacht haben mochte. Moss sah immer so aus, als hätte er in den Sachen, die er gerade trug, geschlafen. Wahrscheinlich tat er es manchmal auch. »Ich weiß genau, dass ich ihn in der Hand hatte, Phil.«

»Wenigstens etwas«, knurrte Moss sarkastisch. Er rülpste so laut, dass man es in dem Büro nebenan hören konnte. »Aber wo ist das Ding?«

Thane überhörte den Rülpser, dachte nach und öffnete dann ein paar Schubladen. Phil Moss’ Zwölffingerdarmgeschwür, seine Scheu vor jeder Behandlung und seine Versuche mit allen möglichen Hausmitteln waren in sämtlichen Polizeirevieren der Stadt bekannt. Aber wenn es um Organisation und Ordnung ging, war Moss trotz seines unordentlichen Aussehens von den beiden immer noch der methodischere.

Gegensätzlicher als die beiden konnten zwei Menschen kaum sein. Moss war älter, wahrscheinlich Ende Fünfzig, aber er gab nicht einmal zu, dass er überhaupt Geburtstag hatte. Er war schmal, blass und so klein, dass man sich erzählte, er hätte sich bei der Bewerbung auf die Zehenspitzen stellen müssen, um die vorgeschriebene Mindestgröße zu erreichen. Dazu hatte er dünnes, mausgraues Haar. Er war ein eingefleischter Junggeselle mit einer recht tristen Weltanschauung - aber ein hervorragender Polizist.

Phil Moss sah aus wie ein Fürsorgeempfänger und wirkte zum Teil durch sein Magengeschwür immer knurrig, aber er hatte mit Thane vom ersten Augenblick an ohne jedes Ressentiment darüber zusammengearbeitet, dass man ihm einen Jüngeren vor die Nase gesetzt hatte. Aus der beruflichen Zusammenarbeit hatte sich eine seltsame Freundschaft entwickelt.

»Schon gefunden.« Thane zog den vermissten Plan aus den Tiefen der untersten Schublade hervor und warf ihn auf den Tisch. Das zusammengefaltete Papier wies einen älteren Teefleck auf. »So«, fragte Thane, »und was ist mir noch entgangen?«

»Nicht viel.« Moss fing die Zigarette auf, die Thane ihm zuwarf, ließ sich Feuer geben und verzog das Gesicht beim ersten Zug. »Eine mittlere Panik wegen einer Messerstecherei auf einem spanischen Schiff unten am Dock, aber die wurde noch rechtzeitig unterbunden. Die beiden Rädelsführer sitzen im Kittchen, aber ich hab’ mich beim Rasieren schon mal schlimmer geschnitten. Draußen bei Fortrose wurde wieder ein Kassierer überfallen...«

»Wer bearbeitet das?« Thane legte die Stirn in Falten. Mieten zu kassieren wurde da draußen zu einem lebensgefährlichen Job.

»Beech.« Moss’ Miene zeigte, dass er von dieser Wahl selbst nicht begeistert war. »Ein anderer stand mir nicht zur Verfügung. Mac musste sich um eine Witwe aus Monkswalk kümmern, deren Haus ausgeraubt wurde, während sie morgens ihren Kaffee trank, aber sie ist gut versichert.«

»Hoffentlich hat ihr wenigstens der Kaffee geschmeckt.« Thane erinnerte sich an die gut gekleidete Frau, die bei Sergeant MacLeod gesessen hatte. »Wenigstens nicht schon wieder eine Ladendiebin... Nun, dann hat sie ja etwas zu erzählen.«

Er ließ seine Zigarette eine Weile glimmen und betrachtete die Grafik an der Wand. Das Revier Millside erstreckte sich als Rechteck im Nordwesten der Stadt vom Hafen bis hinaus in die wohlhabenden Vororte. Ein paar hunderttausend Menschen gehörten dazu, angefangen von Gaunern, die alles klauten, was nicht niet- und nagelfest war, bis hinauf zu maßgeschneiderten Managern, deren Verbrechen ganz anders aussahen.

Millside war eine Mischung aus Industriegebieten und Slums, billigen Wohnvierteln wie Fortrose und teuren Vororten wie Monkswalk. Doch überall lebten Menschen, und die Höhe des Bankkontos sollte für ihr Aussehen nicht ausschlaggebend sein.

»Da ist doch etwas passiert«, sagte Moss plötzlich, »dieses Mädchen hat nicht zurückgerufen. Sie wissen schon: Sie wollte Sie gestern erreichen.«

Doreen Ashton - der Name stand unterstrichen auf Thanes Notizblock. Er wusste nicht, wer das war. Aber sie hatte gestern Nachmittag zweimal angerufen und ausdrücklich nach ihm verlangt. Er war unterwegs gewesen, Moss hatte ebenfalls auswärts zu tun, und der Sergeant vom Dienst konnte ihr lediglich die vage Angabe entlocken, es handele sich um etwas sehr Wichtiges und Vertrauliches, und sie werde noch einmal anrufen. »Dann können wir auch nichts dran ändern.«

»Wenn es wichtig genug war, werden wir es schon hören.« Moss deutete mit seinem knochigen Finger auf den Plan. »Die Leute vom Stadtbauamt kommen morgen wieder. Sie haben ein Haar in der Suppe gefunden.«

»Schon wieder?«, fragte Thane zynisch. Alles, was mit dem Neubau zusammenhing, schien problematisch zu werden. »Worum geht’s denn diesmal?«

»Es hat mit dem Aufzugsschacht zu tun. Er muss verlegt werden und wird jetzt wahrscheinlich genau da verlaufen, wo eigentlich Ihr Büro hätte sein sollen. Ich hab’ den Leuten einiges dazu erzählt, aber sie waren nicht begeistert.«

Thane griente und drehte sich um, weil es an der Tür geklopft hatte. Der Sergeant vom Dienst brachte die Nachmittagsmeldungen aus der Zentrale. Thane ging sie durch.

Für Millside war nichts von Bedeutung dabei. Er warf Moss die neueste Diebstahlsliste zu: Das bedeutete, dass irgendein armer Hund vom Diebstahlsdezernat wieder die Runde durch alle Trödlerläden machen musste. In einem Rundschreiben warnte Chefinspektor Ilford, der Leiter der Kriminalpolizei, vor unmäßigen Überstundenabrechnungen, und irgendein Superintendent, dessen Name Thane noch nicht einmal gehört hatte, verlangte statistische Angaben über die Wiederauffindung gestohlener Autos.

Er beförderte Ilfords Memorandum in den Papierkorb und leitete die statistische Anfrage an die uniformierte Verkehrspolizei weiter. Er wusste genau, dass der Wisch zu ihm zurückkommen würde.

»Phil, haben Sie schon etwas von einem Neuling namens Robby Deacon gehört?«

»Nein.« Moss stand am Fenster und sah hinaus. »Warum?«

»Er macht seine Grundausbildung hier in unserem Revier. Bei der Vorlesung ist er mir aufgefallen.« Thane drückte seine Zigarette aus und sah auf die Uhr. »Easter meint, er will Kriminalist werden.«

»Dann muss er geisteskrank sein.« Moss drehte sich um und sah, wie Thane seinen Schreibtischsessel zurückschob. »Wollen Sie weg?«

»Nach Hause«, berichtete Thane mit einem Anflug von Lächeln. »Mary und die Kinder sind heute Abend bei irgendeinem Schwimmfest, da wollte ich mitgehen.«

»Bringen Sie es ihnen schonend bei«, sagte Moss trocken. Dann rieb er sich das Kinn und nickte. »Falls das Mädchen noch einmal anrufen sollte, bin ich noch eine Weile hier. Sonst noch etwas?«

»Nein, sehen Sie zu, dass es ruhig bleibt«, bat Thane und steuerte auf die Tür zu. »Ich hab’ versprochen, zu dieser Schwimmern mitzukommen.«

»Fallen Sie nicht ins Wasser«, riet ihm Moss. »Der Veranstalter braucht sonst einen Kran, um Sie herauszuziehen.«

»Den Kran können Sie sich an den Hut stecken«, sagte Thane fröhlich und ging.

Moss starrte wieder zum Fenster hinaus. Jenseits der Straße spielten Kinder auf einer Baustelle, wo man ein altes Wohnhaus niedergerissen hatte. Bei dieser Gelegenheit waren einige Ratten entkommen und hatten versucht, im Polizeirevier eine neue Heimat zu finden, aber die Dienstkatzen machten Überstunden. Es gab hier immer noch genug miese Wohnbaracken mit Hinterhöfen, in denen die Wäsche zum Trocknen hing.

Sein Magen schmerzte wieder, und er bereute es, zum Mittagessen die Bohnen bestellt zu haben.

Im Neubau war ihnen wenigstens eine Kantine mit anständiger Bedienung versprochen worden. Das mochte eventuell klappen, doch in manch anderer Hinsicht hatte Phil Moss Bedenken.