Das gefallene Imperium 3: Teuflisches Vermächtnis - Stefan Burban - E-Book

Das gefallene Imperium 3: Teuflisches Vermächtnis E-Book

Stefan Burban

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Beschreibung

Der Kaiser der Terranisch-Imperialen Liga lebt. Diese Nachricht schlägt ein wie eine Bombe unter der kleinen Gruppe Freiheitskämpfer um den Legionsgeneral Carlo Rix. Für diesen steht außer Frage, was zu tun ist. Der Kaiser muss befreit werden. Eine Mission in das vom Feind besetzte Solsystem scheint der einzige Weg. Zu diesem Zweck sucht er an ungewöhnlichen Orten nach neuen Verbündeten. Doch kann der General seinen Verbündeten vertrauen? Oder kochen einige von ihnen vielleicht ihr eigenes Süppchen? Und warum ist den Drizil gerade der Mars so ungemein wichtig? Am Zielort angekommen, findet man mehr als erwartet. Denn das Solsystem birgt düstere Geheimnisse, die die Menschen auf eine harte Probe stellen …

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Inhalt

Prolog

Teil I. Aufbruch

1

2

3

4

5

Teil II. Das Königreich der Piraten

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

Teil III. Hinter feindlichen Linien

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

Epilog

Personenverzeichnis

Weitere Atlantis-Titel

Stefan Burban

Teuflisches Vermächtnis

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg Juli 2016 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild: Allan J. Stark Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-313-2 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-388-0 Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich. Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

Prolog

Verraten und verkauftKommt und holt sie euch!(König Leonidas bei den Thermopylen, nachdem die Perser die spartanische Kapitulation verlangt hatten)Terranisch-Imperiale Liga (Neues Protektorat)Innerer Sektor 12/8-C(befreites Territorium)Koloniewelt Vector Prime24. Juni 2850

In dem kleinen Raum an Bord der Vengeance war es mucksmäuschenstill. General Carlo Rix, Colonel René Castellano, Commodore Horatio Lestrade sowie General Alexander Great Bear starrten wie gebannt auf das holografische Abbild eines im Prinzip unscheinbaren Mannes.

Das Abbild schien die Männer im Raum würdevoll zu mustern. Tatsächlich handelte es sich um eine Aufzeichnung, die schon Wochen oder Monate alt sein konnte. Genauso gut könnte sie auch erst wenige Tage zuvor aufgezeichnet worden sein. Das ließ sich unmöglich feststellen.

Der Mann, dessen holografischen Züge die Anwesenden fesselten, gehörte keinem Geringeren als Seiner kaiserlichen Majestät Philipp IV., Herrscher der Terranisch-Imperialen Liga.

Der Mann ballte eine Hand zur Faust, führte sie zum Mund und hüstelte beinahe verlegen, bevor er zu sprechen begann.

»Meine lieben Mitbürger. Heute spreche ich schweren Herzens zu Ihnen. Ich bin sicher, Sie alle machen sich Gedanken über Ihre Zukunft, die Zukunft Ihrer Lieben, Ihrer Familien, Ihrer Kinder. Die Drizil erlauben mir heute diese Stellungnahme, in der Hoffnung, dass eine friedliche Aussöhnung zwischen Menschen und den Drizil möglich sein könnte. Viele von Ihnen werden sich bereits gedacht haben, was ich nun offiziell bestätige: Die Drizil haben das Solsystem eingenommen. Ich selbst und einige hochrangige Funktionäre von Militär und Bürokratieapparat gingen in Gefangenschaft. Ich kann Ihnen aber versichern, es geht uns allen gut und wir wurden fair und anständig behandelt.«

Der Kaiser holte tief Luft. Die nächsten Worte fielen ihm sichtlich schwer. »Die Kämpfe um das Solsystem, die Erde und insbesondere die imperiale Hauptstadt waren lang, blutig und brutal. Große Teile der Erde liegen in Schutt und Asche, doch im Gegensatz zu den Vorkommnissen auf anderen Koloniewelten gab es weder Übergriffe auf die Zivilbevölkerung noch flächendeckende orbitale Bombardements. Es kamen leider eine große Anzahl Zivilisten zu Schaden, dies allerdings lediglich dann, wenn sie ins Kreuzfeuer imperialer und Drizileinheiten gerieten. Die Drizilclans, die das Solsystem eroberten, versicherten mir, es wären auch keine Aktionen gegen Nichtkombattanten geplant, sofern man die Besatzungstruppen nicht provoziere. Es werde keine Hinrichtungen und keine Internierungen geben. Das Schicksal der Sterilisierung werde dem Solsystem erspart bleiben.«

Der Kaiser holte erneut tief Luft. »Was ich nun sage, wird vermutlich auf viel Unverständnis stoßen und doch hoffe ich, dass die Verantwortlichen sich meine Worte zu Herzen nehmen. Stellen Sie den Widerstand ein!«

Alle Anwesenden – bis auf Lestrade, der die Botschaft bereits kannte – wirkten wie vom Donner gerührt.

»Ich meine es ernst«, fuhr der Kaiser fort. »Die Drizil haben mich informiert, dass es weiterhin schweren Widerstand auf etlichen Welten gibt, und ich kann gar nicht genug ausdrücken, wie stolz mich das macht. Durchhaltewille und Opferbereitschaft von Zivilisten wie auch Soldaten sind beispielhaft und gereichen dem Imperium zur Ehre. Und dennoch muss ich Sie auffordern, jeglichen Widerstand einzustellen. Wir müssen uns dem Unvermeidlichen stellen. Die Drizil haben das Imperium erobert. Das Imperium, dem wir mit so viel Stolz und Ehre gedient haben, ist Vergangenheit und wird nun von den Drizil kontrolliert. Jeder weitere Widerstand kostet nur Blut. Das Blut von Drizil und Menschen. Das Blut von Zivilisten und Soldaten. Menschliche Welten wurden besetzt oder zerstört. Allein die menschliche Opferzahl im Solsystem betrug mehr als drei Milliarden. Ich kann nicht guten Gewissens den fortdauernden Widerstand schüren oder auch nur stillschweigend dulden. Ansonsten würden weitere Welten das Schicksal von Kolonien wie Marianna erleiden.«

Bei der Erwähnung der zerstörten Kolonie, die Feuertrupps der 18. Legion gefunden und durchstreift hatten, versteifte sich Rix’ Gestalt zusehends.

»Das Imperium ist gefallen«, sagte der Kaiser mit tieftrauriger Miene. »Es wird Zeit, dass wir uns mit den neuen Machthabern arrangieren. Es wird Zeit, dass wir uns in unser Schicksal fügen. Die Drizil haben mir versprochen, dass keine Welt mehr zerstört werden wird, sobald alle noch kämpfenden Einheiten von imperialer Armee, Miliz oder Legionen kapituliert und ihre Waffen abgegeben haben. Meine nächsten Worte richten sich speziell an das noch aktive imperiale Militär: Ich weiß, Sie denken, Sie tun das Richtige. Doch Sie müssen eines in Ihre Überlegungen einbinden: das Schicksal der Zivilbevölkerung. Ihr Überleben allein ist wichtig. Zu Ihrem Schutz sind wir da, wurden wir in unsere Ämter erhoben oder haben wir unsere Stellungen erhalten. Wenn es zu ihrem Wohl ist, die Waffen zu strecken, dann muss es so sein. Sie haben getan, was Sie konnten. Ihre Treue zum Imperium und der Institution des Kaisers rührt mich buchstäblich zu Tränen. Wir müssen jedoch lernen, die Tatsachen zu akzeptieren. Das Imperium ist nicht mehr. Nun gilt unsere Pflicht dem Fortbestand der Menschheit. Zwar unter der Herrschaft der Drizil, doch das ist im Moment zweitrangig. Wichtig ist allein, das Töten zu beenden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Bei jeder anderen Verlautbarung würde ich mit den Worten schließen: ›Lang lebe das Imperium.‹ Doch dieses Mal schließe ich mit den Worten: ›Lang lebe die Menschheit.‹«

Das Abbild verschwand, als der Projektor die Aufzeichnung beendete.

Minuten verstrichen, ohne dass jemand es fertigbrachte, auch nur einen Ton von sich zu geben. Alexander Great Bear stand auf und schlenderte zu einer Tafel, auf der eine alte Sternkarte angepinnt war. Lestrade war ein Nostalgiker. In den Datenbanken des Schiffes befanden sich ausreichend Sternkarten von jeder Region des Imperiums, doch der Commodore behielt diese noch auf Papier gedruckte Karte, weil sie ihn an die Anfänge von Schiff- und Raumfahrt erinnerte.

Der Kommandant der 24. Legion gab vor, diese aufmerksam zu studieren, doch Carlo kannte ihn besser. Der Mann kochte innerlich und setzte in diesem Moment alles daran, den Impuls zu unterdrücken, irgendetwas zu Kleinholz zu verarbeiten.

Carlo konnte es ihm nicht verdenken. Was der Kaiser da von sich gab, war unbegreiflich, auch wenn es für Carlo nicht gänzlich unerwartet kam. Nachdem ihm Lestrade berichtet hatte, es läge eine Nachricht vom Kaiser persönlich vor, waren ihm mehrere mögliche Schlussfolgerungen durch den Kopf gegangen. Diese hier war eine davon. Schließlich war es unlogisch anzunehmen, die Drizil würden ihnen eine Nachricht des Kaisers zuspielen, wenn sie nicht in deren Interesse liegen würde.

»Die verdammten Fledermausköpfe haben ihm eine Knarre an den Kopf gehalten«, brauste Great Bear auf und drehte sich um, sein Gesicht eine Maske des Abscheus. »Das ist meiner Meinung nach offensichtlich.«

»Vielleicht«, erwiderte Carlo vorsichtig, nicht bereit, sich bereits so früh festzulegen.

»Vielleicht? Carlo, wie kannst du nur so etwas sagen? Mit dieser Nachricht hat der Kaiser die Besatzung durch die Drizil praktisch legitimiert. Er würde das niemals freiwillig tun.«

»Genau das meine ich. Er hatte vielleicht keine Wahl, auch wenn ich im Gegensatz zu dir noch nicht von körperlichem Zwang ausgehe.«

»Sondern?«

Carlo sah mit verkniffener Miene auf. »Drei Milliarden, Alexander. Du hast es gehört. Drei Milliarden Tote im Solsystem. Der Kaiser sah vielleicht keine andere Wahl, als auf diese Weise das Töten zu beenden.«

Great Bear schüttelte energisch den Kopf. »Er weiß, wir würden lieber sterben als uns ergeben.«

Carlo legte den Kopf schief. »Weiß er das? Bist du dir da wirklich sicher? Das Solsystem liegt jetzt bereits seit geraumer Zeit unter Drizilkontrolle. Sie werden Seiner Majestät nur das an Informationen zukommen lassen, was ihnen nutzt. Von unseren Fortschritten wird er nichts wissen. Was ihn betrifft, haben die Drizil die Oberhand und es gibt nur noch Restwiderstand, mit dem sich die Fledermausköpfe rumärgern müssen. Er will vielleicht nur Schlimmeres verhindern.«

»Das ist der falsche Weg«, beharrte Great Bear stur.

»Das kann er aber unmöglich wissen.«

»Lassen Sie es gut sein. Wir drehen uns im Kreis, meine Freunde«, mischte sich Lestrade mit gleichbleibend ruhigem Tonfall ein. Carlo hatte den Mann inzwischen als Stimme der Vernunft schätzen gelernt. »Das Problem ist letztendlich nicht, was den Kaiser zu dieser Verlautbarung gebracht hat, sondern vielmehr, wie wir jetzt damit umgehen.«

»Wir ignorieren sie«, entgegnete Great Bear im Brustton der Überzeugung.

Lestrade lächelte nachsichtig. »Wenn das nur so einfach wäre. Glauben Sie, wir hätten die Botschaft als Einzige aufgefangen? Jeder halbwegs kompetente Amateurfunker im System konnte die Nachricht empfangen. Sie macht bereits die Runde. Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste.«

»Sie sprechen in Rätseln«, meinte Great Bear und kehrte an den Tisch zurück. Er ließ sich schwer auf die Sitzfläche seines Stuhles plumpsen, sodass dieser unter seinem beträchtlichen Gewicht ächzte.

»Diese Nachricht ergibt doch nur dann richtig Sinn, wenn sie nicht nur in diesem Teil des Weltraums ausgestrahlt wird, sondern im ganzen Imperium. Es gibt schließlich überall immer noch andauernde Kämpfe und Widerstandsnester. Was glauben Sie, wie die auf eine solche Nachricht reagieren werden?«

»Viele werden der Aufforderung Folge leisten und die Waffen strecken.« Carlo war von dieser Aussicht alles andere als erfreut.

»Ich glaube, du überschätzt den Wert dieser Nachricht, Carlo.«

»Denkst du?«, hielt der Kommandant der 18. Legion entgegen. »Der Krieg dauerte sechs Jahre. Das Solsystem fiel vor etwa drei Jahren und seitdem schlägt sich jedes System und jede Kolonie quasi im Alleingang durch. Wie viele Welten wurden zerstört? Wie viele Welten wurden besetzt und die Bevölkerungen unterjocht? Nein, Alexander, wir dürfen uns nichts vormachen. Im Imperium macht sich Kriegsmüdigkeit breit. Die Einnahme von Barinbau und Vector Prime war schon unser größter Erfolg, seit die Erde in Feindeshand fiel. Und auch davor hatten wir kaum Nenneswertes zu verzeichnen. Und die meisten Menschen außerhalb des Perseus-Sektors und der befreiten Systeme wissen überhaupt nichts von diesem Sieg. Du kannst dir sicher sein, für viele, die ohnehin schon darüber nachdenken, wird diese Botschaft eine willkommene Rechtfertigung sein, um die Waffen zu strecken.«

»Siehst du das nicht etwas zu pessimistisch?«

»Da bin ich anderer Meinung«, mischte sich Lestrade erneut ein. »Vielleicht sehen wir die Situation noch nicht pessimistisch genug. Wir haben hier quasi einen Befehl unseres Kaisers vorliegen. Und wenn das die Runde macht, werden wir es schwer haben, in anderen immer noch umkämpften oder besetzten Systemen Unterstützung zu finden. Jetzt sind es nämlich plötzlich wir, die gegen einen direkten Befehl unseres Souveräns handeln. Wenn man es genau betrachtet, macht uns das mehr oder weniger zu Staatsfeinden.«

Great Bear ließ deprimiert den Kopf sinken. »Und was schlagen Sie stattdessen vor? Uns ergeben?«

Lestrades Kopf fuhr herum, seine Augen funkelten. Carlo hatte ihn noch nie wütend erlebt. Im Gegenteil, hatte er den Commodore immer als besonnenen Mann kennengelernt. Der versteckte Vorwurf der Feigheit, den der andere General jedoch so unbedacht in den Raum geworfen hatte, reizte den Flottenoffizier.

»Das würde ich niemals tun. Kapitulation kommt auch für mich nicht infrage. Ich wollte lediglich klarstellen, dass für uns jetzt alles sehr viel schwieriger wird.«

»Eines ist mal sicher«, brachte Carlo ein, um den aufkeimenden Streit bereits im Ansatz zu ersticken. »Wir dürfen keinesfalls in Starre verfallen. Denn wenn wir das tun, erlauben wir den Drizil, sich auf uns zu konzentrieren und uns mit allem anzugreifen, was ihnen zur Verfügung steht. Das wäre definitiv unser Ende. Unsere Beweglichkeit und die Unvorhersehbarkeit unserer Aktionen waren bisher unsere größten Vorteile. Je mehr Systeme wir aber befreien, desto mehr werden diese Vorteile schwinden. Systeme, die wir erobern, müssen wir auch gegen die Drizil verteidigen. Das nimmt uns die Beweglichkeit und wir bieten den Fledermausköpfen ein stationäres Ziel. Daher sollten wir uns langsam die Frage stellen, was jetzt?«

Betretenes Schweigen antwortete ihm.

Carlo lächelte verschmitzt. »Nicht alle auf einmal.«

Verlegenes Lachen antwortete ihm. Ideen brachte jedoch immer noch keiner ein. Auf einigen Gesichtern entdeckte Carlo sogar offene Niedergeschlagenheit. Wenn sich dies sogar schon in den höchsten Rängen breitmachte, wie fühlten sich dann wohl die Soldaten in den Feuertrupps oder die Mannschaften von Lestrades Schiffen? Sie mussten etwas bewerkstelligen, etwas Wichtiges. Sie mussten ein Zeichen schaffen. Die Einnahme von Vector Prime war ein wichtiger Schritt gewesen. Nun galt es, diesen auszubauen. Sie brauchten ein Symbol, etwas, das die Leute auf ihre Seite brachte.

In Carlo reifte ein verwegener Plan – wobei das Wort verwegen nicht wirklich zutraf. Selbstmörderisch war da schon ein passenderes Attribut.

Er blickte auffordernd in die Runde.

»Welchen Vorteil brachte den Drizil die Einnahme des Solsystems?« Die Offiziere warfen ihm verwirrte Blicke zu. Carlo lächelte. »Von den offensichtlichen einmal abgesehen.«

Allgemeines Kopfschütteln antwortete ihm.

»Alexander hat es bereits ansatzweise erwähnt. Legitimation. Zum Beispiel in Form dieser Proklamation unseres Kaisers.«

»Klar – und?«, fragten Lestrade und Great Bear praktisch gleichzeitig.

»Solange sie den Kaiser in ihrer Hand haben, können sie ihn zu allem zwingen, was sie wollen. Er kann jede Proklamation erlassen, die den Drizil nützt. Sie müssen ihn nur damit erpressen, der Zivilbevölkerung etwas anzutun.«

»Das wissen wir«, fiel ihm Great Bear ungeduldig ins Wort. »Und weiter?«

»Der Kaiser ist ein Symbol. Ein Symbol für Militär und Bevölkerung. Ein Symbol, das derzeit für die Drizil arbeitet.« Carlos Lächeln wuchs in die Breite. »Was wäre, wenn dieses Symbol wieder auf unserer Seite stehen würde?«

»Und wie soll das gehen?«, fragte Lestrade.

»Indem wir zur Erde fliegen und ihn befreien.«

Die versammelten Offiziere am Tisch starrten Carlo an, als hätte dieser den Verstand verloren. Dann sprachen alle durcheinander, sodass er gar nichts mehr verstand. Nur Fetzen wie »Wahnsinn« und »Unmöglich« drangen an sein Ohr.

Carlo wartete geduldig, bis sich der Sturm der Entrüstung gelegt hatte. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

Wenn er die Mimik seiner Gesprächspartner richtig interpretierte, dann versuchte der eine oder andere gerade auszuloten, ob die Strapazen der letzten Monate wohl zu viel für ihn gewesen waren.

Sein Lächeln wuchs in die Breite.

Sie hätten gar nicht falscher mit dieser Annahme liegen können.

Sein Weg lag schon seit langer Zeit nicht mehr derart klar vor seinen Augen. Er wusste, was zu tun war. Oh, er wusste noch nicht so recht, wie er dies bewerkstelligen sollte, doch er wusste, dass er diesen Weg gehen musste. Sollte es für das Imperium oder zumindest für einen Teil des Imperiums noch Hoffnung geben, so musste er diesen Weg einfach gehen. Es war unumgänglich.

René erwiderte Carlos Lächeln leicht. »Das ist schon komisch. Ich hätte gerade schwören können, du sagtest, wir reisen zur Erde und befreien mal eben so den Kaiser, der vermutlich von den Drizil besser bewacht wird als sonst ein Gefangener. Mal ganz davon abgesehen, dass wir gar nicht wissen, ob er überhaupt noch lebt.« René deutete abfällig auf den Holotank in der Mitte des Tisches. »Diese Aufzeichnung beweist doch gar nichts. Die könnte man genauso gut schon vor Jahren aufgenommen und ihn anschließend still und heimlich exekutiert haben.«

»So sehe ich das auch«, stimmte Lestrade zu.

»Ihr habt beide recht«, entgegnete Carlo süffisant. »Und doch müssen wir das tun. Wenn wir den Kaiser befreit haben, können ihn die Drizil nicht mehr gegen uns benutzen. Gleichzeitig haben wir etwas in der Hand, das den Widerstandswillen erneut anfacht.« Er wandte sich direkt an Lestrade. »Stellen Sie sich mal vor: der Kaiser von imperialen Truppen befreit, direkt unter den hässlichen Nasen der Drizil.«

Lestrade neigte einlenkend das Haupt. »Ja, das hat schon was. Das gebe ich gern zu. Aber es ist einfach nicht machbar. Was glauben Sie, wie viele Truppen und Schiffe die Drizil im Solsystem haben. Die Schlacht um Vector Prime hat uns stark geschwächt. Mit der Raumstation im Orbit haben wir jetzt zwar eine Werft, die neue Schiffe bauen und alte reparieren kann, aber das muss erst einmal anlaufen. So etwas dauert. Parallel müssen Schiffsbesatzungen und Piloten ausgebildet werden. Auch das dauert. Und all das funktioniert natürlich nur unter der Prämisse, dass die Drizil uns in Ruhe arbeiten lassen.« Lestrade schnaubte. »Wir dürften uns wohl alle darüber klar sein, wie unwahrscheinlich dieser Fall ist. Vermutlich schmieden sie bereits jetzt wieder Pläne, wie sie uns hier rauskriegen, ohne allzu viel Schiffe zu verlieren. Hätten sie im Moment genügend Ressourcen zur Verfügung, hätten wir sie schon auf dem Hals.« Der Commodore schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, ich fürchte, ein Angriff auf das Solsystem ist auf absehbare Zeit reine Utopie. Wir können froh sein, Vector Prime eingenommen zu haben.«

Great Bear warf Carlo einen mitfühlenden Blick zu. »Der Gedanke, den Kaiser zu befreien, ist reizvoll. Ganz ehrlich. Nach allem, was die Fledermausköpfe Vector Prime angetan haben, wäre ich überglücklich, sie im großen Stil schlagen zu können. Aber ich muss Lestrade recht geben. Ein Angriff auf das Solsystem wäre purer Selbstmord. Ich opfere nicht das wenige, was von den Legionen hier übrig geblieben ist. Und ich bezweifle, dass die 18. stark genug ist, eine solche Nummer allein durchzuziehen.«

Carlo ließ die Litanei guter Gründe, weshalb man nicht einmal an eine solche Operation denken sollte, ungerührt über sich ergehen. Schließlich blickte er in die Runde, wobei er darauf achtete, jedem seiner Mitstreiter in die Augen zu sehen.

»Ich habe nie davon gesprochen, einen Großangriff auf die Erde zu starten. Alle Argumente, die ich gerade gehört habe, waren gut. Ein Angriff auf das Solsystem wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt.«

»Damit wäre das geklärt«, meinte Great Bear und wollte sich bereits abwenden, doch ein Wink Carlos hielt ihn zurück.

»Und trotzdem werden wir in das Solsystem eindringen.« Er hob die Hand und brachte damit alle, die bereits wieder aufbegehren wollten, zum Schweigen. »Nicht mit einer Streitmacht, sondern mit einer kleinen, handverlesenen Truppe. Wir werden eine Kommandooperation starten, um die Erde zu infiltrieren und den Kaiser zu befreien. Sobald das geschafft ist, werden wir eine Propagandaoffensive starten, damit alle menschlichen Welten erfahren, dass unser Kaiser wieder in Freiheit und bei seinem Volk ist.«

»Ist ja ein toller Plan«, meinte Great Bear ein wenig abfällig. »Hast du auch eine Ahnung, wie wir das bewerkstelligen sollen? Legionäre sind nicht gerade dafür berühmt, unauffällig zu agieren. Es sind Sturmtruppen, keine Kommandosoldaten. Alle imperialen Einheiten des Geheimdienstes und der Sondertruppen, die dazu fähig gewesen wären, existieren nicht mehr. Wie also hättest du dir so was genau vorgestellt?«

Carlo unterdrückte ein schuldbewusstes Achselzucken. Er wusste genau, dass seine nächste Idee nicht auf viel Gegenliebe stoßen würde. Ganz im Gegenteil, er würde viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um die anwesenden Offiziere von seinem Einfall zu überzeugen. Vielleicht bis auf René. Dessen Miene konnte er schon entnehmen, dass der Colonel so eine Ahnung hatte, worauf sein Befehlshaber hinauswollte.

Carlo räusperte sich. »Dann müssen wir uns nur an Personen wenden, die Erfahrung mit dieser Art Aufgabe haben.«

»Und die wären?«, wollte Lestrade neugierig wissen.

»Das Königreich der Piraten und Schmuggler«, warf Carlo ohne Vorwarnung in die Runde.

Die Offiziere am Tisch wirkten wie vom Donner gerührt.

Carlo lachte. »Ganz recht. Wir schmuggeln unsere Truppen zur Erde.«

Teil I. Aufbruch

1

Nicht, wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt.(Niccolò Machiavelli)Terranisch-Imperiale Liga (Neues Protektorat)Innerer Sektor 12/8-C(befreites Territorium)Koloniewelt Vector Prime28. Juli 2850

Lieutenant Daniel Red Cloud streifte unter Schmerzen sein T-Shirt über und unterdrückte dabei nur mühsam ein gequältes Stöhnen.

Er betrachtete ein letztes Mal das sterile Krankenzimmer, das in den letzten vier Wochen seit der Befreiung des Systems, sein Zuhause gewesen war. Er trat einen Schritt zur Seite, um einen letzten Blick aus dem Bullauge zu werfen.

Die Krankenstation an Bord der Raumstation im Orbit um Vector Prime war derzeit die am besten ausgerüstete des ganzen Systems. Aus diesem Grund waren die schwersten Fälle hierher verbracht worden. Zu diesen zählte ohne Zweifel auch Daniel.

Seit dem Eintreffen der 18. Legion und Lestrades Flotte war das System kaum wiederzuerkennen. Kleine Frachter pendelten zwischen den Kriegsschiffen und der Oberfläche hin und her, um Versorgungsgüter auf die Schiffe zu transportieren. Im Umkehrschluss transportierten dieselben Frachter Ingenieure und Material von den Schiffen zurück zur Oberfläche, um beim Wiederaufbau der zerstörten Städte zu helfen.

Seit dem Ende der Kämpfe war das ganze System von Euphorie ergriffen. Hoffnung verbreitete sich. Daniel war fast versucht, das Gefühl zuzulassen. Doch etwas in ihm sträubte sich dagegen. Trotzdem konnte man nicht leugnen, dass die Menschen wieder ein Gefühl der Sicherheit verspürten. Das Gefühl griff um sich wie eine Seuche. Nach seinen Erlebnissen in der Einrichtung auf dem Mond fiel es ihm immer schwerer, Enthusiasmus oder gar Hoffnung zu empfinden. Im Gegenteil, er verfiel häufig in düstere Stimmung. Dies machte seinen Ärzten derartige Sorgen, dass sie ihm einen Psychiater auf den Hals hetzten. Daniel schnaubte verächtlich. Wie konnte er einem Hirnklempner vermitteln, welche Gräuel er erlitten hatte, wenn er es nicht einmal selbst zur Gänze verstand?

Er hob die linke Hand und betrachtete die Narben darauf. Sie würden nicht für ewig bleiben, das hatte man ihm versichert. Sobald er die Gelegenheit dazu fand, würden einige Sitzungen mit einem Hautregenerator dafür sorgen, dass nichts zurückblieb. Er ertappte sich bei dem Gedanken, ob er dies überhaupt tun sollte. Die Narben würden eine ständige Erinnerung an das Erlebte sein – und eine Mahnung.

Das Schlimme war, er hatte kaum klare Erinnerungen, was wirklich geschehen war. Die Drizil hatten ihn nach seiner Gefangennahme einer Reihe von Tests unterzogen. Anschließend hatte er ein langes Gespräch mit einem ihrer höheren Offiziere geführt. Auch daran hatte er keine klaren Gedanken mehr. Was verstörend war, denn die Drogen und die Schmerzen waren erst später gekommen – als er sich in diese Maschine setzte.

Bilder durchzuckten sein malträtiertes Hirn.

Eine Stimme, die in seinem Kopf erklang und zu ihm sprach, sobald er in dem Stuhl Platz nahm. Eine Stimme, die er nicht verstand. Eine Stimme, die eine fremde Sprache benutzte. Und trotzdem hatte er das Gefühl, diese Sprache kennen zu müssen. Beinahe instinktiv erfüllte es ihn mit Scham, diese Sprache nicht wiederzuerkennen.

»Na sieh mal einer an, wer da schon wieder auf den Beinen ist.«

Bei dem heiteren Tonfall, drehte sich Daniel um und zwang sich zu einem sorglosen Lächeln. Er wusste nicht, ob es ihm gelang.

Im Türrahmen stand Lieutenant Edgar Cutter. Der Truppführer aus der 18. Legion musterte seinen Freund und Kameraden ausgiebig, bevor er vollends ins Zimmer trat.

»Edgar«, grüßte Daniel immer noch lächelnd.

Edgar musterte Daniel weiterhin und dieser war sich sicher, seinen Gast nicht über seinen Gemütszustand hinwegtäuschen zu können. Daniel war überzeugt, Edgar habe ihn durchschaut, doch dieser lächelte lediglich nachsichtig und neigte leicht den Kopf. Eine Geste, die Daniel vermitteln sollte, dass sich Edgar völlig darüber im Klaren war, wie schlecht es seinem Freund ging, aber nicht die nervtötende Frage stellte: »Wie geht es dir?« Eine Frage, die jeder hasste, der längere Zeit in einem Krankenhaus verbracht hatte. Daniel war überaus dankbar für das Taktgefühl seines Freundes.

»Sie haben dich also entlassen?«, fragte Edgar stattdessen und folgte Daniels Blick aus dem Bullauge.

»Jepp. Noch einen Tag länger hier und ich würde wahnsinnig.« Er verschwieg wohlweislich, dass man jeden entließ, dessen Gesundheitszustand dies zuließ. Man brauchte jeden Mann und jede Frau, die eine Waffe halten konnten. Die Drizil konnten jederzeit zurückkehren und man musste sich vorbereiten, auf den unvermeidlichen Schlag. Angesichts dieser Gefahr schienen auch seine mentalen Probleme eher nebensächlicher Natur zu sein. Daniel schnaubte erneut. Er hätte nie gedacht, dass der Krieg mit den Drizil ihm irgendwann mal etwas nutzen würde.

Er machte sich daran, seine wenigen Habseligkeiten in einen kleinen Seesack zu stopfen, wobei er mehr darauf achtete, dass alles hineinpasste, als dass es ordentlich zusammengefaltet war. Er warf einen schrägen Blick zur Tür.

»Du bist allein?«, fragte er halb amüsiert.

»Ja, ich hab die anderen auf der Oberfläche zurückgelassen. Dachte mir, es wäre besser, dich erst mal alleine zu treffen.« Edgar schmunzelte. »Ich wollte dich nicht überfordern.«

Ein weiteres Mal war Daniel überaus dankbar für Zurückhaltung und Taktgefühl seines Freundes. Trotzdem kam er nicht umhin, eine Frage zu stellen, vor der er sich eigentlich fürchtete.

»Gibt es bereits einen neuen Marschbefehl?«

»Nein, vorerst nicht. Aber eine Menge Gerüchte.«

Edgars Tonfall änderte sich auf subtile Weise. Daniel bemerkte es dennoch. Wo er vorher optimistisch gewirkt hatte, so wirkte er nun eher … verärgert. Daniel war sich nicht sicher, ob dies das richtige Wort war, doch ihm fiel kein adäquateres ein. Er blickte von seiner Tätigkeit auf.

»Gerüchte? Welcher Art?«

»Es soll ein kaiserliches Dekret eingetroffen sein.«

Daniel lachte kurz und bar jeden Humors auf. »Es gibt keinen Kaiser mehr. Wie soll es da also ein kaiserliches Dekret geben?«

»Genau das ist es. Die Gerüchteküche besagt, der Kaiser lebe noch, als Gefangener der Drizil auf der Erde. Und in dem Dekret fordert er alle verbliebenen imperialen regulären und irregulären Streitkräfte auf, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben.«

Daniels Hand stockte mitten in der Bewegung. Seine Finger öffneten sich und er ließ die Uniformjacke einfach in den Sack fallen. Er wandte sich nun ganz zu dem anderen Truppführer um.

»Im Ernst? Und wie sicher ist das?«

»Ich würde sagen, mehr als fünfzig Prozent. Von den hohen Tieren kommt keinerlei Stellungnahme. Sie haben die Meldung bisher nicht bestätigt.«

»Aber auch nicht dementiert«, schlussfolgerte Daniel.

»Exakt.«

»Das ist übel. Wäre das Gerücht falsch, würden Great Bear und Rix bereits dagegen angehen. Dass von denen so gar nichts kommt, besagt nichts Gutes.« Daniel überlegte, sah dann aber zu Edgar auf. »Was glaubst du? Wird man darauf eingehen?«

Edgar schenkte seinem Freund ein schiefes Lächeln. »Ist das dein Ernst? Du kennst doch Rix. Der weiß nicht mal, wie Kapitulation geschrieben wird.« Edgar schüttelte den Kopf. »Nein, ganz sicher nicht. Natürlich unter der Voraussetzung, dass die Gerüchte der Wahrheit entsprechen.«

Daniel schnalzte mit der Zunge, während er die Schnüre an seinem Seesack zuzog. »Ich weiß nicht so recht. Das klingt nach der Art unglaubwürdigem Gerücht, das sich niemand ausdenken kann und deswegen wahr sein muss.«

Edgar lachte. »Aus der Perspektive hab ich mir das noch gar nicht überlegt. Aber könnte stimmen.« Der Truppführer von Schneller Tod musterte seinen Freund ausgiebig und nachdenklich. Seine Stirn legte sich dabei in Sorgenfalten. »Und wie siehst du die Sache? Aufgeben oder weiterkämpfen?«

Daniel zögerte. »Ein Ende des Krieges ist verführerisch. Sehr verführerisch. Aber … nein, ich denke, ich wäre dafür weiterzukämpfen. Auch deshalb, weil uns Frontschweine eh niemand fragt und wir darum die Ersten sind, die wieder ranmüssen.«

Daniel bemerkte, dass trotz seines bewusst humorvoll gehaltenen Tonfalls die Miene seines Freundes ernst blieb. Der Mann kannte ihn inzwischen einfach zu gut und war nicht leicht zu täuschen. Edgar hatte gelernt, hinter die Fassade sarkastischen Spotts zu blicken, die Daniel gern zur Schau stellte. So manches Mal ertappte er sich selbst bei der Frage, wie viel davon im Grunde lediglich Maske war und wie viel durch seine Erlebnisse inzwischen zu seinem Charakter gehörte. Wie viel des ursprünglichen Daniel Red Clouds steckte noch in ihm?

»Daniel«, begann Edgar leise. »Falls du mal reden willst …« Er ließ den Satz vielsagend ausklingen.

»Reden ist eigentlich genau das, was ich nicht will. In den letzten Wochen hab ich nichts anderes gemacht.«

»Trotzdem. Das Angebot steht.«

Daniel zwang sich zu einem – wie er hoffte – aufmunternden Lächeln. »Danke, Kumpel. Das weiß ich zu schätzen. Vielleicht komme ich darauf zurück.«

Bilder zuckten erneut durch seinen Geist. Bilder dieses Stuhls, auf dem er gesessen hatte. Bilder ferner Sterne, alle miteinander verbunden durch ein Netz hoch entwickelter Kommunikation. Und immer wieder zwei Worte. Er wusste nicht mehr, was sie bedeuteten, doch dass sie wichtig waren.

Nicht einschalten!

Immer wieder diese zwei Worte. Edgar hatte ihm nach seiner Rettung erzählt, diese zwei Worte hätte er immer wieder gesagt. Er erinnerte sich nicht daran, sie ausgesprochen zu haben. Und auch nicht, was sie bedeuteten. Aber sie waren wichtig. Enorm wichtig. Die Anlage, in der man ihn gefunden hatte, war seit jenem Tag versiegelt. Man durfte nur auf persönliche Anweisung von Carlo Rix, Alexander Great Bear oder Horatio Lestrade hinein. Ein Umstand, der sowohl zu Daniels Verwirrung wie auch Frustration beitrug.

Diese Anlage und dieser Stuhl hatten etwas mit ihm gemacht, mit Körper und Seele. Er konnte es fühlen. Die körperlichen Wunden waren dabei, zu heilen, doch die seelischen … was war mit den seelischen? Er fühlte sich nicht mehr wie Daniel Red Cloud. Er fühlte sich, als würde er lediglich ein Kostüm tragen. Ein lebendiges Kostüm, das nur darauf wartete, abgestreift zu werden.

»Sie haben übrigens zwei neue Rekruten ausgewählt.«

Daniel schreckte bei Edgars Themenwechsel überrascht auf. »Was?«

»Zwei neue Rekruten. Für deinen Feuertrupp. Man arbeitet daran, alle Feuertrupps wieder auf Sollstärke zu bringen. Du weißt schon, Rekrutierungen unter der Bevölkerung und so weiter. Realistisch betrachtet, wird es noch eine Weile dauern, bis alle Feuertrupps ihre Verluste ausgeglichen haben, aber wenigstens tun sie was.«

»Schön«, antwortete Daniel kurz angebunden.

»Du wirst sie gleich kennenlernen.«

»Gut«, sagte Daniel immer noch leicht geistesabwesend.

»Bei deiner Willkommen-zurück-Party.«

»Hä?« Daniel sah auf. Sein vorwurfsvoller Blick durchbohrte Edgar regelrecht.

Dieser hob abwehrend die Hände. »Hey, ich habe wirklich alles versucht, um deinen Leuten das auszureden.«

»Meinen Leuten? Das war Simons und Jonas’ Idee?«

»Oh ja, und sie waren nicht davon abzubringen.«

»Großartig.« Daniel seufzte wenig begeistert.

»Nimm es nicht so tragisch.« Edgar klopfte ihm freundlich auf die Schulter. »Die Party dient genauso ihrer Moral wie deiner. Trag es mit Fassung und lass es über dich ergehen.«

»Na, wenn du meinst.«

Edgar sah auf das Chronometer an der Wand. »Wir müssen uns beeilen. Das Shuttle zur Oberfläche startet in fünf Minuten.«

Daniel nahm seinen Seesack auf die Schulter und folgte Edgar, der die Tür für ihn öffnete.

»Und vergiss nicht«, wies er seinen Freund mit süffisantem Grinsen an. »Tu wenigstens so, als wärst du überrascht.«

Captain Javier Estrada saß am Bett von Colonel Justin Janneck und betrachtete diesen nachdenklich. Javier war eigentlich schon seit zwei Wochen entlassen und wieder diensttauglich, doch er besaß kein Schiff. Wozu war ein Captain ohne Schiff schon nutze? Man versprach ihm, er würde wieder eines bekommen, schon sehr bald. Immerhin hatten fast alle Schiffe Verluste erlitten, viele auch unter den Offizieren. Es war wohl geplant, dass er eines davon übernehmen sollte. Im Moment galt er aber offiziell als vom Dienst befreit. Es machte ihm nicht viel aus, hatte er doch auf diese Weise mehr Zeit, sich um seinen neu gewonnenen Freund zu kümmern.

Justin und er hatten sich in der Zeit ihres gemeinsamen Aufenthalts im Krankenrevier der Raumstation angefreundet und einige Gemeinsamkeiten entdeckt. Eine davon war ihr kollektiver brennender Hass auf die Drizil.

In Justins Fall lag der Hass im Verlust so vieler seiner Männer sowie der eigenen Gesundheit begründet. Die linke Gesichtshälfte war verbrannt und unter einem dicken Verband verborgen. Das linke Auge würde nie wieder sehen können. Die Pupille war nun von wilchig weißer Farbe. Der Armeeoffizier trug deshalb die meiste Zeit eine Augenklappe, teils aus Scham vor der Verletzung und teils, weil er bemerkt hatte, dass der Anblick vielen Unbehagen bereitete. Mit etwas Glück würde man ihm ein Implantat anpassen können, aber diese Möglichkeit stand noch in den Sternen.

Javier schüttelte mitfühlend den Kopf. Der Mann träumte immer noch von dem Augenblick, als der feindliche Jäger in seine Stellung eingeschlagen war und ein Flammenmeer seine Leute und ihn selbst erfasst hatte. Mehr als einmal war er nachts schweißgebadet aufgewacht.

Javier hatte jedes Mal so getan, als würde er davon nichts mitkriegen, wusste er doch, dass es dem Armeecolonel unangenehm gewesen wäre.

Javiers Hass hingegen begründete sich aus dem Verlust eines einzigen Menschen: Estelle Doriega, die seine ausführende Offizierin gewesen war – und beinahe auch mehr als das. Er fühlte immer noch ihren Kopf an seiner Schulter liegen, nicht ahnend, dass sie bereits gestorben war.

Javier schluckte schwer. Er hoffte, er würde bald wieder ein Kommando bekommen. Es war ihm völlig gleichgültig, welche Art Schiff es sein würde. Selbst ein Torpedoboot wäre ihm recht. Hauptsache, wieder im All sein und die Möglichkeit bekommen, auf die Drizil zu schießen. Mit etwas Glück würde es aber etwas viel Größeres als ein Torpedoboot sein.

Justin stöhnte ihm Schlaf leise und riss Javier damit aus dessen Gedanken. Der Armeecolonel schlug plötzlich die Augen auf.

»Javier?«

Der Captain sprang auf und eilte an die Seite seines Freundes. »Ich bin hier, Justin.«

»Wasser?«

Javier nahm augenblicklich eine kleine Plastikflasche vom Tisch und führte sanft den Strohhalm an Justins Mund. Dieser begann, begierig daran zu saugen. Schließlich nickte er dankbar und Javier nahm die Flasche beiseite.

Der Captain der imperialen Marine zog den Stuhl erneut heran und setzte sich. Justins Genesung würde noch lange dauern, die körperliche jedenfalls. Er bezweifelte, dass Justins Seele überhaupt je heilen würde. Javier sah seine eigene Seele auch nicht als geheilt an. Dass er dabei war, einen beinahe pathologischen Hass auf die Drizil zu entwickeln, war ihm durchaus klar – und es war ihm völlig gleichgültig.

Justin versuchte sich an einem Lächeln. »Hast du eigentlich nichts Besseres zu tun, als einem schwerkranken Mann beim Leiden zuzusehen?«

Javier erwiderte das Lächeln, obwohl ihm ganz und gar nicht danach zumute war. »Im Moment – nicht wirklich. Hast du denn etwas gegen ein bisschen Gesellschaft?«

»Ganz im Gegenteil. Ich dachte nur, es gäbe für dich vielleicht Wichtigeres zu tun.«

»Ich bin ein Schiffskommandant ohne Schiff, da gibt es nicht viel zu tun. Die meisten Überlebenden aus meiner Besatzung sind ebenfalls noch im Krankenstand oder auf Landurlaub, bis klar ist, was aus uns wird.«

»Das tut mir leid für dich.«

Javier senkte beschämt den Blick. Mitleid von jemandem in Justins Zustand zu bekommen, war überaus schmerzhaft. Er überspielte seinen Gemütszustand, indem er hüstelte und das Thema in eine etwas positivere Richtung lenkte.

»Du weißt aber die besten Neuigkeiten noch nicht.«

»Na dann schieß mal los.«

»Lestrade hat damit begonnen, die Trümmerfelder, die nach den Schlachten um das System übrig geblieben sind, nach Verwertbarem zu durchforsten.« Javier grinste breit.

»Klingt sinnvoll, aber was macht dich daran so glücklich?«

»Es ist noch nicht offiziell, aber der Commodore will prüfen, ob sich einige der Drizilschiffe wieder instand setzen lassen. Auf diese Weise will er möglichst schnell unsere Verluste zumindest ein wenig ausgleichen. Das ist im Moment einfacher, als selbst Schiffe zu produzieren. Man hat schon eine Menge Wracks identifiziert, die noch ganz gut aussehen. Es ist im Gespräch, dass ich vielleicht einen der Intruder übernehmen soll.«

Justin zeigte ein offenbar gekünsteltes Lächeln. Javier war trotzdem dankbar für die freundliche Geste. »Hey, das ist ja toll. Freut mich für dich.«

»Danke, Justin. Das weiß ich wirklich zu schätzen. Ein terranisches Schiff wäre mir zwar lieber, aber ich nehme, was immer man mir gibt. Wer weiß, vielleicht bekomme ich auch einen der Ares-Kreuzer, die keinen Captain mehr haben. Davon gibt es im Moment auch einige.« Javier zögerte. »Weißt du schon, wann du hier rauskommst?«

»Das dauert noch. Das dauert noch eine ganze Weile. Hast du etwas von meinen Leuten gehört?«

»Die Armeeeinheiten haben sich neu formiert, um die Verluste in einigen Einheiten auszugleichen. Es fehlt aber an erfahrenen Offizieren. Ich hörte, sie hoffen auf deine baldige Rückkehr.«

Der Gedanke löste ein erneutes Lächeln Justins aus, diesmal ein ehrliches.

»Man hat auch damit begonnen, Rekrutierungsbüros auf Vector Prime und Perseus zu errichten – und sogar ein Ausbildungszentrum auf Worgan. Die Armee nimmt langsam wieder Gestalt an und das Neue Imperiale Protektorat beginnt damit, die Zähne zu zeigen.«

»Warten wir mal ab, als wie lebensfähig es sich erweisen wird.«

Javier schwieg. Die Bemerkung des Colonels erinnerte ihn an seine eigenen Bedenken, was das Protektorat anging. Wie konnten sie mit ein paar Systemen und ein paar Dutzend Schiffen hoffen, sich gegen eine Macht zu stellen, die die Imperiale Liga niedergerungen hatte? Ein paar wenige Erfolge gaben noch keinen Anlass zu bedenkenlosem Optimismus.

»Ich werde bald wieder gehen müssen«, erklärte Javier unvermittelt. »Ich will mir die Bergung der Schiffe im Trümmerfeld genauer ansehen.« Es erfolgte keine Antwort. Als er aufsah, bemerkte er, dass Justin bereits wieder eingeschlafen war.

Javier erhob sich geschmeidig und drückte Justins Hand. »Aber ich werde dich nicht vergessen«, flüsterte er. »Ich komme dich bald wieder besuchen. Versprochen.«

Er drückte Justins Hand noch ein letztes Mal, drehte sich um und verließ den Raum, ohne einen Laut zu verursachen.

2

Carlo schmunzelte, als hinter ihm die Tür aufging und er den leichten Gang seines Stellvertreters erkannte. Auf dieses Gespräch hatte er schon seit geraumer Zeit gewartet. Genauer gesagt überraschte es ihn, dass es erst jetzt stattfand.

Er tat so, als würde er René nicht bemerken, und studierte stattdessen weiter die Sternkarte, über die er sich tief beugte. Sein Finger fuhr die schmale Linie nach, die alle befreiten Systeme einschloss: Vector Prime, Barinbau, den gesamten Perseus-Sektor. Im allgemeinen Sprachgebrauch hatte sich sogar schon ein Name dafür durchgesetzt.

Das Neue Imperiale Protektorat.

Dieser traf nicht ganz Carlos Geschmack, aber er ließ es durchgehen. Die Menschen benötigten etwas, um sich daran festzuhalten, eine Art neuer Identität. Falls es dieser Name sein sollte, dann sei es drum.

Sein Finger fuhr weiter nach unten, bis über den Rand des Perseus-Sektors hinaus. Dort tummelten sich eine Reihe unbekannter Welten. Nur wenige Namen aus diesem Raum waren bekannt. Zwei der wichtigeren waren Cosa Tauri und Equuro. Beides waren relativ dicht besiedelte Welten, die sich jedoch hartnäckig imperialer Kontrolle entzogen. Sie waren vor etwa dreihundert Jahren gegründet worden, und obwohl es mehrere gescheiterte Versuche gab, diese Systeme ins Imperium einzugliedern, hatte man sie letztendlich mehr oder weniger sich selbst überlassen.

In der Gesamtheit nannte man diesen Bereich des Weltraums den Tiefen Abgrund, zum einen, weil diese Region ein Sammelbecken für Piraten, Kriegsherren und Schmuggler war, zum anderen, weil sich jede imperiale militärische Intervention in dieser Region letztendlich als fatal erwiesen hatte. Inzwischen waren Imperium und der Tiefe Abgrund zu einer Art Konsens gekommen. Das Imperium ließ die Bewohner des Abgrunds in Ruhe und andersherum sah man es genauso. Hin und wieder gab es zwar Übergriffe und Scharmützel, an denen mal die eine, mal die andere Seite schuld war, doch größere Auseinandersetzungen blieben aus. Die Bewohner des Abgrunds waren ein eigenbrötlerischer Haufen, der seine Freiheit über alles schätzte. Und sie waren überraschend wehrhaft, wenn es darum ging, diese zu verteidigen.

»Warum nimmst du keine holografische Karte, sondern dieses alte Ding aus Papier?«, fragte René jovial.

»Nenn es einen Anflug von Nostalgie. Damit hat Lestrade mich angesteckt. Dieses alte Ding, wie du es bezeichnest, hilft mir, mich zu konzentrieren.«

René trat einen Schritt näher und warf über Carlos Schulter hinweg einen Blick auf die Karte. Er stieß einen belustigten Blick aus.

»Du willst das also wirklich durchziehen?«

»Gab es daran je einen Zweifel?«, meinte Carlo, ohne seine Augen von der Karte zu nehmen.

»Na ja …«

Renés Tonfall veranlasste Carlo nun doch, sich umzudrehen. Fragend zog er beide Augenbrauen hoch. »Na ja was?«

Sein Stellvertreter seufzte. »Nichts liegt mir ferner, als meinen kommandierenden Offizier verrückt zu nennen, aber … bei allem Respekt … du weißt schon, dass du verrückt bist, oder?!«

Carlo lachte kurz bellend auf. »Du solltest mir nach all den Jahren schon etwas mehr zutrauen.«

»Die Leute im Abgrund sind irre. Es sind Mörder, Diebe und Schlimmeres. Was erhoffst du dir denn von denen?«

»Vernunft. Es sind schließlich auch Menschen. Wenn die Drizil gewinnen, verlieren sie auch. Oder denkst du allen Ernstes, die Drizil werden mit der Eroberung des Imperiums zufrieden sein? Nein, die werden erst aufhören, wenn sie alle Menschen ausgerottet oder unterjocht haben. Du weißt, was Taran uns über die Nefraltiri gesagt hat. Erst wenn sie die Kontrolle über alle Menschen haben, werden sich die Drizil sicher fühlen. Sie fürchten nichts so sehr wie die Rückkehr der Nefraltiri.«

»Was Irrsinn ist. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was uns dein Drizilfreund erzählt hat, dann sind sie schon vor Jahrtausenden aus unserer Galaxie verschwunden.«

»Das magst du so sehen und das mag ich so sehen, aber im Moment kommt es nur darauf an, wie die Drizil das tun.«

René überlegte. »Schon möglich, aber du stehst im Augenblick von einer Sisyphusaufgabe. Der Abgrund ist riesig. Du weißt nicht einmal, wo du anfangen und wen du um Hilfe bitten solltest. Der Abgrund ist zersplittert in Dutzende Fraktionen und kleiner Banditenkönigreiche. Keiner von denen verfügt über die Mittel, uns zu helfen. Und außerdem verstehe ich immer noch nicht so ganz, was du dir von denen für Hilfe erhoffst. Die meisten gehen nicht gerade ehrlicher Arbeit nach.«

Carlo lächelte wissend. »Genau darauf baue ich. Die Leute aus dem Abgrund sind größtenteils äußerst gewiefte Schmuggler. Ihre Schmuggelware erreichte vor der Drizilinvasion sogar gelegentlich die Erde. Es war nicht schön, für das Militär ziemlich peinlich, ließ sich aber nicht verhindern, noch nicht einmal eindämmen. Von diesen Wegen weiß niemand etwas, also können die Drizil, die das Solsystem besetzt halten, sie nicht verschließen oder kontrollieren.«

»Und du hoffst, auf diesem Weg eine kleine Einsatztruppe auf die Erde zu kriegen?«

Der General nickte. »Allerdings.«

»Was immer noch nicht die Frage beantwortet, an wen du dich wenden willst.«

Carlo drehte sich halb zu seiner Karte um und deutete auf das Equuro-System. »Erinnerst du dich noch an unsere Equuro-Kampagne?«

René schauderte, was Carlo ein weiteres Lächeln entlockte. Seinem Stellvertreter war die Aktion offensichtlich noch im Gedächtnis. Kurz vor der Driziloffensive, die die Erde überrannt hatte, war der 18. Legion befohlen worden, das Piratentum im Randgebiet zwischen der imperialen Grenze und dem Tiefen Abgrund einzudämmen beziehungsweise zumindest einmal Flagge zu zeigen.

Dabei war die Kampagne gar nicht so sehr von verlustreichen Schlachten und Entbehrungen gezeichnet gewesen. Eigentlich ganz im Gegenteil, sie war langweilig und schlichtweg frustrierend gewesen. Die Legion hatte sechs Monate lang nur Schatten und Gerüchte gejagt, ohne auch nur einmal den Ansatz eines Piratenstützpunktes gefunden zu haben. Die Legion war schließlich unverrichteter Dinge nach Perseus zurückgekehrt. Einen Erfolg hatten sie jedoch verbuchen können: Sie waren über ein paar fahrende Händler an Informationen gelangt.

Gerüchten zufolge hatte der Abgrund jetzt einen Anführer. Oder besser gesagt: Ein einzelner Kriegsherr hatte es geschafft, einen Teil der zerstrittenen Fraktionen des Abgrunds unter einer Flagge zu vereinen und somit eine beachtliche Machtbasis jenseits des Imperiums zu schaffen, sozusagen ein Königreich der Piraten.

René beobachtete Carlos Gesichtsausdruck genau, während dieser die Karte studierte. Schließlich verdüsterte sich sein Gesicht zu einer Maske des Verdrusses.

»Ist das dein Ernst?«, fragte sein Stellvertreter.

»Was?«

»Du willst diesen ominösen Anführer finden, von dem wir gerüchteweise etwas gehört haben?«

Carlo behielt sich eine undurchschaubare Miene bei, während er insgeheim ein wenig überrascht war. Sein Freund und Kampfgefährte hatte seine Gedanken erraten. Manchmal vergaß er tatsächlich, wie gut René ihn wirklich kannte.

»Genau das habe ich vor.«

»Wir wissen aber nicht einmal, ob es ihn wirklich gibt.«

»Ist ein guter Moment, um es herauszufinden.«

René seufzte. »Und wie viele Leute willst du mitnehmen?«

»Nicht viele. Es dürfte nicht hilfreich sein, dort mit einer Flotte und einer ganzen Legion aufzutreten. Ein wenig Bescheidenheit müssten wir schon an den Tag legen. Lediglich ein paar Feuertrupps und die Vengeance, begleitet von einem halben Dutzend Schiffe.«

»Klingt aber sehr unsicher.«

»Wenn dich das schon beunruhigt, dann wirst du meinen nächsten Vorschlag lieben. Wir werden die Schiffe irgendwo versteckt zurücklassen und inkognito auf einem Planeten des Abgrunds landen.«

René machte ein Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. »Du hast recht. Das gefällt mir kein bisschen.«

»Mir auch nicht, aber es ist notwendig. Wir erreichen gar nichts, wenn man uns als imperiale Offiziere erkennt. Inkognito erreichen wir mehr.«

»Hoffentlich«, fügte René hinzu.

Carlo zuckte mit den Achseln. »Es ist der einzig gangbare Weg, der mir einfällt.«

René überlegte, gab sich dann jedoch geschlagen, indem er seine Schultern hängen ließ. »Und wo fangen wir mit der Suche an? Wie schon erwähnt, der Abgrund ist riesig.«

»Wir fangen dort an, wo wir das erste Mal Gerüchte über diesen Piratenkönig gehört haben.« Sein Finger deutete auf einen kleinen Planeten, knapp außerhalb des imperialen Raums. »Auf Equuro.«

3

Edgar trat beiseite und überließ Daniel den Vortritt. Dieser schritt unter dem Türrahmen hindurch und machte ein überraschtes Gesicht, obwohl er am liebsten wieder umgedreht wäre.

Ein breites Transparent hieß ihn Herzlich Willkommen, während sich darunter allerhand Leckereien auf einem Tisch stapelten, der sich unter dem Gewicht dieser Köstlichkeiten bedenklich bog. Dutzende von Menschen waren anwesend, wobei Daniel bereits nach oberflächlicher Begutachtung entschied, dass er weniger als ein Drittel von ihnen kannte.

Edgar trat von hinten näher, legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter und flüsterte verschwörerisch: »Wie gesagt, ich konnte es nicht verhindern.«

»Das werde ich dir noch heimzahlen«, wisperte Daniel halb im Scherz zurück. Sein gekünsteltes Lächeln wandelte sich jedoch in ein echtes, als sich zwei bekannte Gesichter aus der Menge schälten und zielstrebig auf ihn zusteuerten.

Simon Running Deer und Jonas Grey Wolf umarmten nacheinander ihren Truppführer herzlich, bevor sie auf Abstand gingen und ihn ausgiebig musterten.

»Gut sieht er aus«, beschied Simon lächelnd.

»Wie neu«, stimmte Jonas zu.

»Es tut gut, euch zu sehen«, erwiderte Daniel und war selbst überrascht, dass es der Wahrheit entsprach. Während seiner Zeit im Krankenrevier hatte er sich oft diese Frage gestellt: Wie würde es wohl sein, zu seiner Einheit zurückzukehren? Nun wusste er es. Es war das Gefühl, nach Hause zurückzukehren.

Simon reichte ihm ein Glas mit Fruchtbowle, das Daniel dankend annahm. Eigentlich war er gar nicht durstig, trank aber trotzdem davon, weil er nicht unhöflich sein wollte.

In diesem Moment bemerkte er zwei Personen – einen Mann und eine Frau –, die unschlüssig zwei Meter entfernt standen und die Unterhaltung der Freunde beobachteten. Der Mann trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während die Frau einfach nur mit großen Augen zusah.

Simon bemerkte Daniels Interesse, drehte sich um und winkte die beiden näher.

»Daniel, das sind Claire Rainbow und Curtis Black Bird. Die zwei neuen Mitglieder unserer Einheit. Damit wäre unser Feuertrupp endlich wieder auf voller Stärke.«

Daniel reichte jedem die Hand. Über den Händedruck eines Menschen ließ sich bereits viel über dessen Persönlichkeit ableiten. Curtis’ Händedruck war weich. Daniel war sogar versucht, ihn labbrig zu nennen. Der Mann – oder besser gesagt Junge – war vielleicht gerade mal achtzehn, hatte strubbeliges, braunes Haar und einen unsteten Blick.

Daniel entschloss sich jedoch zum jetzigen Zeitpunkt, noch nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Sie waren alle mal jung gewesen. Es war besser, erst einmal abzuwarten, wie sich Curtis im Ernstfall schlug.

Claires Händedruck war jedoch überraschend stark und er ertappte sie dabei, wie sie ihn aufmerksam musterte. Sie versuchte, sich ebenso ein Bild über ihn zu machen wie er über sie. Das gefiel ihm. Sie senkte leicht verlegen den Blick, als sie sein Interesse bemerkte. Sie strich sich eine Strähne ihrer blonden Löwenmähne hinter ihr Ohr, was eher einem Ausdruck ihrer Verlegenheit entsprang als wirklicher Notwendigkeit.

»Willkommen bei Feuertrupp Dolchstoß.«

»Es ist uns eine Ehre, Sir«, begann Curtis. »Eine große Ehre.«

Daniel hob abwehrend die Hand. »Wir nennen uns alle beim Vornamen. Im Gefecht ist für das ganze Ja, Sir und Nein, Sir innerhalb eines Feuertrupps kein Platz – und im Ernstfall unter Umständen auch keine Zeit. Also einfach Daniel.«

»Danke, S… Daniel.«

»Wo kommt ihr beide denn her?«

»Cibola«, antwortete Curtis sofort.

»Ich komme von einer kleinen Farm auf dem nördlichen Hochland«, schloss sich Claire an.

»Und was hat euch zur Legion verschlagen?«

Curtis drückte den Rücken durch, als hätte er gerade einen Stock verschluckt. »Ich wollte meiner Heimat dienen.«

Daniel seufzte. »Bitte keine abgedroschenen Plattitüden. Auch dafür ist innerhalb eines Feuertrupps kein Platz.« An jedem anderen Tag hätte Daniel vielleicht nicht derart gereizt reagiert. Noch während er die Worte aussprach, wurde ihm klar, dass er womöglich überzogen reagierte. Der Junge war noch jung und unbeholfen und wusste sich einfach nicht besser auszudrücken. Doch heute, nach all den Erlebnissen der letzten Wochen, war sein Geduldsfaden äußerst dünn. Sich zu entschuldigen oder gar zurückzurudern, kam jedoch gar nicht infrage. Als Truppführer musste er Stärke zeigen und manchmal war es besser, als Mistkerl zu gelten denn als schwach.

»Und du?«, fragte er Claire stattdessen.

»Wie gesagt, komme ich von einer kleinen Farm. Als der Aufruf erfolgte, dass die Legion Nachschub an Soldaten braucht, habe ich mich sofort gemeldet. Es erschien mir erstrebenswerter, als meine Tage mit Kühemelken zu verbringen.«

Daniel lächelte. »Nun, das ist zumindest erfrischend ehrlich.« Er deutete auf das Buffet. »Und nun, genießt die Party.«

Die beiden neuen Legionäre verabschiedeten sich mit einem Nicken und zogen sich Richtung Buffet zurück. Daniel bemerkte allerdings, dass sie sich nicht bedienten, sondern die Köpfe zusammensteckten, um sich leise zu unterhalten.

»Du warst sehr hart zu dem Jungen.« Simon warf ihm einen leicht missbilligenden Blick zu.

»Kann schon sein, aber wenn mir etwas auf die Nerven fällt, dann stumpfsinniges Nachplappern von Propaganda.«

»Vor nicht allzu langer Zeit waren wir auch so stumpfsinnig«, mischte sich Edgar mit süffisantem Grinsen ein.

Daniel warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Wir waren niemals so jung und unerfahren.«

»Vielleicht bist du auch zu alt, um dich daran zu erinnern.«

Daniel prustete unterdrückt. »An diese Möglichkeit möchte ich gar nicht denken.« Er trank noch etwas von der Bowle in seiner Hand. Für seinen Geschmack war sie etwas zu süß.

Claire und Curtis warfen immer wieder verstohlene Blicke herüber.

»Möchte wissen, worüber die gerade reden«, meinte Jonas.

»Worüber wohl?«, erwiderte Simon amüsiert. »Über uns.« Er deutete auf Daniel. »Beziehungsweise über unseren glorreichen Anführer.«

»Gib dem Jungen eine Chance«, beschied Edgar. »Ich befürchte, er leidet etwas an Heldenverehrung.«

Daniel zog beide Augenbrauen tief über der Nasenwurzel zusammen. »Heldenverehrung? Du meinst doch nicht etwa mich damit?«

»Hat es dir niemand gesagt?«

Daniel schüttelte verständnislos den Kopf. Gleichzeitig registrierte er, wie sich Edgar, Jonas und Simon gegenseitig seltsame Blicke zuwarfen.

»Was?«, fragte er schließlich.

»Du bist inzwischen so was wie ein Idol. Der Legionär, der von den Drizil gefangen genommen wurde und entkommen konnte.«

»Ich bin nicht entkommen, ich wurde befreit. Wichtiger Unterschied.«

»Nicht für alle anderen. Man hat dich … nun ja … vielleicht ein wenig zum Helden hochstilisiert.«

Daniel stöhnte. »Ist nicht dein Ernst.«

»Oh doch. Man hat deine Befreiung zu Propagandazwecken möglicherweise ein wenig aufgebauscht. Die Zahl der Freiwilligenmeldungen haben sich seitdem fast verdoppelt.«

Daniel stellte sein Glas Bowle auf einen Beistelltisch, weil er das Gefühl hatte, sich demnächst übergeben zu müssen. Genau das hatte er am wenigsten gewollt: im Mittelpunkt stehen. Er war zufrieden damit, seinen Feuertrupp anzuführen und in der Legion zu dienen. Mehr wollte er nicht. Mehr hatte er nie gewollt. Wer war nur auf diese schwachsinnige Idee gekommen?

»Das war Great Bears Einfall«, erklärte Edgar, als hätte er Daniels Gedanken gelesen.

»Hätte ich mir denken können.«

»Nimm es nicht so tragisch. In den heutigen Zeiten braucht man Helden. Sie halten die Moral hoch und beflügeln den Geist.«

Daniel schmunzelte und warf dem anderen Truppführer einen ungläubigen Blick zu. »Wo hast du denn diesen Sermon schon wieder her?«

»Steht in der neuen Rekrutierungsbroschüre.« Edgar zog ein Faltblatt aus der Hosentasche und reichte es an Daniel weiter.

Dieser würgte. Auf der ersten Seite war ein Bild von ihm in voller Kampfmontur.

»Das wird ja besser und besser.«

»Genieß es einfach. Es hat auch seine Vorteile, ein Held zu sein.«

»Nenn mir einen.«

Edgar nickte in Richtung der beiden neuen Legionäre. »Hast du Claires Blicke nicht bemerkt. Ich wette, sie leidet auch an einem Anfall von Heldenverehrung.«

»Und?«

Edgar zog vielsagend die Augenbrauen hoch.

»Oh, nein, vergiss das ganz schnell wieder«, meinte Daniel abweisend.

»Warum? Es gibt weder geschriebene noch ungeschriebene Gesetze gegen eine Liaison innerhalb eines Feuertrupps.«

»Das nicht, aber es bringt nur Probleme.«

»Die meisten Vorgesetzten sehen das nicht so streng wie du.«

»Damit meinst du wohl dich?« Daniel sah sich nun doch zu einem Schmunzeln genötigt.

»Unter anderem. Genieß deinen Heldenstatus doch einfach. Und warum solltest du dir jeden Vorteil versagen, der sich dir dadurch bietet? Du hast es dir weiß Gott verdient.«

»Weil ich nichts getan habe, was mich zum Helden machen würde. Ich habe es lediglich geschafft, mich von den Fledermausköpfen gefangen nehmen zu lassen, und anschließend habe ich diese verdammte Anlage überlebt. Das ist alles. Selbst meine Befreiung war purer Zufall. Bis zu diesem Zeitpunkt dachten doch alle, ich sei tot.«

»Unwichtige Details.« Edgar grinste über das ganze Gesicht.

Daniel schüttelte bekümmert das Gesicht. »Nicht für mich. Die Menschen, die für die Freiheit von Vector Prime gefallen sind, das sind die wahren Helden.«

Edgar wurde schlagartig ernst. »Das stimmt. Aber man kann sie nicht alle in gleichem Maße ehren. Sieh es einfach mal so, man ehrt dich an ihrer statt.«

»Ich finde das nicht richtig.«

»Lass es einfach mal ein wenig sacken. Du gewöhnst dich sicherlich noch daran.«

»Ich bezweifle es.«

Mehrere Legionäre drängten heran, um Daniel zu begrüßen. Edgar steuerte ihn mit einem Stups in ihre Richtung und er ließ die lange Reihe an Händeschüttlern über sich ergehen. Und in dieser ganzen Zeit fühlte er sich einsamer als in der Gefangenschaft der Drizil.

»Er hasst mich.« Curtis kaute halbherzig an einem Erdbeertörtchen herum, während er immer wieder in Richtung Daniel Red Clouds schielte. Dieser wurde von einer Traube an Offizieren umringt, die alle hören wollten, wie er von seiner Zeit in Gefangenschaft erzählte. Eine Bitte, der dieser nur widerwillig nachkam.

»Red keinen Unsinn«, widersprach Claire. »Er hasst dich nicht.« Sie lachte, ein unerhört melodischer Laut. »Er hat dich gar nicht genug wahrgenommen, um dich überhaupt hassen zu können.«

»Danke«, erwiderte der andere Legionär sarkastisch. »Das ist echt hilfreich.«

Curtis bemerkte, dass seine Kollegin immer wieder in Daniel Red Clouds Richtung sah. »Pass bloß auf.«

»Was?«, meinte sie geistesabwesend.

»Dass du ihn nicht mit den Augen ausziehst.«

Sie warf ihm einen gespielt vernichtenden Blick zu, hielt dies jedoch nicht durch und brach in schallendes Gelächter aus. »Ich wusste nicht, dass er so gut aussieht«, meinte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.

»Ist nicht gerade professionell, den zukünftigen Boss anzuschmachten.«

»Das musst du gerade sagen. Du würdest doch am liebsten den Boden anbeten, auf dem er wandelt.«

Curtis zuckte mit den Achseln. »Der Mann ist nun mal ein Held. Zumindest möchte ich ihn nicht flachlegen.«

»Ich auch nicht«, erwiderte sie schockiert. Curtis bedachte sie mit einem vielsagenden Blick, der deutlich zeigte, was er von dieser Aussage hielt.

»Ich hab nicht gesagt, dass ich Nein sagen würde, falls es sich ergibt«, gab sie schuldbewusst zu.

»An deiner Stelle würde ich die Finger von ihm lassen.«

»Wieso?« Curtis antwortete nicht und sie zwickte ihm spielerisch in die Seite. »Sag schon, was hast du gehört?«

»Es kursieren ein paar Gerüchte.«

»Welcher Art?«

»Man sagt, die Gefangenschaft bei den Drizil hätte den Mann fertiggemacht. Dass er nur noch ein Wrack gewesen wäre, als man ihn befreite.«

»Das wäre doch jedem so gegangen und es ist immerhin gerade mal einen Monat her. So was braucht Zeit.«

»Mag sein, trotzdem solltest du dich nicht mit jemandem einlassen, der als labil eingestuft wird.«

»Wo hast du denn das schon wieder her?«

»Der Cousin eines Freundes ist Pfleger im Krankenrevier der Station und hat seine Krankenakte in die Finger bekommen.«

»Na toll, der Freund eines Freundes hat etwas gehört. Ist ja wirklich unheimlich glaubwürdig.«

»Mach meinetwegen, was du willst. Ich wollte dich nur warnen.«

»Und deine Fürsorge liegt nicht zufällig daran, dass du selbst an mir interessiert bist?« Sie lächelte ihn schelmisch an.

»Was? … Ich meine … Nein …«, stammelte Curtis plötzlich verlegen und lief dunkelrot an.

»Ist schon gut«, beruhigte sie ihn. »Es macht mir nichts aus.« Sie warf Daniel Red Cloud erneut einen nachdenklichen Blick zu. »Aber es würde mich wirklich brennend interessieren, was an all diesen Gerüchten dran ist.«

4

»Wir sollten nicht bis zu einer Einigung mit den Schmugglern warten, bevor wir anfangen weitere Pläne zu schmieden.«

Carlo umrundete den Tisch mit weit ausgreifenden Schritten, sich zu jedem Zeitpunkt der abwartenden Blicke seiner Gesprächspartner bewusst.

Außer ihm selbst und Great Bear waren noch René und Lestrade anwesend. Der planetare Gouverneur von Vector Prime hätte ebenfalls das Recht besessen, an dieser hochkarätigen Besprechung teilzunehmen. Leider gab es derzeit keinen. Das war ein weiterer Punkt auf ihrer Liste. Sie mussten demnächst einen ernennen. Die zivile Führung der Kolonie musste wieder etabliert werden. Carlo verfolgte nicht die Absicht, die Drizil zu vertreiben, nur um anschließend eine Militärdiktatur einzusetzen. Great Bear hingegen schien mit dem derzeitigen Arrangement sehr zufrieden zu sein – ebenfalls etwas, das Carlo mit großer Sorge erfüllte. Das Militär war nicht dazu da, Politik zu machen, sondern diese auszuführen. Wenn sich Offiziere zu sehr an die Annehmlichkeiten einer Welt ohne bürokratischen Apparat gewöhnten, dann war das nicht gut und etwas, dem man entgegensteuern musste.