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Der angesehene Politikwissenschaftler Leonhard Neidhart blickt zurück auf die Schweizer Bundespolitik des 20. Jahrhunderts. Dabei stellt er die grossen sozioökonomischen Herausforderungen und damit die gesetzgeberischen Aufgaben dar, die das Parlament, die Regierung und zum Teil auch das Volk seit dem Ersten Weltkrieg erfüllt haben oder nicht. Er schärft damit das politische Gedächtnis für den Wandel und das gewaltige Wachstum der Aufgaben und der Verantwortung, die auf den Staat, auf die Politiker und das Stimmvolk zugekommen sind. Die Darstellung ist chronologisch und referier t fast ausschliesslich Fakten und wichtige Aussagen aus den Verhandlungsprotokollen des Nationalrates. Neben den politischen Sachfragen behandelt er als zweites Thema die Arbeitsweise und Organisationsprobleme des Milizparlamentes sowie die Auseinandersetzungen über die Wahl des Bundesrates und die Anzahl seiner Mitglieder. Beide haben in den vergangenen Jahrzehnten häufig zu schreiben und zu reden gegeben und gegenwärtig ist es wiederum der Fall. Mit diesem Buch führt Leonhard Neidhart seine Arbeit, dokumentiert in 'Das frühe Bundesparlament' (2010), bis zum Jahr 2000 fort.
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Seitenzahl: 1129
Veröffentlichungsjahr: 2013
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LEONHARD NEIDHART
Politik und Parlament der Schweiz
EIN RÜCKBLICK IN DAS 20.JAHRHUNDERT
Autor und Verlag danken Josef und Christine Neidhart-Fischer, Ramsen SH, für die grosszügige Unterstützung zum Druck dieses Werks.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2013 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich
Der Text des E-Books folgt der gedruckten Auflage 2013 (ISBN 978-3-03823-786-0).
Lektorat: Ingrid Kunz Graf, Schaffhausen
Titelgestaltung: unfolded, Zürich
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
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ISBN E-Book 978-3-03823-972-7
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Zur Einführung
I
Reisen bildet, sagt man. Warum eigentlich? Weil Erfahrungen mit anderen oder fremden Verhältnissen die Einsichten in die eigenen schärfen können. Deshalb bergen Vergleiche oft gute Quellen für Erkenntnisse. Das gilt auch für Zeitvergleiche der Gegenwart mit den eigenen Vergangenheiten. Sie stärken das politische Gedächtnis in einer Zeit, die sich immer schneller wandelt, und sie bekämpfen eine riskante Vergesslichkeit. Vor allem helfen sie mit, Zustand, Wachstum und die umwälzenden, um nicht zu schreiben, revolutionären Veränderungen unserer Lebensverhältnisse besser zu erkennen und zu verstehen; vielleicht auch, um aus begangenen Fehlern Lehren zu ziehen und bewusster in die Zukunft zu blicken. Und wenn es dabei um Fragen der verbindlichen Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, also um Politik geht, wie in diesem Buch, dann sind Kenntnisse und Verständnis des Geschehenen, des Tuns und des Unterlassens unserer Vorfahren besonders wichtig.
Damit ist das Programm dieser Schrift schon angedeutet. Sie will eine lange polithistorische Zeitreise anbieten und in geraffter Darstellung dokumentieren, welche wirtschaftlich-gesellschaftlichen Probleme, Bedürfnisse, Interessen und Wertvorstellungen in den turbulenten Jahren des 20.Jahrhunderts an den Staat und den Bund herangetragen worden sind; wie, wann, für wen und mit welchen Gesetzen oder Problemlösungen das Parlament darauf reagiert hat oder nicht; wer sie bezahlte, und welche Rolle die Volksvertretung dabei spielte.
Weiter geht es um die Diskussionen, die unsere Milizparlamentarier immer schon und immer wieder über die Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise und über Organisationsprobleme führen mussten, die ihnen durch das ständige Wachstum ihrer Aufgaben (und auch durch den Eigensinn von Mitgliedern) erwuchsen. Die Thematik ist, wie man weiss, aktueller denn je.
Jene Debatten liefern auch Einblicke in die Denkweise von Parlamentsmitgliedern sowie in Stil und Betrieb jenes ganz speziellen Staatsorgans, das sich mit guten Gründen Bundesversammlung (L’Assemblée fédérale) nennt: nämlich eine prestigeträchtige Versammlung, zusammengesetzt aus einer grösseren Anzahl gewählter, in parteipolitischer, beruflicher, konfessioneller, intellektueller, finanzieller, auch sprachlicher sowie altersmässiger und geschlechtlicher Hinsicht verschiedener, rechtlich zwar gleichgestellter, aber unterschiedlich stark ambitionierter und talentierter Leute bzw. Vertreter des Volkes, die sich trotz gegensätzlicher Interessen in wichtigen Fragen des Landes einigen müssen, dabei eine grosse Verantwortung tragen, aber kein starkes Organisationsregime und keine starke Führung ertragen wollen und haben. Ein Stück Parlamentsgeschichte also.
Dokumentiert werden auch die häufig wiederholten Auseinandersetzungen über die Wahl und die Zahl des Bundesrates (Le Conseil fédéral) sowie über Mittel und Wege zur Verbesserung der Regierungstätigkeit, weil sie offensichtlich nie zu Ende gehen. Sie zählen wie das sogenannte Miliziprinzip auch zu den politischen Organisationsproblemen, die unser vielfältiger Kleinstaat zu lösen hat. Zwischendurch soll die treue Leserschaft ab und zu auch mit Lesenswertem aus den alten Zeiten belohnt werden.
Mit diesen Zielen wird ein breites Spektrum von Problemen und Themen sowie ein historisch weiter und wechselvoller Zeitraum in den Blick genommen. Er kann nur auf einem befestigten Pfad abgeschritten werden, will man sich dabei nicht verirren. Deshalb habe ich den naheliegendsten Weg gewählt, nämlich schlicht und einfach die Protokolle über die Debatten durchgelesen, die unser Bundesparlament im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts über die wichtigen Gesetzesvorlagen und über die eigene Arbeitsweise geführt hat.
Wie man weiss, werden alle Gesetzesprojekte zuerst vom Bundesrat und dann von Kommissionen des Parlamentes vorberaten. Diese Kommissionen bestellen jeweils Berichterstatter, welche die Ratsplenen über ihre Vorberatungen, Entscheidungen samt Begründungen informieren müssen. Auf ihre Berichte stützen sich die folgenden Wiedergaben in erster Linie, weil sie in aller Regel prägnante und objektive Zusammenfassungen der Sachverhalte liefern. Das gilt insbesondere für die späteren Teile dieser Arbeit, in denen die Gesetzesmaterien zahlreicher und komplizierter werden.
Um diese Wiedergaben überschaubar und gut lesbar zu halten, waren einige Einschränkungen unvermeidbar. Erstens konnten die gesetzgeberischen Sachverhalte nur so weit referiert werden, bis der Leserschaft einigermassen klargemacht war, um was es sich dabei handelte. Je stärker die Gesetzgebungstätigkeit des Bundes im Laufe des letzten Viertels des vergangenen Jahrhunderts zunahm, desto knapper müssen die Zusammenfassungen werden. Immerhin sind die meisten jener legislatorischen Hauptthemen noch bekannt.
Eine ausführliche Wiedergabe der jeweiligen Problematiken, der gesetzgeberischen Massnahmen, der unterschiedlichen Parteistandpunkte, der Interessengegensätze und aller Begründungen usw. wäre für einen derart weit gespannten Zeitraum und für die vielen Themen weder adäquat möglich noch sinnvoll gewesen. Ausserdem hätte ein solcher Anspruch den Text noch umfangreicher und auch schwierig lesbar gemacht. Im Zentrum soll also, um die Zielsetzung dieser Arbeit zu wiederholen, in erster Linie die Sequenz der bundespolitischen Probleme und Themen im Ablauf der vielen Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts stehen. Dazu sollen Fakten sprechen, und sie werden ausführlich sprechen. Dann fallen der geneigten Leserschaft Erklärungen und Urteile von selbst ein. Ich werde mich dabei in der Regel auf auswählende Zusammenfassungen und knappe Erläuterungen beschränken müssen, soweit sie für das Verständnis notwendig sind.
Zweitens weiss man, dass sich der Bund (La Confédération) zwei völlig selbstständige gesetzgebende Räte leistet, den Nationalrat (Le Conseil national) und den Ständerat (Le Conseil des cantons), und dass dort in deutscher und französischer (ganz selten auch in italienischer) Sprache verhandelt wird. Da der Leserschaft die wichtigen Politikfelder einer sehr langen Zeit vor Augen geführt werden sollen, konnte ich überwiegend nur die Protokolle des Nationalrates berücksichtigen, weil die Problematiken dort meistens ausführlicher dokumentiert sind und auch pointierter zum Ausdruck kommen als im Ständerat. Das bedeutet keine Abwertung des ab und zu auch zitierten kleinen Rates, der sich im Laufe der Zeit übrigens eine gleichermassen einflussreiche Stellung erarbeitet hat. Denkbar wäre zwar eine alternierende Berücksichtigung beider Räte gewesen. Aber das hätte zu Wiederholungen geführt. Sodann musste auch auf die französischsprachigen Beiträge verzichtet werden. Dafür bitte ich die Compatriotes der Westschweiz um Verständnis. Die Dokumentierung der grossen nationalen Politiken und der Organisationsprobleme des Parlamentes wird dadurch jedoch nicht entscheidend beeinträchtigt, weil die deutschen und welschen Kommissionsberichterstatter mit ihren Referaten immer die gleiche Aufgabe haben.
Es wären zwei verschiedene Formen der Wiedergabe dieses umfangreichen Stoffes möglich gewesen, eine systematische und eine chronologische. Der systematische Weg hätte die grossen Politikfelder wie Recht, Wirtschaft, Geld, Natur, Boden, Kultur, Militär, Soziales, Erziehung, Verkehr, Landwirtschaft, Umwelt, Verkehr usw. (die Aussenbeziehungen waren lange kein Thema in der BVers) des ganzen Zeitraums in Sachzusammenhängen zu Papier gebracht.
Der diachrone Weg führt dagegen von Periode zu Periode, Jahr um Jahr und von Session zu Session zum Werk. Ich habe mich für die chronologische Darstellung entschieden, weil die Stofffülle so einfacher repräsentiert und auch leichter gelesen werden kann. Ausserdem bindet diese Art der Präsentation die politischen Themen besser in die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge ein und bringt so die Entwicklung und den Wandel des Geschehens eindrücklicher zur Geltung. Die vielen und in den späteren Teilen sehr ausführlichen, die Jahre zusammenfassenden Zwischentitel und ein knappes Sachregister am Ende des Textes sollen der Leserschaft Gelegenheit geben, sich auch systematisch nach Politikfeldern bzw. Sachthemen zu orientieren.
Quelle dieser Präsentation ist das Stenographische Bulletin (Stenbull) der Bundesversammlung. Der sparsame Bund hatte sehr lange Zeit gebraucht (und gestritten), bis er sich zu einer vollständig gedruckten Publikation seiner Parlamentsdebatten entschliessen konnte. Den einen war das zu teuer, andere sahen kein Bedürfnis. Erst ab 1891 wurden Teile der Verhandlungen im Druck veröffentlicht, im Laufe der Zeit dann immer mehr, vor allem die referendumspflichtigen Geschäfte, selten aber (und das ist ein Mangel) die Debatten über die Staatsrechnung (Le Compte d’Etat), über das Budget und die Geschäftsberichte (Le Gestion du Conseil fédéral) des Bundesrates. So sind die Berichte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs im Stenbull sehr lückenhaft, weshalb für jene Jahre auch Korrespondenzen der Neuen Zürcher Zeitung herangezogen wurden. Ein vollständiges Bulletin der BVers (Bundesversammlung) erscheint erst seit 1972 im Druck.
Übrigens wird die Leserschaft um Nachsicht dafür gebeten, dass wegen der Länge des Textes, wenn immer möglich, für die häufig gebrauchten Begriffe Abkürzungen verwendet und auf Punktsetzung (z.B. Fr. nur Fr oder Dez. nur Dez) verzichtet wird. Sodann werden die abgekürzten Ausdrücke nur im Nominativ geschrieben (z.B. Bundesrat gleich BR und des BR usw.). In späteren Teilen der Darstellung wird nur noch das Stenbull des Nationalrates (NR) oder des Ständerates (StR) zitiert, was eine vereinfachte Zitierweise ermöglicht. Die Parteizugehörigkeit der zitierten Parlamentsmitglieder wird nur unregelmässig verzeichnet, weil es nicht um die Rolle der Parteien geht. Auch haben sich die Parteinamen im Lauf der Zeit verändert.
II
Ich setze mit diesem Buch meine Arbeit fort, in der ich die frühe Entwicklung unseres Bundesparlamentes von 1848 bis 1914 behandelt habe. Jener Publikation, Das frühe Bundesparlament (Zürich 2010), ist eine knappe Skizze zur Theorie unseres schweizerischen Parlamentarismus vorangestellt, die nicht wiederholt werden soll, obwohl sie verbesserungsbedürftig wäre.
Doch ganz ohne ein paar allgemeine Kennzeichnungen des Parlamentsbetriebs in Bern soll es nicht abgehen. Unser nationales Zweikammersystem, der NR und der StR, also die gleichberechtigte Repräsentation des Volkes und der genuinen Landstände bzw. der Kantone, zählt zu den unveränderten, hochstabilen institutionellen Kernen der «Willensnation» Schweiz, des Bundes der Eidgenossen. Bemerkenswert ist, wie vieles an ihm gleich geblieben und wie manches anders geworden ist.
Unsere Legislative blieb, wie zu Beginn, ein zahlenmässig relativ kleines Nebenberufsparlament, also ohne volle Professionalisierung seiner Mitgliedschaftsrollen und mit einer einfachen Organisation: ohne die parlamentarischen Institutionen wie ein dauerhaftes Ratspräsidium, einen strikten Fraktionszwang, die Auflösungsdrohung und die Vertrauensfrage usw. Damit bleibt es eine Organisation, die ihren Mitgliedern vergleichsweise grosse individuelle Handlungsspielräume (immer noch) offenlässt und so von Anfang an eine zeitraubende Masse von (individuellen) Vorstössen wie Initiativen, Motionen, Interpellationen, Postulaten und Anfragen ermöglichte. All das hat immer schon und immer wieder zu reden gegeben.
Unsere nationalen gesetzgebenden Räte blieben ein nur sessionsweise tagendes Parlament. Deshalb kam und kommt den (selteneren) Plenumsverhandlungen eine besondere Bedeutung und öffentliche Aufmerksamkeit zu. Auch deshalb hatte man immer schon zu wenig Zeit (zum Reden) und versuchte es ersatzweise mit persönlichen (zeitraubenden) Vorstössen. Sodann blieb und bleibt die schweizerische Legislative eine aus regional-, partei- und sprachpluralistischen Interessen zusammengesetzte Bundesversammlung (BVers) mit zwei gleichberechtigten Räten, die sich von Fall zu Fall zu übereinstimmenden Mehrheiten zusammenfinden und Differenzen bereinigen müssen.
Unsere BVers blieb und bleibt ausserdem ein Parlament, in dem seine Mitglieder, die Fraktionen und die beiden Räte (intern) miteinander und mit der Regierung lose, aber mit dem Wahlvolk (qua direkter Demokratie), mit den Kantonen (qua Anhörung und Ständereferendum) und auch mit den Interessenverbänden (qua Vernehmlassungsverfahren) stärker gekoppelt sind. Auch gibt es wohl kein Parlament auf der Welt, in dem die Regierungsmitglieder so direkt und häufig mit dem Parlament zusammengearbeitet haben, d.h. persönlich antreten und Rede und Antwort stehen müssen. Auch dabei ist es trotz der gewachsenen Aufgaben der Regierung bis heute geblieben und all das prägt den Stil der Debatten.
In der kleinen, trotzdem vielfältigen Schweiz fürchten alle eine starke zentrale Macht und Führung. Je kleiner die Kantone, desto grösser sind solche Ängste. Deshalb wollen auch alle mitregieren und opponieren. Das gab immer schon Probleme und führte in jüngster Zeit (zu) oft zu einer ziemlich unverständlichen Debatte über unseren Regierungsmodus, den wir euphemistisch und zugleich halbrichtig als Konkordanzdemokratie beschreiben. In Wirklichkeit ist diese Konkordanz notwendig, um die Konfliktpotenziale des mehrsprachigen Föderalismus und der majorisierenden direkten Demokratie aufzufangen und ausserdem ein «organisationssparendes» Willensbildungsverfahren des Kleinstaates. Der damit verbundene Zwang zum Verhandeln und zu Kompromissen drückt und prägt nicht nur den BR, sondern stärker noch die BVers.
Dort zählt es auch zu den Besonderheiten des schweizerischen Parlamentsbetriebes, dass alle grossen Fraktionen mitregieren und gleichzeitig mitopponieren können, eine «struktursparende Lösung» des Kleinstaates wie die «Zauberformel» übrigens auch. Schliesslich ist dies ein Parlament, das laufend neue Aufgaben bekam und bekommt, aber auch schon überlastet war, als es noch wenige und einfache Gesetzesvorlagen zu beraten hatte.
Die Räte bleiben sodann ein Parlament, das im Plenum oft lange auch noch einzelne Gesetzesartikel debattiert, obwohl die Meinungen, stark durch die Exektive beeinflusst, in den Kommissionen schon gemacht worden sind; ein Parlament also, das Auseinandersetzungen oftmals deshalb führt, um nach aussen Flagge zu zeigen, wenn es periodisch wieder einmal tagt. Zu den Eigenheiten unseres Parlamentes zählt ausserdem, dass es, wie gezeigt, institutionell (intern) eher lose gekoppelt und schwach hierarchisiert und deshalb auf breite Kooperation der Kräfte und auf Kompromisse angewiesen ist: Regierung und Machtausübung «zu gemeinsamer Hand», also das Parlament zusammen mit dem BR, mit dem Volk, mit den Sachverständigen und den organisierten Interessen: eine Systemstruktur, die natürlich die Funktionen und individuellen Handlungsspielräume in der Legislative als einen Typus von Semiparlamentarismus prägt.
Und noch ein Punkt: Während der Bund um 1900 ein Budget von rund 30Millionen Franken Einnahmen und Ausgaben hatte, waren es am Ende des letzten Jahrhunderts, also im Jahr 1999, rund 45Milliarden Franken und dazu rund 100Milliarden Franken Schulden, somit 1500-mal mehr als damals. Diese gewaltige Differenz der Finanzen verdeutlicht den Zuwachs und die Veränderung der Staatsaufgaben und der Arbeit der gesetzgebenden Räte, das Thema dieser Arbeit, sehr eindrücklich.
Gleichwohl tagten die Plenen der beiden Räte damals meistens in gleich vielen und gleich langen Sessionen wie heute. Aber hinter dieser äusserlichen Gleichheit der Plenumssitzungen verbergen sich einige Veränderungen, die unser Nebenberufsparlament in seiner inneren Organisation, nämlich mit dem Aufbau eigener Hilfsdienste, mit der funktionalen Differenzierung und stärkeren Institutionalisierung des Kommissionswesens sowie mit seinen nach Minuten (für manche ärgerlich) abgezirkelten bzw. organisierten Plenumsdebatten und nicht zuletzt mit den stark gewachsenen Anforderungen und Belastungen seiner Mitglieder erfahren bzw. bewerkstelligt hat. Das sollen die im Folgenden mitberücksichtigten Debatten über die zahlreichen Revisionen der parlamentarischen Geschäftsordnungen und des Geschäftsverkehrsgesetzes bzw. die Regeln über die Beziehungen zum andern Rat und dem Bundesrat (BR) dokumentieren.
Den Majorz-Nationalrat vor 1918 nannte man später den «alten Nationalrat». Er war ein bürgerlich-elitärer Konvent, in dem die Herren (die NZZ nannte sie manchmal Landes- oder Bundesväter) oft unendlich lang über vergleichsweise wenige und einfache Geschäfte parlieren konnten, wie sich gleich zeigen wird. Die grossen Gesetzesaufgaben der BVers und damit die drängenden Verfahrensprobleme vor allem des NR traten erst mit den Folgen des Ersten Weltkriegs, mit dem Proporz in den zwanziger Jahren, dann aber stärker ab den 1960er-Jahren auf. Während der beiden Kriegszeiten hatten BR und Verwaltung das Sagen. Die Rolle des Parlamentes «versank» in Kommissionen, deren Verhandlungen nicht im Stenbull erscheinen, wie Kommissionsberichte grundsätzlich auch nicht. Überrascht hat mich, wie schwach sich die Lage im Land während des Zweiten Weltkriegs im Parlament gespiegelt hat. Über den Ersten Weltkrieg erfährt man mehr. Das gibt mir die Möglichkeit, in den ersten Teilen der Arbeit, wenn auch nur fragmentarisch, etwas ausführlicher über den damaligen Betrieb im NR und über die Geschichte unseres Parlamentes zu berichten. Je mehr die Sachgeschäfte zunahmen, desto weniger waren solche «Abstecher» möglich. Deshalb werden die einzelnen Abschnitte dieser Arbeit im Laufe der Darstellung zwangsläufig etwas anders aussehen. Vor allem werden die Kapitel des letzten Drittels der Dokumentation kompakter sei. Ich habe zur Orientierung deshalb ausführliche Überschriften gemacht. Ausserdem findet sich hinten ein Namensverzeichnis. Dort finden sich Seitenverweise auf eine Auswahl pointierter Interventionen von Parlamentsmitgliedern, ein spannender und abwechslungsreicher Weg, um sich in die Arbeit einzulassen.
Bevor es jetzt auf die Reise geht, möchte ich mich beim Verlag NZZ Libro und seinen Mitarbeitern bedanken. Ebenso danke ich herzlich meinem Bruder und seiner Frau, die das Erscheinen dieser Arbeit ermöglicht haben. Ingrid Kunz Graf und Corinne Hügli haben den Text mit grosser Intelligenz und Sorgfalt in Form gebracht.
ERSTER TEIL
Das Jahrzehnt des Ersten Weltkriegs
Vorbemerkungen
Wie schon vermerkt, wurde das Geschehen in der BVers von 1900 bis 1914 in Das frühe Bundesparlament (Zürich 2010) ausführlich dargestellt. Deshalb finden sich hier zu jenem ersten Jahrzehnt lediglich wenige Angaben zu den wichtigsten Geschäften des Bundes. Das 20.Jahrhundert hatte für ihn mit drei harten Niederlagen in Volksabstimmungen (VA) begonnen. So wurde im Jahre 1900 ein neues Bundesgesetz (BG) zur Schaffung einer Kranken-, Unfall- und Militärversicherung massiv abgelehnt. Es dauerte bis 1912, bis ein einfacheres KUVG eine Volksmehrheit fand. Im gleichen Jahr 1900 verwarfen Volk und Stände auch Volksinitiativen (VI), die eine Proporzwahl des NR und zugleich eine Volkswahl des BR samt der Erhöhung seiner Mitgliederzahl verlangten. Im Jahre 1910 wurde der Nationalratsproporz wiederum abgelehnt.
Umstritten waren damals die Unterstützung des Bundes für die öffentlichen Primarschulen als eine Art von bildungspolitischem ‹Nachhilfeunterricht› für die kleinen und armen Kantone oder Eingriff in ihre Souveränität, sodann die immer hoch kontroversen Fragen der Zolltarife, insofern sie die Lebenshaltungskosten erhöhten. Stark konfliktiv verlief einmal mehr die Reorganisation des Militärwesens und des Bundesstrafrechtes. Eine ganz grosse Reform gelang der Eidgenossenschaft 1907 aber mit der Schaffung eines nationalen Zivilgesetzbuches (ZGB), das ohne Referendum akzeptiert wurde.
Jenes Jahrzehnt war eine Zeit der zunehmenden Industrialisierung und des wirtschaftlichen (wirt.) Wachstums. Deshalb wurden der Erfindungsschutz, die Notenbankfrage (Nationalbank mit dem Notenproduktionsmonopol), die Anwesenheit der Ausländer, das (schutzfordernde) Gewerbe, der Verkehr, die wirt. Nutzung der Wasserkräfte und die Lebensmittelkontrolle zu bundespolitischen Aufgaben. Eine ganz grosse parlamentarische Auseinandersetzung entwickelte sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg über die Revision des Arbeitsgesetzes, des ehemaligen Fabrikgesetzes von 1877. In den zwanziger Jahren ging es damit weiter.
Erinnert werden soll auch daran, dass im Jahre 1902 mit einem grossen Fest ein neues, das heute noch bestehende Parlamentsgebäude eröffnet wurde. Die Eidgenossenschaft wollte mit ihrer Architektur und ihrer Selbstdarstellung nicht zurückstehen, zumal in den nationalistisch gewordenen Nachbarstaaten überall hochrepräsentative Parlamentsgebäude hingezaubert wurden. Übrigens hatte der Bund seine Existenz in den kantonalen Hauptstädten mit dem Bau von prächtigen Postgebäuden schon früher demonstriert. Denn die Nationalisierung des Verkehrsmittels Post zählte zu den wichtigen Gründungsakten des Bundesstaates. In jenem Jahrzehnt nach 1900 lastete auch das Dauerthema der Organisation des BR und der Bundesverwaltung auf der Agenda des Parlamentes. Das führte noch kurz vor dem Ausbruch des Weltkriegs 1914 zu einem ersten Lösungsschritt.
Das Bundesparlament bei Kriegsausbruch
Der Weltkrieg bricht aus
Am Samstag, dem 1.August 1914, die Schweizerische Landesausstellung in Bern war noch in vollem Gang, beschloss der BR, die Armee für den 3.August mobil zu machen. (Alle folgenden Angaben dazu stammen aus der NZZ, weil sie nicht ins Stenbull aufgenommen worden waren.) Der Zürcher Regierungsrat veröffentlichte einen Aufruf und erwartete, «dass die gesamte Bevölkerung Ruhe, Besonnenheit und den oft bewährten Gemeinsinn bewahre, die allein dafür bürgten, dass auch diese Krise überwunden werde». Am 2.August wurde die Vereinigte Bundesversammlung (Les Chambres réunies) auf den 4.August zur Beratung der Notstandsanträge des BR und zur Wahl des Generals zusammengerufen. Ihre Finanzkommissionen stimmten (zur Gewährleistung der Geldversorgung) der Herausgabe von Fünf- und Zwanzig-Franken-Noten zu. (Vorher gab es dieses Papiergeld noch nicht.) Fünf-Franken-Noten sollten bis zum Betrage von 20Mio zur Ausgabe gelangen; auch eine Information über den damaligen Geldbedarf.
Der BR legte einen dringlichen Bundesbeschluss (BB, L’Arrêté fédéral) vor, in dem er «unbeschränkte Vollmachten zur Vornahme aller Massnahmen, die für die Bewahrung der Sicherheit, Integrität und Neutralität der Schweiz und zur Wahrung des Kredits sowie der wirt. Interessen des Landes erforderlich werden», verlangte. «Wir müssen an sie [die BVers] die Bitte richten, uns beides, unbeschränkte Vollmachten und einen unbegrenzten Kredit zur Verfügung zu stellen.» Am Morgen des 4.August tagten die beiden Räte. Nationalratspräsident von Planta eröffnete die Sitzung und sagte unter anderem, die beiden Vorsitzenden hätten beschlossen, «von einer Erörterung der Stellung unseres Landes im Widerstreit der uns umgebenden staatlichen Interessen abzusehen. Dieser Verzicht entspringt nicht nur dem Wunsch, die Freiheit der Geschäftsführung des Parlamentes zu wahren, sondern auch der Rücksicht auf die freundnachbarschaftlichen Beziehungen zu den kriegführenden Staaten, deren wir uns erfreuen und deren Erhaltung unser ernstes Bestreben ist.
Immerhin glaube ich, in diesem geschichtlichen Augenblicke vor unserem Volk und aller Welt die Erklärung abgeben zu sollen, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft unwiderruflich entschlossen ist, die strenge und gewissenhafte Neutralität zu wahren. Mögen die Verhandlungen und Beschlüsse in einer Form und einem Geiste erfolgen, die niemanden im Zweifel darüber lassen, dass wir Schweizer alle einig sind im Wunsche nach Frieden, im Vertrauen zu unserer Armee und im Entschluss, nötigenfalls alles einzusetzen, um die Freiheit und Unabhängigkeit des Landes zu erhalten.» Der St.Galler Ständeratsvizepräsident Geel äusserte sich in gleicher Weise. Zur Wahl des Generals wurde die BVers an jenem 4.August auf 16Uhr einberufen, es wurde nach einem kurzen Geplänkel dann aber 20Uhr.
Dann behandelten die Räte die Herausgabe von kleinen Banknoten. Für die Finanzkommission des StR referierte der Luzerner Dürig (kk). «Der Referent», so der Korrespondent (Korr) der NZZ, «wendet sich mit aller Schärfe gegen den Mangel an Überlegung, gegen die Rücksichtslosigkeit und Gewinnsucht, die sich in den letzten Tagen in einigen Kreisen der Bevölkerung bemerkbar gemacht haben. Diese Kopflosigkeiten bedingen unheilvolle Folgen für unsere wirt. Verhältnisse; ihnen muss mit aller Energie gegengesteuert werden. Eines der Mittel, die grossen Geldbezüge zu bremsen, stellt die Ausgabe von Banknoten in Abschnitten von fünf Fr dar. Diese Noten sind dem Bargeld vollständig gleichwertig.» Finanzminister während der Kriegszeit war der Tessiner Motta, der erklärte, die Nationalbank habe diese Fünf-Franken-Noten schon im Jahre 1913 vorbereitet. «Der Rat beschliesst, nachmittags um 16Uhr in gemeinsamer Sitzung mit dem NR den Bericht des BR über die internationale Lage entgegenzunehmen.»
Mit einem dringlichen BB über Massnahmen zum Schutze des Landes und der Aufrechterhaltung der Neutralität verlangte der BR unbeschränkte Vollmachten und einen unbegrenzten Kredit, und er verpflichtete sich, «der BVers bei ihrem nächsten Zusammentritt über den Gebrauch der erteilten Vollmachten Rechenschaft abzulegen. Diese Vollmachten waren weitgehend und eine verfassungsrechtliche Grundlage hatten sie nicht. Sie seien als Notrecht gewissermassen als Naturrecht» konstruiert worden, hiess es später. Die Räte schufen dann eine Neutralitätskommission (NeuKo), die allmählich zum Kernparlament wurde. Die Plenen der Räte tagten zwar wie gewöhnlich, hatten aber nicht mehr viel zu sagen. Die Macht lag bei BR und Verwaltung. Die Berichte der NeuKo, die, je länger der Krieg dauerte, desto heftigere Debatten auslösten, wurden im Stenbull nicht publiziert. Deshalb vermittelt das Stenbull nur ein schwaches Bild dieser Spannungen, die sich mit der Dauer des Kriegs auch in der Schweiz aufbauten.
Am 4.August abends um 20Uhr wählte die BVers den Obersten Ulrich Wille zum General, der sofort unter grosser Spannung der Versammlung, begleitet von zwei Kavallerieadjutanten, im Nationalratssaal erschien. Dann hielt der Nationalratspräsident folgende Ansprache: «Herr General! Sie sind durch das Vertrauen der BVers zum Oberbefehlshaber der schweiz. Armee berufen worden. Möge es Ihnen gelingen, das in Sie gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Mögen Sie die Ihnen unterstellten Truppen im Frieden und, wenn es sein muss, im Krieg zur Ehre und Wohlfahrt des Vaterlandes zu führen.»
Das Budget des Bundes
Vor 1914 hatte das Milizparlament oft und lange, jährlich meistens in vier, ab und zu sogar in fünf Sessionen getagt. Man wusste wegen der Redefreudigkeit im «Rat der Nation» und des schwachen Parlamentsmanagements zu Beginn der Sessionen oft nicht genau, wie lang sie dauern und wie weit man mit den Geschäften kommen würde. Immer schon galt aber, dass im Dezember (künftig werden die Monate abgekürzt) der Voranschlag und in der Junisession der Geschäftsbericht (GB) des BR und die Rechnung des Bundes behandelt wurden. Das waren Themen, zu denen fast alle Ratsmitglieder das Wort ergreifen konnten. Deshalb dauerte die Behandlung dieser GB damals oft mehrere Tage. Die Kommissionsreferate wurden im NR (im Gegensatz StR) auch damals zweisprachig gehalten. An dieser Praxis hielt man auch während der Kriegszeit bis in die 1990er-Jahre fest. Seither sucht man auch diesbezüglich Ersparnisse an Zeit.
Im Kriegsjahr 1914 hatten auch Parlamentswahlen stattgefunden, die ruhig und ohne Veränderungen verlaufen waren. Und im Dez 1914 wurden die BR wiedergewählt. «In der dazu anberaumten Sitzung der radikaldem. Gruppe hatte der Thurgauer Ullmann die Anregung gemacht, es sei mit der Wahl eine Ovation für den BR zu verbinden. […] Wenn die vorgeschlagene Kundgebung dennoch unterblieb, so erklärt sich das aus der tiefverwurzelten Abneigung, die in unserem Parlament gegen alles feierliche oder gar theatralische Wesen besteht. Der schweiz. Landtag ist ernst, aber er ist nüchtern.» (NZZ 17.12.1914) (Künftig wird nur noch das Datum zitiert, weil nur die NZZ herangezogen wurde.)
Jene Session dauerte vom 8. Dez bis Weihnachten. «Sie hätte leicht auf zwei Wochen beschränkt werden können», so der NZZ-Korr W, (dem das Blatt seit 1890 überaus intelligente und auch kritische Berichte verdankte), «wenn gewisse Herren Volksvertreter etwas mehr Sinn für die Ökonomie des Redens bezeugt hätten. Aber eben, die Herren wollen reden. Im Rate der Nation grassiert ein eigentliches Demokratiefieber; man erzählt von Landesvätern, denen der Kummer über das Attentat des BR auf die Volksrechte den Schlaf geraubt haben soll.» (Gemeint war die Dringlichkeitserklärung eines BB über Sparmassnahmen.) Immer wieder belehrte W auch: «In normalen Zeiten hätte man die Dringlichkeitsfrage diskutieren können, heute handelt es sich hier um eine nicht aufzuwerfende Frage. Ist es am 3.August aber jemandem eingefallen, zu untersuchen, ob die Legislative überhaupt zur Vollmachtenerteilung an die Exekutive kompetent ist? Wenn damals so viel demokratischer Eifer auf die Prüfung der Frage verwendet worden wäre, hätten die Herren Volks- und Ständevertreter erkennen müssen, dass der BVers diese Kompetenzübertragung an den BR gar nicht zustand.» (25.12.1914)
In jener Wintersession wurde das Budget für 1915 beraten, was schwierig war, weil Mobilisierungskosten anfielen. Über deren Finanzierung folgt später Genaueres. An dieser Stelle werden lediglich ein paar Zahlen zum damaligen Bundeshaushalt wiedergegeben, um Vergleiche anzuregen. Für 1915 rechnete der Bund mit Einnahmen von total 76Mio und Ausgaben von total 100Mio, damit einem Defizit von 24Mio. Der überwiegende Teil der Einnahmen, nämlich 60Mio, stammte aus Zöllen, 6Mio aus Liegenschaftserträgen und 4Mio aus dem Militärpflichtersatz. Der Rest verteilte sich auf verschiedene Gebühren und Taxen.
Die Ausgaben sahen wie folgt aus: Der NR kostete damals 322000, der StR 48000 und der BR 128000 Fr. Die höchsten Ausgaben wurden für das Militärdepartement (36Mio), das Innere (13Mio, Subventionen) sowie für die Volkswirtschaft und die Post mit je 12Mio budgetiert. Man hatte mit Kürzungen von Gehältern und Subventionen 2,4Mio eingespart. Aus Erhöhungen des Militärpflichtersatzes, des Alkoholzolls, der Posttaxen und der Telefongebühren hoffte man rund 6Mio mehr einzunehmen.
Der Korr W fand die Budgetberatung im NR nicht erbaulich. Obwohl nicht mit Begeisterungsstürmen gerechnet werden konnte, hätte man erwarten dürfen, «dass aus der ganzen Art und Weise der Behandlung der bundesrätlichen Vorlagen ein anderer Geist spreche, als ihn die Verhandlungen geoffenbart haben. Es rächt sich heute bitter, dass wir solange unser eidg. Budget ausschliesslich auf Zolleinnahmen aufbauten und ihrer steten Entwicklung fast einen dogmatischen Glauben entgegenbrachten. Das Parlament wird gut daran tun, die Schuld hierfür nicht einfach auf den BR abzuwälzen. Heute muss es schnell gehen. Es ist ja schön und gut, wenn im Ratssaal die Heiligkeit des Staatsrechtes gepredigt wird, und wenn die Herren Volksvertreter ihr Herz nicht zu einer Mördergrube ihrer demokratischen Gefühle machen. Allein das Volk hat diese Explosion der Sorge um die Verkürzung seiner Rechte [Ausschluss des Referendums] im gegenwärtigen Moment wohl kaum erwartet; wir trauen ihm zu, dass es weniger formalistisch denkt als einzelne seiner Vertreter.» (21.12.1914)
Es folgen an dieser Stelle ein paar Nachträge aus der Zeit vor dem Kriegsausbruch im August 1914. In der Junisession 1914 hatte der NR (nach 1900 und 1910) die dritte VI für einen Nationalratsproporz behandelt (Stenbull 1914, NR S.362ff.). Sie kam im Gegensatz zu den früheren als allgemeine Anregung daher, sodass ein Ausführungsgesetz notwendig wurde. Der NR befasste sich an sechs Sitzungen, an denen 30Reden, 18 in Deutsch und 12 in Französisch, gehalten wurden, mit der VI. In der Schlussabstimmung votierten 106 NR gegen und 62 (Kath.-kons. damals kk und sp) für den Proporz. Grundsätzlich neue Argumente, die in Das frühe Bundesparlament (Zürich 2010) nachgelesen werden können, gab es nicht mehr. Der StR verschob nach Kriegsausbruch die Behandlung dieses kontroversen Geschäftes. Erfolgreich wurde die Proporzinitiative erst 1918/19, wie noch zu zeigen ist.
Eine homerische Debatte über die Gründung eines Nationalparks
Im Juni 1914 hatte ein BB zur Schaffung eines Nationalparks auf der Tagesordnung des NR gestanden (Stenbull 1914, NR S.155ff.). Dieses ‹freundliche› Traktandum löste eine homerische Debatte aus. Sie wird hier ausführlich wiedergegeben, weil sie erstens für eine eindrückliche Naturschutzdebatte aus der Zeit vor 100Jahren steht und zweitens ein Exempel für die Redespielräume und individualistischen Auftritte liefert, die im Majorz-Nationalrat damals noch möglich waren.
Der radikale Zürcher NR Bissegger amtete als Berichterstatter der Kommission und hielt eine lange Rede. «Der Spruch des griechischen Dichters [‹Nichts ist gewaltiger als der Mensch›] wird», begann er, «durch nichts lebendiger und eindringlicher illustriert als durch die Tatsache, dass der Mensch, nachdem er der absolute Beherrscher der Erde und seiner Mitgeschöpfe geworden ist, sich gedrungen fühlt, zum teilweisen Schutz der letzteren gegen seine eigene Macht und seine Vergewaltigungsgelüste gewisse Schranken aufzurichten, Tier- und Pflanzenasyle zu schaffen, geheiligte Freistätten der Natur.
Mit geringen Mitteln hat er einst den Kampf um die Existenz seiner Art aufgenommen gegen die tierischen Konkurrenten. Er hat sie alle überwunden, teils gebändigt und in seinen Dienst gezwungen. […] Wir Schweizer, bei denen der schwerste und verdienstvollste Teil der Arbeit seit vielen Jahrhunderten getan worden ist, wissen davon zu erzählen. Korrigieren wir doch mit unerschöpflichem Eifer und ohne den Geldaufwand zu beachten, unsere Flüsse und Bergbäche, trocknen Sümpfe und Moore aus und forsten die steilsten Hänge der Berge auf.
Aber in die gerechte Freude über das Errungene mischt sich neuerdings ein Gefühl der Bitternis und fast der Reue über die Opfer, die uns das alles gekostet hat, über das Aussterben gewisser Tierarten, die einst den Stolz des Landes bildeten, des Bären, des Steinbocks, des Geiers; über die Abnahme der Singvögel und die Ausrottung edler Pflanzenarten. Edle Naturen, vor allem unter den Männern der Wissenschaft, erhoben ihre warnende Stimme und sie verfehlte die Wirkung auf die grosse Gemeinde derer nicht, die heute noch das materielle Interesse nicht als das einzig geltende ansehen.
Aus dieser Reaktion heraus ist die Naturschutzbewegung entstanden, die vergangenen Herbst hier in Bern unter den Auspizien des BR die Krönung ihrer Organisation durch die Schaffung einer Weltnaturschutzkommission vollzogen hat. […] Direkt beteiligt ist unser Land an den grossen Verlusten, die unsere Fauna und Flora bereits betroffen haben, teils stark bedrohen. Ausser den vorhin genannten Tierarten sind der Luchs und die Wildkatze auf Nimmerwiedersehen aus unseren Wäldern verschwunden. Die Vogelwelt leidet direkt unter unserer Kulturarbeit, unter der Ausrottung der Hecken, der Korrektion unserer Bäche und Flüsse. Die Eibe ist zur Seltenheit geworden, und die Zahl der prachtvollen Arven schwindet. Das sinnlose massenhafte Abreissen und Ausreissen der farbenprächtigsten und zierlichsten Blumen, des Edelweiss, der verschiedenen Enzianarten, in unserem Hügelland des Frauenschuhs, des Türkenbundes, der Küchenschelle, der Orchideenarten, unter diesen vor allem die sog. Insektenblumen, der Ophrys, hat das Aufsehen der Behörden veranlasst. Man hat Schutzbestimmungen erlassen, die Ausführung bleibt mangelhaft.
Davon ein Beispiel: Prof.Hegi aus München erzählt in seiner Schrift über die Naturschutzbewegung in Glarus, der seit 1883 eine Verordnung zum Schutz des Edelweiss besitzt, dass er an zwei Tagen 51Touristen begegnet sei, die nicht weniger als 11700 Edelweisse zu Tale getragen haben. Von diesen 51Edelweissmardern erklärten 14, mehr als 400Stück im Rucksack zu haben. Als Abhilfe müsse ein Naturpark geschaffen werden. Paul Sarasin habe als Präsident der naturforschenden Gesellschaft die Arbeit aufgenommen und sie habe dann mit den Gemeinden Zernez, Scanf und Schuls Pachtverträge abgeschlossen. […] Die Naturschutzkommission ist bisher allein für die 25000 Fr Bau- und Unterhaltungskosten aufgekommen. Ein Gesuch an den Bund, sich mit jährlich 30000 Fr an den Kosten und Pachtzinsen zu beteiligen, war erfolgreich.
Sie werden mir gestatten, dass ich bei dieser Gelegenheit diese unglückliche Kommission gegen Vorwürfe in Schutz nehme, die einer unserer Kollegen [der Basler NR Burckhardt] glaubte, erheben zu müssen. In der ersten Sitzung waren wir uns darüber einig, dass wir die Reservation besuchen müssen. Als Reisetermin wurde die zweite Woche des Juli bestimmt, da wir dann auf gutes Wetter hofften, aber es blieb aus. Dass wir durchnässt und durchfroren waren, gereichte uns nicht zum Vergnügen. Unser Kollege ist grausamer mit uns verfahren als Philipp der II. von Spanien. Die verhältnismässig hohen Kosten, die man uns zum Vorwurf gemacht hat, erklären sich aus der Abgelegenheit der Gebiete, der Notwendigkeit fachmännischer Begleitung und der Transporte. Es gab auch juristische Bedenken, die durch die Beteiligung des Bundes ausgeräumt werden.» (Übrigens stammte die Initiative für einen solchen Park von der Genfer Gesellschaft für Physik und Naturgeschichte aus dem Jahre 1907.) Burckhardt hatte der Kommission vorgeworfen, sie habe 4000 Fr gekostet und einige Herren seien nicht einmal in den Park gegangen, was er in der Debatte aber dann zurücknahm.
Der Glarner NR Legler, der im Rat immer wieder einmal den Querulanten spielte, wollte Nichteintreten. («Eintreten» heisst, ein Geschäft in die Beratung ziehen.) Er konnte die Notwendigkeit des Parks nicht erkennen, sah die Ausführungen von Bissegger als übertrieben an, übergoss ihn in seiner langen Rede mit beissender Ironie und zog das Projekt als «Bärenkäfig und Blumengarten» ins Lächerliche, was eine interessante Debatte auslöste: «Wollen wir zurückkehren zum Naturzustand und was vor Jahrhunderten war?», rief er aus. «Die Herren bedauern ja nur, dass man nicht noch grössere Gebiete [für einen Naturpark] präsentieren kann, wenn möglich das halbe Land oder das ganze unter Umständen. [Heiterkeit, künftig H, wenn die Herren lachten.] Die Angaben des Vorredners sind meines Erachtens entschiedene Übertreibungen. Weiter frage ich Herrn Bissegger: Ist es wirklich zu wünschen, dass die Lämmergeier und Adler sich wieder vermehren, die zu den gefährlichsten Raubtieren gehören, welche ja Kinder in die Lüfte tragen. Herr Bissegger spricht von der Hoffnung, dass wieder andere Tiere einwandern, der Wolf, der Silberlöwe oder ein anderer Bauernschreck. Ich will ihnen zeigen, dass wir keine Bundesmittel für Raubtiere ausgeben sollten. […]
Ich habe in der Kommission gefragt: Was für Tiere sind denn am Aussterben? Da war man zuerst verlegen. Später kam man mit folgenden Gattungen zum Vorschein: erstens der Steinbock, dann der Bär, der Geier, der Luchs und die Wildkatze. Dieses schöne Kollegium bildet die Grundlage für den Schutz, den wir gewähren sollen! […] Es wurde auch von Sachkundigen gesagt, man solle den Bär wieder einsetzen. Derselbe sei ein guter, braver Kerl, mit dem man spassen könne. Ich habe den Herren gesagt, kommen Sie mit uns und steigen Sie in den Bärengraben, und machen Sie dort Ihre Experimente mit diesen guten braunen Kerls. Eine zustimmende Antwort ist bis heute nicht erfolgt. Nun sage ich es, um es kurz zu machen: Zum Schutz der Raubtiere brauchen wir keinen Nationalpark. Es ist eine Naivität, die Vögel hegen und pflegen zu wollen und gleichzeitig die Wildkatze, dieses abscheuliche Tier, wieder einzuführen.
Ich gebe gerne zu, dass viele schöne Pflanzen im Hochgebirge grossen Schädigungen ausgesetzt sind. Aber daran ändert der Nationalpark in einer abgelegenen Gegend nichts. […] Wir sind eingeschritten im Klöntal, haben Wachen aufgestellt, wir haben Leute einfach am Kragen genommen und sie am Bahnhof gestellt, wir haben ihnen einen Teil der Pflanzen abgenommen und eine Kaution verlangt, um sie dem Polizeirichter zu überweisen. Solche Leute, die so wenig Sinn für Naturschutz haben, verdienen nicht mehr Rücksicht. Aber der Nationalpark hilft nichts dagegen. […]
Dann, meine Herren [immer noch Legler], kommt damit eine neue Rubrik in die Staatsrechnung, etwa betitelt: Naturschutz, Wildparkreservation und dergleichen. Das Departement ist da, die Sachverständigen sind da und ungezählte andere. Die Sache ist verlockend und das Geschäft ist zu gut, und wenn die Herren Professoren Oberwasser bekommen, so sind die 30000 Fr bald erreicht. Lassen Sie dieses Projekt in Hinterindien, woher es stammt.»
NR Bühlmann gab dann in einer ebenfalls langen, naturbewegten Rede seiner Verwunderung darüber Ausdruck, «dass gerade der Vertreter des hohen Standes Glarus den Bestrebungen des BR entgegenstehe. Der hohe Stand Glarus ist die Wiege des Naturschutzes in der Schweiz, der hohe Stand Glarus erfreut sich seit Jahrhunderten eines Freiberges. Das ganze Gebiet zwischen Gross- und Kleintal ist seit Jahrhunderten kraft des Willens des Glanervolkes mit Jagdbann belegt und erfreut sich eines Wildbestandes, der weltberühmt ist. Alle Anstürme von Jägern im Laufe der Jahrhunderte gegen diese Einrichtung sind stets am bewussten Willen des Glarner Volkes gescheitert. Glarus hat auch seit 1883 ein gesetzliches Verbot hinsichtlich des Edelweisses. […]
Es ist ja nicht zu leugnen, dass die finanzielle Lage des Bundes für eine derartige Ausgabe schwierig ist. Ich glaube auch, wenn wir ernstlich an die eigene Brust klopfen, dass es dann ausserordentlich leicht wäre, diese Mehrausgabe dadurch wieder einzubringen, dass wir in unseren Debatten etwas mehr zurückhaltend und die langen akademischen und theoretischen Debatten [der Linken], die nun Mode geworden sind und die sich zur Hauptsache mehr an die Wähler richten, als zur Sache zu gehören, etwas reduzieren würden.» (Dieser Rüffel kam gar nicht gut an.)
Kommissionsmitglied Greulich (sp, ZH) erklärte, dass er trotz des Wissens um wichtige soziale Angelegenheiten für den Park gestimmt habe. «Man wird aber kaum erwarten, dass ich hier als Anwalt der von Herrn Legler vorgeführten Raubtiere, Bären, Wölfe, Luchse, Wildkatzen und Adler auftrete. Ich stimme für diese Vorlage nicht bloss aus einem idealen, sondern aus einem praktischen Grund, weil es nötig ist, dass dem Volk und dem Land erhalten bleibt, was ihm infolge unserer sonstigen Wirtschaft Jahr für Jahr mehr verloren geht. Solange urwüchsige Naturalwirtschaft herrschte, der Mensch nur nutzte von der vorhandenen Natur, was er brauchte, solange ist von einer Raubwirtschaft keine Rede gewesen und konnte keine Rede sein. Aber sobald diese Gegenstände einen Geldwert bekamen und eine Anzahl von Menschen darauf ausgehen musste, das zur Gewinnung der Naturprodukte, der Tiere, der Pflanzen nötige Geld zu verdienen, begann die Raubwirtschaft an Pflanzen und Tieren.
Wenn Herr Legler sagt, er könne ja der Naturschutzkommission ein paar sterile Alpen im Kanton Glarus anbieten, um dort auch einen Naturschutzpark zu errichten, so hat er ganz unbewusst gezeigt, dass die Alpen nur darum steril vorhanden sind, weil die Menschen sie dort durch Raubwirtschaft steril gemacht haben, weil sie sie abgeholzt haben und heute genötigt sind, ungeheure Mittel aufzubringen, um die Folgen der Raubwirtschaft im Flachland zu verhindern.
Mein längst verstorbener Freund Karl Bürkli hat mir schon vor 40Jahren gesagt: Für die Stadt Zürich ist es ein Glück, dass der obere Sihlwald in den Händen des Klosters Einsiedeln ist, das ihn seit Jahrhunderten sorgsam gehegt und gepflegt hat. Denn wenn der obere Sihlwald abgeholzt worden wäre durch Spekulanten, die Geld damit verdient hätten, so könnte [vom Stadtteil] Aussersihl gar keine Rede sein, oder es würde unendlich viel kosten, um das rasch herabfliessende Wasser zu verhindern. So ist es mit den Pflanzen und Tieren. Als man die Felle und das Fleisch der Tiere verkaufen konnte, ist man ihnen nachgegangen und hat sie vertilgt, und so ist unser Land und Volk von Jahrhundert zu Jahrhundert und in neuerer Zeit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ärmer geworden an Lebewesen, und man kommt heute notgedrungen auf Mittel, um weiterer Verarmung vorzubeugen.
Ich meine, wenn auch die Summe [die Kosten der Pacht] etwas ordentlich geschätzt ist, darf man den braven Leuten, die da droben im Bündnerland wohnen, keine Vorwürfe machen, denn sie müssen auf die Nutzung verzichten, die sie vielleicht höher einschätzen als wir. Wir würden auch ein Beispiel geben, wie man dem Volk etwas erhalten kann, was zu erhalten nötig ist gegenüber der Raubwirtschaft, die nur Geld gewinnen will. Hier liegt der Grund, weshalb wir verarmen, hier ist der Grund, weshalb die Pelztiere in den nordischen Wäldern verschwinden, weshalb die Wale verschwinden und die Büffel in Amerika verschwinden und Amerika bedeutende Summen ausgibt, um nur etwas von diesen naturwüchsigen Tieren zu erhalten.»
Der liberale Thurgauer Häberlin glaubte «einer moralischen Pflicht folgen zu sollen», wenn er ein Wort für Eintreten einlege. «Herr Legler hat die Behauptung aufgestellt, wir hätten noch eine Reihe von abgelegenen Hochtälern, wo der Mensch nicht hinkomme und die Bedingungen für einen Nationalpark gegeben seien. Herr Legler möchte die Freundlichkeit haben, uns diese Gegenden zu nennen. […] Bezüglich der finanziellen Frage hat auch Herr de Lavallaz seine Bedenken geäussert. Es muss zugegeben werden, dass wir mit den Beiträgen in Zukunft nicht auskommen und dass der geplante Verein kein sicheres Rechtssubjekt ist. Aber wo der Idealismus sein Haupt erhebt, geht es nicht an, ihn abzutöten. Den Moment sollten wir nicht verpassen. Es ist nicht richtig, dass wir mit diesem Vorhaben, wie Herr Legler sagt, ein Versuchskaninchen sind. Die Vereinigten Staaten geben 12Mio Dollar für ihren Park aus und Preussen für ein kleines Stück Lüneburger Heide 40000 Mark. Eine Gelehrtenmarotte dem Volk aufzwingen wollen wir nicht, darum haben wir die Referendumsklausel beigefügt.»
Der Walliser de Lavallaz war als Kommissionsmitglied auf der Seite der Befürworter, bekam aber Skrupel und fiel um. Nachdem sich auch der Genfer Bonjour gegen Legler ausgesprochen und der Bündner BR Calonder warm für das Projekt plädiert hatten, ergriff mit dem St.Galler Scherrer-Füllemann ein ganz grosses, lange amtierendes ‹politisches Alphatier› und ein Jägersmann das Wort, weil er ebenfalls Nichteintreten wollte. «Dieser Wildpark käme», sagte er, «wie sie gehört haben, zum Teil an die italienische Grenze, und zwar auf eine Länge von zirka 11km. Das Wild wird in einem solchen Park eine starke Vermehrung erfahren und in das italienische Grenzgebiet übergehen und dort eine willkommene Beute der italienischen Jäger sein. Wir würden also auf Kosten des Bundes den italienischen Jägern ein Jagdrevier schaffen und jene würden nicht in ihrem Staatsgebiet bleiben, sondern auch in den Wildpark einbrechen.
Es ist bekannt, dass der Italiener ein rücksichtsloser Wilderer ist, der keinen Wildschutz kennt, sondern es nimmt, wo er es findet. […] Aber diese günstige Gelegenheit für die Wilddieberei ist nicht die Hauptsache, sondern die Konflikte, die dabei entstehen können. Denken Sie an die Zusammenstösse zwischen Aufsehern und Wilddieben. Auch wird der Reiz zu Grenzverletzungen von Polizeiorganen gegeben sein. Dann kämen wir zu Anständen, wie wir sie beim Schmuggel schon haben. Es könnten wegen des Wildschadens auch Anstände mit den italienischen Grundbesitzern entstehen. Ausserdem wird das stark anwachsende Wild in andere Gebiete Graubündens ausbrechen, Schäden anrichten und Ersatzpflichten schaffen. Wer soll das Wild im Winter füttern? Wenn es nicht gefüttert wird, wird es ausbrechen und die Heustadel angreifen. So viel ist sicher, das Nutzwild wird nicht neben dem Raubwild gehalten werden können wie seinerzeit im Paradies. Jene Zeit ist halt vorbei und es würde lange dauern, bis eine solche Zähmung der Tiere eingetreten wäre, dass sie friedlich miteinander aus derselben Schüssel und am gleichen Barren fressen. Allgemein herrscht die Ansicht, dass der Bär geschützt werden soll, wenn er wieder kommt.»
Der Präsident unterbrach: «Ich frage den Herrn Redner an, ob er hier bei einem Abschnitt seiner Rede angelangt ist. Wäre das der Fall, würde ich ihm vorschlagen, seine Rede am Nachmittag fortzusetzen.» Und so geschah es auch. Und Scherrer-Füllemann redet am Nachmittag noch lange weiter.
Für den Zürcher Sigg (sp) war es «ein schmerzliches Geständnis, erklären zu müssen, dass seine Fraktion nicht einig sei. Gewiss gebe es dringlichere Aufgaben, aber das, was hier angestrebt wird, kann ganz zweifellos nicht mit dem Hinweis bekämpft werden, dass zurzeit der Menschenschutz nötiger sei als der Tierschutz. Wenn wir unser ganzes kulturelles Niveau heben wollen, müssen wir zweifellos auch des Tiers gedenken, das dem Menschen, dem grössten, dem reissendsten Raubtier, preisgegeben ist.» Dann hob er zu einer seinen ganz speziellen Reden an, um es Herrn Leger gleichermassen ironisch heimzuzahlen.
«Herr Legler hat uns vorgeworfen, wir strebten zurück zur Wildnis. Jahrhunderte lang habe man sich bemüht, die wilden Tiere auszurotten, jetzt wolle man sie gewissermassen mit der Milchflasche wieder aufpäppeln. Ich wünsche Herrn Legler ein recht langes Leben und habe deshalb das Warum sehr gut begriffen, als ich neulich las, dass er sich in eine Abteilung unserer BVers zurückziehen wolle, in der man geistigen Erschütterungen weniger ausgesetzt ist als in unserem Rat [gemeint war der StR]. Aber auch Herr Legler kann sterben und ich will mir nun vorstellen, dass seine unsterbliche Seele in einen Bären fährt, der mir vielleicht einmal im Nationalpark begegnet. Dann werden wir miteinander reden, wie in den Märchen Menschen und Tiere miteinander reden und sich verstehen. Herr Legler wird dann den Nationalpark ganz anders betrachten. Er wird mir sagen, dass wir Menschen in vielem Unrecht hatten, als wir alles auf Profit gründeten, und dass wir Gefahr liefen, in schimpflichem Egoismus die schöne Erde vollständig zugrunde zu richten. Von Nützlichkeit reden die Menschen bei ihrer Vergewaltigung der Natur, aber glauben Sie mir, lieber Herr Sigg, die Menschen hätten, als sie noch nicht das umfassende Wissen besassen, das ihnen erst geworden ist durch den geistigen Aufbau ganzer Generationen, auch alle Wälder umgeschlagen, hätten das Klima so verschlechtert, dass überhaupt kein menschliches Wesen mehr auf Erden existieren könnte? Und wie haben sie aus Übermut und Profitsucht an der Tierwelt gefrevelt!
Wir Bären haben ja nichts dagegen, dass der Mensch, der geistig überlegene, uns isst aus Hunger, aber er soll unser Fell nicht haben wollen nur aus Mordlust und um Profit zu schinden. Er soll uns leben lassen. Sehen Sie, wird Herr Legler-Bär zu mir sprechen, wir sind ruhige, zahme Tiere, wenn man uns unsere Umgebung lässt, wenn man uns nicht unseren Mundvorrat wegnimmt. Wir werden nur ruppig, wo wir hungern müssen, ganz wie die Menschen.
Uns Schweizern [so Sigg weiter], die wir in verschiedenen Kantonen den Bären im Wappen führen, sollte nicht die Angst vor dem Bären ankommen. Die Finanzen sind angesprochen worden. Dabei hat insbesondere Herr Bühlmann sich einen Ausfall sehr eindeutiger Art gegen die Herren erlaubt, die hier oben auf dem Berge sitzen [gemeint war der Platz der Sozialdemokraten im Nationalratssaal]. Er hat gesagt, man könne ganz zweifellos einen schönen Teil der Kosten ersparen, wenn man sich die langen Reden schenken würde [gemeint war Greulich], die rein theoretisierend unter Berechnung auf die Wählerschaft losgelassen werden. Ich glaube, Herr Bühlmann hat das Ungerechte seines Vorwurfes selbst eingesehen. Uns liegt das Wildbret natürlich nicht so sehr am Herzen. Wir essen es zwar auch gern, aber sie werden uns gestatten müssen, in längeren Reden für das Gefrierfleisch einzutreten [dessen Import aus Amerika zur Senkung des Fleischpreises für die Arbeiterschaft war damals sehr umstritten, weil es niemand essen wollte] und weil wir wünschen, dass auch Arbeiter einmal Wildbret essen können, wird man uns auch bei der Eingabe der Arbeiter der Militärwerkstätten ein Wort gönnen müssen. Im allgemeinen sprechen wir nicht für unsere Wähler, denn wir wissen ja, wer sie sind. Wir sprechen nur zu denen, die wir als Wähler gewinnen wollen, Herr Bühlmann, das müssen Sie zugute halten.
Ich teile die Meinung, dass eine Ausgabe von 30000 Fr für den guten Zweck gerechtfertigt ist. Denn das müssen alle gestehen, die mit offenen Augen in die Welt schauen, dass gerade der Kapitalismus, der so viele ethische Werte vernichtet, seinerseits auch wieder gerade deshalb neue Kräfte in den Menschen erweckt hat. Überall stossen wir heute auf Bestrebungen, die Lebensbeziehungen anders zu gestalten, dem Leben tieferen Gehalt zu geben, überall sehen wir ideale Bewegungen sich durchsetzen. Um Herrn Scherrer-Füllemann entgegenzukommen, könnte man ja am Militärbudget etwas einsparen. Wenn wir gegen die 11km lange Grenze des Nationalparks mit Italien, die dem geehrten Redner bedroht schien, etwas tun wollen, könne man alle Bären aufmarschieren lassen, die er im Geiste heranwackeln sieht.» (H)
Dann wehrte sich Legler gegen die Angriffe. «Herr Bühlmann möchte mich in einen Widerspruch zu meinem Kanton [Glarus] bringen. Dieser Widerspruch ist nicht vorhanden und alles, was Herr Bühlmann ausführt, ist total unzutreffend. Herr Bühlmann wendet sich auch an die Dauerredner unseres Parlamentes mit der Mahnung, doch ja nicht zu weitläufig zu werden, sondern zu sparen für den Bund. Ich glaube, dass diese Ermahnung an die Kapelle Greulich gerichet war, und es hat mich gewundert, dass der Chef nicht selbst geantwortet hat. Herr Sigg hat dann allerdings die nötige Abfuhr erteilt, und als Demokrat sage ich, dass ich nicht gewillt bin, meine allfälligen künftigen Reden schmälern zu lassen zugunsten der von Herrn Bissegger vorgestellten Tiergesellschaft.
Leider muss ich auch meinem Freunde Greulich gegenüber ein paar Berichtigungen anbringen. Er sagte nämlich, wo ich von sterilen Alpen rede, die wir verkauft hätten, sei das ein Fehler unserer Abholzung. Unter sterilem Gebirge verstehe ich solche oberhalb der Waldgrenze, wie sie ja auch im berühmten Nationalpark, den man uns bringen will, zu suchen sind. Ich weise die Behauptung der Raubwirtschaft zurück. Damit bin ich mit Herrn Greulich fertig (H) und komme nun zu Herrn Häberlin. […] Herr Bonjour beklagt, ich hätte gesagt, es sei nicht richtig, dass man auch im Welschland einen solchen Park wünsche. In aller Freundschaft gesagt, Herr Kollege Bonjour, wie können Sie das sagen? In der Kommissionssitzung wurde erklärt: Wir stimmen schon dafür, aber nur dann, wenn man im Welschland auch eine Reservation schafft.» Am Schluss der Eintretensdebatte musste dann der Sozialdemokrat Schenkel noch die Zustimmung seiner Kollegen zum Park (wegen möglicher Kritik aus der Arbeiterschaft) relativieren.
Dann wollte der Präsident über Eintreten abstimmen lassen. Legler verlangte mangels Präsenz im Saal mit einem Ordnungsantrag eine Verschiebung. «Wir haben sozusagen einen ganzen Tag diskutiert», sagte er, «und Sie sehen die gähnenden Lücken im Saal. Die Herren, die abwesend sind, sollen Farbe bekennen; wir wollen bei einer solchen Abstimmung vollzählig sein.» Dieser Ordnungsantrag auf Beschlussunfähigkeit wurde mit 15Ja gegen 69
Das Jahr 1915
Die erste Kriegssteuer
Im Jahr 1915 tagten die Räte viermal, zunächst ausserordentlich (ao.) im April zur Verfassungsgrundlage über eine Kriegssteuer, die beide Räte gleichzeitig behandelten. In der Sessionsvorschau meinte die NZZ, das Interesse gelte diesmal weniger der Notwendigkeit der Kriegssteuer als «dem Verlaufe und dem Geiste der Verhandlungen. Werden die eidg. Räte sich dieser wichtigen Frage als die weitsichtigen, grosszügigen Führer der Nation erweisen oder werden engbrüstige Bedenklichkeit und Vielrederei den Sitzungen den Stempel aufdrücken? Das Hauptinteresse der Eintretensdebatte wird der staatsrechtlichen Form der Kriegssteuer gelten. Verfassungsgesetz oder einfacher BB, das sind die Varianten, um die es sich handelt, und für die beide sich einleuchtende Argumente ins Feld führen lassen. Der BR hat sich für den weiteren schwerfälligen Verfassungsweg entschieden, weil die gegenwärtigen Verhältnisse das Notrecht kaum rechtfertigen würden.» (3.4.1915)
«Die Hoffnung, der NR werde, wie es der StR getan, das aussergewöhnliche Traktandum einstimmig verabschieden, sei in Erfüllung gegangen», schrieb die NZZ dann. «Bei der Kriegssteuervorlage geht es, nüchterne Beurteiler mögen es noch so sehr bestreiten, um die Ehre der Nation und das Ansehen der Demokratie. Wir hätten es gerne gesehen, wenn dieser Gedanke auch im NR in noch stärkerem Masse zum Ausdruck gekommen wäre. Nach den einlässlichen Beratungen des StR hätte eine erneute Diskussion über steuerliche Kontroversen unbedenklich unterbleiben dürfen. […] Das Wort Opfer ist in den Beratungen über die Kriegssteuer oft, nur zu oft gefallen. Es will uns bedünken, der Massstab für die vom Schweizervolk verlangten ausserordentlichen Leistungen werde am unrichtigen Ort gesucht. Die geforderten 80 oder mehr Mio sind gewiss keine Kleinigkeit, aber dieser Tribut an ein gnädiges Geschick, das das zerstörende Flammenmeer von unserem Schweizerhause fernhielt und den rastlosen Totengräbern an unserer Grenze Halt machen hiess, berechtigt nicht, den Eidgenossen dichtbelaubte Lorbeerkränze zu widmen für die Bereitwilligkeit, die Kriegssteuer zu leisten.» (16.4.1915)
Der StR verschob in jener Aprilsession 1915 die hängige VI für ein Staatsvertragsreferendum und die vom NR bereits behandelte Proporzinitiative auf unbestimmte Zeit. Über die erste Woche jener Session schrieb W, dass «Motionen und Postulate dem Rat, der sonst leicht aufs trockene hätte geraten können, ausgiebigen Diskussionsstoff geliefert haben», und beschrieb dann das Motionsgeschehen. «Es ging um landwirt. Fragen und da erhob sich der Führer der Agrarier, Herr Jenny. Der Präsident des Schweiz. Bauernverbandes, den man sich, beiläufig bemerkt, nicht etwa als einen schwerfälligen Berner Bauernkoloss und rauen Agrarierhäuptling vorstellen darf, ist ein ebenso gescheiter Mann als gewandter Redner. Die Verteidigung der Interessen der Landwirtschaft ist bei ihm in besten Händen, der Schweizer Bauer hat keinen Anlass, über seine Interessenvertretung im Ratsaale zu klagen. Die Ausführungen der Vertreter der Landwirtschaft boten ein lehrreiches Kolleg über unseren Getreide- und Kartoffelbau.
Es gibt [so W weiter] Beratungsgegenstände, für deren Erörterung einzelne Volksvertreter gewissermassen ein Vorzugspatent besitzen. Bei der Motion über das Getreidemonopol [des Bundes zur Versorgungssicherung] tauchten sofort auch, immer deutlicher erkennbar, die Schatten der Herren Scherrer-Füllemann und Seidel als Redner auf. Sie beide, der St.Galler Demokrat wie der Sozialdemokrat aus Zürich, betrachten sich als Pioniere des Monopolgedankens und man begreift ihre Freude, als sie vom Bundesratstisch aus den Hymnus auf das Getreidemonopol vernahmen, ein carmen non prius auditium [ein nicht zum ersten Mal gehörtes Lied]. Stellt sich der stimmgewaltige Volksvertreter aus dem Land des hl. Gallus als Vater der Monopolidee vor, so machte Herr Seidel die Rechte des Grossvaters dieses Gedankens geltend. Nirgends besteht der liebenswürdigste Musikant im Orchester Greulich energischer auf dem Urheberrecht als gerade in der Frage des Getreidemonopols, mit dem er sozusagen auf die Welt gekommen ist. Die Sonne der Freude und der Genugtuung über den ersten Erfolg strahlte über sein Gesicht; auf der Mittagshöhe seines parl. Glückes stehend, verzichtete Herr Seidel sogar auf die ihm zugemutete lange Rede; das Feld, das andere heute abmähten, hatte er ja als Sämann bestellt, und zwar vor 30 und mehr Jahren schon. Neidlos hörten die Parteigenossen seine Konstatierungen an. Der harmonische Ausklang der Diskussion liess die rüpelhafte Episode vergessen, in der Herr Naine wieder exzelliert hatte und die ihm den verdienten zweimaligen Ordnungsruf des Präsidenten zuzog.
Im Gegensatz dazu fanden die Postulate der Herren Ody und Peter und die Motion des Herrn Bertoni und Konsorten schon mehr als die übliche Erledigung. Sie wurden zwar vom BR nicht abgelehnt, andererseits aber doch nur ganz unpräjudizierlich zum Studium entgegengenommen. Eine nähere Untersuchung erfordert die Frage eines Generalabonnements für einzelne Bezirke des Eisenbahnnetzes. Von den beiden Teilen der Motion Affolter und Genossen verdient die Frage der öffentlich-rechtlichen Folgen des Konkurses und der fruchtlosen Pfändung das besondere Interesse. Die Diskussion im NR liess ein allgemeines Bedürfnis erkennen. Aus dem StR wird berichtet, der Zürcher Wettstein habe eine Motion zur Förderung der staatsbürgerlichen Erziehung der Schweizer Jugend eingereicht.» (13.4.1915)
Die Junisession 1915 habe eine kleine Umkehrung der «parl. Weltordnung» dergestalt gebracht, «als dass im redegewaltigen NR kürzere Sitzungen stattfanden als im StR, dessen Traktandenmangel bereits sprichwörtlich zu werden anfing», schrieb die NZZ. In der Eintretensdebatte zum GB des BR habe es einen interessanten Meinungsaustausch über die Verwaltungsreform gegeben. «Anstoss dazu gab ein sehr initiativ lautender Satz im sonst im friedlichen Ton abgefassten Bericht der Geschäftsprüfungskommission [künftig GPK]: Es wird, so hiess es da, nötig sein, eine durchgreifende Verwaltungsreform vorzubereiten. Als Ziele sind auszustecken: die Schaffung einer klaren und zweckmässigen Kompetenzausscheidung zwischen Kantonen und Bund und zwischen den einzelnen Instanzen selbst, die Regelung eines einfachen Verfahrens und Instanzenzuges und die möglichste Vermeidung oder doch Verringerung der schädlichen Doppelspurigkeit innerhalb der eidg. Verwaltung und zwischen den eidg. und kant. Administrationszweigen. Viel Wünscheswertes in der Tat. BR Hoffmann betonte, dass heute das Notwendige und Dringliche die Aufgaben des Tages seien, für die die volle Eintracht des Schweizer Volkes vonnöten sei. Als dringendes Problem sieht er die Einbürgerungsfrage.»
Die Pressezensur und der «nationale Graben»
Im NR gab es in jenem Juni 1915 neben zahlreichen Motionen und Postulaten eine ‹Zensurdebatte›. Es ging um die Haltung und die Berichterstattung der Schweizer Presse über die Krieg führenden Nachbarn, was einen «Graben» zwischen den Landesteilen mit ausgelöst hatte. Die Diskussion darüber (so die NZZ) «brachte gleich zu Beginn ein Intermezzo, das, wenn es nicht einen hochernsten Hintergrund besässe, als eine jener fröhlichen Szenen registriert werden könnte, an denen unsere parl. Debatten nicht überreich sind. Der Kommissionspräsident Secretan, den bekanntlich die Zensur wegen eines in der ‹Gazette de Lausanne› erschienenen Artikels am Rockzipfel genommen hatte, ritt eine Attacke gegen diese Kontrolle, die unser höchstes Gut, die Freiheit der Bürger gefährde. Unter wiederholtem Beifall kennzeichnete BR Hoffmann den Standpunkt der Landesregierung.
Als Vertreter der Kommissionsminderheit begründete Herr Stadlin, der als Offizier vor dem Rate stand, den Ordnungsantrag, es sei die weitere Diskussion über die Zensur auszuschalten. Dieser Antrag erschien nicht opportun und eine Aussprache über die Frage im Wunsch des Grossteils der Versammlung zu liegen. Die Herren Ador, Sigg und Willemin [aus der Romandie] opponierten gegen den Abbruch, nachdem schon vor Herrn Stadlin der Sozialdemokrat Graber eine Lanze für die angeblich bedrohte Freiheit des Volkes gebrochen hatte. Die Behandlung des Ordnungsantrages endigte in einem nur halbverständlichen vom Lärm begleiteten Dialog zwischen dem sonst lungenstarken Sozialdemokraten Naine und dem Vorsitzenden, und als dieser, nachdem der Ordnungsantrag zurückgezogen war, das Wort für die Fortsetzung der materiellen Diskussion freigab, erhob sich nicht eine Hand im weiten Rund zum Protest. Eine unbändige Heiterkeit brach jetzt los und die Herren Volksvertreter, die sesshaften und die in grösseren und kleineren Gruppen herumstehenden Ratsherren, sahen durch den Schleier der Heiterkeit einander verwundert und fragend an.
Nun wäre es ein grosser Irrtum, wollte man dieses Hornberger Schiessen nur nach seinem schwankartigen Ausgang beurteilen. Auch die kurze Diskussion liess deutliche Einblicke tun in eine staatliche Auffassung eines Teils der Eidgenossen, die zwar nicht neu ist, aber gerade heute tief ernst stimmen muss. Wir wissen es ja längst, dass zwischen Deutsch und Welsch eine nicht kleine Kluft besteht. Allein wir leben des Glaubens, dass die kriegsbedingte Welle des mächtigen staatlichen Empfindens auch in unser Land wirken werde, in jene Landesteile, wo bisweilen die Freiheit im Staat nur zu leicht verwechselt wird mit der Freiheit vom Staat. Was Herr Ador heute als der Vertreter der welschen Schweiz sagte, hat uns in unserer Hoffnung schwer getäuscht. Herr Ador trennt den Bürger vom Staat. Die Landesregierung dürfe aber von der Minderheit erwarten, nicht in Verlegenheit gebracht zu werden. Wo, wie es bei uns aus naheliegenden Gründen der Fall ist, dieses Urteil über die Kriegsführenden und die kriegerischen Vorgänge kein einheitliches sein kann, muss sich der Einzelne, wenn ihm das Wohl des Ganzen am Herzen liegt, Zügel anlegen. Massgebend ist allein, was uns allen frommt. Das kleine Opfer der persönlichen Freiheit wird zum Massstab der wahrhaft schweiz. Gesinnung.» (15.6.1915)
Eine «Wasserwoche im Nationalrat»
Da Wasser zu den wenigen materiellen Rohstoffen unseres Landes zählt und Korr W immer wieder schöne und auch kritische Parlamentsberichte geschrieben hat, die man auch in Das frühe Bundesparlament (Zürich 2010) nachlesen kann, seien hier Teile seines sehr langen Artikels über die «Wasserwoche im NR» (NZZ) wiedergegeben: «Wäre das Schweizervolk noch immer nicht im klaren über den Wert, der in seinen Gewässern liegt, so müsste es dies heute sein. Seit dem letzten Montag debattierten die Erkürten der Nation, nachdem der StR mit der Behandlung der Wasservorlage im Herbst 1913 vorangegangen ist, über den Besitz des Wassers oder vielmehr das Recht an ihm. In herzbewegenden föderalistischen Klängen, in Tönen des Misstrauens gegenüber dem Bund verbergen sich die Interessen der kantonalen Fisci und verbirgt sich vielleicht auch die Abneigung dieses oder jenes Klosters gegen die Verunstaltung seiner Umgebung durch die Ansiedelung von Industrie. Die Sprache der einstigen Tagsatzungen hält wieder ihren Einzug in den Ratssal: Die Herren von Zürich, von Zug, von St.Gallen waren nicht die lieben Nachbaren der Schwyzer und der Appenzeller wie an den eidg. Schützenfesten.
Wie im StR waren es auch im Rat der Nation hauptsächlich Vertreter aus Schwyz, Obwalden, Appenzell I. Rh. und Wallis, die im Gewande der historischen Föderalisten gegen eine, innerhalb des verfassungsmässigen Rahmens möglichst einheitliche Ordnung des Wasserrechtes auftraten: wuchtig im Angriff und seine Stentorstimme nicht schonend, der ehemalige schwyzerische Staatsanwalt und derzeitige Landammann Dr.Büeler; adretter in der Haltung und mehr die Pfeile des humorreichen Witzes sich bedienend, der Landammann von Appenzell I. Rh, Herr Stäuble; elegisch und mit feinen Ausführungen vor allem an das Gemüt appellierend, der Obwaldner Landammann Dr.
