Das frühe Bundesparlament - Leonhard Neidhart - E-Book

Das frühe Bundesparlament E-Book

Leonhard Neidhart

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Beschreibung

Die Schweiz schuf 1848 als erstes Land in Europa ein demokratisch gewähltes Parlament, das von keiner absolutistischen Obrigkeit abhängig war. Der fortschrittliche Kompromiss, den die liberale Elite zustande brachte, entwickelte sich bis zum Ersten Weltkrieg zu einem Glücksfall für die Schweiz. Dieses Werk zeigt, wie die neuen Bundesbehörden ihre Arbeit organisieren mussten, wie sich das Zweikammersystem etablierte, wie die Beziehungen zum Bundesrat gestaltet wurden und die repräsentativen Räte lernten, mit der ausserparlamentarischen Opposition des Gesetzesreferendums umzugehen. Zugleich vermittelt es Einblicke in damalige politische Denkweisen und in die gesetzgeberischen Probleme des jungen Bundesstaates. Der erste Teil entwickelt Ansätze zu einer Theorie des schweizerischen Parlamentarismus, der zweite präsentiert lesenswerte zeitgenössische Originalbeiträge zum Parlamentsgeschehen in der Bundesstadt Bern.

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Seitenzahl: 564

Veröffentlichungsjahr: 2013

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LEONHARD NEIDHART

Das frühe Bundesparlament

DER ERFOLGREICHE WEG ZUR MODERNEN SCHWEIZ

VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1.Auflage 2010 (ISBN 78-3-03823-634-4).

Lektorat: Ingrid Kunz Graf, Schaffhausen

Titelgestaltung: unfolded, Zürich

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-03823-971-0

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

Zur Einführung

I

Als einziger Staat Europas errichtete die Schweiz in der Mitte des 19.Jahrhunderts ein nationales Parlament, das keiner absolutistischen Obrigkeit die Reverenz erweisen musste, sondern ganz unabhängig war und rein demokratisch gewählt wurde. Diese Neuerung gedieh bald zu einem Glücksfall für das seit den französischen Revolutionskriegen geplagte und zerstrittene Alpenland. In sein kollektives Gedächtnis ging jene Revolution im Gegensatz zur direkten Demokratie aber eher nur schwach ein. Könnte es sein, dass das Volk der direkten Demokratie die Rolle seines Parlamentes unterschätzt? Tatsächlich liegen kaum gründliche Studien über die Arbeitsweise und die politische Rolle unserer jungen Bundesversammlung vor. (Die informative Arbeit von Urs Marti, Zwei Kammern – ein Parlament, mit sämtlichen Namen der Nationalräte und der Ständeräte von 1848 bis 1990, Frauenfeld 1990, soll aber nicht unerwähnt bleiben.)

Grund genug, um der frühen Entwicklung dieser zentralen politischen Institution unseres Landes nachzugehen. Dabei wird sich zeigen, dass es manchmal unschweizerisch, dann aber auch pragmatisch schweizerisch zu und her ging. Nach dem Ende der französischen Interventionen machte man in der noch miserabel organisierten Eidgenossenschaft nämlich lange politisch hin und her zwischen Renovation und Restauration, plante in den frühen 1830er-Jahren dann doch einen neuen Bundesvertrag bzw. eine Bundesverfassung. Einig wurden sich unsere Herren Vorfahren dabei aber nicht (die Damen blieben noch lange von den Urnen ausgesperrt). Vielmehr gingen sie, die Männer also, im Sonderbundskrieg 1847 noch aufeinander los. Was heute für viele Minarette und Muslime sind, waren damals für viele Klöster und Jesuiten. Angezettelt wurde jener aussenpolitisch nicht ungefährliche Bürgerkrieg, wie es immer ist, von politischen Scharfmachern und Dummköpfen, und zwar in beiden Lagern.

Weil in unserem Kleinstaat alles kleiner ist, das Land und damit die Herrschaft, die Rathäuser und die Kirchen, die Gewalt, die Kriegsschäden und die Verletzungen (auch die politischen Dummheiten), der Wille jedoch stark war, eine unabhängige Eidgenossenschaft zu bleiben, wirkte sich jener Waffengang nicht staatsbedrohend, sondern klärend aus. Auch deshalb gelang es einem Tagsatzungsausschuss von mehrheitlich liberalen Staatsmännern schnell, eine neue Bundesverfassung zu entwerfen, die schon 1848 von den Mehrheiten des Volkes und der Stände akzeptiert wurde. Auch jene Volksabstimmung über die neue Bundesverfassung war ausserordentlich und friedenstiftend. Und der Kern der damals geschaffenen Grundstrukturen des Bundesstaates und des Bundesparlamentes samt der Regierungsform hielt stand bis heute.

Einmalig schweizerisch war auch, dass jenes Bundesparlament, bestehend aus 114National- und 44Ständeräten, im November 1848 in Bern zu tagen begann, bevor diese Stadt überhaupt schon zur Bundesstadt erkoren worden war. Deshalb mussten die neuen Bundesbehörden dort mit minimalsten Mitteln ganz von vorne beginnen, also Tagungslokale suchen und sich eine Geschäftsordnung geben. Dabei konnten sie allerdings auf Erfahrungen in Kantonen bauen. Im kleinen, von manchen noch lange Zeit eher scheel angesehenen Ständerat ging das sofort ohne Reglement. Die Herren Kantonsvertreter setzten sich zusammen, wählten einen Präsidenten und begannen über Gesetzesvorlagen zu beraten. Im selbstbewussten, euphorisch gestimmten und dominierenden Nationalrat lief es, wie sich zeigen wird, nicht so einfach.

Wie es dann manchmal schneller, manchmal nur mühsam weiterging, will diese Arbeit zeigen. «Wänn die taged, nachtets», soll ein Berner Witzbold viel später über die Räte einmal gesagt haben. So schlimm war es gewiss nicht. Aber es gehört zur politischen Kultur unseres direktdemokratischen Landes, dass man den Behörden wohl Achtung, aber keine übermässige Verehrung entgegenbringt, und zwar immer schon. Erwähnenswert ist auch, dass bei jenem Anfang jedes Mitglied des siebenköpfigen Bundesrates zwei Sekretäre und zwei Arbeitsräume, der Militärchef einige Beamte mehr und jener für die Finanzen einen sicheren Keller für die Kasse zugesprochen erhielt. Der Bundeskassier musste damals noch lange eine sehr hohe Amtskaution leisten. Dem Bundespräsidenten stand ein Empfangsraum zur Verfügung und allen zusammen ein Zimmer, in dem sie Zeitungen lesen konnten. Das sollte man auch wissen, wenn man den damaligen Parlamentsbetrieb verstehen will.

II

Ziel dieser Schrift ist es, ein möglichst zutreffendes und auch anschauliches Bild über die Entwicklung des damaligen eidgenössischen Parlamentsbetriebes zu vermitteln. Formuliert man dieses Vorhaben etwas analytischer, dann handelt es sich dabei um Beobachtungen zweiter und dritter Ordnung. Das heisst, dass das Buch und der Schreibende Beobachtungen wiedergeben, die damals von Journalisten und Protokollanten über den Parlamentsbetrieb (in erster Ordnung) gemacht wurden. Und mit Ihrer Lektüre beobachten Sie, verehrte Leserschaft, die ausgewählten (zweiten) Beobachtungen des Schreibenden in dritter Ordnung. Diese Formulierung soll bewusst machen, was lesen heisst, und ausserdem, dass das damalige Parlamentsgeschehen nicht vollständig objektiv, sondern auf jeder Beobachtungsstufe selektiv wahrgenommen wurde und wird. Wir lesen und verstehen jene Berichte (oder beobachten jene Geschichte) heute mit Sicherheit völlig anders, als man sie vor hundert Jahren gelesen und verstanden hatte. Und eine Leserschaft mit Erfahrungen in einem Parlament wird die folgenden Ausführungen wieder anders lesen als eine Leserschaft ohne diese Erfahrung. So viel zur kurzen Beratung der geneigten Leserschaft.

Dazu noch ein persönliches Wort: Die Wahl eines solchen Themas und die Art seiner Behandlung geschehen nicht aus dem luftleeren Raum heraus, sondern im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Biografie des Schreibenden, was die aufmerksame Leserschaft auch wissen sollte. Ich habe längere Zeit an der Freien Universität im damaligen Westberlin studiert und gearbeitet und dort die politische Dramatik jener durch eine Mauer geteilten Stadt miterlebt. Anschliessend lehrte ich an der Universität Konstanz, lebe in Zürich und publiziere fast ausschliesslich zu Fragen der schweizerischen Politik. All das führte mich dazu, das politische Tun und Lassen oft vergleichend zu beobachten. Dieses Vergleichen färbte sich auch in dieser Darstellung ab und schönte sie möglicherweise etwas. Denn wer längere Zeit in der Nähe jener monströsen Mauer gelebt hat, gewinnt eine besonders enge Beziehung zum eigenen Land, ohne deshalb in eine, ausgerechnet auf zürcherischem Boden entstandene, politische Bewegung zu desertieren, die sich zwar vaterländisch gibt, aber, um an die Macht zu kommen, starke Ressentiments gegen Ausländer weckt und ausserdem dabei ist, beste Teile des fortschrittlichen und freiheitlichen Erbes dieses für das ganze Land hoch bedeutsamen Kantons Zürich zu verspielen, und dabei bedauerlicherweise noch von ehemals gutbürgerlich liberalen Elitemitgliedern unterstützt wird. Das muss auch gesagt sein, wenn man sich mit einem solchen Thema beschäftigt. Zentrales Interesse ist es aber zu ergründen, wie und warum viele politische Dinge in unserem Land anders und besser gelaufen sind und trotz ‹Blocherismus› noch besser laufen.

Der Schreibende ist Politologe, nicht Historiker. Deshalb hat er die verfügbaren Dokumente auch anders gelesen. Es geht mir weniger darum, jene Entwicklung der Bundesversammlung so aus der Vergangenheit hervorzuholen, wie sie war, sondern sie als Weichenstellung für die späteren und die gegenwärtigen Verhältnisse zu verstehen. In Anbetracht einer ziemlich unbedachten Kritik, die, wie kaum in einer andern gestandenen Demokratie, bei uns immer wieder an den Eigenarten unseres Föderalismus, an der direkten Demokratie, am Milizprinzip und derzeit an der Institution Bundesrat und seinem Wahlverfahren geübt wird, ist eine solche Rekonstruktion nicht überflüssig. Deshalb konzentriere ich mich in erster Linie auf die Herausbildung der Prozeduren und institutionellen Regelungen, auf die Geschäftsordnungen und auf den Geschäftsverkehr zwischen den beiden eidgenössischen Räten samt ihren Beziehungen zum Bundesrat als der Regierung. Das heisst, ich will zeigen, wie die jungen Räte lernen mussten, ihre Verfahrensprobleme zu lösen, und wie wirksam sie es bewerkstelligt haben. Denn jene Praktiken waren es, welche die Grundstrukturen unserer heutigen parlamentarischen Verhältnisse geschaffen haben.

Dass dabei Einblicke auch in die politischen Ideen und Denkweisen jener Zeit und in die damals wichtigen gesetzgeberischen Probleme des Bundes vermittelt werden, versteht sich von selbst. Es waren ja jene inhaltlichen Probleme, welche die parlamentarischen Verfahren und Institutionen notwendig gemacht und geprägt haben. Umgekehrt beeinflussten die damaligen Verfahren, z.B. das Zweikammersystem, die Geschäftsreglemente oder das Wahlrecht, natürlich auch die politischen Inhalte, die Gesetzgebung. Es handelt sich dabei also um Wechselwirkungen, die unser beengtes Milizparlament immer schon bedrängt haben und es gegenwärtig erneut stark herausfordern. Ausserdem kann ein solcher Rückblick das Bewusstsein für den dramatischen Wandel schärfen, der seither stattgefunden hat.

Um diese prozeduralen und institutionellen Komponenten unseres Parlamentes herauszuarbeiten und um die Darstellung jener Gründungsphase auch für die heutige Beobachtung unserer Räte nützlich zu machen, kommt diese Schrift mit zwei ‹Sendungen› daher, zunächst mit einer eher theoretisch-analytischen und dann mit einer reichhaltig dokumentarischen. In der ersten werden begriffliche Werkzeuge und eine theoretische Optik zur Beobachtung unseres Parlamentes kurz vorgestellt. Das muss nun einmal sein, wenn man etwas genauer hinsehen und verstehen will, auch wenn es mühsam ist. So sollen diese gedanklichen Vorbereitungen helfen, die im zweiten, narrativen Teil ausführlich wiedergegebenen Dokumente hintergründiger lesen und sie in einen Zusammenhang mit den gegenwärtigen Verhältnissen bringen zu können.

Der zweite Teil, mit dem die Lektüre auch begonnen werden kann, präsentiert eine umfangreiche Auswahl von parlamentarischen Originalmaterialien aus den Jahrzehnten ab der Gründung des Schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914. Mit der Proporzwahl des Nationalrates nach jenem unglaublich sinnlosen, blutigen und das halbe Jahrhundert verheerenden Krieg änderte sich nach 1918 in der schweizerischen Parteien- und Parlamentslandschaft dann manches. Wie wenig man in jenem Sommer 1914 die kommende Katastrophe vorausgeahnt und/oder eine Parteinahme gescheut hatte, dokumentiert wohl schon die Tatsache, dass jene ausserordentliche Sitzung der Bundesversammlung zur Wahl des Generals gar nicht in das Stenographische Bulletin aufgenommen wurde. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) druckte die kurzen Reden ab, und sie finden sich am Schluss dieser Arbeit. Indessen räumten viele Leute ihre Bankkonten, sofern sie solche hatten, sodass der Bund eilends kleines Papiergeld in Fünffrankennoten drucken lassen musste. Doch die in der vorausgegangenen Epoche eingeübte, nationale politische Grundverfassung brach weder im Ersten Weltkrieg noch während der schwierigen dreissiger Jahre auseinander und trug ohne Zweifel auch dazu bei, die Schweiz friedlich und damit glücklich, gewiss manchmal politisch auch mühsam, durch den Zweiten Weltkrieg zu retten.

Damit ist die Zeitspanne genannt, auf die sich diese Arbeit bezieht. Schweizerisch sparsam war übrigens, dass sich die Mehrheiten von Bundesversammlung und Bundesrat trotz zahlreicher Vorstösse immer wieder geweigert hatten, ein stenographisches Protokoll über die Verhandlungen der Räte erstellen und im Druck erscheinen zu lassen. Den einen war das zu teuer, andere sahen darin kein zwingendes Bedürfnis. Man hat eine solche Quelle also nicht. Der Presse war das nicht ganz unrecht, denn so konnte sie ihr damaliges Berichterstattungsmonopol halten. Erst ab 1891 wurden die Gesetze und die wichtigen Motionen, aber keine Debatten über die Budgets und die Geschäftsberichte des Bundesrates, veröffentlicht. Der Informationsbedarf des seit 1874 zunächst höchst turbulent wirkenden fakultativen Referendums drängte schliesslich zu einer solchen Publikation.

Damals war die Presse (neben Predigten) das einzige Medium der Massenkommunikation. Weil die Schaffung von Parlamenten als der grosse Schritt zur Demokratisierung galt, lieferten die Zeitungen – die vielfältige Schweiz hatte zahlreiche und freie – regelmässig Berichte über das neue Geschehen in Bern. Ohne Zeitungen hätten die Leute im Land ja nichts über die Tätigkeit ihrer Vertreter in der Bundesstadt erfahren können. Auch deshalb liess E. Bosshart vom Restaurant Kronenhalle in Zürich Zeitungsanzeigen erscheinen, in denen er mitteilte, dass in seinem Lokal 26Schweizer Zeitungen, 14 deutsch-österreichische, fünf französische und fünf englisch-amerikanische gelesen werden können.

So darf man es als politisch-kulturellen Glücksfall bezeichnen, dass sich die NZZ mit ihrer Parlamentsberichterstattung ganz besonders angestrengt hatte. (Heute gibt es sie so nicht mehr.) Ohne ihre damaligen sehr ausführlichen Berichte wäre vieles verloren. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass der eidgenössische Vorort (die Exekutive des alten Staatenbundes) nie mehr in Zürich, sondern fortan und dauerhaft als Bundesrat in Bern amtete. Und Bern war damals der politisch dominierende Kanton der Schweiz. Auch wollte das Blatt die liberalen Bundesgründer und Gesinnungsgenossen unterstützen. Jedenfalls schickte es sehr kompetente Korrespondenten nach Bern, die von dort aus, wie sich im zweiten Teil der Arbeit zeigen wird, umfangreiche, oft analytisch starke und überraschend verfahrenskritische sowie manchmal auch belehrende Berichte nach Zürich telegrafierten. Darin kann man vieles herauslesen, was offizielle Protokollanten nicht zu verbuchen gewagt hätten. Aber es gab damals noch keine überparteiliche Presse. Die NZZ war es auch nicht. Übrigens ging sie 1868 vom Orell Füssli Verlag an eine Aktionärsgruppe von Anhängern des liberalen Systems, des sogenannten Centrums, über. (Im Jahre 1880 hatte es in der Redaktion offenbar Differenzen gegeben. Dann wurde das Blatt, als erstes im Land, von einer Chefredaktion geleitet.)

Ihre Berichte machen den Inhalt und die interessante und oft anregende Lektüre des zweiten Teils dieser Schrift aus. Ab dem Jahre 1891 werden sie durch Auszüge aus dem Stenographischen Bulletin der Bundesversammlung ergänzt, auch deshalb, weil schon damals die Wahl und die Zahl des Bundesrates grosse Themen waren. Die Debatte darüber begann mit seiner Gründung, dauerte mit Unterbrüchen bis 1914 und ging später weiter bis auf den heutigen Tag.

Der Verfasser hat aus den Korrespondenzen der NZZ also (auswählend) ‹beobachtet›, in der alten Schreibweise zitiert und ab und zu auch kommentiert, was ihm zur Darstellung der Organisationsentwicklung der Räte und der wichtigen Themen bedeutsam erschien. Stoffe für Heiterkeit bzw. Hilarité, wie es in Parlamentsprotokollen ab und zu heisst, habe ich zur Belohnung der fleissigen Leserschaft auch berücksichtigt. Um auf einer einheitlichen Linie zu bleiben, wurden keine anderen Presseorgane herangezogen. Die Leserschaft wird bald erkennen, dass das auch nicht notwendig war. Auf Fussnoten und auf weitere Quellenangaben kann deshalb verzichtet werden. Sodann wird der gesamte reichhaltige Text, um ihn übersichtlicher und lesbarer zu machen, durch viele Zwischentitel strukturiert. Eine Liste der wichtigen Namen und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis finden sich am Schluss der Arbeit.

Der lange Zeitraum bringt es mit sich, dass der zweite Teil teilweise sehr detailliert geworden ist, weil ich einen zusammenhängenden Überblick versucht habe. Die interessierte Leserschaft muss nicht alles auf einmal lesen, sondern kann sich in einem ersten Umgang unbeschwert in dieser ‹Ausstellung von politischen Reminiszenzen› umsehen und beobachten, was ihr Interesse weckt.

Weil die Eidgenossenschaft kein herrschaftlich-repräsentatives Oberhaupt duldete, fungierte nach 1848 in erster Linie der Nationalrat als nationaler Repräsentant und als dominierender politischer Akteur. Dann war es jahrzehntelang üblich, dass die an- und abtretenden Ratspräsidenten sich in nationalen und staatspolitischen Unterweisungen und Lobreden übten. Im jungen Schweizer Bundesstaat gab es durchaus nationale Integrationsbedürfnisse, aber ausser den Ratspräsidenten kaum prominente, nationale politische Stimmen, die diese hätten erfüllen können. Wohl auch deshalb druckte die NZZ jene Reden fast immer wörtlich ab, und zahlreiche von ihnen werden im zweiten Teil auszugsweise wiedergegeben. Es handelt sich dabei meist um prägnante und interessante Texte, die sich auch gut lesen.

Dabei zeichneten sich unmittelbar nach 1848 der liberale Sidler und später der katholisch-konservative Obwaldner Wirz besonders aus. Sidler war vorerst Landammann im Kanton Zug, bevor er nach Zürich übersiedelte. Hier wurde er in den Nationalrat gewählt und setzte als mehrfacher Alterspräsident edle Massstäbe für solche Reden. Dem klugen und rhetorisch erstaunlich beschlagenen Obwaldner Wirz warf die NZZ einmal vor, er verwende zu viele Fremdwörter. Wer sich an jenem Frühpatriotismus kurz erwärmen möchte, der überschlage jetzt diesen ersten Teil und führe sich vorweg ein paar solcher Ansprachen zu Gemüte. Etwa ab 1880 wollten die Räte solche Elogen nur noch unwillig oder gar nicht mehr. Die Präsidenten hatten kurz und geschäftsmässig zu bleiben; dabei ist es bis heute geblieben und gehört auch zur schweizerischen Parlamentskultur.

Da der Stoff des zweiten Teils geistiges Eigentum der NZZ ist, passt es gut, dass sich ihr Buchverlag zur Veröffentlichung dieser Schrift bereit erklärt hat. Die spontane Ermutigung durch den Verlagsleiter Hans-Peter Thür und die Unterstützung der Programmleiterin Ursula Merz halfen mir, das Werk zu Ende zu bringen. Danken möchte ich auch der Lektorin Ingrid Kunz Graf für die kluge und kompetente Bereinigung des Textes.

ERSTER TEIL

Merkmale des Parlamentarismus schweizerischer Art

ERSTER ABSCHNITT

Vorklärungen zum analytischen Konzept

Will man Ereignisse oder Einrichtungen, auch ein Parlament genauer beobachten und verstehen, muss man sich darauf vorbereiten, indem man sich ein Beobachtungsinstrumentarium oder ein analytisches Konzept zurechtlegt. Das soll in diesem ersten Teil in gebotener Kürze geschehen.

Denn Parlamente sind komplexe und komplizierte politische Betriebe: je nachdem nämlich Räte, Organisationen, Institutionen, Staatsorgane oder Subsysteme besonderer Art. Ihre Komplexität ergibt sich daraus, dass sie, wie noch gezeigt wird, mit zahlreichen Bedingungen und Faktoren zusammenhängen und dadurch in ihren Funktionen (Leistungen) und Strukturen (Organisation) geprägt werden. Die Einsicht in Zusammenhänge und gegenseitige Abhängigkeiten (funktionale Interdependenzen) halte ich für eine sehr gute Quelle der Erkenntnis und des Verstehens. Aus diesem Grund wird im Folgenden oft davon die Rede sein. Auch deshalb, weil unsere ausgeprägte nationale Mischverfassung aus föderativen, repräsentativen und direktdemokratischen Einrichtungen solche funktionalen Interdependenzen zwischen den Institutionen in starkem Masse erzeugt und damit auch die Rolle bzw. den Einfluss des Parlaments bestimmt.

Kompliziert ist ein Parlament, weil es aus mindestens drei Teilen oder Ebenen besteht, nämlich aus einer individuellen, einer kollektiven und aus einer systemischen. (Man spricht aus analytischem Blick auch von der Mikro-, der Meso- und der Makroebene.) Das soll heissen, dass je nach Interesse ein Parlament entweder als Versammlung von Individuen (als ein Rat) oder als Organisation (als kollektiver Akteur) oder schliesslich als ein Element (ein Subsystem) des politischen Systems oder als Staatsorgan in den Blick genommen werden kann. Auf jeder dieser drei Ebenen existieren andere Probleme des Handelns. Damit stellen sich je andere Fragen, was andere analytische Konzepte und Begrifflichkeiten notwendig macht. Dennoch sind diese drei Ebenen untereinander verbunden. Sind zum Beispiel, wie bei uns, die Parlamentarier nur nebenamtlich tätig, ergeben sich daraus Folgen sowohl für das Parlament als Organisation als auch für das Parlament als Subsystem des politischen Systems. Solche Effekte gibt es auch in umgekehrter Richtung, also vom Ganzen auf die Teile. Und dass das alles noch mit unserer Kleinstaatlichkeit, mit der Mehrsprachigkeit und der Neutralität (als Verzicht auf eine aktive Aussenpolitik) usw. zusammenhängt und von solchen Kontextvariablen beeinflusst wird, mag sich selbstverständlich lesen, ist aber nicht so einfach erfassbar, was im Blick auf spätere Ausführungen angemerkt sei.

Weil die Dinge komplex und kompliziert sind, lassen sie sich nicht einfach darstellen. Deshalb eine Vorschau auf die Gliederung dieses ersten Teils der Arbeit. Er besteht aus zwei Abschnitten. Der erste liefert einige allgemeinere Erläuterungen zu Konzepten der Analyse der drei Ebenen. Obwohl diese realiter zusammengehören, können sie nur getrennt beobachtet werden. Der politologischen Zielsetzung entsprechend, stehen dabei aber die organisatorische und die systemische Ebene im Vordergrund. Darüber kann man aus den verfügbaren Quellen am meisten in Erfahrung bringen. Im zweiten Abschnitt folgen konkretere Ausführungen zu den drei Ebenen.

Zum Rollenprofil eines Parlamentariers

Zunächst also zur individuellen, zur Mikoebene. Dass Leute, die Parlamentarier werden wollten oder es geworden sind, besondere individuelle Motivationen und Potenziale wie das Streben nach Einfluss, Ansehen, ausserdem ein Sendungsbewusstsein und einen Gestaltungswillen usw. mitbringen mussten oder mitgebracht haben, versteht sich. Mehr zum individualpsychologischen Profil eines Parlamentariers ist deshalb nicht notwendig.

Aufschlussreicher für die Ziele dieser Arbeit ist das Konzept der sozialen Rolle, definiert als Bündel von Verhaltenserwartungen, die an Personen (Rollenträger) gerichtet werden und die das Gefüge einer Organisation ausmachen. Die Eigenheiten von Parlamentarierrollen (auf dieser Mikroebene) werden am schnellsten klar, wenn man sie mit den Rollen und Rollenstrukturen in wirtschaftlichen Unternehmen vergleicht. Im Gegensatz dazu ist ein Parlamentsmitglied erstens zumindest für eine Legislaturperiode, damals waren es nur drei Jahre, in seinen Entscheidungen autonom, das heisst, nicht (unbedingt) den inhaltlichen Verhaltenserwartungen des Managements der Organisation Parlament unterworfen. Dieses kann die Parlamentsmitglieder zwar mit Kommissionsmandaten belohnen, sie aber für ihre Entscheidungen nicht oder nur formal bestrafen (etwa durch Rede- und Verfahrensregeln) und ihnen schon gar keine Vorschriften machen, wie das in Unternehmen oder andern Organisationen der Fall ist.

Zweitens hat das Unternehmen Parlament seine Mitglieder nicht selber ausgewählt, sondern diese sind ihm von andern ausgesucht und gestellt worden. Deshalb sind die Parlamentsmitglieder in erster Linie organisationsexternen Verhaltenserwartungen, also ihren Wählern und Parteien ausgesetzt und verantwortlich. Das heisst, dass sie in der Organisation Parlament etwas für ihre Klientel tun wollen und sollen, damit sie wiedergewählt werden. Natürlich bestehen auch organisationsinterne Verhaltenserwartungen, die mit den externen synchronisiert werden müssen, was durch die Geschäftsordnung bewerkstelligt werden muss, in unserem Semiparlamentarismus aber besondere Probleme aufwirft, wie noch gezeigt wird.

Drittens kommt hinzu, dass Parlamentsmitglieder nach Ideologie, Interesse, Wissen und Können, nach Zugehörigkeit, nach persönlichen Fähigkeiten, Aspirationen und Ressourcen sowie nach Beruf usw. verschieden sind und dass sich alle aus Gründen ihrer Wiederwahl politisch bemerkbar machen müssen, also viel mitreden wollen und lange zuhören sollten. Das war offenbar immer schon mühsam und früher schlecht bezahlt. Wohl deshalb bejammerte der spätere Bundesrat Scheurer seine Parlamentszeit einmal als ‹Martyrium›. Aber die Schweizer Volksvertreter bezogen schon damals (finanzielle und soziale) Entschädigungen und Belohnungen für ihr langes und unkomfortables Sitzen und ‹Sessionieren› in den Räten auch extra muros. Inzwischen sind solche Nebeneinkünfte für viele sehr viel höher geworden, vor allem dank ihren unkontrollierten Chancen, als Nebenamtsparlamentarier gleichzeitig zusätzliche Funktionen wahrnehmen zu können.

Abgesehen davon, dass es im Parlament um politische Entscheidungen geht, deren harte Natur später noch gekennzeichnet wird, machen schon solche Merkmale einer nebenamtlich wahrgenommenen Parlamentarierrolle klar, welche besonderen Anforderungen daraus für die Organisation Parlament entstehen, damit sie funktionsfähig wird und bleibt. In parlamentarischen oder parteiendemokratischen Systemen wie etwa in Grossbritannien oder Deutschland bestehen spezielle institutionelle Vorkehrungen (Fraktionszwang, Drohung mit der Parlamentsauflösung oder Neuwahlen usw.), um den Folgeproblemen der Verschiedenheiten und der losen Koppelung der relativ autonomen Mitglieder an das Unternehmen Parlament zu begegnen, um die Beschluss- und Funktionsfähigkeit der Organisation Parlament sicherzustellen.

In der Schweiz gehen die parlamentarischen Uhren teilweise anders. Zum einen kann die Wählerschaft ihre Parlamentsvertreter per Gesetzesreferendum fallweise sofort bestrafen, und zum andern lassen die Existenzzwänge der kleinen, sprachgespaltenen Willensnation harte Instrumente des Parlamentarismus nicht zu, in jener Gründungsperiode ohnehin nicht. Damals waren die Räte noch wesentlich lockerere Organisationen, eben Versammlungen. Wie sie damit fertig wurden, zählt auch zum Erkenntnisinteresse dieser Arbeit.

Das Parlament als Organisation

Damit ein paar Stichworte zur Mesoebene, zur Organisation eines Parlaments: Eine Versammlung dergestalt autonomer Individuen ist nicht handlungs- und funktionsfähig, wenn sie keine Organisation zur Koordination ihrer Rollenträger und keine Leitung zustande bringt. Dazu hat ein Parlament aber keine Hierarchie und keine Führungsleute mit Befehlsgewalt wie ein wirtschaftliches Unternehmen; es kann seine Mitglieder faktisch nicht sanktionieren und entlassen. Gleichwohl muss es Produkte (Gesetze) herstellen, dafür einen Markt finden, und das zwingt doch zur Zusammenarbeit. Deshalb versuchen Parlamente, ihre Verfahrensprobleme der Willensbildung, der Entscheidungsproduktion, der Aufgabenerfüllung und der öffentlichen Anerkennung mit andern Regeln und Mitteln, das heisst durch ihre Geschäftsordnungen, zu lösen. Eben weil Parlamente keine hierarchische Führung haben, sind die Geschäftsordnungen von zentraler Bedeutung, und auf sie richtet sich, wie schon erwähnt, das Interesse dieser Arbeit in erster Linie. Und noch eine definitorische Klärung: Die Organisation koordiniert die Handlungs- oder Entscheidungsbeiträge der Einzelnen, und die Institution fixiert die dafür notwendigen formellen und informellen Regeln. Insofern hat ein Parlament eine organisatorische und eine institutionelle Komponente.

Beide sind für ein Parlament nicht einfach. Erstens weil die Mitglieder, wie eben erwähnt, sehr verschieden, relativ autonom; zweitens deshalb nur lose mit der Organisation Parlament gekoppelt sind; drittens dem Parlament ‹aufgezwungen› wurden und weil ein demokratisches Parlament viertens nur schwache Regelungen der Führung zulässt. Sodann fünftens, weil ein Parlament zahlreiche, sehr verschiedene und zudem sich laufend ändernde Aufgaben zu erfüllen und darüber mehrheitsfähige Beschlüsse zu erwirken hat. Schliesslich sechstens ist das für die endgültigen Beschlüsse zuständige Parlamentsplenum eine besonders schwierige Veranstaltung. Dort wollen nämlich alle mitreden und Anträge stellen, können das aber nicht, damit keine Leerläufe, Frustrationen und Zeitverluste entstehen. Deshalb müssen die Entscheidungen für die Phase des Plenums in der Sache bereits vorher ausgehandelt sein, was die persönlichen Mitwirkungs- und Darstellungsmöglichkeiten im Plenum einschränkt. Endlich siebtens ist das Plenum öffentlich. Das hat zur Folge, dass die Parlamentsmitglieder und die Fraktionen ihre Entscheidungsanteile der Öffentlichkeit (zum Fenster hinaus) kommunizieren wollen, was ihnen oft wichtiger ist als die interne Mitarbeit. Zugleich kann das Parlament von aussen sanktioniert werden, wenn es sich nicht einigen kann und seine Aufgaben nicht erfüllt.

Je kleiner ein Parlament ist, die eidgenössischen Räte waren und sind, auch im Vergleich zu den kantonalen Parlamenten (der Nationalrat 1848 war nur halb so gross wie heute), desto einfacher kann es seine Verfahrensprobleme lösen. Das hat zur Folge, dass weniger in Kommissionen delegiert, dafür aber mehr im Plenum verhandelt werden kann. Auch deshalb war der Plenumsanteil der Verhandlungen der eidgenössischen Räte immer schon und auch heute noch vergleichsweise gross. In keinem andern Parlamentsplenum wurden und werden noch heute Gesetzesvorlagen artikelweise gleichermassen ausführlich behandelt wie in Bern. Dank dieser Öffentlichkeit kann man auch einiges mehr über die Eigenheiten unseres parlamentarisches Betriebs erfahren.

Durch organisationsinterne Arbeitsteilung und funktionale Spezialisierung wie die Bildung von Fraktionen, Kommissionen, Delegationen und einem Büro als Leitung usw. versuchen Parlamente ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Wie das in Bern damals allmählich geschah, wird im zweiten Teil zur Sprache kommen.

Obwohl die Organisation Parlament prinzipiell nur eine flache formelle Hierarchie zulässt, wirken dort informelle Kräfte und Hierarchien zur Handlungskoordination, und zwar umso stärker, je kleiner ein Parlament ist. Denn in kleinen Parlamenten und Räten ist alles prozedural einfacher, auf geringerem Niveau institutionalisiert, informeller und personenbezogener, auch die gegenseitige Beeinflussung, die Überzeugungsarbeit, die Kontrolle und die Sanktionierung der Mitglieder. Noch stärker wirken solche Mechanismen der Disziplinierung in den nicht öffentlichen Kommissionen, wo man von Angesicht zu Angesicht zur Sache gehen und Beschlüsse fassen muss und nicht ‹zum Fenster hinaus› reden kann.

So gehört es wohl zu den Paradoxien der Räte im Kleinstaat Schweiz, dass ihre Mitglieder einerseits institutionell einen vergleichsweise grossen individuellen Handlungsspielraum haben, deshalb schon damals fleissig persönliche Vorstösse deponierten, anderseits und gleichzeitig aber auch einer stärkeren sozialen Kontrolle unterliegen und deshalb disziplinierter debattieren (müssen). Von Anfang an ging es in den eidgenössischen Räten gesittet zu, was im kleinen Ständerat auch zur Monotonie führen konnte.

Wie wichtig eine parlamentarische Geschäftsordnung auch ist, für sich allein reicht sie zur Steuerung eines Parlamentsbetriebes nicht aus. Es müssen auch jene Kräfte und Ressourcen vorhanden sein, die man heute als Parlamentskultur bezeichnet. Und diese gab es, zusätzlich zur Disziplinierung durch die zahlenmässige Kleinheit und die soziale Enge, weil man auf den einzigartigen Erfolg der demokratischen Bundesreform von 1848 in der siegreichen liberal-demokratischen Parlamentsmehrheit stolz war. Sie half auch mit, dass die Räte schnell, mit einfachen Geschäftsordnungen und ohne starke Führung zurechtkamen und dass es in der eidgenössischen Parlamentsorganisation gesittet, ohne grosse Inszenierungen, Rituale und Lärmereien zu und her ging. Hinzu kam, dass im kantonalen Mittelbau der Konförderation ziemlich stabile Verwaltungen vorhanden waren, sodass die junge Bundesorganisation mit vorerst einfachen Aufgaben belastet war und sich deshalb kontinuierlich entwickeln konnte.

Das Parlament als Subsystem des politischen Systems

Mit der Ebene des Systems ist schliesslich gemeint, dass ein Parlament nicht nur eine Ratsversammlung, nicht nur eine Organisation und Institution, sondern zugleich auch ein Element, ein Subsystem des politischen Systems ist. Damit bestimmen die Eigenarten des Regierungssystems als Ganzen (überall) auch die Macht, die Funktionen und damit die Struktur und die Prozeduren des Subsystems Parlament.

Es muss jetzt nicht ausgeführt werden, dass die ausgeprägten Eigenheiten unseres Regierungssystems: jene des starken Föderalismus, jene der besonderen horizontalen Gewaltenteilung zwischen der Legislativen und der Exekutiven, die kollektive Ausübung der Regierungsgewalt und auch die einzigartige (vertikale) Gewaltenteilung zwischen dem Volk und den Behörden qua direkter Demokratie (ausserdem heute die Konkordanz und die Zauberformel) den Einfluss, die Funktionen und damit die Prozeduren und die Struktur unseres Bundesparlamentes von Anfang an stark beeinflusst haben und immer noch beeinflussen. Fraglich ist nur, wie sich solche Zusammenhänge und Wechselwirkungen auf den Begriff bringen und in ihrer Stärke messen lassen. Man kann sie wenigstens verstehen, denn verstehen heisst, die Dinge im Zusammenhang, eben systemisch, sehen.

Dazu und zur Beobachtung grosser Einheiten kann die funktionale Systemtheorie einiges ausrichten. Hier nur wenig zu ihrer ziemlich abstrakten Begrifflichkeit. (Wer die folgende noch abstrakte Sichtweise vertiefen möchte, kann darüber mehr in meinem Buch über Die politische Schweiz nachlesen, das 2002 bei NZZ Libro erschienen ist.) Die eilige Leserschaft kann die folgenden Seiten auch überschlagen.

Erstens: Das funktionale Denken schliesst von Problemen auf verfahrensmässige und inhaltliche Lösungen. Aus dieser funktionalistischen Sicht gibt es zum Beispiel die Institutionen der Religion, weil wir sterben müssen und das Leben und Überleben das grösste Problem ist. Religionen sind Institutionen zur Lösung von Lebensproblemen. Der Staat und sein politisches System, das Parlament, die Parteien usw. sind ebenfalls institutionelle Vorkehrungen zur Lösung oder wenigstens Bearbeitung politischer Probleme. Analoges gilt auch für die Ehe und Familie, für Schulen, Spitäler usw.

Dann bestimmt und erklärt ein gegebener Problemlösungsbedarf auch die Art und den Umfang der funktionalen Erfordernisse (die Notwendigkeiten), die funktionalen Leistungen (die Problemlösungsbeiträge) und damit die Struktur der zu ihrer Erzeugung erforderlichen und ‹erfundenen› institutionellen Vorkehrungen bzw. der entsprechend spezialisierten Subsysteme. Ein grosses Land oder eine grosse Gesellschaft erzeugen teilweise andere politische Erfordernisse als ein Kleinstaat, und jene haben deshalb auch ein anderes Regierungssystem. Dass für jede Staatsbildung und Politikgestaltung auch andere Kräfte wie Tradition, Macht und Ideologie usw. eine Rolle spielten und spielen, versteht sich. Der Funktionalismus und die Systemtheorie sind, wie alle andern Theorien auch, nur Instrumente der Wirklichkeitsbeobachtung unter andern.

Zweitens: Der Systembegriff eignet sich besonders zur Beschreibung oder Beobachtung grosser und komplexer Einheiten, wie Parlamente das auch sind. Er definiert solche Gebilde als aus funktional spezialisierten, deshalb aus interdependenten Teilen zusammengesetzte Ganzheiten. Und je grösser der Problemlösungsbedarf ist, desto mehr Leistung wird notwendig, die durch funktionale Differenzierung und Spezialisierung oder durch Hochbewertung bzw. Kulturisierung oder gar Dogmatisierung erzeugt wird und werden soll. Wir reden so viel über Freiheit, weil wir als kleines und schwaches Land in der Freiheit potenziell bedroht sind. Sodann: Je differenzierter Systeme sind, desto stärker werden die funktionalen Interdepedenzen zwischen den Systemelementen und entsprechend grösser wird die Notwendigkeit zur organisatorischen Reintegration bzw. entsprechender Regelungen. Aus dieser Perspektive kann auch unsere Bundesversammlung beobachtet werden.

Drittens: Systeme haben Umwelten (Kontexte, lat. contextus, zusammenhängend), aus denen sie entstanden sind, mit denen sie zusammenhängen, von denen sie geprägt werden und denen sie sich anpassen müssen. Zu einer so verstandenen Um-Welt gehört definitorisch alles, was auf ein System einwirkt. Die kontingenten Eigenschaften der Umwelten eines politischen Systems wirken erschwerend und/oder erleichternd auf die Erfüllung seiner verschiedenen Aufgaben und auch auf die Lösung seiner Verfahrensprobleme ein. Mit solchen Kontextabhängigkeiten muss ein politisches System um seines Bestandes willen fertig werden. Analoges gilt und galt auch für das Subsystem des Schweizer Parlamentes, das schliesslich mit seiner kontingenten (immer wieder andern) Abhängigkeit durch das Referendum fertig werden musste.

Zusammenhänge zwischen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt

Konkreter: Weil ein politisches System mit seinen Funktionen an die Grenzen seines Territoriums gebunden ist, gehört in erster Linie dieses Territorium, das Staatsgebiet, elementar zu seinen Umwelten, und deren Eigenschaften wie die Grösse, die Lage, die natürliche Ausstattung usw. wirken sich erschwerend und erleichternd auf die Lösung materialer und damit prozeduraler politischer Probleme des politischen Systems, also auf die Staatsaufgaben und auch die Organisation der Staatsgewalt aus. In den Bergen oder im hohen Norden lebt es sich anders als am Meer oder im Süden, in kleinen Staaten und Städten anders als in grossen.

Bekanntlich werden solcherart territoriale Effekte in der Schweiz noch einmal dadurch verstärkt, dass das kleine gebirgige Land durch seine Vervielfältigung in zahlreiche Kantone und diese wieder in sehr viele Kommunen politisch-territorial und auch bevölkerungsmässig zum einen im Einzelnen noch einmal verkleinert und zum andern im Ganzen zugleich vervielfältigt und damit verfahrensmässig vergrössert wird. Diese Merkmale der Kleinstaatlichkeit haben sich, wie der zweite Teil zeigen wird, immer schon nicht nur auf die Rangordnung der Staatsaufgaben (Sicherheit, Versorgung, Landwirtschaft, Infrastruktur, Ausbildung usw.) und damit auf die Agenden der Räte, sondern auch auf ihre organisatorischen Komponenten (horizontale Gewaltverteilung, funktionale Differenzierung und Spezialisierung, Milizprinzip usw.) und damit auf die Staatsgewalt ausgewirkt. Deshalb dazu die folgende Erläuterung.

Die Tatsache, dass unsere föderalistischen Gebietskörperschaften, die Kantone und Gemeinden, von alters her relativ souverän, aber klein, relativ autonom (früher arm bzw. knapp ausgestattet), nach Sprache, nach Grösse usw. sehr ungleich und verschieden, manchmal auch zerstritten sind und deshalb streng auf ihre territorialen und kulturellen Besitztümer und ihr Geld achteten, exakt diese Tatsache schweisst(e) sie auch stärker zu territorialen Gemeinschaften und Akteuren, früher Kantonsvölkern zusammen. Deshalb muss man sehen, dass das Schweizer Volk nicht nur über Konfessionen, Sprachen und Parteien, sondern (immer noch) stark über seine kantonalen und kommunalen Territorien integriert, politisch organisiert und repräsentiert wurde und immer noch wird. Deshalb sind die Wahlkreise für die nationalen Wahlen und damit die politischen Parteien auch kantonalisiert, und deshalb sind Schweizer Parlamentarier, wohl Mitglieder politischer Parteien, mit ihrer andern Tasche immer auch Repräsentanten ihrer Regionen, Kantone und Gemeinden, wo sie auch leben, arbeiten und sich zur Wahl stellen müssen. Vermutlich entlastet diese territoriale Integration unserer Gesellschaft die politische und mässigt den Kampf um die Macht der Parteien und damit auch die Auseinandersetzungen im Parlament, was auch in der geringeren Wahlbeteiligung zum Ausdruck kommt. Aber sie hat ihren Preis, wie der Föderalismus, früher das ‹Kantonesentum›, belegt.

In der Frühzeit des Bundesstaates war dieses Moment der territorialen Repräsentation noch stärker ausgeprägt. Das hing auch mit den Entscheidungsinhalten der damaligen Bundesversammlung zusammen. Kamen, wie sich im zweiten Teil zeigen wird, soziale und schwierige technologische Probleme erst nach 1880 auf ihre Agenda, so waren es nach 1848 vorerst überwiegend solche, die den Föderalismus tangierten und damit die föderalistischen Repräsentanten aktivierten, nämlich die Vereinheitlichung von Militär, Geld, Massen und Gewichten, der Aussenzoll, die Bundessubventionen für Gewässerkorrektionen, Entsumpfungen, für den Alpenstrassenbau und das Jahrhundertdrama des Eisenbahnbaus. Natürlich: Nicht nur die Geschäftsordnung, sondern auch die Inhalte der Geschäfte beeinflussten die Rollenausübung der Parlamentsmitglieder, die Aktivitäten der Parteigruppen und den gesamten parlamentarischen Betrieb.

Verlängert man diese Logik der kleinstaatlich bewirkten territorialen Repräsentation, spricht vieles dafür, dass die parlamentarischen Auseinandersetzungen zwischen territorialen Repräsentanten weniger heftig und gehässig, vielleicht sogar nachsichtiger waren (und sind) als ideologische und klassenkämpferische. So wird sich zeigen, dass die Bundesversammlung von Anfang an auf die Sprachverschiedenheiten und auf die kleinen armen Bergkantone besondere Rücksichten genommen und ihnen Entgegenkommen gezeigt hat. Auch darin liegt eine Erklärung dafür, dass es im Schweizer Parlament immer schon friedlicher und pragmatischer zu und her ging. Mit neuen gesellschaftspolitischen Problemen, mit dem wirtschaftlichen Wachstum und damit dem Auftreten neuer Interessen und Akteure wie jenem der Bauern, der Gewerbler, der Arbeiterschaft und damit der Sozialdemokratischen Partei kamen nach der Jahrhundertwende (1900) wohl andere Töne in das neu gebaute Bundeshaus, und schliesslich folgte der Nationalratsproporz. Aber aus der Rolle fielen die eidgenössischen Räte nie wirklich, glaubt man den Berichten der NZZ. Dazu kam es ab und zu erst mit dem Auftreten der Kommunisten nach dem Ersten Weltkrieg (und jetzt wieder durch die nationalpolitische Radikalisierung der ehmaligen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei in die SVP).

ZWEITER ABSCHNITT

In diesem zweiten Abschnitt sollen diese abstrakten Skizzen etwas konkretisiert werden. Begonnen wird damit auf der Systemebene mit der Geschichte, denn auch sie zählt zu den politikprägenden Umwelten oder Kontexten, und zwar ganz fundamental. Geschichte soll verstanden werden als Summe vergangener gesellschaftlicher Leistungen und Fehlleistungen, welche die damalige Gegenwartspolitik entweder erleichtert oder erschwert haben. Dass mit diesen Notizen nur ein illustrierender Blick auf jene Zeitumstände geworfen werden kann, versteht sich.

Die Zeiten um 1848

In historisch gewachsenen, nicht revolutionär durchgesetzten politischen Systemen wie jenem der Schweiz bestehen die Institutionen, wie eben dargetan, immer auch aus Antworten auf Herausforderungen oder Erleichterungen, die ihnen die territoriale, die ökologische, die gesellschaftliche, geschichtliche und auch die internationale Umwelt aufgebürdet und/oder geschenkt haben, und sie entwickelten sich in der Regel von unten nach oben. Gemäss systemischer Denkweise zählen auch die Vergangenheit und die aktuellen Zeitumstände, also die Geschichte, zu den politikbeeinflussenden Umwelten. Mit andern Worten: Hohe Bestandsdauer und hohes Alter usw. wirken zugleich legitimierend (problemlösungserleichternd) wie auch entlegitimierend (problemlösungserschwerend). Daran gibt es keine Zweifel, deshalb jetzt dazu ein paar zusammengewürfelte Anmerkungen.

Die gemeinsam erfolgreiche Vergangenheit und die daraus erwachsene traditionale Legitimität der alten eidgenössischen Orte wirkten im Land immer wieder sowohl als Mühlstein als auch als politische Stütze. Einerseits hatten sie eine rechtzeitige Modernisierung des alten eidgenössischen Staatenbundes vor der Französischen Revolution verhindert. Modernisierungserschwernisse und Konflikte dieser Art brachen in unserem Land als Folge seiner Traditionalität immer wieder und gegenwärtig erneut auf. Aussenpolitisch in der Europafrage und der Neutralität, innenpolitisch über der Sicherheitspolitik und in der Frage einer Armeereform, bald möglicherweise auch im Zusammenhang der alten kommunalen und kantonalen Gebietsgliederungen.

Andererseits wurden jene Kräfte auch zu einer Stütze dafür, dass die Eidgenossenschaft ihren Sonderweg nach den Krisenperioden im Jahre 1848 fortführen und modernisieren konnte. Jene Zeiten um 1848 waren dafür insofern günstig, als alle Nachbarn mit eigenen Problemen beschäftigt waren und den unbotmässigen Kleinstaat Schweiz politisch machen lassen mussten. Die Politologie spricht dabei von der ‹Pfadabhängigkeit› in Staatsbildungsprozessen.

Für die Schweiz war diese historische Bindekraft in jener ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts auch deshalb wichtig, weil separatistische Sonderbünde und staatspolitische Umbauten für unsere, nicht durch eine gemeinsame Sprache zusammengehaltene politische Gemeinschaft riskant hätten werden können. Liest man sich in zeitgenössische Berichte hinein, muss man mit einiger Überraschung zur Kenntnis nehmen, wie raubeinig und kämpferisch, also nicht immer so glücklich, wie es gemäss dieser Darstellung den Anschein machen könnte, es in jenem halben Jahrhundert in vielen Teilen der Schweiz zu und her gegangen ist.

Um zunächst die politische Stimmung jener 1848er-Jahre wiederzugeben, seien ein paar Gedanken zitiert, die «Sr. Exzellenz Herr Bundespräsident Alexander Funk» bei der Eröffnung der ordentlichen Tagsatzung am 3.Juli 1848 vorgetragen hatte. «Hochwohlgeborene, Hochzuverehrende Herren! Liebe und getreue Eidgenossen! Ein bedeutungsvolles Jahr liegt hinter uns. Die Zeit nach nur einem Jahr seit dem letzten Zusammentritte zur ordentlichen Tagsatzung; den Ereignissen nach aber mehr als einem Menschenalter. Denn die für die Eidgenossenschaft und ihre Fortdauer so höchst wichtige Umgestaltung, welche bei uns selbst stattgefunden, der gewaltige Kampf, welcher bald nachher bei fast allen Völkern Europas seinen Kreislauf begonnen und dort überraschend wie der Blitz eine Dynastie, das bisherige System und die alten dem Fortschritte feindlichen Hemmnisse vernichtet, das frühere künstlich zusammengehaltende Staatsgebäude aus seinen Fugen gerissen und in nie geahnter Schnelligkeit die Völker der Freiheit entgegengetragen hat, dies alles, liebe Eidgenossen, und manch andere verwandte Erscheinung hat sich innerhalb des kurzen Zeitraums der letzten zwölf Monate zugetragen. Grosse Ereignisse, wie sie die Geschichte kaum in diesem Umfange nachzuweisen im Stande ist, riesenhafte Umgestaltungen, wie noch keine Epoche sie gesehen hat. […]

Bei solchen Aussichten kann die freie Schweiz, die seit Jahrhunderten in sicherem Besitze dessen ist, was andere Völker erst zu erlangen suchen, nur mit Freudigkeit auf die jüngste Vergangenheit sowie mit froher Zuversicht an die Zukunft denken. Sie muss aufrichtig die Ereignisse begrüssen, die sie den ohnehin schon befreundeten Nationen noch näher gerückt hat. Durch eigene Thatkraft gehoben und durch die Stärke des Rechtsbewusstseins neu gekräftigt, im ungestörten Besitze der von den Vätern ererbten Güter, sind wir heute unter uns versöhnt und ohne Erinnerung an schnell vergessenen Hader glücklich.» (NZZ vom 5.Juli 1848. Künftig wird nur noch das Datum zitiert.)

Bedingungen für Liberalisierung und Demokratisierung

Wie schon vermerkt, war die Schweiz neben ihrem damaligen Vorbild Amerika (USA) um 1848 das einzige kontinentaleuropäische Land, in dem der Liberalismus, der Föderalismus, die Demokratiebewegung und die Parlamentarisierung erfolgreich waren. Dafür lassen sich (in Stichworten) weitere Gründe nennen.

Erstens: Der althergebrachte Wille zur politischen Unabhängigkeit, zur Freiheit und zur Selbstverwaltung, aber auch die armutsbedingte Notwendigkeit zu wirtschaftlichem Fortkommen durch die Herstellung von exportfähigen Produkten wie ursprünglich Käse, Vieh, Textilien, Transportleistungen und, horribile dictu, auch Kriegern schufen Voraussetzungen für das Gedankengut des Liberalismus. Der Kleine muss freier sein, wenn er zu etwas kommen will und soll. Sodann waren Unabhängigkeit und damit Freiheit für die kleinen (schwachen) Orte knapp, also wertvoll, deshalb wurden sie kulturell hoch bewertet. Später wird gezeigt, dass auch Räte im Gegensatz zu Hierarchien eine freiheitssichernde Form des Regierens waren und sind.

Zweitens war die Eidgenossenschaft der einzige Staat in Europa ohne kostspielige monarchische Strukturen und ohne Hochadel. Auch deshalb gelang es ihr, sich früh aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation herauszulösen. Dadurch konnte sie sich früher liberalisieren und als kleines, eher bedeutungsloses politisches Gebilde neutral und urdemokratisch(er) bleiben. Grosses Glück hatte sie, wie später immer wieder, als sie von den verheerenden Folgen des Dreissigjährigen Kriegs verschont blieb und Geschäfte machen konnte, wie immer wieder in Krisen und Kriegen in der Nachbarumwelt. (Mit dem neuen Europa sind für uns Bewohner und Bewohnerinnen auf der ‹Insel der Glückseligen› indessen neue Anpassungsprobleme entstanden und im Entstehen.)

Drittes: Weil die Schweiz keine monarchisch-absolutistischen Herrschaften zugelassen hatte, konnten die Demokratisierung und die Organisation des neuen Bundes ohne grosse Widerstände von oben damit leichter von unten nach oben durchgesetzt werden. Auch das zählt zu den Voraussetzungen dafür, dass Landsgemeinden, kommunale Versammlungsdemokratien, die Räte als kollektive Regierungen und schliesslich auch die Bundesversammlung entstehen und bestehen konnten. Ausserdem hatte das in anderer Weise heterogene Land damit eine Spaltungslinie und eine starke Parteiung weniger. So gelang es einer vergleichsweise homogenen liberal-radikalen Elite im Jahre 1848 schnell in Bern mit der politischen Erneuerung vorwärtszumachen und fertige Tatsachen zu schaffen, bevor die verärgerten, zu Hause selbst erschütterten, grossen konservativen Nachbarn reklamieren oder gar intervenieren konnten.

Eine homogene politische Elite

Zum Vorteil für den Aufbau der Bundesbehörden in den Jahren 1848 und folgende war viertens, dass in den grossen Kantonen als den politischen Subsystemen des Bundes bereits Parlamentarismus praktiziert wurde, etwa in Bern, dem damals mit Abstand grössten Kanton der Schweiz, der bereits gedruckte Ratsprotokolle herausgab, aber auch in den Kantonen Zürich, Basel, Genf, Luzern und anderswo. Man hatte also Erfahrungen mit parlamentarischen Geschäftsordnungen und konnte entsprechend geschultes Personal nach Bern abordnen. So finden sich in den 1848 erstmals gewählten eidgenössischen Räten ausschliesslich bekannte und prominente Politiker aus den Kantonen: Regierungs- oder Staatsräte, Schultheissen, Landammänner, Oberste, Stadträte und kantonale Parlamentarier. Das Gleiche gilt für den Bundesrat. Allerdings mussten die Herren ziemlich strapaziös in das damals noch «ungemütliche Bern» reisen, wie ein Korrespondent der NZZ einmal schrieb. Es gab noch keine Eisenbahnen. Deshalb kamen einige, zum Beispiel der in den Nationalrat gewählte General Dufour oder die Tessiner und Bündner Vertreter, mehrere Tage zu spät zu den Parlamentssitzungen, andere wollten gar nicht Bundesrat werden.

So war die Schicht der Regierenden in Parlament und Bundesrat damals elitär. Zum einen auch deshalb, weil die Räte zahlenmässig klein waren, sodass nur wenige, bekannte und prominente Herren darin einen Platz finden konnten. Der Nationalrat zählte 1848 erst 114Mitglieder, und diese verteilten sich noch auf 25Kantone. Das verstärkte die Selektion und die schon erwähnte territoriale und kantonale Repräsentation, auch jene der Nationalräte. Und weil es wenige nationale Abgesandte waren, kannte man sie in den Kantonen gut, und sie waren angesehen. Zum andern galt auch für den Nationalrat das Mehrheitswahlrecht, was jene Selektion noch verstärkte und den Räten eine homogene Elite und handlungsfähige Mehrheiten bescherte.

Damit wurde es möglich, dass die Bundesbehörden ihre Arbeit sofort aufnehmen und in der Euphorie über das Gelingen der neuen Bundesverfassung schnell eine Reihe stabilisierender Gesetze wie jene über den Aussenzoll, das Münz-, Mass- und Gewichtssystem, das Militär, das Bundesstrafrecht und staatliche Organisationsfragen beschliessen und dabei die ‹Kantonesen› und ‹Ultramontanen› in die Schranken weisen konnten. Beides war für die innere Festigung des von aussen kritisch beobachteten Bundes wichtig. Denn die Sicherung der wirtschaftlichen und militärischen Aussengrenzen ist für die innere Staatsbildung schlechthin fundamental.

Gleichwohl konnte die junge Bundesgewalt vorerst mit nur knappen Kompetenzen und mit den geringen Zolleinnahmen auskommen, auch weil ihr kantonaler und kommunaler Unterbau politisch ordentlich funktionierte. Das erzeugte weniger nationale Konflikte und überforderte die noch jungen Bundesbehörden auch nicht. Denn der Bundesrat war etwas ganze Neues, und er musste in Bern erst einmal ein Gebäude finden und von der Stadt Bern zur Verfügung gestellt bekommen, wo jedes Bundesratsmitglied zwei Zimmer und einen oder zwei Sekretäre bekam. Den gesetzgebenden Räten erging es ähnlich, wie schon angedeutet wurde.

Langsames Wachstum der Bundesaufgaben

Diese noch begrenzten Kompetenzen und der Verzicht auf Aussenpolitik bewirkten, dass der Bund bis zum Ersten Weltkrieg mit wenig Einnahmen, praktisch nur mit solchen aus den Zöllen (also ohne Steuern, eine Alkoholsteuer kam erst später), damit mit einer einfachen Finanzverfassung auskommen konnte. Beides vereinfachte natürlich die Arbeit der Bundesversammlung; überhaupt war die Politik im Kleinstaat einfacher. Dennoch kam es schon damals immer wieder zu Auseinandersetzungen über das Geld, dem ‹Schmier- und Bremsöl› des Föderalismus. Zuerst wegen der Zolleinnahmen, die 1848 auf den Bund übergegangen waren, der dafür die Kantone bei den Militärausgaben entlastete. (In den neunziger Jahren traten die Föderalisten mit der sogenannten Beutezug-Initiative auf den Plan, mit der sie dem Bund einen Teil seiner Zolleinnahmen abzwacken wollten, was zu einem äusserst heftigen Abstimmungskampf führte.) Dann wurde die Neuregelung der Notenbankfrage, vor allem das Recht auf die einträgliche Emission von Banknoten, zu einer, wie im zweiten Teil gezeigt wird, mehrere Jahrzehnte dauernden eidgenössischen ‹Willensbildungs-Tragödie›. Im Jahre 1900 scheiterte das erste KUVG (ein Gesetz über die Kranken- und Unfallversicherung) des fast einstimmigen Parlamentes im Referendum, weil ein Obligatorium den Bauern nicht in den Kopf ging, aber auch weil man zu wenig Geld geplant und auch noch ein Tabakmonopol ins Auge gefasst hatte.

Trotz der Sparsamkeit des Bundes wurde ihm oft Ausgabenfreudigkeit oder sogar Verschwendungssucht vorgeworfen. Das Volk hatte den subventionierenden Bund mit der Zeit zwar akzeptiert, aber Kritik an den Bundesbürokraten und den ‹Federfuchsern› in Bern gehörte immer schon zum Selbstverständnis des direktdemokratisch (mit-)regierenden Volkes. In diesem Zusammenhang kann auch das Thema Volkswahl des Bundesrates erwähnt werden, eine Forderung, die unmittelbar ab 1848 immer wieder erhoben wurde. Auch dazu später mehr. Durchgesetzt hatte sich später auch die Volkswahl der Ständeräte. Ein Schuss Populismus gehörte immer schon zur direkten Demokratie, auch wenn es ihre Verehrer nicht wahrhaben wollen.

Sodann fünftens hatte der Sonderbundskrieg die unterlegene reaktionär-föderalistische Opposition in die Defensive gedrängt, durch den Ständerat aber nicht völlig ausgeschaltet. Jene witterte erst nach 1874 mit dem Gesetzesreferendum wieder politische Morgenluft. Gleichwohl war jener Bürgerkrieg nicht derart hart und lang, dass er schwer überbrückbare Gräben aufgerissen hätte wie etwa der Sezessionskrieg in den USA. Ausserdem konnte man in den kleinen, nur vorübergehend in Bern zusammensitzenden Räten nicht sehr laut werden, dafür waren schon die Säle zu klein, und musste sich, wohl oder übel, und weil es im nahen Ausland unruhig zu und her ging, zusammenfinden.

Die Mehrsprachigkeit

Die Deutschschweizer Radikalen hatten auf ihre welschen Gruppenmitglieder und auch auf die dortigen, teils eingefleischten Föderalisten besondere Rücksichten nehmen müssen, was zwar immer wieder zu Differenzen führte, die parlamentarischen Auseinandersetzungen aber auch mässigte. In einem lauten Parlamentarierstreit hätten sich die Sprachgruppen überhaupt nicht mehr verstanden. (Über die schlechte Akustik in den Ratssälen wird im zweiten Teil noch zu lesen sein.) Die damals noch tiefe Spaltung der Eidgenossenschaft durch die zahlreichen, ungleichen und altehrwürdig selbstbewussten, teils trotz der kleinen Distanzen der kleinen Schweiz geografisch ziemlich abgelegenen Kantone, auch durch die Konfessionen und Sprachen führte von Anfang an zur Institutionalisierung der Rücksichtnahme, der reihumgehenden Machtbeteiligung und der Konfliktbegrenzung, und zwar in den gesetzgebenden Räten wie in der Regierung. Dazu gehören das Zweirätesystem, der von der ‹republikanischen Schwester Amerika› übernommene ausgleichende Modus von je zwei Ständeräten pro (ungleichem) Kanton, die jährliche Rotation aller Ratspräsidien als schweizerische Erfindung, die kurzen Legislaturperioden und auch die Einzelwahl der Mitglieder des Bundesrates mit seinem Kollegialitätsprinzip. Diese Regelungen waren wohl demokratisch, liessen aber schon früh auch Zweifel an ihrer Effizienz aufkommen, vor allem beim Bundesrat, wie noch gezeigt wird.

Jener nur kurze Bürgerkrieg hatte auch bewirkt, dass eine bürgerlich-progressiv-liberale, im Ganzen homogene, zahlenmässig kleine und damit handlungsfähige und stark motivierte politische Elite in den Räten agieren konnte. Räte, die noch nicht durch das Referendum gebremst und kontrolliert werden konnten. Auch das beförderte eine schnelle Konsolidierung des Bundes und seines Parlamentsbetriebes. Der Nationalrat, der Rat der Nation, beanspruchte dabei sofort und mit Nachdruck das politisch erste Wort und die Prioritäten für die wichtigen Parlamentsgeschäfte. Deshalb war es damals eine Ehre, vom Ständerat in den Nationalrat überwechseln zu können. Dass es heute umgekehrt ist, markiert auch eine Entwicklung im eidgenössischen Zweirätesystem. Organisierte Parteien und Fraktionen existierten damals noch kaum. Zur Hauptsache agierten drei lose gekoppelte, weil heterogene Lager, das radikale, das liberale, das konservative und manchmal das deutsche und welsche. Deshalb waren die Artikulation und die Repräsentation von Interessen im Nationalrat stärker individualisiert, damit noch unorganisiert, was den parlamentarischen Prozess trotz der geringen Geschäftslast nicht selten mit stundenlangen Reden füllte und viel Zeit kostete. Im kleinen Ständerat waren die Vertretungsstrukturen klarer, er konnte schneller arbeiten, was mit der Zeit seiner Geltung zugute kam. All das wird im zweiten Teil dokumentiert.

Aufkommendes Nationalbewusstsein

Wie schon früher, und später wieder, wurde sechstens in jenen Jahrzehnten die Entwicklung von Wirtschaft und Politik des Kleinstaates Schweiz besonders stark durch Veränderungen in seiner Staatenumwelt beeinflusst. Das Land war ja ringsum von vier grossen, damals unruhigen Staaten umgeben und eingekreist. Man musste als kleines Land mithalten, aufholen beim Eisenbahnbau oder abwehren mit dem Militär. In jenen Zeiten war bei den deutschen Staatsnachbarn, sie waren die wichtigsten, der ‹Wind› des Nationalismus aufgekommen. Dieser weckte auch in der Schweiz solche Stimmungen und Geister, was sowohl den inneren Zusammenhalt als auch die Abgrenzung nach aussen beschleunigte und festigte. Auch dank diesem Aussendruck konnte die Eidgenossenschaft ihre demokratischen Neuerungen schneller und damit früher als die Nachbarn durchsetzen. Das schuf politische Entwicklungsvorsprünge, von denen das Land und seine Wirtschaft immer wieder und lange, eigentlich bis zur Gründung der EU, profitierten.

Diese frühe Demokratisierung bewirkte ausserdem, dass in der Schweiz, im Gegensatz zur ‹verspäteten Nation› Deutschland, die sozialen Folgeprobleme und Spannungen des politischen und wirtschaftlichen Wandels zeitlich nicht so stark zusammenprallten, sich verstärkten, dadurch das politische System überlasteten und radikale politische Bewegungen auslösten. Weil die Industrialisierung in Teilen der Schweiz früh eingesetzt hatte und sich deshalb sukzessiver fortsetzte, war der Bundesstaat weitgehend stabilisiert, bevor die sozialen Spannungen der Industrialisierung grösser wurden. Ausser Wasser bzw. vielen Flüssen und Seen besass die Schweiz kaum Rohstoffe, was immerhin den Vorteil hatte, dass eine schnelle und konzentrierte Urbanisierung des Landes verhindert und die wirtschaftliche Entwicklung auf dezentralisierte und spezialisierte Unternehmen verwiesen wurde. In der Bundesversammlung beherrschten Unternehmer das Feld (AlfredEscher, später Cramer-Frey, Bally, Gugelmann, Wild u.a.), was den Liberalismus in der Gestalt der Handels- und Gewerbefreiheit beförderte.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass damals noch eine ganze Reihe von Grenzproblemen mit dem Ausland brodelten, mit Deutschland (wegen Neuenburg), mit Frankreich (wegen Savoyen), mit Österreich und Italien (im Tessin), die wohl Schwierigkeiten erzeugten, zugleich aber den Schweizer Nationalgeist und auch die Zentralisierung des Heerwesens beförderten. Es gab nach 1848 immerhin verschiedene Mobilmachungen, die man ‹Zusammenzüge› nannte.

Wirtschaftsfreiheiten und wirtschaftliche Entwicklung

Aber die Industrialisierung des Wirtschaftssystems als eine der inneren Umwelten des politischen Systems erforderte unbedingt gesetzliche Modernisierungen. Die Schranken, die Unterschiede und die Zersplitterungen durch das alte Geldwesen, die vielen Binnenzölle und die verschiedenen Rechte und Reglemente in den vielen Kantonen, und das alles auf national kleinem, sprachverschiedenem Gesamtraum, waren offenbar derart hinderlich und obsolet geworden, dass sie trotz ihrer ausserordentlich starken traditionalen Legitimität vor allem in den alten Ständen gründlich abgeräumt werden konnten. Ausserdem benötigten die ‹Vereinigten Kantone der Schweiz› bessere Strassen und Alpenpässe, die Korrektur vieler gefährlicher Flüsse und Seen (kein europäisches Land hat im Verhältnis zur territorialen Grösse und zu seiner Bevölkerung gleich viele Flüsse und Binnenseen) und die Entsumpfung von Landstrichen. Den meisten Kantonen, vor allem den kleinen alpinen, fehlte dafür das nötige Geld. Der Bund konnte bald aushelfen, was in den Räten zwar viel zu reden gab, seine Akzeptanz aber schliesslich und endlich doch bis in das hinterste Bergtal (sogar im 500Jahre alten ehrenwerten Gebirgsstand Uri und in der Republik Wallis) förderte.

Im Schwung des politischen Wandels wollten viele auch eine eidgenössische Universität, was im Nationalrat tagelang verhandelt wurde. Dabei sollte Zürich als Ersatz für seine Niederlage in der Wahl zur Bundesstadt zum Zug kommen. Eine solche zentralistische Bildungsstätte liessen die Kantone im Ständerat aber nicht zu. Sie bewilligten Zürich immerhin eine ‹nationale Industrieschule›, aus der das vom Bund finanzierte Polytechnikum (ETH) entstand. (Dass Zürich später das Landesmuseum bekam, verdankt es dem Ständerat. Die Landes- oder Nationalbibliothek kam nach Bern, das Bundesgericht später nach Lausanne und der Sitz der Nationalbank wieder nach Zürich.)

Der Bau der Eisenbahnen

Nach 1848 kam bald die ‹lange wirtschaftliche Welle› des Eisenbahnbaus. Der Bund hatte nur das Zollgeld, was jahrelang zwar ein ausgeglichenes Budget ermöglichte, zum Eisenbahnbau aber nicht ausreichte. (Die Gotthardbahn musste mit deutschen und italienischen Geldhilfen gebaut werden.) Ausserdem war die Parlamentsmehrheit liberal, und sie entschied sich ohne lange Debatten für den Privatbau. Man baute an und in allen Ecken und Enden des Landes Eisenbahnen, bis eine ‹Blase› entstand, die Bahnen insolvent und als SBB verstaatlicht bzw. nationalisiert wurden. Dazu musste sich die radikale Parlamentsmehrheit aber mit den ‹Ultramontanen› verständigen und ihren ersten Bundesrat, den Luzerner Zemp, zum Eisenbahnminister machen. Zwar war er als Nationalrat noch gegen die Verstaatlichung gewesen, half als Bundesrat aber, die Nationalisierung durchzusetzen, was ihm die NZZ hoch anrechnete. Für die gesamte, in dieser Arbeit berücksichtigte Zeit von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg waren die Eisenbahnen eines der grössten, dauerhaftesten und kontroversesten Themen der Bundesversammlung, die nach 1874 Hunderte von Konzessionsgesuchen ‹durchwinken› musste. Im Zentrum standen zunächst (und später wieder) die Gotthardbahn, der Simplon und später der Lötschberg.

Die Räte als Bindeglieder zwischen Individuum und Gesellschaft

Der zentralen Zielsetzung dieser Arbeit entsprechend, soll die Aufmerksamkeit jetzt auf die Mesoebene, damit auf die Organisation Rat gelenkt werden, denn in der Schweiz sind die Parlamente (auch die Regierungen) Räte und keine Kammern. Wir haben jede Menge an Räten, so Schulräte, Kirchenräte Gemeinderäte, Bezirksräte, Stadträte, Kantonsräte, Regierungsräte, einen Nationalrat, einen Ständerat, einen Bundesrat und andere mehr. Die Ratsform ist für die politische Schweiz offensichtlich das Bindeglied zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, auch zwischen den kollektiven Akteuren der Föderation, also zwischen den Kantonen und Gemeinden und dem Bund. Sie ist das Organisationsmuster von unten nach oben, das den Beteiligten grössere Freiheiten lässt, und sie zählt deshalb zum organisatorischen Kern unserer Politik. Sie erscheint gewissermassen als ein Archetyp in der Ausübung der öffentlichen Gewalt in unserem Land, und zwar seit Langem und auf allen drei Ebenen in den Kantonen, im Bund sowie in den Gemeinden und dort in legislatorischen wie in exekutiven Funktionen. Ausserdem sind Räte kompatibel mit der direkten Demokratie, die einerseits eine bereite Beteiligung will, andererseits aber Ratschläge und Führung notwendig hat. Das Betriebssystem der Ratsform prägt auch die Arbeitsweise der Bundesversammlung, deshalb diese Zwischenbemerkungen.

Systemisch sind Räte im Einleitungsteil als kollektive Akteure (und Transformatoren) auf der intermediären Ebene, also auf jener zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, als Bindeglied zwischen Volk und Staat bezeichnet worden. Historisch entstanden sie in der Schweiz nicht als Beratergremien an der Seite von Fürsten und Herrschenden von oben nach unten, sondern als Vertreter der Volksgruppen von unten nach oben. Organisatorisch bilden sie integrationskräftige Versammlungen von gleichberechtigten Mitgliedern, die im kleinen Kontext dem Individuum, im grösseren den verschiedenen Gruppen Platz für die Beteiligung an der Herrschaft, an der Erfüllung der Aufgaben und an der politischen Verantwortung machen, damit unterschiedliche Interessen, Ideen und Kenntnisse einbringen. Diese Struktur beeinflusst ihre Arbeitsweise.

Um noch ein paar Erläuterungen zu ursprünglichen Zusammenhängen und den ‹Pfadabhängigkeiten› der Ratsform zu machen: Wollte man in den genuinen Landständen bzw. Kantonen keine ‹Vögte› oder andere starke Obrigkeiten dulden, dann musste eine andere Regierungsorganisation her, damit Sicherheit, Friede und Ordnung hergestellt und gesichert werden konnten. Das war der Rat mit seiner Befehlsgewalt. Sodann waren und sind die Kantone, Gemeinden, überhaupt das ganze Land, wie schon bemerkt, vergleichsweise klein, damit (theoretisch) arm bzw. knapp an Ressourcen, folglich potenziell abhängiger und ausserdem häufig nicht oder nur schwer in der Lage, grosse Aufgaben allein und schnell bewältigen zu können. Deshalb waren diese politischen Gebietskörperschaften stärker sowohl auf die Leistungsbeiträge des Einzelnen als auch Zusammenarbeit, Vergenossenschaftlichung, auf Integration und Fusion der knappen Kräfte in Räten und auch gegenseitige Unterstützung angewiesen.

Kleine Kollektive müssen zur Sicherung ihrer prekären Existenz die Individuen stärker in Anspruch nehmen als grosse. Und wenn das relativ zwanglos geschehen und motiviert werden soll, dann muss ein solches Kollektiv seinen Mitgliedern einen grösseren Handlungsspielraum bzw. mehr Freiheit und Verantwortung zubilligen. Dafür ist die demokratische Herrschaftsform Rat besser geeignet als eine harte Hierarchie. Und ohne das alte Bewusstsein von korporativer Freiheit (Liberalität) und Unabhängigkeit (Föderalismus) hätte eine solche, in Wirklichkeit nicht immer einfache Regierungsweise dauerhaft kaum funktionieren können.

Das mag sich romantisch lesen, aber die Waldstätte bzw. die politisch organisierten Alpentäler, die Urkantone, zählten nun einmal zu den ersten Gründern der Eidgenossenschaft. Während jener Gründungsjahre hatte sie ihr politisches Erstgeburtsrecht immer wieder ausgespielt und dafür im Obwaldner Wirz eine grosse Stimme gefunden. Ihre einerseits gefährliche, andererseits auch schützende alpine Umwelt hatte auch zur Entwicklung und Stabilisierung der eben skizzierten kooperativen Herrschaftsform beigetragen. Die Herausforderungen alpiner Geografie waren nur genossenschaftlich zu bewältigen, und diese Genossenschaftlichkeit erforderte individuelle Motivation, Handlungsspielraum samt einer flacheren politischen Hierarchie. Das dürfte auch zur Bereitschaft der militärischen Aussenverteidigung beigetragen haben.

Was in den einzelnen Alpentälern und später in den Stadtkantonen entwickelt wurde, fand in der alten Eidgenossenschaft in Form ihres lose gekoppelten Bündnisses und ihrer flachen Hierarchie durch Tagsatzung und Vorort, wie man weiss, seine Fortsetzung. Die Ratsform erwies sich als integrationsfähig genug, um das immer heterogener werdende mehrsprachige Staatenbündnis zusammenzuhalten. Mit der Transformation des Staatenbundes in den Bundesstaat von 1848 wurde dieses alte Rätesystem modernisiert und leistungsfähiger gemacht.

Die Männerräte

Damit der Verfasser nicht in den Verdacht gerät, die Organisation Rat zu idealisieren und ideologisieren, eine Zusatzbemerkung. Ihr Inhalt dürfte für die genuine Formation und die Kultur dieser Räte lange nicht ganz belanglos gewesen sein. Weil die alte Eidgenossenschaft keine (direkten) Kaiser, Könige, Herzöge, keinen Hof und keinen Hochadel geduldet und gekannt hatte, fehlten ihr der gesellschaftliche Zauber und der Einfluss von Königinnen, Fürstinnen und Prinzessinnen usw., also von Frauen als herrschende und kulturprägende Figuren. Auch deshalb waren unsere politischen Räte bis vor Jahrzehnten (vielleicht stärker als anderswo) männerorientierte, praktische, harte und rustikale Bauern- und Männerversammlungen, bestenfalls Landesväter, wie die Nationalräte im 19.Jahrhundert nicht selten betitelt und behuldigt wurden. Die allgemeine, milizmässige, früher beinahe lebenslange Wehrpflicht mit ihrer Mobilisierung (und manchmal der Gaudi) der Männer und das aus Bedrohungsängsten des geografisch exponierten Kleinstaates herausgewachsene, extensive (übrigens schon vor 1900 in der Bundesversammlung immer wieder heftig kritisierte), ehemals aber glorreiche Militärwesen verstärken (trotz der Mutter Helvetia und der heiligen Mutter Gottes in Einsiedeln) diesen schweizerischen Maskulinismus über lange Zeit noch, der deshalb, übrigens auch wegen der direkten Männer-Demokratie, nur mühsam in Richtung Frauenstimmrecht auszurotten war. Immerhin hat sich unser nichthierarchisches, offenes und integratives Rätesystem als so flexibel erwiesen, dass inzwischen Frauen in den Regierungen von Stadt und Kanton Zürich sowie im Bundesrat praktisch gleich stark vertreten sind. Demnächst werden alle drei höchsten Präsidien im Bund im Ratsturnus von Frauen besetzt sein. In Zürich, der grössten Stadt der Schweiz, regiert inzwischen eine Frau.

Räte benötigen besondere Spielregeln

Weil schweizerische Räte, vor allem die beiden Räte der Bundesversammlung (auch der Bundesrat mit seinem Problem der Kollegialität), aus politisch verschiedenen und nur lose gekoppelten, aber gleichberechtigten Mitgliedern zusammengesetzt sind und keine starke Führung haben (sollen und wollen), bedürfen sie anderer (systemisch gesprochen: funktional äquivalenter) Vorkehrungen zur Lösung ihrer Probleme der Koordination, des Aufbaus von Zustimmung und Mehrheit sowie der Herbeiführung von Entscheidungen. Ohne hierarchische Führung ging in unserem Land schon immer manches etwas langsamer und schwieriger, aber nicht schlechter. Hinzu kommt, dass die harte Natur politischer Probleme und Entscheidungen solche Spielregeln bzw. Verfahren ganz besonders notwendig macht.

Denn inhaltlich wird nur akzeptiert, was formal korrekt beschlossen worden ist. Legitimation durch Verfahren nennt man das. Allerdings reichen die Verfahren und parlamentarischen Geschäftsordnungen allein nicht aus, wenn sie nicht in einem materiellen Grundkonsens verankert sind. Oben ist schon angedeutet worden, dass eine kleine und enge politische Gemeinschaft, sei es eine Gemeinde, ein Kanton oder letztlich der Bund, von Natur aus zur Begrenzung ihrer politischen Konflikte und zur Bildung von Konsens gezwungen ist. Diese formale Quantität kann in eine Qualität bzw. in einen inhaltlichen Grundkonsens betreffend die Einsicht in die Erfüllung von politischen Notwendigkeiten umschlagen. Es ist aber mitnichten so, dass diese Einigkeit (bzw. die Bereitschaft zur Konkordanz und Kollegialität) der Eidgenossenschaft vom lieben Gott geschenkt worden wäre. Vielmehr musste sie mühsam erlernt werden, auch in der Bundesversammlung. Weil die Schweiz keine Aussenpolitik betrieb, hatte sie mehr Zeit für innenpolitische Lernprozesse. Bedroht war jene Einigkeit damals schon, wie heute auch wieder.