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Das Skandalbuch von 1910 in neuer Übersetzung – Wiederentdeckung eines Klassikers der feministischen Literatur! Mit Anfang Vierzig bricht Elsie aus ihrer Ehe aus, lässt sich scheiden und zieht in ihre weiße Villa am Meer, um die Wechseljahre in Ruhe zu überstehen. Dort wird ihr bewusst, dass sie in Wahrheit vor ihrer Leidenschaft für einen jüngeren Mann geflohen ist … Anhand von Tagebucheinträgen und Briefen gibt Karin Michaëlis schonungslos Einblick in das Seelenleben einer reifen Frau, die gegen die starren gesellschaftlichen Konventionen rebelliert und ihr Schicksal selbst bestimmen will – zu Beginn des 20. Jahrhunderts ungemein skandalös. Der Roman wurde zum Kultbuch einer ganzen Frauengeneration und trug zur Debatte über gesellschaftliche Schranken, Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen im mittleren Alter bei. »Wenn es Karin Michaëlis in ihrem Buch ›Das gefährliche Alter‹ gelingt, ihr Zeitalter in Furcht und Schrecken zu versetzen vor den zügellosen Gelüsten einer Vierzigjährigen, so ist es ein Beweis ihrer dichterischen Kraft, auf den sie stolz sein kann.« BZ am Mittag, 1910
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Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2025
Karin Michaëlis
Briefe und Tagebuchaufzeichnungen
Aus dem Dänischen
von Daniela Stilzebach
Mit einem Nachwort
von Manuela Reichart
ebersbach & simon
Liebe Lili, es wäre das Beste gewesen, Dir die Nachricht persönlich zu überbringen, um richtig in Deinem Entsetzen zu schwelgen, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht.
Sei Dir der Ehre bewusst, Jungfrau Blidelil, Du bist die Einzige, die etwas direkt durch mich erfährt. Allerdings weiß ich ja, dass Du nicht urteilst; es ist Dein größter Fehler und Deine größte Tugend, alles, was andere tun, richtig und angemessen zu finden, Du, die Du selbst nur die grenzenlos verliebte Ehefrau Deines Mannes und sorgsame Glucke seiner Kinder bist.
Du bist so gut, Lili, aber Du hast auch keinen Grund zu etwas anderem. Für Dich ist das Dasein wie ein langer angenehmer Tag, unter einem schattigen Baum in einer Hängematte – mit Deinem Mann am Kopf- und den Kindern am Fußende.
Du solltest eine Storchenmutter sein und in einem Wagenrad auf der Scheune eines Bauern wohnen.
Für Dich ist das Leben herrlich und alle Menschen sind Engel. Du wurdest in sicheren Verhältnissen und ohne Herausforderungen geboren, hast keine Leidenschaften außer den erlaubten. Auch mit achtzig wirst Du noch immer die von Tugend beseelte Geliebte Deines Mannes sein.
Merkst Du, wie ich Dich beneide? Nicht um Deinen Mann, den kannst Du gern behalten, auch nicht um Deine hochgewachsenen Töchter, ich möchte ungern fünffache Schwiegermutter werden, was Du schließlich riskierst, sondern um Deine gesegnete Ausgeglichenheit. Deine unerschütterliche Lebensfreude.
Heute bin ich erschöpft, wir waren zwei Tage in Folge zum Abendessen eingeladen, und Du weißt, dass ich das grelle Licht und all den Lärm nicht vertrage.
Und jetzt werden wir uns nicht mehr sehen, Du und ich. Das wird ganz seltsam. Wir hatten zusammen doch so viel Gutes, neben unserem dicken Schneider und der Masseuse mit den glänzenden Händen. Ja, ja, ihr können wir jetzt für unsere schlanken Hüften danken.
Ich werde Dich vermissen. Wo Du warst, war es immer gemütlich, ich glaube, selbst wenn Du Dich auf dem Gipfel des Brocken befunden hättest, dem unwirtlichsten Ort der Welt, den ich kenne.
Lili Rothe, meine liebe Cousine, sei nun nicht allzu erstaunt: Richardt und ich, wir werden uns scheiden lassen.
Oder besser gesagt, wir sind es bereits.
Dank der freundlichen Unterstützung des Justizministers ging es schnell und lautlos vonstatten, wie Du siehst. Nach zweiundzwanzig Jahren Ehe, deren Mustergültigkeit lediglich von Deiner übertroffen wird, gehen wir also getrennte Wege.
Du wirst weinen, Lili, weil Du eine so gottergebene gute Seele bist, aber Du kannst Dir Deine Tränen sparen.
Du hast mich doch gern, und wenn ich Dir sage, dass es für mich so am besten ist, wirst Du meinen Worten wohl glauben und Dich damit abfinden.
Genau genommen gibt es keinen Grund, keinen greif- oder spürbaren Grund. Richardt hat keine Geliebte, soweit ich weiß, und ich keinen Liebhaber, und wir sind auch nicht verrückt oder religiös geworden. Es gibt nicht den Hauch eines Skandals, also über den Skandal hinaus, dass zwei Menschen mittleren Alters plötzlich mitten im Spiel abbrechen.
Diesen Schritt zu gehen, hat meiner Eitelkeit enorm viel abverlangt. Ich, die ich all die Zeit immer viel Wert darauf gelegt habe, unangreifbar zu sein und als solches zu gelten, ich, die eine Heidenangst vor dem Urteil der Leute hat, setze mich jetzt dem schlimmsten Geschwätz aus.
Ich, die bisher behauptet hat, dass eine unglückliche Ehe überhaupt keiner zehnmal mehr vorzuziehen sei, und dass eine unverheiratete oder geschiedene Frau zu Recht ein halbes Pariadasein führt, ich, die ich eine Verfechterin der Aussage war, dass Scheidung eine unerhörte Torheit sei, sofern die Beteiligten nicht ganz jung waren – ich verlasse jetzt eine vollkommen harmonische und glückliche Ehe.
Du wirst einsehen, dass die Sache ernst ist.
Ein ganzes Jahr lang hat es gedauert, den Entschluss zu fassen, und dass ich so lange gezögert habe, ihn in die Tat umzusetzen, war teils dem Umstand geschuldet, mich selbst auf die Probe stellen zu wollen, teils praktischen Belangen. Ich bin nämlich praktisch veranlagt und konnte mir nicht recht vorstellen, vom Gammeltorv wegzuspazieren, ohne zu wissen, wohin ich gehen würde.
Mein Grund ist so einfach und klar, dass er nur die Wenigsten zufriedenstellen wird, aber was soll ich tun, wenn ich nun einmal keinen anderen habe?
Du weißt so gut wie alle anderen, dass Richardt und ich es miteinander so gut hatten, wie zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts es wohl überhaupt haben können. Zwischen uns ist nie ein böses Wort gefallen.
Aber ich habe nun einmal diesen Einfall bekommen, oder wie auch immer Du es bezeichnen möchtest, dass ich allein leben muss. Ganz allein für mich selbst und mit mir selbst. Nenne es eine absurde Idee, einen unmöglichen Einfall, nenne es Hysterie, was es vielleicht auch ist – ich muss weg von den Menschen, raus aus dem Ganzen. Für Richardt ist es eine Enttäuschung, aber ich hoffe, dass er alsbald darüber hinwegkommt. Auf lange Sicht wird die Fabrik mich wohl ersetzen können …
Wir haben das Ganze so herrlich leise gehandhabt. Das Fest draußen auf dem Landsitz in der vergangenen Woche war eine Art Abschiedsvorstellung. Ihr habt nichts bemerkt, nicht wahr? Wir sind gebildete Leute, will ich meinen.
Wenn ich nun bereits heute Abend abreise, geschieht dies nicht nur – aber auch –, um über alle Berge zu sein, wenn der Tratsch losbricht, allerdings sehne ich mich so unbeschreiblich danach, die Einsamkeit auszuprobieren.
Jørgen Malthe hat eine kleine Villa für mich entworfen und errichten lassen – in dem Glauben, sie sei für jemand anderen.
Die Villa befindet sich auf einer Insel, deren Namen ich vorläufig nicht nenne. Bis zur Decke sind es knapp über neun Meter, und das Esszimmer bietet Platz für sechsunddreißig Personen. Ich bekomme nur zwei Zimmer, aber was mehr braucht eine geschiedene Frau in meinem Alter? Der Rest sind kleine Kammern oben, mit Erkern und Altanen.
Mein Schlafzimmer wird ganz apart, mit einem Glasdach, wie ein Atelier. Auch eine meiner sonderbaren Ideen, den Himmel direkt über meinem Bett haben zu wollen. Ich glaube, das ist gesund für die Nerven, und meine sind in einer entsetzlichen Verfassung.
In Ermangelung der lieben Männer kann ich künftig mit den kleinen Sternen unseres Herrgotts flirten.
Ansonsten zeichnet sich die Villa durch ihre schöne Lage, ihre zitadellenähnliche Architektur und ihre – merk Dir das gut – großartige Ungastlichkeit aus. Die Hecke um den Garten ist fast genauso hoch wie die Mauer um das Frauengefängnis in Cristianshavn, das Tor ist nie geöffnet, und einen Pförtner gibt es nicht. Der Wald führt direkt in den Garten hinein, der Garten direkt ins Meer hinaus. Der Grund und Boden gehörte einem Sonderling, er wohnte in einer baufälligen Hütte, so grün und zugewachsen, dass ich sie habe stehen lassen.
Noch nie habe ich mich auf etwas so gefreut wie auf dieses Einsiedlerleben. Für die Küche habe ich eine gute Seele namens Torp gefunden; sie scheint die Kochkünste aller Länder wie ihr Vaterunser zu kennen. Ich beabsichtige nämlich nicht, von Wasser, Brot und Tugend allein zu leben.
Auf einen Diener verzichte ich, obwohl ich ein Faible für männliche Bedienungen habe. Aber das Ganze eignet sich nicht für einen Diener. Im Übrigen habe ich keine Ahnung, wie lange meine Zinsen vorhalten. Allerdings möchte ich ungern Richardts großzügiges Angebot einer jährlichen Summe annehmen.
Zudem habe ich ein Hausmädchen eingestellt, sie heißt Jeanne, sie hat die schönsten Fuchsaugen und leuchtend rote Haare, dazu spitze, gepflegte Fingernägel, von denen ich nicht weiß, woher sie diese hat. Die beiden werden meine einzige Gesellschaft sein, sodass ich mich mit mir selbst auseinandersetzen muss.
Liebe Lili, tu, was Du kannst, um das schäbigste Geschwätz im Keim zu ersticken, jetzt, da Du um die Zusammenhänge weißt. Im größten Vertrauen noch etwas, das ich Dir verbiete, Deinem Mann zu sagen: Jørgen Malthe, der liebe Mensch, hat mich doch mit seiner jugendlichen Schwärmerei beehrt, worüber Ihr Euch alle amüsiert habt. Möglicherweise wird er, in echter Männermanier, außer sich sein, was meinen merkwürdigen Rückzug betrifft. Sei ein bisschen nett zu ihm und erkläre ihm, dass es dafür keinerlei mystischen Grund gibt.
Später, wenn ich ein bisschen zur Ruhe gekommen bin, würde ich mich über einen Brief von Dir sehr freuen, obwohl ich voraussehe, dass er zu neunzig Prozent von Deinen Kindern und zu zehn Prozent von Deinem Mann handeln wird, während ich lieber zu einhundert Prozent von Dir lesen möchte – und der liebenswürdigen Stadt mitsamt ihrem Leben und Treiben. Ich gehe nicht ins Kloster, weshalb ich Neuigkeiten aus der Stadt durchaus ertrage.
Wenn Du hier wärst, würdest Du fragen, womit ich mir die Zeit vertreiben will. Meine Liebe, Kleiderschrank und Spiegel verlassen mich nicht, zudem verfügt die Zeit über die Fähigkeit zu vergehen, ohne aufgezogen werden zu müssen. Ich habe doch den Wald und den Garten, das Klavier und das Haus, und sollte ich dem allen doch einmal überdrüssig werden, könnte ich Torps Leinen mit Schmuckborten verzieren!
Sollte es geschehen, Gott sei mir gnädig, dass mich ein Blitz trifft oder ich einen Herzschlag erleide, sodass ich in absehbarer Zeit sterbe, würdest Du als meine Cousine und engste Freundin Dich wohl der Aufgabe annehmen, nach mir »aufzuräumen«? Unordnung wird wohl kaum herrschen, aber dennoch – der Ordnung halber. Es würde mir missfallen, wenn Richardt in meinen Papieren herumkramte. Jetzt, da wir nicht mehr »miteinander verheiratet« sind. Dir wünsche ich alles Gute.
Deine Elsie Lindtner
Mein lieber Freund und ehemaliger Ehemann,
ist das nicht eine stilvolle Überschrift? Und bist Du nicht gerührt, in einer fremden Stadt Blumen von einer Dame zu bekommen? Ich hoffe nur, die Leute haben mein Deutsch verstanden und sie Dir rechtzeitig geschickt.
Einen Augenblick lang hatte ich den schönen Gedanken, Dich in gleicher Weise in allen Städten willkommen zu heißen, in die Du zu reisen beabsichtigst, da ich jedoch, mit Ausnahme maximal der Hauptstädte, die Adressen der Blumenhändler nicht kenne und viel zu faul bin, sie mir zu beschaffen, lege ich die hübsche Leichtsinnigkeit zu den Akten und betrachte sie als »erledigt«.
Wenn ich ganz ehrlich bin, Richardt, schäme ich mich vor Dir, und ich kann getrost sagen, dass ich Dich nie so sehr geschätzt habe wie jetzt. Aber anders konnte es nicht sein, und Du solltest Deinen Willen gebrauchen, um Dich damit vertraut zu machen. Hätte ich mich überreden lassen und wäre bei Dir geblieben, nachdem sich mein Drang nach Einsamkeit geltend gemacht hatte, so hätte ich Dich doch jede Stunde des Tages gequält und geplagt.
Liebster, bester Freund, es ist etwas dran an dem, was irgendjemand einmal gesagt hat: Entweder eignet sich eine Frau für die Ehe, und dabei ist fast völlig gleichgültig, wen sie heiratet, sie wird schon wissen, ihre Bestimmung zu erfüllen – oder sie eignet sich nicht dafür, und dann begeht sie ein Verbrechen an ihrem eigenen Wesen, wenn sie sich an einen Mann bindet.
Ich eigne mich offensichtlich nicht dafür, verheiratet zu sein. Würde ich es tun, hätte ich für immer und ewig an Deiner Seite zufrieden sein müssen, und Du weißt, dass ich das nicht war. Aber das war nicht Deine Schuld. Ich wünschte – und das sage ich im größten Ernst –, ich könnte Dir etwas vorwerfen. Es gibt nichts. Überhaupt nichts.
Es war ein großer Fehler – eine große Feigheit –, dass ich Dir gestern Abend das Versprechen gab zurückzukehren, sollte ich meinen Entschluss bereuen. Ich weiß, dass ich ihn niemals bereuen werde. Mit einem solchen Versprechen aber hindere ich Dich doch förmlich daran … ja, entschuldige, mein Lieber, aber ich finde nicht, dass es ausgeschlossen ist, dass Du einer Frau begegnest, die etwas für Dich sein könnte. Würdest Du mir das Versprechen zurückgeben, wäre ich Dir dankbar. Erst dann werde ich mich ganz frei fühlen.
Wenn Du zurückkommst und die Freunde Dich Anteilnahme heuchelnd versuchen auszuhorchen, sei standhaft. Es würde mich zutiefst beschämen, wenn jemand – und jemand meint ohne Ausnahme alle – Einblick in das erhielte, was wir an Gutem und Schlechten zusammen hatten. Vorbei ist vorbei, und niemand wird verstehen können, was zwischen zwei Menschen vor sich geht, nicht einmal, wenn sie dem Geschehen beiwohnen.
Denk an mich, wenn Du Dich zu Tisch begibst. Acht Uhr wird wahrscheinlich meine künftige Bettzeit werden, im Gegenzug stehe ich bereits mit oder vor der Sonne auf. Denk an mich, aber schreib nicht allzu oft. Ich muss mich erst in vollkommener Ruhe in mein neues Dasein einleben, später werde ich Dir mit Freuden ein Resümee aller Torheiten geben, die eine Frau begeht, wenn sie plötzlich in hohem Alter ihre eigene Herrin wird.
Willst Du meinen Rat befolgen, so sage ich Dir zum wiederholten Male: Schare weiterhin Deine Freunde um Dich. Du kannst nicht ohne sie sein, und Du musst kein Trauerjahr absolvieren, mit Flor um die Kronleuchter und Blumen rund um mein Foto.
Du warst mir ein guter, feiner und treuer Freund, und ich bin auch nicht so gemein, dies nicht von Herzen zu schätzen zu wissen; Dein großzügiges Angebot, was Geld betrifft, kann ich jedoch nicht annehmen. Ich sage das erst jetzt, da ich weiß, dass Du sonst versuchen würdest, mich zu überreden. Die Zinsen, die mein kleines Kapital abwirft, reichen für mein Auskommen und werden dies auch weiterhin tun.
In einer Stunde geht der Zug. Richardt, Du hast die Fabrik, und Du hast Deine Freunde, Du hast so viele Freunde wie kein anderer, den ich kenne. Bist Du mir wohlgesonnen, dann wünsche mir, dass ich es niemals bereuen werde. Ich betrachte meine Hände, die Du so gern hast – könnte ich sie Dir reichen! …
Ein Mann darf nicht zusammenbrechen. Es würde mich kränken, würde man Dich bemitleiden. Dafür bist Du viel zu gut.
Natürlich wäre es besser, wie Du gesagt hast, wenn einer von uns tot wäre. Dann aber hättest Du Dich der Ewigkeit opfern müssen, denn ich freue mich auf meine Insel.
Zwanzig Jahre habe ich am Gammeltorv »im Schatten Deiner Flügel« gelebt, wenn ich jetzt weitere zwanzig Jahre, mit der Einsamkeit vermählt, unter den großen Bäumen leben könnte!
Wie sie reden werden, all jene, die reden können! Wir aber, als die klugen Menschen, die wir sind, lächeln beim Gedanken daran.
Richardt, vergib mir nun und für alle Tage den Kummer, den ich gezwungen war, Dir zu bereiten. Hätte ich gekonnt, wäre ich geblieben.
Danke für alles.
Elsie
Dass meine Gefühle erloschen sind, ist mir selbst ebenso unbegreiflich wie Dir. Kein anderer Mann hat auch nur einen Zoll meines Herzens eingenommen. Es ist wahrhaftig, alles in allem, schlichtweg eine Krankheit der Nerven, aber sie ist unheilbar, leider.
Lieber Malthe, wir zwei sind doch Freunde, und ich bin der Meinung, wir sollten es bleiben, auch wenn der Zufall unsere Wege trennt. Sollten Sie jetzt, aus irgendeinem Grund, böse auf mich werden, bedeutet dies das Ende der Freundschaft, denn eine spätere Gelegenheit zur Versöhnung gibt es nicht.
Wenn ich Ihnen in einer recht wichtigen Sache wie dieser die Wahrheit nicht nur vorenthalten, sondern Sie mit Absicht hinters Licht geführt habe, geschah dies weder aus Mangel an Vertrauen noch aus Mangel an Freundschaft. Ich bitte Sie, mir das zu glauben. Dass ich Ihnen auch jetzt die Gründe nicht darlegen kann, erschwert es zusätzlich, mein Handeln zu rechtfertigen. Also müssen Sie sich damit begnügen, meinen Worten zu glauben: Jørgen Malthe, ich würde Ihnen gern mein volles offenes Vertrauen schenken, aber das ist unmöglich. Ich kann mich niemandem voll und ganz offenbaren, nennen Sie es Eigenheit oder was Sie wollen.
Sie haben nicht den Septemberabend vergessen, als ich Ihnen im vergangenen Jahr zum ersten Mal von meiner Freundin erzählt habe, die sich scheiden lassen wollte und Sie durch mich bat, eine Villa zu entwerfen, in der sie den Rest ihres Lebens in Einsamkeit verbringen könne. Sie griffen die Idee von diesem Einsamkeitshaus so verständig auf, dass Ihr Entwurf und Plan dem Ideal nahekam. Jedes Mal, wenn wir im vergangenen Jahr zusammen waren, erörterten wir »die weiße Villa«, wie wir sie nannten, und dieses kleine gemeinsame Geheimnis hat uns viel Vergnügen bereitet. Nicht zuletzt, als Sie zudem damit beauftragt wurden, sich auch um die Innenausstattung des Hauses zu kümmern, das Mobiliar zu entwerfen, Farben und Dekoration auszuwählen. Diese Arbeit hat Ihnen wirklich Freude bereitet, obwohl es Sie geärgert hat, die Person nicht zu kennen, für die Sie tätig waren. Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich ein paar Mal scherzhaft sagte: »Tun Sie so, als sei es für mich!« Ich habe zumindest nicht vergessen, dass Sie darauf einmal entgegneten: »Es widerstrebt mir, dass ein fremdes Wesen in ein Haus ziehen soll, dass mit Ihnen vor Augen entstanden ist!«
Urteilen Sie selbst, Malthe, wie peinlich es mir war, Sie im Irrglauben zu lassen. Aber damals konnte ich nichts sagen, ich hatte Verpflichtungen Richardt gegenüber. Daher habe ich Sie im Sommer gemieden, ich konnte nicht mehr lügen.
Ich bin es, ich, die in »der weißen Villa« wohnen wird. Allein werde ich dort wohnen.
Es nützt nichts, wenn ich sage: »Nehmen Sie es mir nicht übel.« Sie wären nicht Sie, würden Sie es nicht tun.
Sie sind jung, Sie haben das Leben vor sich, und ich bin alt. Ich bin nämlich alt, in einigen Jahren so alt, dass Sie überhaupt nicht werden begreifen können, dass es eine lange Zeit gab, in der ich für Sie »die Einzige« war. Nicht um Sie zu kränken, erwähne ich die Jugend, die Ihnen aus Rücksicht auf mich verhasst ist. Ich weiß, dass Sie nicht oberflächlich sind, aber ich weiß auch, dass die Gesetze und der Lauf des Lebens unerbittlich sind.
Wenn ich jetzt als Geschiedene in das von Ihnen erschaffene Zuhause einziehe, werde ich täglich an Sie erinnert und Ihnen im Geiste den Dank aussprechen, der hier auf dem Papier so kalt wirkt.
Ich verbiete Ihnen nicht, mir zu schreiben, aber ich wünsche, dass Sie sich über ein eventuelles Lebewohl hinaus stumm verhalten. Briefe könnten doch nicht einmal einen Abglanz der guten Stunden widerspiegeln, die wir miteinander verbracht haben, der Stunden, in denen wir über alles sprachen, meist jedoch über gar nichts. Ich glaube, wir waren nicht sonderlich geistreich, und doch haben wir uns nicht gelangweilt. Sollte das für Sie eine Kränkung, eine Enttäuschung und einen Kummer darstellen, dann geben Sie sich der Arbeit hin, sodass ich in meiner Einsamkeit weiterhin stolz auf Sie sein kann. Sie haben mir beigebracht, meine Augen zu gebrauchen, und es gibt so viel, was ich gern noch sehen möchte, denn ebenfalls von Ihnen habe ich gelernt, dass die Welt herrlich ist. Für mich ist es jedoch am klügsten, alles der Fügung zu überlassen. Jetzt schließe ich mich in meiner weißen Villa ein, und damit ist meine Geschichte vorüber.
Ihre Elsie Lindtner
Beim Durchlesen des Briefes stelle ich fest, dass er trocken und ohne Wärme ist. Jedoch es ist schwerer, einen solchen Brief an einen engen Freund zu schreiben als an einen gleichgültigen Fremden.
Auf meiner Insel gelandet, in meine Höhle gekrochen.
Das war der erste Tag; Gott stehe mir bei für die kommenden!
Vorläufig finde ich alles widerwärtig, vom Gestank des frischen Holzes und der nassen Tapeten bis hin zum Plätschern des Regens über meinem Kopf.
Dass ich auch die törichte Idee von einem Glasdach über dem Schlafzimmer haben musste! Ich habe das Gefühl, als würde ich unter einem Regenschirm stehen, der jeden Augenblick droht durchzuweichen. Im Laufe der Nacht werden die Fenster vermutlich undicht, sodass ich in einer Wasserlache aufwache.
Wenn ich überhaupt einschlafe! Ich habe Kopfschmerzen vor Müdigkeit, denke aber nicht daran, ins Bett zu gehen.
Ein ganzes Jahr hatte ich zum Bedenken, und jetzt begreife ich mein eigenes Handeln nicht. Angenommen, das Ganze war eine Dummheit! Eine gut durchdachte und gänzlich unwiderrufliche Dummheit! Ein mir von aufgebrachten Nerven gespielter Streich! Angenommen … angenommen …
Ich fühle mich allein und willenlos. Mir graut … Aber der Schritt ist getan, er kann nicht rückgängig gemacht werden. Und er darf nicht bereut werden.
All der Regen gibt mir das Gefühl, alles sei klamm, selbst der Rücken. Er regt mich auf, er quält mich.
Und wie wird es sein, auf zwei Frauen angewiesen zu sein, mit denen ich allein das Geschlecht teile! Niemand zum Reden, niemand zum Anschauen. Jeanne ist ziemlich reizend, das ist sie, aber mit ihr reden kann ich doch nicht. Und Torp – Torp passt in ihre Kleider wie ein Zwerg in seinen Berg. Sie sieht aus, als könne sie allein ein ganzes Tal mit Nachkommen versorgen. Ihr Korsett ist schief, sowohl vorn als auch hinten …
Noch nie bin ich so verlegen gewesen und habe so überlegen agiert wie in dem Moment, da wir durch den aufgeweichten Garten in das leere Haus gestapft sind, in dem nicht eine Blume uns willkommen hieß. Die Zimmer sind zu groß und zu leer. Das hätte ich rechtzeitig bedenken sollen. Aber der Anstand muss schließlich gewahrt werden, und insofern war meine Ankunft gut genug.