Das Gastfamilien-Handbuch - Janina Gatzky - E-Book

Das Gastfamilien-Handbuch E-Book

Janina Gatzky

4,8

Beschreibung

»Sich die Welt nach Hause holen« - so werben Austauschorganisationen gern für die Aufnahme eines ausländischen Gastkindes. Aber ganz so einfach wie eine Außerhausbestellung beim Sushi-Restaurant ist Schüleraustausch nicht. Damit die gemeinsame Zeit für alle eine Bereicherung wird, gilt es Einiges zu beachten. Dieser Ratgeber hilft Familien bei der Entscheidung für einen Austausch in den eigenen vier Wänden und begleitet Gastfamilien mit vielen Tipps und Hintergrundinformationen auf einer spannenden Erfahrungsreise.

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Janina Gatzkygehörte 1990 zum ersten Austauschschülerjahrgang aus der ehemaligen DDR. Das Fernweh hat sie seither nicht mehr losgelassen. Sie studierte in Südafrika, den Niederlanden und den USA und lebte lange mit Kindern und Mann in Österreich. Derzeit macht sie mit ihrer Familie ein „Austauschjahr“ in Louisville, KY. Ihre Leidenschaft für den Kulturaustausch und Sprachen hat sie als Übersetzerin und Dozentin zum Beruf gemacht. Dem Austausch ist sie weiter durch ehrenamtliche Arbeit, Berater- und Autorentätigkeit verbunden.

INHALT

Bevor es losgeht

1.1 Gute Gründe, Gastfamilie zu werden oder auch nicht

1.2 Motivation und Erwartungen

Motive von Austauschschülern

Motive von Gastfamilien

Erwartungen

1.3 Ein neues Familienmitglied

Theoretisches Rüstzeug

2.1 Kulturelles Gepäck

2.2 Stolpersteine der interkulturellen Kommunikation

2.3 Interkulturell fit

Das Austauschjahr im Überblick

3.1 Die Stimmungskurve

3.2 Abenteuer Alltag

Vorbereitung

Ankunft und die ersten Tage

Die ersten Monate

Kulturschock

Die Weihnachtszeit

Bergfest

Gas geben und genießen

Vorbereitung auf die Heimkehr

Abschied und dann?

Wieder zuhause

Nachwehen

Tipps und Tricks von A–Z

Werkzeugkoffer

5.1 Brücken bauen – erfolgreich kommunizieren

5.2 Motivieren

5.3 Problemgespräche führen

Problem-Radar

Lösungsorientierte Gespräche

Anhang

Checkliste für den Alltag

Übersicht der Übungen

Literatur

Fußnoten

Stichwortregister

EINLEITUNG

„Hol dir die Welt nach Hause“ – so werben Austauschorganisationen gern für die Aufnahme eines Gastkindes. Doch was heißt es wirklich, einen fremden Jugendlichen für eine längere Zeit in die eigene Familie zu integrieren? Was gibt es dabei zu beachten und wie meistert man die kleinen und großen Hürden im Alltag, damit aus einem Abenteuer kein Desaster wird, sondern eine Erfolgsgeschichte, von der alle Familienmitglieder etwas haben? Doch beginnen wir am Anfang und unserer eigenen Entscheidung als Familie, uns auf das Experiment Austausch einzulassen.

Auftritt Sue

Wir warten gespannt in der Empfangshalle des Flughafens auf ein Mädchen, von dem wir vor drei Wochen erstmals ein Bild gesehen und mit dem ich vor einigen Tagen das erste Mal in meinem Leben gesprochen habe – am Telefon über 10 Zeitzonen und 15.000 km hinweg. Mein Mann, die Kinder und ich haben uns Heiligabend spontan entschieden, Sue aus Australien für ein Jahr in unsere Familie aufzunehmen. Ihre Unterlagen klangen sympathisch und wir wollten gern zurück- oder vielmehr weitergeben, was uns selbst vor über 20 Jahren als Austauschschülern in den USA zuteil wurde: Wir fanden eine zweite Familie und Freunde, mit denen wir bis heute in Kontakt stehen. Wir lernten eine Sprache, die uns nicht nur beruflich viele Wege eröffnet hat, und wir erlebten ein Land ohne Schminke, dem wir uns trotz mancher politischer Irrungen und Wirrungen verbunden fühlen. Jetzt hoffen wir, Sue ähnliche Möglichkeiten bieten zu können, an ihrem Entdeckungsprozess teilzuhaben und etwas über Australien jenseits von Kängurus und Great Barrier Reef zu erfahren.

Auftritt Sue. Mein erster Gedanke: Für die – 8° C an diesem Januartag ist sie viel zu dünn angezogen. Sie sieht uns sofort und fällt mir erleichtert um den Hals, als würden wir uns schon lange kennen. Wir verstauen ihre großen Koffer im Auto. Zielstrebig geht sie auf die Fahrertür zu. Ob sie fahren wolle, frage ich Sue belustigt. Verdutzt stellt sie fest, dass der Beifahrersitz auf der anderen Seite ist. Na klar, Rechtsverkehr! Diesem Missverständnis werden noch viele andere folgen: kleinere und größere, lustige und ernste. Uns steht eine spannende gemeinsame Entdeckungsreise bevor.

Die Erlebnisse und Erfahrungen mit Sue und die vieler anderer Austauschschülerinnen und -schüler1 und ihrer Gasteltern, die ich in den vergangenen Jahren kennen gelernt habe, bilden das Fundament dieses Buches und ziehen sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Kapitel.

Ich möchte Sie einladen auf eine Lesereise durch die Höhen und Tiefen von Gastfamilienaufenthalten. Doch vorher gilt es noch einige Vorbereitungen zu treffen.

In diesem Buch geht es vornehmlich um den längerfristigen Schüleraustausch – ob Austauschsemester oder Austauschjahr. Aber auch Familien, die im Rahmen von Sprachreise- oder Kurzaustauschprogrammen einen ausländischen Jugendlichen aufnehmen sowie Au-pair-Familien werden in diesem Handbuch hilfreiche Informationen finden. Dass der Schwerpunkt bewusst auf den mehrmonatigen Schüleraustausch gelegt wird, hat zum einen mit meinen eigenen Austauscherfahrungen zu tun, zum anderen mit der Tatsache, dass längerfristige Austauschaufenthalte die größten Chancen eröffnen, durch die Einbindung in das Alltagsleben einer Gastfamilie und Gastschule tief in die Kultur des Gastlandes einzutauchen. Längerfristige Auslandsprogramme bieten vielfältige Möglichkeiten für die Ausbildung einer breiten Spanne positiv besetzter Entwicklungsziele und persönlicher Eigenschaften. Sie können zum Beispiel dazu beitragen, Vorurteile zu überwinden und Stereotype zu erkennen. Sie fördern das Selbstbewusstsein und die Entwicklung von Selbstständigkeit sowie Sprach- und Kommunikationsvermögen. Allerdings bergen längere Auslands- und damit auch Gastfamilienaufenthalte einige Risiken in sich, insbesondere dann, wenn aufgrund falscher Erwartungen an den Austausch und mangelnder Motivation grundlegende Ziele nicht erreicht werden. So kehrt beispielsweise jedes Jahr eine geringe Zahl von Jugendlichen vorzeitig aus dem Ausland zurück, weil sie die erfolgreiche Integration in ihre Gastfamilie, Schule oder einen Freundeskreis nicht geschafft hat. Oder Gastfamilien geben nach einer Zeit entnervt auf, weil sich ihr Gastkind nur wenig angepasst hat oder immer noch kein Deutsch spricht. Ein solcher Abbruch kann mittel- und langfristige Konsequenzen für das Selbstbild der Schüler und betroffenen Gastfamilien haben. Darüber hinaus gibt es klare Hinweise darauf, dass Vorurteile, Stereotype oder kulturelle Differenzen durch unreflektiert durchgeführte Auslandsaufenthalte eher geschürt als überwunden werden – auf beiden Seiten. Die Aufnahme eines Gastkinds ist also zweifellos eine große Herausforderung. Damit sie als Bereicherung für alle Beteiligten erlebt wird und wirklich zum interkulturellen Verständnis beiträgt, bedarf es einiger Mühe und Anstrengung.

Auf diesem Weg möchte ich Sie gern begleiten. Dieses Handbuch soll Ihnen zunächst bei der Entscheidung für das Abenteuer Aufnahme als Anleitung dienen (S. →). Wenn Sie sich bereits entschieden haben, ein Gastkind aufzunehmen, kann dieses Handbuch Ihnen helfen, realistische Erwartungen an Ihr Gastkind und die eigene Familie zu entwickeln (S. →) und Ihnen ein Begleiter durch die gemeinsame Zeit sein. Das Buch vermittelt Einblicke in die Theorie des interkulturellen Lernens (S. →) und zeigt viele Möglichkeiten des Kulturlernens (S. →) auf. Des Weiteren erläutert es die Phasen des Austauscherlebnisses (S. →) und enthält eine Fülle von praktischen Tipps für die Integration Ihres Gastkindes in die eigene Familie sowie Hilfestellungen bei Schwierigkeiten und Problemen (S. →). Es gibt Ihnen als Gastfamilie Werkzeuge an die Hand, um kulturelle Missverständnisse zu erkennen und zu lösen (S. →). Außerdem kommen in diesem Buch Gastmütter und -väter, Gastgeschwister und Austauschschülerinnen und -schüler zu Wort, die ihre Erfahrungen anschaulich schildern.

Persönlich kenne ich die Welt des Schüleraustauschs seit über 20 Jahren aus verschiedenen Blickwinkeln: zunächst als Gastschülerin in den USA. Später – als Gastschwester, Gastmutter und Betreuerin von ausländischen Austauschschülern – war ich aufmerksame Beobachterin und Begleiterin am Rande des Geschehens. Jede dieser Rollen hat mir eine andere Perspektive auf das einmalige Erlebnis Schüleraustausch gewährt. Eines hatten bzw. haben alle gemeinsam: Ich hatte die Chance, einen Jugendlichen aus einem anderen Land ein Stück auf seinem Weg zu begleiten und dabei die Welt – vor allem auch die eigene – in einem anderen Licht zu sehen. Sie ist dabei facettenreicher, bunter und wieder ein Stück kleiner geworden, auch wenn dieser Weg manchmal steinig war.

Deshalb möchte ich Ihnen mit diesem Buch Lust und Mut machen, sich auf das Abenteuer Austausch einzulassen.

Wien/Schönebeck (Elbe), 2017

1.

BEVOR ES LOSGEHT

Austauschschüler und andere Weltenwanderer

Austauschschüler, Austauschkind, Gasttochter oder Gastsohn – Bezeichnungen für Jugendliche, die an einem mehrmonatigen Austauschprogramm teilnehmen und in dieser Zeit bei einer Gastfamilie wohnen, gibt es einige, aber was genau verbirgt sich hinter den Begriffen? Und wie unterscheiden sich Austauschschüler von anderen Weltenwanderern?

„Besuch ist wie Fisch – er stinkt nach drei Tagen“, so lautet ein bekanntes Sprichwort. Gastfreundschaft hin oder her: Wer Gäste hat, freut sich meist, wenn diese nach einigen Tagen wieder abreisen, denn Gäste machen Arbeit. Gäste werden verwöhnt. Wenn die Tante kommt, wird das gute Geschirr hervorgeholt. Für den Onkel wird ein besonderes Unterhaltungsprogramm organisiert und aufwendig gekocht. Bei Tisch benimmt man sich, und alles wird getan, damit sich der Besuch wohlfühlt.

Wenn Freunde der eigenen Kinder über Nacht bleiben, läuft der Fernseher abends ausnahmeweise auch mal länger, allerdings wird von ihnen auch erwartet, dass sie bestimmte Regeln und Gepflogenheiten einhalten, damit sie wiederkommen dürfen. Viele Orte im Haus sind für sie tabu. Ein Überschreiten bestimmter unsichtbarer Grenzen erlebt man als eine Verletzung der eigenen Privatsphäre. So erwarten wir beispielsweise, dass Gäste, sofern wir versäumt haben, ihnen etwas zum Trinken anzubieten, höflich fragen, ob sie etwas trinken können, statt sich allein am Kühlschrank zu bedienen. Wenn es ein Gäste-WC gibt, ist das Badezimmer in der Regel der Familie vorbehalten. Diese klaren Grenzen beginnen zu verschwimmen, wenn Gäste länger bleiben.

Der einwöchige Kurzaustausch mit einer Partnerschule im Ausland oder mehrwöchige Sommersprachferien sind heute in Deutschland für viele Schüler längst Standard. Zahlreiche Familien sind im Rahmen solcher Austauschaktivitäten bereit, für eine kurze Zeit ein fremdes Kind in die eigene Familie aufzunehmen. Für diese Zeit passen sie sich in größerem Maße an die Bedürfnisse des Fremden an, als dies umgekehrt von ihm zu erwarten. Sie bemühen sich in der Regel, dem Gast die Kultur des eigenen Landes näher zu bringen, ihm Sehenswürdigkeiten in der Umgebung zu zeigen und stellen zeitweise auch eigene Ernährungsgewohnheiten um. Aber ein solches Leben ist auf Dauer anstrengend und im Alltag nicht durchzuhalten. So mag es reizvoll sein, seine Französischkenntnisse für eine Schülerin aus Frankreich wieder aufzupolieren, aber wenn die eigenen Kinder nicht mehr verstehen, was Mama sagt, werden sie bald rebellieren. Oft wecken Kurzaustauschprogramme daher falsche Vorstellungen vom Langzeitaustausch, denn die eigentliche Austausch- und Lernerfahrung entfaltet sich nicht in einer oder zwei Wochen.

Selbst wenn Kurzaustauschschüler oder Sprachreisende in beschränktem Maße in familiäre Pflichten und Abläufe integriert werden, so bleibt die Anpassung an die fremde Kultur oberflächlich. Die Zeit ist zu kurz, um eigene kulturelle Muster zu „verlernen“ und diese durch Muster der anderen Kultur zu ersetzen. Damit soll nicht gesagt sein, dass Kurzaustauschprogramme keine Berechtigung haben. Sie können – gut vorbereitet und begleitet – einen wertvollen ersten Schritt zur interkulturellen Verständigung darstellen. Aber sie haben letztlich nicht das Veränderungspotenzial längerfristiger Austauschaufenthalte. So wird von Jahres- bzw. Semesterschülern erwartet, dass sie sich in hohem Maße an die Kultur des Gastlandes und die Gepflogenheiten der Gastfamilie anpassen, implizite und explizite Regeln lernen und akzeptieren, kurz: dass sie ein Mitglied der Familie werden.

Austauschschüler und Au-pairs haben manches gemeinsam. Im Idealfall werden sie zu (gefühlt) vollwertigen Familienmitgliedern mit Rechten und Pflichten, die denen der anderen Familienmitglieder gleichkommen. Und doch unterscheiden sich Schüleraustausch und Au-pair-Aufenthalte in einigen wichtigen Punkten.

Au-pairs sind in der Regel volljährig und rechtsfähig. Sie übernehmen vertraglich Verantwortung für die Kinder der Familie und erhalten dafür ein Entgelt. Damit entsteht ein Arbeitsverhältnis zwischen Familie und Au-pair.

Natürlich kann man als Gastfamilie von seinem Gastkind erwarten, dass es sich an anstehenden Aufgaben im Haushalt in dem Maße beteiligt wie andere Familienmitglieder auch oder ab und an auf jüngere Gastgeschwister aufpasst, so wie man dies von einem eigenen großen Geschwisterkind erwarten würde. Aber Kinderbetreuung oder Hilfe im Haushalt sind nicht primärer Zweck des Schüleraustausches. Wer glaubt, sich mit einem Gastkind ein kostenloses Au-pair ins Haus geholt zu haben, wird bald enttäuscht sein.

1.1 GUTE GRÜNDE, GASTFAMILIE ZU WERDEN ODER AUCH NICHT

Für und wider

Warum sollte man die eigenen vier Wände einem fremden Menschen öffnen? Warum den gemütlichen Alltagstrott unterbrechen? Warum eingespielte Abläufe und Gewohnheiten hinterfragen? Warum sich (noch) einen pubertierenden Teenager ins Haus holen? Eben genau darum! Weil Sie Lust auf frischen Wind und Abenteuer, aber gerade keine Zeit oder kein Geld für eine Weltreise haben. Weil Sie zu alt sind, um selbst Austauschschüler zu werden. Weil ein Jahr gemeinsames Leben die Grundlage für eine lebenslange Freundschaft bieten kann. Weil Sie fasziniert sind von Norwegen, Thailand oder Chile und wissen möchten, wie man dort lebt. Weil Ihr eigenes Kind ein Auslandsjahr absolviert und Sie besser nachvollziehen wollen, was Ihr Kind erlebt oder gern auf diese Weise Ihre Dankbarkeit für die Aufnahme Ihres Kindes zeigen möchten. Weil Sie Spaß daran haben, dass Ihr vertrautes Zuhause für einige Zeit zu einem bunten Labor des Lernens wird: über die eigene und eine andere Kultur.

Es gibt viele gute Gründe für die Aufnahme eines Gastkindes aus einer anderen Kultur. Die Teilnahme an einem Austauschprogramm bietet spannende Möglichkeiten, den eigenen Familienalltag und die eigene Kultur durch eine andere Brille zu sehen und Dinge über sich zu lernen, die sonst vielleicht im Verborgenen geblieben wären. Außerdem zwingt die begrenzte Zeit zum Handeln: endlich all jene Dinge zu tun und zu unternehmen, die man sich schon so lange vorgenommen hat. Zeit wird im Austausch als wertvoller wahrgenommen, weil es ein Ablaufdatum gibt.

Aufmerksame Gastfamilien werden durch das gemeinsame Leben mit einem Austauschschüler nicht nur etwas über das jeweilige Heimatland ihres Gastkindes erfahren, sondern auch über sich selbst. So war uns zum Beispiel, bis wir Sue aufgenommen haben, nicht bewusst, wie viel Selbständigkeit wir ungefragt unseren noch wesentlich jüngeren Kindern abverlangen. Durch unsere Austauschschülerin haben wir außerdem unsere Begeisterung für das Entschlüsseln und Erklären von Wörtern und deutschen Redewendungen entdeckt, mit der unsere Alltagssprache offenbar gespickt ist – bewusst war uns das vorher nicht: vom „Stehrumchen“ über das Jubeljahr bis zum Ditschen; von „Kleider machen Leute“ bis „Aber bitte mit Sahne“.

Darüber hinaus sind viele Familien stolz darauf, einem Fremden ihr Heimatland und seine Sehenswürdigkeiten, typische Traditionen, Speisen und Gebräuche näher zu bringen und – en passant – dabei selbst den einen oder anderen Schatz zu finden. Außerdem bietet die Aufnahme eines Gastkindes auch Entwicklungsmöglichkeiten für die eigenen Kinder. So assoziieren unsere Kinder dank unserer Austauschschülerin mit Australien nicht nur einen fernen Kontinent auf dem Kängurus und Koalas leben, sondern einen Menschen, der ihnen ans Herz gewachsen ist.

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und überlegen Sie, warum Sie gern ein Gastkind aufnehmen möchten.

Gleichzeitig gibt es auch gute Gründe, keine Gastfamilie zu werden. Die Aufnahme eines Gastkindes ist eine große Herausforderung, weil ein fremder Mensch in das Gefüge der eigenen Familie integriert werden muss. Dadurch werden gewachsene Beziehungen unter den Familienmitgliedern verändert. Ein Einzelkind bekommt ein vielleicht lang ersehntes Geschwister, was neben Gesellschaft aber auch bedeutet, plötzlich teilen zu müssen. Möglicherweise wird das älteste Kind in der Geschwisterfolge durch das Gastkind von seinem Thron gestoßen und muss lernen, was es heißt, der oder die Jüngere zu sein und sei es nur, im Auto nicht mehr vorn sitzen zu dürfen, sondern wieder in der hinteren Reihe neben den „Kleinen“ Platz nehmen zu müssen. Ein Kind mehr bedeutet immer auch weniger Aufmerksamkeit der Eltern für die anderen. Das kann zu Sticheleien und Eifersucht führen. Und so wie jedes eigene Kind die Beziehung zwischen Frau und Mann als Partner und Eltern neu bestimmt, tut dies auch ein Austauschkind. Wie werden Aufgaben und Verantwortlichkeiten in der Familie neu verteilt? Wer kümmert sich um den Austauschschüler, hilft insbesondere am Anfang bei der Integration, organisiert den Alltag?

Um diese (anfänglichen) Erschütterungen des Gewohnten zu bewältigen, bedarf es einer stabilen Struktur und solider Fundamente. Gastschüler sind keine Familien- oder Paartherapeuten. Sie können keine Risse in der Beziehung der Gasteltern kitten, und es ist nicht ihre Aufgabe, psychisch labile Gastgeschwister aufzufangen. Natürlich kennen Sie sich und Ihre Familie am besten, aber vergessen Sie bei Ihrer Entscheidung für oder gegen die Aufnahme eines Gastkindes nicht, dass Schüleraustausch, wie jede neue Situation, auch Stress bedeutet – emotional, finanziell, logistisch.

Bedenken

Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen äußern potenziell geeignete Gastfamilien in Gesprächen immer wieder eine Reihe von Bedenken. Manche dieser Befürchtungen sind unbegründet und sollten Ihrer Entscheidung für den Austausch nicht im Wege stehen. An dieser Stelle schon soviel vorweg: Besprechen Sie Ihre Bedenken mit der Austauschorganisation. Eine seriöse Organisation wird Ihre Situation bei der Auswahl und Platzierung eines Austauschschülers berücksichtigen.

Grundsätzlich kann fast jede Familie Gastfamilie werden: ob Klein- oder Großfamilie, allein erziehender Elternteil, ob kinderloses Paar oder Patchwork-Verband. Die wichtigsten Voraussetzungen sind neben stabilen Familienverhältnissen ein offenes Herz und echtes Interesse an einem jungen Menschen aus einem anderen Land. Befragt man die leiblichen Eltern von künftigen Austauschschülern, was sie sich im Hinblick auf die zukünftige Gastfamilie ihre Kindes wünschen, so fallen üblicherweise Stichworte wie: Respekt, liebevoller Umgang, Verständnis, Sicherheit, Geborgenheit, etwas Zeit oder Herzenswärme. Ein hohes Einkommen, ein großes Haus, eine luxuriöse Wohnungseinrichtung oder ein landschaftlich oder touristisch reizvoller Wohnort spielen hingegen keine Rolle.

Keine oder kleine Kinder – Manche Familien scheuen sich davor, einen Austauschschüler aufzunehmen, weil sie entweder keine Kinder haben, die Kinder bereits aus dem Haus oder diese noch sehr jung sind. Natürlich ist es aus der Sicht des Gastkinds angenehm, gleichaltrige Gastgeschwister zu haben, denn diese sind zumindest am Anfang des Austauschs eine wichtige Ressource für die Jugendkultur im Gastland und der Schlüssel zu einem neuen Freundeskreis. Allerdings werden Austauschschüler in den meisten Fällen nicht die engsten Freunde der eigenen Kinder, sondern bleiben tolerierte Geschwister. Ob im Freundeskreis des eigenen Kindes wirklich Platz für das Gastkind ist, muss sich erst zeigen.

Wenn Sie ein Kind im gleichen Alter wie Ihr Gastkind haben, bedeutet der Austausch anfänglich allerdings insofern oft weniger Arbeit und Sorge, weil Sie die Schule kennen, die ihr Gastkind voraussichtlich besuchen wird, und auch die Lehrer. Sie können darauf vertrauen, dass Ihr Austauschkind am Anfang sicher an der Hand Ihres eigenen Kindes seine ersten Schritte ohne Sie macht und auf dem Weg in die Schule und zurück nicht verloren geht. Sie kennen in der Regel die Freunde Ihres eigenen Kindes gut und wissen, wo diese sich treffen. Sie sind vertraut im Umgang mit Teenagern und wissen, welche Regeln und Abmachungen, z. B. für Ausgehzeiten, sinnvoll sind.

Wenn Sie keine oder kleine Kinder haben, bedeutet die Aufnahme eines Austauschschülers am Anfang zunächst etwas Mehrarbeit für Sie und auch für den Schüler. Sie können Ihrem Gastkind zwar in vieler Hinsicht dabei helfen, außerhalb der Familie Anschluss zu finden, aber die Hauptarbeit wird hier eindeutig beim Schüler liegen, der sich mehr oder minder allein einen neuen Freundeskreis aufbauen muss. In dieser Situation ist es sinnvoll, das Gastkind vor dem ersten Schultag oder am ersten Schultag zu begleiten und sich bei der Schulleitung bzw. dem Klassenlehrer vorzustellen.

Gastfamilienkonstellationen ohne Kinder bieten auch Vorteile. Der Austauschschüler genießt Ihre volle Aufmerksamkeit und muss sich nicht mit eventuell eifersüchtigen Gastgeschwistern auseinandersetzen. Zur eigenen Überraschung erleben viele Austauschschüler deutlich jüngere Gastgeschwister häufig als große Bereicherung. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Kleinere Kinder sind in vielerlei Hinsicht wesentlich offener und unkritischer als Teenager. Sie sind dankbar dafür, dass jemand ab und an mit ihnen spielt, ihnen etwas vorliest oder in einer anderen Sprache vorsingt. Sie sind fasziniert von dem großen Bruder oder der älteren Schwester aus einer anderen Welt, die sie vielleicht nur aus Bilderbüchern kennen.

Als Sue unseren Kindern Fotos von einer Kängurugruppe im Vorgarten ihres Hauses in Canberra zeigte, waren die beiden tief beeindruckt. Unser Sohn setzte auch immer wieder mit Begeisterung ihren australischen Buschhut auf, wenn er mit seinem Playmobil-Truck Ranger spielte. Am meisten punktete Sue jedoch, als sie ihm zum Geburtstag ein Kricketspiel schenkte. Sie brachte ihm und seinen Freunden die Regeln bei und zeigte ihnen, wie man den Ball richtig schlägt. Die Kinder revanchierten sich regelmäßig mit einer großen Portion vorbehaltloser Kinderliebe, hängten sich an sie oder balgten mit ihr. In solchen Momenten wirkte Sue völlig gelöst und glücklich.

Kleine Kinder können sich sprachlich in der Regel nicht an die Bedürfnisse des Gastkindes anpassen, insbesondere nicht auf eine gemeinsame Fremdsprache ausweichen und sind so hervorragende Sprachlehrer – eine Rolle, die sie auch gern übernehmen. Umgekehrt genieren sich Austauschschüler meist nicht, ihre neuen Sprachkenntnisse an bzw. mit ihren kleinen Gastgeschwistern auszuprobieren, die manchmal ja selbst noch grammatikalische, phonetische oder lexikalische Fehler machen.

Berufstätigkeit – Vielfach äußern geeignete Gastfamilien Bedenken, weil sie der Meinung sind, nicht genug Zeit für das Gastkind aufbringen zu können, da beide Eltern berufstätig sind. Auf die Frage, wie die eigenen Kinder mit dieser Situation zurechtkommen, bestätigen die Eltern in der Regel, dass der eigene Nachwuchs daran gewöhnt sei und damit gut umgehen könne. Vielmehr seien der eigene Sohn oder die eigene Tochter dadurch frühzeitig selbständig geworden. Und Kinder wollen Selbständigkeit – manche früher, andere später. Deshalb:

Ziel des Schüleraustauschs ist es nicht,

einem ausländischen Jugendlichen

ein Wohlfühlpaket inklusive

perfektem Familienleben zu bieten,

sondern ihm die Möglichkeit zu

eröffnen, authentisch am Leben einer

Familie im Gastland teilzunehmen.

In dieser Hinsicht ist Schüleraustausch wie die berühmte Pralinenschachtel von Forrest Gump – man weiß nie, was man bekommt. Aber vielleicht ist gerade die Berufstätigkeit beider Eltern für Ihr Gastkind eine besondere Lernchance, die ihm in seinem bisherigen Leben verwehrt gewesen ist und ihm erlaubt, traditionelle Werte und Rollenverteilungen seiner Kultur (z. B. Frauen kümmern sich primär um den Haushalt) zu hinterfragen und den eigenen Horizont zu erweitern. Kurz gesagt: Trauen Sie einem Gastkind ruhig zu, was Sie Ihren eigenen Kindern zumuten. Eine gute Austauschorganisation wird Ihre berufliche Situation bei der Platzierung berücksichtigen und einen Schüler auswählen, der bereits selbständig ist. In der Regel sind europäische Austauschschüler selbständiger als Schüler von anderen Kontinenten.

Kein Platz – Ein weiterer Grund, der für viele Familien gegen die Aufnahme eines Austauschschülers spricht, ist mangelnder Platz. Sicher ist es angenehm, als Gastkind ein eigenes Zimmer zur Verfügung zu haben, aber das ist keine zwingende Voraussetzung für die Aufnahme, solange ein eigenes Bett für das Gastkind vorhanden ist. Ein Zimmer mit dem Gastbruder zu teilen, ist für alle Beteiligten eine zusätzliche Herausforderung, aber für viele Geschwister durchaus Realität. In einem solchen Falle sollten Sie unbedingt vorab mit dem betroffenen Kind sprechen, ob es sich vorstellen kann, sein Reich für ein Jahr zu teilen.

Ein Zimmer zu teilen, kann eine echte Chance für Austauschschüler sein: Es ist nicht möglich, sich im eigenen Zimmer einzuigeln, sich dem fremden Familienleben buchstäblich zu verschließen. Sie sind gezwungen zu kommunizieren. Dringend abzuraten ist jedoch von der Aufnahme, wenn kein eigenes Bett zur Verfügung steht und der Austauschschüler auf dem Sofa im Wohnzimmer untergebracht werden müsste.

Zu jung, zu alt – Gastfamilie zu sein, bedeutet Verantwortung für einen ausländischen Jugendlichen zu übernehmen. Wenn Sie sich diese Verantwortung zutrauen, spricht in der Regel nichts gegen eine Aufnahme, auch wenn Sie selbst noch in den 20ern sind. Wichtig ist vor allem die Einbindung in ein Familienleben, echtes Interesse am Austauschschüler vorausgesetzt. Wer einen neuen WG-Mitbewohner sucht, ist beim Schüleraustausch allerdings an der falschen Adresse. Wenn Sie selbst noch jung sind, wird das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Gastkind wahrscheinlich eher freundschaftlicher Art und weniger eine typische Eltern-Kind-Beziehung sein. Sie meinen, Sie könnten eigentlich fast schon die Gastgroßeltern eines Austauschschülers sein? Na und! Die Aufnahme eines Gastschülers kann für beide Seiten in einer solchen Konstellation eine Win-Win-Situation darstellen. Sie haben wieder ein Kind im Haus und damit Wirbel, Leben, frischen Wind. Ihre Lebenserfahrung, insbesondere wenn Sie selbst Kinder großgezogen haben, wird Ihnen andererseits helfen, gelassener mit manchen Anpassungsproblemen Ihres Gastkindes umzugehen.

JWD, weit ab vom Schuss – Manche Familien zögern, einen Austauschschüler aufzunehmen, weil sie in einem kleinen Dorf weit entfernt von der nächsten Großstadt oder gar auf einem Bauernhof in einer Gegend wohnen, wo sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen. Obwohl für sie und ihre Kinder eine solche Wohn- und Lebenssituation völlig normal ist, meist sogar bewusst gewählt wurde, meinen viele, einem Austauschschüler könne man das vielleicht nicht „zumuten“. Seriöse Austauschorganisationen garantieren eine gute Gastfamilienplatzierung, jedoch keine Wohnortgarantie, denn erstens sagt der Wohnort nichts über die Qualität der Beziehung zwischen Austauschschüler und Gastfamilie aus und hat darauf keinen Einfluss. Und zweitens geht es beim Schüleraustausch darum, eine authentische Lebenserfahrung in einer fremden Kultur zu machen, wobei es letztlich egal ist, ob man sein Austauschjahr im Herzen einer Großstadt, am Stadtrand, in einer Kleinstadt oder eben auf dem Land verbringt.

Jedes Setting hat seine Vor- und Nachteile. Schließlich kommt es darauf an, was ein Austauschschüler aus den Möglichkeiten macht, die sich ihm vor Ort bieten. Lernchancen gibt es überall zuhauf, man muss sie nur ergreifen. Sofern die Möglichkeit zum regelmäßigen Schulbesuch gegeben ist, stellt sich meist nur die Transportfrage. Wenn es öffentliche Verkehrsmittel gibt bzw. Sie bereit sind, zusätzliche Fahrtdienste zu übernehmen, steht einer Aufnahme eigentlich nichts mehr im Wege.

Eine ungewöhnliche Vaterschaftvon Pater Leonhard Obex

Was eine einfache E-Mail alles auslösen kann! Auf die Anfrage einer Rückkehrerin an unsere Pfarrkanzlei, ob ich nicht eine Familie wüsste, die einen Austauschschüler aufnehmen könnte, machte ich den für alle (auch mich) überraschenden Vorschlag, dass doch ein Schüler mit mir in meiner Kaplanswohnung im Pfarrhof wohnen könnte. Gesagt, getan. Nach mehreren Gesprächen und Vorbereitungen konnte ich Ende August 2013 Max aus Schweden im Pfarrhof als mein Gastkind willkommen heißen.

Jetzt galt es natürlich auch, der Gemeinde davon zu berichten und so nutzte ich die Messe beim Dorffest, um zu verkündigen, dass ich letzte Woche Vater geworden sei. Das Hallo und Erstaunen waren groß. Denn Vaterschaft ist bei einem katholischen Priester nicht gerade alltäglich.

Nachdem das Missverständnis auch beim letzten Gemeindemitglied richtiggestellt wurde, war die Neugier sehr groß, den jungen Schweden kennen zu lernen. Max wurde von allen herzlich aufgenommen und so konnte ein Austauschjahr mit all seinen Höhen und Tiefen im niederösterreichischen Pielachtal beginnen.

Nehmen Sie sich Zeit und überlegen Sie, ob es ernsthafte Gründe gibt, die gegen die Aufnahme eines Austauschschülers sprechen. Notieren Sie Ihre Bedenken und sprechen Sie darüber mit Ihrer Familie.

Wie wird man Gastfamilie?

Gastfamilie zu werden ist einfach, denn die meisten Austauschorganisationen freuen sich über spontane Gastfamilienmeldungen. Übrigens spielt der Zeitpunkt der Entscheidung für den Austausch keine Rolle. Ob Monate im Voraus oder eine Woche vor Ankunft des Schülers – über die Qualität der späteren Beziehung sagt dies nichts. Doch bevor Sie zum Telefon greifen, eine E-Mail schreiben oder online ein Anmeldeformular ausfüllen, sollten Sie gründlich prüfen, bei welcher Organisation Sie sich bewerben wollen.

Die passende Organisation

Seriöse und damit verantwortungsbewusste Schüleraustauschorganisationen arbeiten nach internationalen, mit Partnerorganisationen vereinbarten Standards, zu denen auch die sorgfältige Auswahl einer Gastfamilie gehört. Üblicherweise gliedert sich dieser Auswahlprozess in mehrere Schritte. Zunächst bekunden Sie Ihr Interesse, einen Austauschschüler aufzunehmen. Dazu reicht es, die Organisation zu kontaktieren oder im Internet ein Kontaktformular auszufüllen. Sie erhalten dann meist von der Organisation einen Meldebogen oder Bewerbungsunterlagen mit einigen Angaben zu Ihrer Familie. Nachdem Sie die ausgefüllten Unterlagen zurückgeschickt haben, sollte sich ein Mitarbeiter der Austauschorganisation bei Ihnen melden, um einen Besuchstermin zu vereinbaren. Der Familienbesuch dient der Organisation in erster Linie dazu, Sie als Familie besser kennen zu lernen und Ihre Lebenssituation einzuschätzen. Dabei geht es nicht darum, dem Besucher eine heile Welt vorzuspielen, sondern realistische Einblicke in das typische Familienleben zu gewähren. So geben Sie der Organisation die Möglichkeit, verantwortlich eine Entscheidung zu treffen, ob Ihre Familie für die Aufnahme eines Gastkindes geeignet ist und welche Schülerin bzw. welcher Schüler am besten in Ihre Familie passt. Dabei spielen ähnliche Hobbys übrigens eher eine untergeordnete Rolle im Vergleich zu Alter, Geschlecht, Herkunft oder Allergien. Andererseits bietet Ihnen der Familienbesuch eine Chance, Mitarbeiter der Organisation persönlich kennen zu lernen und spezifische Fragen zum Ablauf und Programm zu stellen. Auf der Grundlage des Besuchs trifft die Organisation dann eine Entscheidung über Ihre Teilnahme am Programm und wird sich bemühen, Ihrer Familie ein möglichst passendes Gastkind zuzuordnen. Die Zuordnung erfolgt bei manchen Organisationen einzig auf der Basis der von Ihnen zur Verfügung gestellten Informationen und den vom Schüler ausgefüllten Unterlagen. Andere Organisationen beziehen Sie in die Auswahl ein und schicken Ihnen mehrere Kurzprofile von Schülern, aus denen Sie Ihre Favoritin bzw. Ihren Favoriten auswählen können. Vertrauen Sie hier auf die Erfahrung der jeweiligen Organisation.

Im Rahmen eines qualitativ hochwertigen Gastfamilienprogramms sollte Ihnen die Austauschorganisation umfangreiches Informationsmaterial zur Aufnahme von Gastschülern zur Verfügung stellen. Es ist heute auch nicht mehr unüblich, dass Gastfamilien eine freiwillige Selbstverpflichtung zur Prävention sexueller Gewalt unterzeichnen. Die Organisation sollten Ihnen darüber hinaus vorbereitende und begleitende Elterntreffen anbieten, die Ihnen den Austausch mit anderen Gastfamilien ermöglichen.

Das A und O eines seriösen Aufnahmeprogramms ist jedoch die persönliche Betreuung der Teilnehmer, sprich von Schüler UND Gastfamilie. Ihnen und Ihrem Austauschkind sollte dabei ein Netz an Betreuungsangeboten zur Verfügung stehen. Ihre erste Anlaufstelle für Fragen und Probleme ist in der Regel ein lokaler Ansprechpartner – oftmals handelt es sich dabei um ehemalige Austauschschüler oder erfahrene Gasteltern. Üblicherweise besucht Sie der betreuende Ansprechpartner während des Aufenthalts Ihres Gastkindes einige Male, um zu sehen, wie es Ihrem Gastkind und Ihnen geht und um bei Anpassungsfragen und Missverständnissen zu helfen. Ehrenamtliche Betreuer sollten von der Organisation in Konfliktmanagement und Mediation geschult sein bzw. über einschlägige Erfahrungen verfügen. Ist Ihr lokaler Ansprechpartner nicht erreichbar oder nicht in der Lage, Sie in einer Problemsituation ausreichend zu beraten und zu unterstützen, sollten psychologisch geschulte (hauptamtliche) Mitarbeiter der Austauschorganisation zur Verfügung stehen. Außerdem sollte es eine 24h-Notfallnummer geben, unter der Sie immer einen Vertreter der Organisation erreichen können. Die Kommunikation mit dem Heimatland Ihres Gastkindes übernimmt die Zentrale der Austauschorganisation.

Warum überhaupt eine Austauschorganisation?

Stellen Sie sich vor, gute Freunde im Ausland fragen Sie, ob Sie an einem privat organisierten Schüleraustausch interessiert sind. Ihr Kind verbringt ein Jahr bei Ihren Freunden. Im Gegenzug wohnt das Kind Ihrer Freunde ein Jahr lang bei Ihnen. Klingt zunächst sinnvoll und praktikabel. Schließlich kennt man sich, vertraut sich und hat über den Spross der Freunde bislang nur Gutes gehört. Warum also umständliche, bürokratische Wege über eine Organisation gehen und viel Geld zahlen, wenn es doch nur darum geht, einem anderen Kind ein zeitweiliges Zuhause zu bieten? Sie willigen ein und kurze Zeit später steht Lucie mit schwerem Gepäck vor Ihrer Tür. Die erste Zeit verläuft harmonisch, aber dann stellen Sie fest, dass Ihr neues Kind doch nicht immer der Sonnenschein ist, den sie von Urlaubsreisen, Erzählungen oder Fotos kennen. Ihre Freunde scheinen zudem ein paar merkwürdige Erziehungsansichten zu vertreten, wie Sie jetzt im Alltag feststellen. Kurz: Nach einiger Zeit hat sich manche Frustration angestaut, aber es gibt niemanden, an den Sie sich wenden können, denn es wäre Ihnen unangenehm und peinlich, Ihre Probleme mit Ihren Freunden zu besprechen. Auch Lucie hat keinen Ansprechpartner, der ihr außerhalb der Familie als Ratgeber zur Seite steht. Sie versuchen in gemeinsamen Gesprächen die Schwierigkeiten zu lösen und halten durch, denn Sie können Lucie ja nicht einfach auf die Straße setzen oder nach Hause schicken, obwohl Ihnen auch dieser Gedanke schon durch den Kopf gegangen ist. Wie stünden Sie dann vor Ihren Freunden da? Am Ende des Jahres bleibt ein merkwürdiger Nachgeschmack. Ihre Freunde bedanken sich höflich für Ihre Gastfreundschaft. Aber auch die Freundschaft scheint einen Knacks bekommen zu haben, denn lange Zeit hören sie nichts mehr voneinander.

Eine Austauschorganisation kümmert sich nicht nur um organisatorische Fragen, Visumsbeschaffung und Reiseablauf, sondern steht Ihnen und Ihrem Austauschschüler vor allem als Begleiter und Ratgeber zur Seite und veranlasst gegebenenfalls auch einen nötigen Familienwechsel, denn Schüleraustausch soll für alle Beteiligten eine Bereicherung und keine Qual sein.

Kosten

Welche Kosten bzw. Zusatzkosten für Sie mit der Aufnahme eines Gastschülers verbunden sind, hängt letztlich von Ihren finanziellen Möglichkeiten und Ihrer Bereitschaft ab, anfallende Kosten für das Gastkind zu übernehmen. Üblicherweise wird von Seiten der Austauschorganisation erwartet, dass Sie Kost und Logis tragen, d. h. für die Ernährung und Unterbringung Ihres Gastkinds sorgen. Für ausreichendes Taschengeld sind die Eltern Ihres Austauschschülers zuständig (siehe S. →). Üblicherweise zahlen Austauschschüler anfallende Transportkosten zur Schule, Schulmaterialien und Schulbücher selbst. Auch Handykosten, Bekleidung und Souvenirs müssen nicht Sie verauslagen. Die Übernahme aller darüber hinausgehenden Ausgaben liegt in Ihrem Ermessen. Für manche Gastfamilien ist es selbstverständlich, Eintrittsgelder für Veranstaltungen und Museen oder kosmetische Artikel im Rahmen des familiären Drogerieeinkaufs zu zahlen. Andere Familien nehmen Gasttochter oder -sohn unentgeltlich auf Urlaubsreisen mit. Erwartet wird dies jedoch nicht und Sie sollten sich in dieser Hinsicht auch nicht verpflichtet fühlen. So spricht nichts dagegen, wenn Sie Ihr Gastkind bzw. seine Eltern bitten, zum Beispiel den Flug zum Urlaubsziel selbst zu tragen.

Warum erhalten Gastfamilien in der Regel keine finanzielle Entschädigung für ihre Aufnahmebereitschaft?

Die Aufnahme eines Gastschülers ist zweifelsfrei mit Mehrkosten verbunden. Allerdings ist es in Deutschland, Österreich oder der Schweiz – im Gegensatz zu beliebten englischsprachigen Ländern, darunter zunehmend auch die USA oder Kanada – bisher unüblich, dass Gastfamilien im gemeinnützigen Schüleraustausch für ihre Aufnahmebereitschaft bezahlt werden. Damit soll vermieden werden, dass eine Gastfamilie nur aus finanziellen Beweggründen einen Schüler aufnimmt. Im Hinblick auf den Gastschüler und seine Eltern besteht zudem die Befürchtung, dass durch die Kommerzialisierung nicht selten Erwartungen an besondere Leistungen der Gastfamilie entstehen, die ein sorgenfreies Rundum-Wohlfühlpaket bieten sollte. Das Abenteuer des Kulturaustauschs rückt dabei unter Umständen in den Hintergrund.

Derzeit findet jedoch ein Umdenken der traditionalen Haltung zur Bezahlung von Gastfamilien statt, da es in einigen Ländern zunehmend schwieriger wird, eine ausreichende Zahl an Aufnahmefamilien zu finden. So kann eine geringfügige finanzielle Unterstützung letztlich auch ein Anreiz für Familien sein, die aus finanziellen Gründen bisher davor zurückschrecken, ein Gastkind aufzunehmen. Inwieweit diese Veränderungen im Austauschmarkt Auswirkungen auf die deutschsprachigen Gastländer hat, bleibt abzuwarten.

1.2 MOTIVATION UND ERWARTUNGEN

Was bewegt einen jungen Menschen dazu, seine Familie, Freunde und vertraute Umgebung zu verlassen, um sich ins Ungewisse aufzumachen? Im Folgenden werden einige dieser Beweggründe oder Motive beleuchtet. So ist das Verbessern von Fremdsprachenkenntnissen beispielsweise häufig ein wichtiges Erstmotiv von Austauschschülern aus deutschsprachigen Ländern, um sich für einen Austausch in den USA, Australien oder Frankreich zu bewerben. Aus einem Motiv erwächst schließlich Motivation, d. h. der Antrieb, ein gesetztes Ziel zu erreichen – in diesem Falle zum Beispiel, sich als Austauschschüler täglich hinzusetzen und im Alltag aufgeschnappte neue Vokabeln aufzuschreiben, nachzuschlagen und auswendig zu lernen. Unterschieden wird zwischen intrinsischer (innerer) und extrinsischer (äußerer) Motivation. Eine intrinsische Motivation entspringt aus der Person selbst und äußert sich zum Beispiel als Neugier und Interesse. Das Gegenteil davon ist die extrinsische Motivation, die von außen, z. B. durch Gruppendruck oder Belohnungen, erzeugt wird. Erwiesenermaßen ist eine intrinsische Motivation tragfähiger als eine extrinsische. Um Herausforderungen zu meistern, zu denen ein Austauschaufenthalt in einer fremden Kultur auf jeden Fall zählt, ist es hilfreich, wenn man von sich aus motiviert ist bzw. in der Lage ist, sich selbst zu motivieren. Dies gilt für Gastfamilien gleichermaßen wie für Austauschschüler. Insbesondere in schwierigen Zeiten fällt es dann leichter, nicht aufzugeben. Sollten Sie das Gefühl haben, Ihrem Gastkind fehle die nötige Motivation, scheuen Sie sich nicht, nachzufragen, warum sich Ihr Austauschschüler für den Austausch entschieden hat und welche Bedeutung dieser für ihn hat. Die folgenden Punkte werden Ihnen dabei helfen. Gleiches gilt natürlich auch für Sie als Gastfamilie, wenn Ihnen einmal die Geduld und Freude am gemeinsamen Leben abhanden kommen sollten.