Das Geheimnis der roten Akten - Lee Winter - E-Book

Das Geheimnis der roten Akten E-Book

Lee Winter

0,0

Beschreibung

Wie groß muss eine Story sein, damit sich eine junge Journalistin und ihre als Eiskönigin verschriene Kollegin zusammenraufen und in das Abenteuer ihres Lebens stürzen? Lauren King ist jung und ehrgeizig. Liebend gerne würde sie ihren Job als Klatschreporterin beim Daily Sentinel aufgeben und in die Politikredaktion wechseln, aber ihr Chef lässt sie über Hollywoods Promis und die Partys in L.A. berichten. Schlimmer noch: Ihre direkte Kollegin ist die eiskalte und einschüchternde Catherine Ayers, eine ehemals sehr erfolgreiche Politikkorrespondentin in Washington, die nach einem Skandal strafversetzt wurde und Lauren drangsaliert, wo sie nur kann. Bei einer Business-Party stößt Lauren auf eine richtig gute Story: Was haben 34 Prostituierte aus Nevada und eine verschwundene Palette mit rosa Champagner bei der Vorstellung einer neuen Geschäftsidee neben all den Politikern und Promis in L.A. zu suchen? Es ist ausgerechnet Ayers, die Laurens Instinkt teilt, dass hier etwas nicht stimmt. Die beiden Frauen raufen sich zusammen und machen sich auf die abenteuerliche Suche nach der Wahrheit. Und ganz nebenbei entdecken sie, dass sie mehr als nur die Leidenschaft für politischen Journalismus teilen …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 558

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Weitere Bücher von Lee Winter

KAPITEL 1: ICH ZEIGE MEINE ZITZEN

KAPITEL 2: SO WERDEN DRACHEN GEZEUGT

KAPITEL 3: ETWAS STIMMT NICHT MIT CHERRY

KAPITEL 4: EINE ECHTE REPORTERIN

KAPITEL 5: ROADTRIP

KAPITEL 6: PEANUTS

KAPITEL 7: »KORSALZUSAMMENHANG«

KAPITEL 8: IM FADENKREUZ

KAPITEL 9: EIN SCHMALER GRAD

KAPITEL 10: GORILLAS MITTEN UNTER UNS

KAPITEL 11: DIE ROTEN AKTEN

KAPITEL 12: SCHLAFENDE DRACHEN

KAPITEL 13: DEN DRACHEN ZÄHMEN

KAPITEL 14: DER LETZTE VERBÜNDETE

KAPITEL 15: COUNTDOWN

EPILOG: Ein Jahr später

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Lee Winter

Sie möchten keine Neuerscheinung verpassen?

Dann tragen Sie sich jetzt für unseren Newsletter ein!

www.ylva-verlag.de

Weitere Bücher von Lee Winter

Happy End am Ende der Welt

Nichts als die ungeschminkte Wahrheit

Aus der Rolle gefallen

Requiem mit tödlicher Partitur

KAPITEL 1

ICH ZEIGE MEINE ZITZEN

Los Angeles, Samstag

Lauren King drehte sich um, hustete elendig und presste ihr Gesicht fest ins Kissen. Sie schluckte schwer und zuckte unwillkürlich zusammen, als es in ihrem Hals kratzte. Auf ihrer geschwollenen Zunge lag der Geschmack von Glitter, Federn und Pelzimitat. Was gab es Schöneres, als mit einem ausgewachsenen Schnupfen aufzuwachen und eine rosa Federboa als Zugabe um den Hals zu tragen?

Ihr Handy meldete sich schwach von irgendwo auf dem Holzfußboden. Sie stöhnte und drehte sich noch einmal um, was dafür sorgte, dass ihr nun ihre eigenen Haare ins Gesicht hingen. Der Gestank von diversen Parfüms und Haarsprays unterschiedlichster Preisklassen hüllte sie ein. Nicht überraschend. All diese Luftküsse hatten auch eine Schattenseite. Nicht unbedingt der schlimmste Teil ihrer Arbeit, aber doch ziemlich weit oben auf der Liste.

Ihr Telefon piepste wieder. Und dann noch einmal. Lauren runzelte die Stirn.

Sie rollte sich auf den Rücken, um einen Blick auf ihren Radiowecker werfen zu können – ein unverschämt grellrotes Ding auf dem Nachttisch – und blinzelte ein paarmal, bis sie die Zahlen richtig entziffern konnte: 7 Uhr 33.

Sie verzog unwillig das Gesicht. Nur Menschen mit Todessehnsucht würden eine Klatschreporterin am Wochenende vor zehn Uhr morgens belästigen. Das war allgemein bekannt. Es war eines der ungeschriebenen Gesetze des Journalismus, in Gottes Namen.

Sie knurrte verärgert und dachte kurz darüber nach, ihr Handy einfach auszuschalten und noch ein wenig weiterzuschlafen. Dieser Gedanke hielt jedoch nur etwa drei Sekunden, bevor ihre Neugierde siegte. Sie seufzte, lehnte sich aus dem Bett und tastete nach dem piepsenden Telefon.

Sie fühlte etwas Hartes in der Tasche ihrer Jeans und zog die Hose aufs Bett, fischte ihr Handy heraus und warf die Jeans wieder auf den Boden zurück.

Siebzehn neue Nachrichten? Okay, niemand war vor dem Frühstück so wichtig, es sei denn, ein Sexskandal war durchgesickert. Da sie sich selbst schon lange in einer Dürreperiode befand, konnte es wenigstens nicht ihr eigener sein.

Ihre Augen erfassten langsam den Text der ersten Nachricht. Er enthielt nur ein Wort.

Zitzen?

Zitzen? Sie blinzelte. Hatte man einen A-Promi mit einem Tierfimmel dabei erwischt, wie er das Undenkbare tat? Na ja, wäre wahrscheinlich nicht das erste Mal.

Sie starrte das Display an. Die Nachricht kam von einem ihrer fünf Brüder. Alle waren kräftige Mechaniker, genau wie ihr Vater, und arbeiteten bei King & Söhne Autoreparatur in Cedar Rapids, Iowa. Sie waren Experten in der Kunst, ihre kleine Schwester aufzuziehen, egal wie weit entfernt sie auch sein mochten. Sie klickte zur nächsten Nachricht.

Zitzen, King? Vielen Dank für diesen Beitrag. Ich bin schon sehr gespannt auf die Zugabe!

Lauren schloss die Augen. Sie wusste auch ohne hinzusehen, von wem diese Nachricht stammte. Welcher Beitrag? Und was sollte das mit den Zitzen?

Sie rief die Website des Daily Sentinel auf und versuchte, sich an die Einzelheiten der letzten Nacht zu erinnern. Die verschwommenen Bilder bestätigten ihr nur, dass sie die Erkältungsmedikamente nicht mit Alkohol hätte mischen dürfen.

Eine Vision von Estella Flores-Vicario schoss ihr durch den Kopf. Das ehrgeizige, ehemalige Dienstmädchen hatte einen ihrer Kunden geheiratet – zufällig den zweitreichsten Filmproduzenten Hollywoods.

Außerdem war Estella völlig verrückt.

Wenn man ihr an einem guten Tag begegnete, und von so einem hatte Lauren vor drei Wochen profitiert, als sie Estella auf einem VIP-Event getroffen hatte, war sie deine beste Freundin. »Du musst meine Biografie schreiben, Liebes. Ich vertraue nur dir«, hatte sie gesagt.

Die Tatsache, dass sie diesen Satz im Lauf der Jahre schon Dutzenden Journalisten gesagt hatte, nahm dem Ganzen ein wenig den Zauber. Dennoch, im Allgemeinen war sie eine der harmloseren Exzentrikerinnen. »Schau mal, Liebes, ich bewahre meine High Heels in meinem Reservekühlschrank auf!«, so etwa in der Art.

Aber wenn man sie an einem schlechten Tag erwischte … Laurens Kopf dröhnte, als ihr das diffuse Bild einer wutentbrannten Estella von gestern in den Sinn kam. Irgendwas mit einem scherbenreichen Sturz und Estella, die in einem schreiend orangefarbenen Seidenkleid an ihr vorbei durch ein schäumendes Meer aus rosa Punsch glitt, während sie sie in mehreren Sprachen beschimpfte. Sie hatten dabei ganz schön viele VIPs aufgeschreckt.

Lauren schnappte nach Luft. Richtig … das war absolut nicht ihr Fehler gewesen. Zumindest hoffte sie das.

Auf dem Display ihres Handys tauchte endlich die vertraute Gesellschaftsseite des Daily Sentinel auf. Unterhalb der populären Kolumne ihrer Kollegin und Erzrivalin, Ayers and Graces, prangte ein auffälliger Videoclip mit der Überschrift »Diven zerfleischen sich auf dem Ball!«

Darunter befand sich ein Anreißer-Text.

»Ich zeige dir meine Zitzen«, verkündete unsere Daily Sentinel-Unterhaltungsreporterin Lauren King in einer bizarren Auseinandersetzung mit der exzentrischen Produzentenehefrau Estella Flores-Vicario. Catherine Ayers war vor Ort und enthüllt die ganze Geschichte. Klicken Sie hier, um zu sehen, wie die Punschschüssel fliegt …

Laurens Herz klopfte wie verrückt, als sie auf Play drückte. Vier Minuten und zweiundvierzig Sekunden später hatte sie das Zitzen-Rätsel gelöst. Das ungute Gefühl in ihren Eingeweiden hatte nichts mehr mit dem zu tun, was sie in der Nacht zuvor getrunken hatte. Sie schaute auf die Klickzahlen des Videos.

884.

Sie drückte auf Aktualisieren.

927.

Mist. Sie musste das unbedingt wieder in Ordnung bringen. Sie zog ein weißes T-Shirt aus ihrem Wäschehaufen und drückte nochmal auf Aktualisieren.

982.

Verdammt noch mal. Sie zog ihr Tank-Top aus und tauschte es gegen das T-Shirt. Dann zog sie sich ihre Jeans über ihre weißen Boy-Shorts und lief zur Tür. Sie blieb nur kurz stehen, um in ein altes Paar Stiefel zu schlüpfen. Dann griff sie missmutig nach ihren Autoschlüsseln.

* * *

Das Dröhnen ihres 1970er Chevrolet Chevelle tönte in Laurens Ohren und sie entspannte sich im bequemen Lederpolster. Der himmelblaue Oldtimer war ein Klassiker und mit seinen beeindruckenden 480 Pferdestärken ließ er ihren ganzen Körper vibrieren.

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie das winzige weiße Haus in der North Mansfield Avenue, in dem sie wohnte, immer kleiner wurde. Es bot eigentlich nur zwei Vorteile – eine Garage für ihr geliebtes Auto und eine Miete, die sie sich gerade noch leisten konnte, damit genug für Nahrungsmittel, gebrauchte Designergarderobe für die Arbeit und gelegentliche Barhopping- und Karaoke-Nächte übrig blieb.

Ihr Blick fiel auf ihr wildes, schulterlanges braunes Haar im Spiegel, und mit Erschrecken stellte sie fest, dass sie sich noch nicht einmal gekämmt hatte, bevor sie aus dem Haus gestürmt war. Lauren versuchte, es mit den Fingern zu zähmen, und griff schließlich resigniert rüber zum Beifahrersitz, schnappte sich ihre Kappe und setzt sie auf.

Ein weiterer Blick in den Rückspiegel – ihre grünen Augen blinzelten müde zurück.

Gut, sie fühlte sich jetzt etwas besser. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf. Wenigstens ging zu dieser Uhrzeit die Gefahr, auf einen ihrer Kollegen zu treffen, gen Null. Im Augenblick würde die riesige, offene Redaktionsetage der Zeitung nur mit einer Notbesetzung aus der Online-Sparte besetzt sein. Die meisten aus der Printredaktion würden nicht einmal im Traum daran denken, zu dieser frühen Stunde auch nur in die Nähe des Gebäudes zu kommen. Das gab ihr die einmalige Gelegenheit, einem bestimmten Online-Video-Kameramann den Arsch aufzureißen. Ohne Zeugen. Sie würde ihm höflich erklären, dass er die nächste Zeit sehr komisch laufen würde, wenn er nicht bereit war, das Filmchen wieder von der Seite zu nehmen.

Sie schaltete in den dritten Gang und trat aufs Gaspedal. Es war ein kleines Wunder, dass das angesichts der üblichen Verkehrslage in L.A. möglich war, aber es war früh genug am Wochenende, sodass die hübschen jungen Dinger und die mächtigen alten Dinger noch zu sehr miteinander beschäftigt waren, um die Straßen zu verstopfen.

Laurens T-Shirt entblößte ihren blassen Bauch, als sie sich ein wenig in ihrem Sitz aufrichtete. Sie erschrak ein wenig bei diesem Anblick. Sie sollte besser ab und zu in die Sonne gehen und vielleicht noch die ein oder andere Zusatzeinheit Jogging einschieben. Kaum zu glauben, dass sie einmal den definierten Körperbau einer College-Softballspielerin gehabt hatte. Aber wenn das Leben aus Partys bestand, war es sehr leicht, solche Sachen wie Sport schleifen zu lassen. Vor allem, wenn es so viele Möchtegerns gab, die bei jeder Gelegenheit versuchten, sie abzufüllen und dazu zu bringen, sie in einem ihrer Artikel zu erwähnen.

Als sie begonnen hatte, über die VIP-Partys zu berichten, hatte sie auf die harte Tour lernen müssen, ihre Gesundheit im Auge zu behalten. Ihr Job brachte viel mehr Alkohol- und exotischen Kanapee-Konsum mit sich, als für irgendjemanden gut sein konnte.

Während die meisten VIPs ein bis zwei Mal pro Woche an derartigen Events teilnahmen, musste Lauren etwa sechs bis zehn bewältigen. Manchmal sogar bis zu fünfzehn, wenn sie alle die Wohltätigkeitsfrühstücke, Brunche und Mittagessen der A-Promis mitzählte.

Das alles war natürlich nicht ihr Ziel gewesen, als sie Iowa verlassen hatte. Damals hatte sie große Pläne und ein Durchbruch im politischen Journalismus war für sie so etwas wie der Heilige Gral gewesen. Dieser todlangweilige, unsinnige Stepptanz durch die Traumfabrik war nur ein kleiner Umweg, rief sie sich in Erinnerung.

Anfangs hatte sie sich geweigert, den Job anzunehmen, aber dann waren ihre Ersparnisse aufgebraucht gewesen und sie stand noch immer vor verschlossenen Türen. Und wenn man in L.A. zunächst Zehn-Zentimeter-Absätze tragen und hoffen musste, dass der Nachrichtenchef zu abgelenkt von ihrem großzügigen Dekolleté war, um die fehlende Erfahrung als Partyreporterin in ihrem Lebenslauf zu bemerken, dann war das halt so.

Dem Redaktionsleiter Frank Beltram war ihr Dekolleté allerdings genauso scheißegal gewesen wie ihre Fick-mich-Absätze. Auch ihr Abschluss in Journalismus von der University of Iowa und ihre preisgekrönte Serie, die sie für den Cedar Rapids Register über Lehrer auf dem Land geschrieben hatte, hatten ihn nicht die Bohne interessiert.

»Können Sie zählen?«, hatte er sie stattdessen gefragt.

Angesichts ihres erstaunten Gesichtsausdrucks fügte er mit todernstem Blick hinzu: »Denn das ist die eine Hälfte dieses Jobs. Lassen Sie sich nicht von den schicken Namen täuschen. Wir nennen es ›Entertainmentberichterstattung‹, aber es sind nichts weiter als Partys. Es geht nur um das Wer, Was, Wo und wie viele daran teilgenommen haben. Ich hoffe, Sie können gut schätzen, denn die PR-Leute lügen, dass sich die Balken biegen. Da kommt es vor, dass sie von tausend VIPs in einem Raum sprechen, von dem Sie wissen, dass da maximal, sagen wir, sechshundert reingehen. So einen Scheiß müssen Sie wissen, verstanden?«

Lauren hatte genickt.

»Und Sie müssen buchstabieren können. Denn das ist die andere Hälfte des Jobs.«

Lauren zwang sich, nicht genervt mit den Augen zu rollen.

»Sie denken jetzt, ich würde Ihnen erklären wollen, wie man Kaugummi kaut und dass alle Journalisten wissen sollten, wie man buchstabiert, oder?« Frank hatte sie mit einem wissenden Blick angesehen. »Die letzten beiden auf diesem Posten habe ich feuern müssen, weil sie immer wieder Namen falsch geschrieben haben. Das lässt uns aussehen wie ungebildete Idioten. Im Zweifelsfall fragen Sie diese Wichtigtuer und Hampelmänner einfach nochmal selbst, kapiert? Verlassen Sie sich nicht auf die PR-Leute. Sie glauben, dass das einfach klingt? Dann denken Sie mal daran, dass Sie im Ernstfall irgendeinen halb betrunkenen Möchtegerngroßkotz mit einem Ego, das größer ist als seine aufgemotzte Protzkarre, nach seinem Namen fragen müssen. Er wird tödlich beleidigt sein, dass Sie nicht wissen, wer er ist, und sagen, dass er Ihre Karriere mit einem Telefonanruf beenden kann. Und es kann sogar sein, dass er recht damit hat.«

Er runzelte die Stirn und fuhr fort »Also müssen Sie einen Weg finden, ihn so auszufragen, dass er dankbar ist, dass Sie nachgefragt haben, selbst wenn sie es vor seinen Freunden oder Studiobossen oder dieser verdammt heißen Schauspielerin, die früher Pornos gedreht hat und die er unbedingt flachlegen will, tun. Also, King, das ist der Job. Buchstabieren und Zählen. Alles andere ist nur Beiwerk. Aber wenn die PR-Leute bei mir auflaufen und sich darüber beschweren, dass Sie die Einzelheiten zu ihren ach so angesagten Kunden falsch wiedergegeben haben, bin ich ein sehr unzufriedener Boss.«

Lauren hatte ihn nur angeblinzelt und sich gefragt, was zum Teufel sie sich da eingebrockt hatte.

Frank hatte sie gemustert und dann laut aufgelacht. »Mein Gott, ich kann Ihnen beim Denken zusehen.« Er mimte mit dem Finger das Drehen eines Zahnrads. »Ja, ja. Sie denken, Sie sind zu gut für das hier. Die Wahrheit ist, dass Ihr rechtschaffener kleiner Lebenslauf in der realen Welt einen Scheiß wert ist. Ich weiß auch, dass dieser Job keine Raketenwissenschaft ist, aber er zählt selbst in der realen Welt als Erfahrung im journalistischen Bereich, wenn man nicht zu genau hinguckt. Und, wie jeder Journalismus, muss auch dieser richtig gemacht werden. Verstanden?«

Lauren hatte nur knapp genickt.

Frank betrachtete sie nachdenklich, aber dann hellte sich sein Gesichtsausdruck auf. »Alles klar, King, Sie sind dabei und fangen Freitagabend an. Ich werde Sie die erste Woche mit Ayers mitlaufen lassen. Das ist unsere Kolumnistin für alle hochkarätigen Top Events – also für die Reichen und Schönen und solche, die es werden wollen. Sie kennt alles und jeden, also passen Sie besser auf, wenn Sie mit ihr unterwegs sind. Die Hälfte der Promis dieser Stadt hat eine Scheißangst vor dem, was sie als Nächstes schreibt. Besonders weil sie den Nagel immer auf den Kopf trifft und kein Blatt vor den Mund nimmt.«

»Sie ist also die Klatschkolumnistin?«, fragte Lauren.

Frank schnaubte. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, nennen Sie Ayers niemals Klatschkolumnistin, wenn sie dabei ist. Zu Ihrer eigenen beruflichen und persönlichen Sicherheit. Es würde sonst kein gutes Ende mit Ihnen nehmen. Ein letztes noch zu Ihrem Job – es wird erwartet, dass Sie über alle Veranstaltungen berichten, von den kleinen Scheißveranstaltungen bis zu den großen Events. Und Sie müssen sich genug Content aus den Fingern saugen, um die zweite Promiseite zu füllen und die Onlineredaktion bei Laune zu halten. Irgendwelche Fragen? Nein? Gut. Und denken Sie um Himmels willen daran, die Namen richtig zu schreiben!«

Also wurde sie eine verherrlichte Partyreporterin mit einer Visitenkarte, die viel glamouröser aussah als es die Arbeit selbst war. Zumindest war sie jetzt gut darin, die Anzahl von Gästen zu schätzen und die Schreibweise von Namen zu überprüfen – während sie zur Kenntnis nahm, wer an wessen Arm hing, welchen Designer sie dabei trugen und wer neu war in diesem substanzlosen Kreislauf der Verdammten. Und ehe sie sich’s versah, war sie auf der nächsten Party-Ball-Gala-Markteinführung-Fundraiser-Premiere und fing von vorne an.

Am Ende jeder Nacht schleppte sie ihren erschöpften Körper nach Hause, zog ihr Kleid aus, schickte ihre Story per E-Mail an die Redaktion, während sie in Unterwäsche auf dem Bett saß, und krabbelte dann unter die Decke.

Ein Jahr später hatte Lauren genug davon. Seit über einem Monat ließ sie Frank Ideen für eine politische Story zukommen. Der Nachrichtenchef hatte noch nicht angebissen, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis er einknickte. Es war nur eine Frage der Hartnäckigkeit. Zumindest hoffte sie das.

Und jetzt gab es dieses Debakel mit Estella. Wie zum Teufel sollte sie ihren Chef von ihren journalistischen Qualitäten überzeugen, wenn sie noch nicht einmal die Partyreportage bewältigen konnte, ohne von der verrücktesten aller Möchtegernpromis beschimpft und dabei noch auf Video aufgenommen zu werden?

Was, wenn das Video viral gehen würde? Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Lauren trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Sie konnte das Redaktionsgebäude schon sehen. Das siebenstöckige Verlagshaus im Beaux-Arts-Stil war wesentlich beeindruckender als die Zeitung, die darin produziert wurde. Der Daily Sentinel hatte noch einige solide, qualitativ hochwertige Artikel zu bieten, allerdings machte sich der Verlegerwechsel, der sechs Monate vor ihrem Arbeitsbeginn stattgefunden hatte, bereits beim Inhalt bemerkbar. Und zwar nicht positiv. Warum auch seriöse Berichterstattung liefern, wenn durch Sensationsstorys viel einfacher Klicks auf die Website generiert werden konnten?

Lauren bog auf den Parkplatz ein und wollte ihren Chevrolet auf ihrem designierten Platz abstellen, als sie einen allzu bekannten silbernen Saab erblickte, der knapp über der Begrenzungslinie stand. Die meisten Autos würde man trotzdem daneben abstellen können, aber ihres war eben nicht wie die meisten Autos – was die überaus nervige Besitzerin des Saab ganz genau wusste.

Verdammt, Ayers. Ihre Rivalin hatte sich anscheinend zum Ziel gesetzt, Laurens Tag komplett zu ruinieren. Sie warf Ayers Wagen einen finsteren Blick zu, bevor sie wieder auf die Straße zurücksetzte und dort einen Parkplatz suchte.

Als sie endlich in das Gebäude marschierte, sah sie ihre Lieblingssaufkumpanin Maxine alias Max, die heute wohl fürs Erdgeschoss eingeteilt war. Lauren mochte die verrückte Wachfrau sehr. Und nach Dienstschluss waren ihre sozialen Kreise erstaunlich ähnlich. Dieselben Clubs, dieselben Sportbars und eine gemeinsame heimliche Schwäche für die Musik der achtziger Jahre.

»Hey!«, begrüßte Lauren sie, während sie sich ihre Sonnenbrille hoch ins Haar schob.

»Lauren? Hey, Mädchen, was machst du so früh schon hier? Und auch noch an einem Samstag? Hast du jetzt Ayers’ Arbeitszeiten übernommen?« Max’ breites Gesicht wurde durch ein ebenso breites Grinsen aufgehellt, als sie hinter dem Sicherheitsbereich hervortrat, um Lauren zu begrüßen.

Lauren funkelte ihren besten gefakten bösen Blick auf ihre Freundin, die so aussah, als würde ihr Donut- und Bierkonsum reichlich Dividenden abwerfen. »Ich muss nur kurz dafür sorgen, dass etwas von der Website entfernt wird, und du weißt ja, dass Wolfman nie an sein verdammtes Handy geht. Das wird nicht lange dauern.«

Max’ Grinsen wurde breiter. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wippte auf ihren dicksohligen Stiefeln auf und ab. Ihre braune Uniform spannte über ihrem beachtlichen Bizeps. Sie konnte ein Grinsen nicht mehr unterdrücken.

»O Gott! Du hast es gesehen«, stöhnte Lauren.

Max grinste süffisant, fischte ihr Handy aus der Brusttasche und zeigte es Lauren. »Nicht schlecht –1830 Aufrufe. Wenn es so weitergeht, könnte dich das heute Abend sogar in die Nachrichten im Fernsehen bringen. Oder in die TMZ? Wer weiß?« Sie kicherte und ließ das Handy wieder in ihrer Brusttasche verschwinden.

Bitte nicht!

»Weißt du, jeder hat es schon gesehen«, sagte Max. »In diesem ganzen Jahr gab es noch nichts Lustigeres. Oh, hast du Estella in die Bowle-Pfütze geschubst oder ist sie ausgerutscht? Das konnte ich beim besten Willen nicht erkennen und ich habe es mir ungefähr zehnmal angesehen.«

Lauren seufzte. »Frag mich nicht. Ich war high von Erkältungsmedikamenten und Champagner für 300 Dollar pro Flasche. Ich habe keine Ahnung.« Sie ging auf die Sicherheitsabsperrung aus Panzerglas hinter Max zu.

Das Gesicht der Wachfrau nahm schlagartig einen professionellen Ausdruck an. Sie hob eine ihrer großen Hände und runzelte die Stirn. »Liebes, ich muss erst deinen Ausweis sehen.«

Lauren blieb stehen und ihr dämmerte, dass sie ihn vergessen hatte. Bestürzt klopfte sie ihre Jeanstaschen ab, um sicher zu gehen. »Mist. Entschuldige, ich glaube, ich habe ihn im Auto liegengelassen.« Sie warf Max einen hoffnungsvollen Blick zu.

Die Frau schüttelte bedauernd mit dem Kopf. »Du weißt, ich würde, wenn ich könnte, aber Regeln sind Regeln.«

»Okay, ja«, sagte Lauren. »Ich gehe ihn schnell holen.«

»Es geht um meinen Job, Liebes. Hat nichts mit dir zu tun«, fügte Max entschuldigend hinzu.

»Ja, klar, das verstehe ich«, stimmte Lauren zu. »Das ist schon in Ordnung. Im Ernst. Ich bin gleich wieder da.«

Sie verließ das Foyer und joggte zurück zu ihrem Auto. Als sei einen Strafzettel unter ihrem Scheibenwischer entdeckte, blieb sie abrupt stehen und fluchte wütend. Wie lange war sie weg gewesen? Allerhöchstens fünf Minuten?

Lauren schloss ihren Wagen auf, schnappte sich den Ausweis und nahm den Strafzettel von der Windschutzscheibe. Zwei Minuten später hielt sie Max die kleine Karte vor die Nase und stapfte an ihr vorbei.

»Ich werde Ayers umbringen«, sagte Lauren finster, während sie den Strafzettel wie einen Marschbefehl durch die Luft schwang.

»In Ordnung.« Max nickte solidarisch. »Aber tu bitte nichts, was Flecken macht. Das würde nur mehr Papierkram für mich bedeuten.«

Lauren schüttelte den Kopf und ging weiter zum Aufzug. Dort drückte sie auf die Taste mit dem Pfeil nach oben. Als sie wenige Sekunden später eintrat und sich die Stahltüren hinter ihr zu schließen begannen, rief Max ihr nach: »Hey, Liebes, eine Frage noch. Was soll die Nummer mit den Zitzen?«

Lauren konnte ihr gerade noch einen bösen Blick zuwerfen, bevor die Türen ganz zu waren.

* * *

Als die Aufzugtüren wieder aufgingen marschierte Lauren wütend in die Redaktion. Jetzt war es hier wie ausgestorben, aber bei Redaktionsschluss war hier gefühlt mehr los als bei der Oscarverleihung. Die Laufjungen – na ja, wohl eher Teenager – würden die frisch gedruckten ersten Exemplare der Zeitung aus der Druckerei holen, um sie oder frisch gefüllte Kaffeebecher zu den Schreibtischen der Abteilungsleiter zu bringen, nur um beim nächsten gebrüllten »Copy« zum nächsten Auftrag zu springen.

Lauren hatte ihre Zeit als Redaktionsgehilfin damals in der Liberty Gazette in Iowa abgeleistet. Es war echte Knochenarbeit, die Papierstapel von der Druckerei in die Redaktionsetage zu tragen. Die Druckerschwärze hatte damals jeden Tag auf ihren Händen und ihrer Kleidung Spuren hinterlassen und die vielen Treppen hatten sie extrem in Form gebracht.

Wenigstens hatte der Daily Sentinel einen Aufzug.

Als sie sich dem Büro des Videokameramanns näherte, sah Lauren ihre Tratsch schreibende, falschparkende Erzfeindin am Schreibtisch sitzen, vertieft in das Schreiben einer Story. Zumindest wenn man ihre Finger, die nur so über die Tastatur flogen, als einen Hinweis darauf nahm.

Die bissige Eiskönigin, Catherine Ayers, bestand aus sarkastischen Kommentaren und einer selbstgefälligen Attitüde. Lauren war immer noch wütend genug, um einen kleinen Umweg auf ihrer Mission in Kauf zu nehmen.

Ayers war Anfang vierzig, etwa zehn Jahre älter als Lauren. Ihre kühlen, grauen Augen beobachteten äußerst aufmerksam alles, was um sie herum vor sich ging, und jeder wusste, dass sie wenig Geduld mit Dummköpfen hatte. Ihre kultivierte Art und ihr makelloser Kleidungsstil ließen auf ein reiches Elternhaus schließen – ein Bild, das alles in allem ihr eisiges, granithartes Temperament unterstrich.

Sie war in der Lage, erfahrene Nachrichtenmänner mit einer einzigen, gut platzierten, bissigen Beleidigung zum Einknicken zu bringen. Und – angesichts der Tatsache, dass alle ihre Beleidigungen gut platziert waren – das führte zu einer Menge geknickter Journalisten. Deshalb traute sich auch niemand, sich mit ihr anzulegen. Obwohl das wahrscheinlich auch ihrem Ruf aus vergangenen Tagen zu verdanken war, bevor sie dazu degradiert wurde, als Klatschreporterin umherzuziehen.

Lauren interessierte das alles nicht die Bohne. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass Ayers schickes Armani-Kostüm, dass ihre Kurven umschmeichelte, vermutlich mehr gekostet hatte, als Lauren in sechs Monaten verdiente. Sie stampfte zu Ayers’ Schreibtisch und hielt ihr das Knöllchen unter die Nase.

Bevor Lauren nur ein Wort dazu sagen konnte, sah Ayers sie mit einem katzenhaften Lächeln an. »So, so, Lauren King, Ziegen-Belästigerin und Partylöwen-Zerstörerin, wie komme ich an einem gewöhnlichen Samstag zu dieser Ehre? Es muss ein Vorzeichen der Apokalypse sein, da bin ich mir sicher«, sagte Ayers trocken.

Lauren warf ihr einen bösen Blick zu. »Vielen Dank dafür.« Sie knallte den Strafzettel auf den Tisch und schob ihre Hände in die Hosentaschen. »Wenn Sie ordentlich auf Ihrem Parkplatz bleiben könnten, hätte ich nicht auf der Straße parken und einen Strafzettel kassieren müssen. Schon wieder! Den können Sie bezahlen! Ich werde es ganz sicher nicht tun.«

Ayers hob das Papier langsam und sehr elegant mit Zeigefinger und Daumen auf und musterte ihn mit scharfen, amüsierten Augen. Ihre Mundwinkel zuckten. Dann legte sie ihn vorsichtig wieder hin. »Wie ich sehe, sind Sie immer noch paranoid, King. Sie sollten mal mit einer Psychologin über meine angebliche Vendetta gegen Sie sprechen.«

»Sie stehen auf meinem Parkplatz. Das hat wohl kaum etwas mit wahnhaften Störungen zu tun!«

Ayers zog eine Augenbraue hoch. »Wahnhafte Störungen? Was für große Wörter. Bekommen Sie endlich Nachhilfe, meine Liebe?«

»Haben Sie als Kind schon so Ihre Malbücher ausgefüllt, wie Sie heute parken?« Lauren ignorierte Ayers Stichelei. »Waren die vorgedruckten Linien für Sie nichts weiter als lustige, unverbindliche Vorschläge?«

»Woher sollte ich wissen, dass Sie heute hier sein würden?«, sagte Ayers. Und leider klang das verdammt plausibel. »Ich hatte keine Ahnung, dass Sie mit ihrem Kreuzfahrtschiff hier auftauchen würden.« Sie lehnte sich zurück, schaute Lauren an und bemerkte offenbar erst jetzt ihr zerknittertes Outfit. »Mein Gott, King, Sie sehen aus wie in alten Zeiten.« Ayers Augen funkelten amüsiert. »Oder in ganz frühen Zeiten. Erinnern Sie sich noch an den ersten Ball, zu dem Sie gegangen sind? Als ich Sie ausgebildet habe? Und Sie in diesem Outfit aufgetaucht sind wie ein – wie wollen wir es nennen – trendiger Sargträger?«

»Lassen Sie uns … nicht«, sagte Lauren. »Verdammt, mit Ihrem herrischen Mentorinnenverständnis und Ihren territorialen Parkplatzbesitzansprüchen haben Sie hier Ihre Berufung verpasst. Ich bin sicher, es gibt irgendwo ein kleines Dritte-Welt-Land, das nur auf eine neue Despotin wie Sie wartet. Zum Teufel, wenn Sie wollen, schreibe ich Ihnen sogar eine Empfehlung.«

»Man wird im Mittleren Westen wohl ziemlich verhätschelt, wenn man meine sanften Anweisungen nicht eine einzige Woche lang ertragen kann.«

Lauren schnaubte. »Sanft? Genau. Und Stalin war einfach nur ein missverstandener Poet. Der Punkt ist, dass Sie innerhalb der eingezeichneten Linien parken müssen. Und zwar jeden Tag, ob ich hier bin oder nicht. Das gehört dazu, wenn man ein anständiger Mensch sein möchte. Ich weiß, dass das nicht gerade Ihre Stärke ist, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Und jetzt hören Sie mit dieser Verzögerungstaktik auf und kümmern Sie sich um meinen Strafzettel.«

Sie schob das Ticket über den Schreibtisch in Ayers Richtung. Beide starrten es einen Moment lang an.

»Gut, ich hefte es zu den anderen«, sagte Ayers gelassen und spießte den Zettel auf einen dünnen Metallstift auf, der schon ein halbes Dutzend identischer weißer Blätter beherbergte. Ayers grinste selbstgefällig, als Lauren fassungslos den Mund aufklappte. »Wäre das alles, King? Oder haben Sie noch einen Kommentar zu dem derzeit beliebtesten Video-Clip unseres Online-Angebots?«

Lauren kniff ihre Augen zu Schlitzen zusammen.

Ayers beugte sich vor und senkte verschwörerisch die Stimme. »Was für ein Glück, dass Jason Wolf zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, nicht wahr? Wie ich gehört habe, war er bereits fast auf dem Weg zum nächsten Event. Dann hätte er diesen unbezahlbaren Moment doch glatt verpasst. Glücklicherweise bemerkte eine informierte Augenzeugin zufällig, wie Estella sich in einen ihrer berüchtigten Ausraster hineinsteigerte und gab ihm einen Tipp.«

Lauren atmete tief durch. »Informierte Augenzeugin? Haben Sie dafür gesorgt, dass er alles mitschneidet?« Sie blinzelte. »Das war eine absolute Scheißaktion.«

Ayers wirkte gänzlich unbeeindruckt.

»Um Himmels willen, wir arbeiten für dieselbe Zeitung!«, setzte Lauren nach. »Das ist illoyal!«

»Eine gute Journalistin hat immer ein Auge für eine gute Story«, sagte Ayers mit geradezu schnurrender Stimme. Sie verschränkte ihre Hände vor sich auf dem Schreibtisch. »Und ich kann mich nicht selbst zensieren, nur weil Sie und ich bedauerlicherweise für dieselbe Firma arbeiten. Sie sind doch nicht etwa für Zensur, oder, King?«

»Jeder weiß, dass Estella verrückt ist!« Lauren wedelte empört mit den Händen durch die Luft. »Warum also so grausam sein? Warum lassen Sie zu, dass sie öffentlich verspottet wird?«

»Mir war nicht bewusst, dass Estella diejenige ist, die verspottet wird. Was andererseits Sie und Ihren merkwürdigen Zitzenfetisch anbelangt …«

»Ich bin erkältet! Um Himmels willen, sind denn hier alle geisteskrank? Ich habe zu Estella gesagt: ›Ich zeige Ihnen meine Notizen!‹ Notizen! Warum sollte ich ihr irgendwelche Zitzen zeigen?«

»Es ist nicht an mir, die Frage nach dem Warum zu stellen. Wenn Sie ihr Ihre Zitzen zeigen wollen, dann ist das eine Sache zwischen Ihnen und Estella. Oh, und …«, sie hielt kurz inne, richtete den Blick auf ihren Computerbildschirm und klickte mit der Maus. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »2.026 Sentinel-Online-Zuschauer – Tendenz steigend.«

»Sie sind unglaublich.«

»Danke«, sagte Ayers trocken. Sie deutete mit einer Hand auf ihren Computer. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich nun gerne weiterarbeiten.«

Lauren biss die Zähne zusammen, aber bevor sie sich zum Gehen umdrehen konnte, fiel Ayers Blick zum ersten Mal auf ihre zerfledderte Kappe und den Schriftzug darauf und sie machte große Augen.

»Bezahlen Sie einfach den verdammten Strafzettel. Ich muss jetzt los«, sagte Lauren schnell, als sie erkannte, dass sie ihrem Gegenüber gerade genügend Munition geliefert hatte, um ein weiteres Jahr lang verspottet zu werden.

»Natürlich müssen Sie das. Ich bin sicher, Cletus braucht seine Kopfbedeckung zurück.« Ayers Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln.

Lauren versuchte, nicht rot zu werden, als sie an den Namen dachte, der auf ihrer Kappe stand – Clet Koshatka Farm Equipment. Es war das Geschenk eines befreundeten Lieferanten ihres Vaters gewesen und außerdem mit etwa fünfzig verschiedenen Farbklecksen übersät.

»Ich habe heute Morgen frei«, verteidigte sich Lauren schwach.

»Auch wenn alles auf das Gegenteil hindeutet«, erwiderte Ayers und trommelte mit ihren langen Fingern auf ihrem Schreibtisch. »War es das jetzt? Könnten Sie bitte gehen und die Zeit einer anderen Person verschwenden?«

»Natürlich. Ich möchte Sie ja nicht von Ihren knallharten Nachrichtenartikeln abhalten.« Lauren drehte sich um und machte sich schnell aus dem Staub, während sie Ayers eiskalten Blick auf ihrem Hinterkopf spüren konnte. Sie versuchte sich einzureden, dass sie sich kein bisschen schlecht fühlen musste, Ayers berüchtigte aber nie angesprochene Schwachstelle mit einem Tiefschlag bedacht zu haben.

Okay, vielleicht fühlte sie sich doch ein klein wenig schlecht.

Lauren war bereits auf halbem Weg zum Schreibtisch des Videofilmers und noch immer dabei, sich eine Taktik zu überlegen, um Jason »Wolfman« Wolf zu überzeugen, das Video von der Website zu nehmen, als sie merkte, dass sie jemand von der anderen Seite des Raumes aus musterte, die Arme vor der Brust verschränkt.

Sie blieb abrupt stehen. Was in aller Welt machte Frank heute hier?

»In mein Büro«, rief er ihr schroff zu.

Lauren folgte ihrem Chef in den vollverglasten Raum. Sein marineblauer Anzug saß etwas zu eng, er trug ihn nicht allzu oft. Er ließ sich in seinen alten schwarzen Ledersessel fallen und sah sie mit einem Stirnrunzeln an, als sie sich auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch niederlassen wollte.

»Die Tür«, sagte er.

Das war definitiv seltsam. In der Redaktion war immer noch keine Menschenseele. Sie schloss die Tür und setzte sich dann nervös auf den Besucherstuhl. Ihr Blick schweifte durch den Raum.

Sie war nur selten hier – im Alltagsgeschäft berichtete sie an den Chef vom Dienst des Unterhaltungsressorts. Nur ab und zu rief Frank sie zu sich, um ihr von einem Last-Minute-VIP-Event zu erzählen, bei dem sie auf einen besonderen Aspekt, zum Beispiel einen in Ungnade gefallenen Politiker, achten sollte. In der Regel war sie selbst dann innerhalb von zwanzig Sekunden wieder raus aus seinem Büro.

Gerahmte und über die Jahre vergilbte Zeitungsartikel zierten die Wände. Ein paar von ihnen trugen Franks Namen als Verfasser. Auf einem überfüllten Aktenschrank setzten einige Auszeichnungen-Schrägstrich-Briefbeschwerer Staub an. Der Raum roch nach Männerschweiß mit leichter Alkoholfahne. Für einen Mann Anfang fünfzig konnte Frank ohne Probleme als Sechzigjähriger durchgehen. Die kleine Einbuchtung an seinem linken Ringfinger, wo er bis vor etwa einem Monat einen Ehering getragen hatte, war noch zu sehen. Nicht, dass er jemals sein Privatleben erwähnt hätte. Lauren sah ihm ins Gesicht.

»Dieser verdammte Verleger hat für heute das komplette Management zum Meeting einberufen«, begann er mit einem finsteren Blick und richtete sich in seinem Stuhl auf. Sein billiger Polyesteranzug quietschte. »Offenbar sollen Print und Online ›besser eingebunden‹ werden, um ›effektivere gemeinsame Modelle‹ zu etablieren.« Er malte mit seinen Zeigefingern spöttisch Gänsefüßchen in die Luft.

»Na ja, das klingt, ähm …«

Er hielt inne und starrte Lauren an. In seinem Gesicht stand klar geschrieben, wie egal ihm war, was Lauren zu sagen hatte.

Sie schloss ihren Mund und fragte sich, ob ihre Entlassung unmittelbar bevorstand. Ein virales Video mit einer verrückten Prominenten, die eine Reporterin angeblicher »Lügen, Lügen, Lügen« bezichtigte, war wohl kaum karriereförderlich.

»Da Sie schon mal hier sind, können wir gleich über diese Sache reden«, begann Frank. Er räusperte sich und es schien ihm unangenehm zu sein.

Verdammt, sie würde wirklich gefeuert werden.

»Ich kann alles erklären«, sagte Lauren schnell. »Estella war ungehalten, weil ich geschrieben habe, dass sie ihre besten High Heels in ihrem Reservekühlschrank aufbewahrt, damit sie keinen Staub ansetzen. Dabei hat sie mir den Kühlschrank selbst gezeigt – und er war bis zum Rand voll mit Schuhen. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, Frank. Ich habe mir Notizen gemacht. Ich habe meine Notizen sogar noch. Aber sie ist komplett durchgedreht und meinte, ich würde alles nur erfinden, um sie dumm dastehen zu lassen. Sie wäre zwar nach Amerika zugewandert, wüsste aber sehr wohl, wozu ein Kühlschrank da ist, und ich wäre eine ›Kuh‹, weil ich es wagen würde, etwas anderes anzudeuten. Ich glaube, sie hat den Mist gegen Ende ihrer Tirade selbst geglaubt.«

Franks Was-zur-Hölle-Blick brachte sie schlagartig zum Schweigen.

»Glauben Sie wirklich, Estella und ihre Schuhe interessieren mich einen Scheiß?« Frank schaute sie an. »Von mir aus könnte sich diese verrückte Schlampe ihre High Heels in ihren Arsch stecken, damit rumstolzieren und es Kunst nennen. Ich rede von der Story, die Sie mir vor zwei Wochen vorgeschlagen haben. Der Korruptionsskandal unter den Verkehrspolizisten auf Ihrer Straße. Ich habe darüber nachgedacht. Da könnte was dran sein. Etwas, das wir gebrauchen könnten.«

Ein Lächeln breitete sich auf Laurens Gesicht aus. »Meine Story hat Ihnen gefallen?«, fragte sie und bemühte sich, wieder eine professionelle Miene aufzusetzen. »Ich kann sofort an die Arbeit gehen. Und keine Sorge, das kann ich auch neben den VIP-Events machen, es wird also nichts beeinträchtigt. Ich bin schon seit ein paar Monaten dran. Ich habe auch ausführliche Notizen.«

Frank schaute auf seinen Schreibtisch und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Sein Anzug quietschte wieder. »Also, es ist so, King … Ich gebe die Story Doug. Doug Daley. Er wird die Sache weiterverfolgen. Er hat einfach mehr Erfahrung. Bei ihm ist es in sicheren Händen. Er wird es nicht vermasseln.«

Schweigen breitete sich im Raum aus, bevor Frank seine blauen Augen wieder auf Lauren richtete. Sie erkannte seine Entschlossenheit sofort daran, wie angespannt sein Kiefer war. Ihr rutschte das Herz in die Hose.

»Sie geben meine Story jemand anderem? Doug Daley!«

»Lokalpolitik ist sein Ding. Das wissen Sie, King.«

»Dann hätte Doug die Story auftun müssen! Ich habe mir dafür den Arsch aufgerissen! Ich habe selbst gesehen, wie sie die Schmiergelder angenommen haben. Ich habe dafür wochenlang an meinen freien Tagen gearbeitet. Ich war Zeugin, wie sie von den Filialleitern dafür bezahlt wurden, dass sie deren Kundschaft nicht für Parkverstöße belangen. Das ist nicht fair!«

»Fair?«, wiederholte Frank. »Haben Sie wirklich erwartet, dass es im Journalismus fair zugeht? Ich weiß, dass es nicht fair ist, King. Das weiß ich. Es ist beschissener als eine öffentliche Toilette in West Hollywood. Aber ich muss an das Wohl der Zeitung denken, und das ist wichtiger, als die verletzten Gefühle einer Nachwuchsreporterin, die noch grün hinter den Ohren ist, und in ihrem Leben noch nie eine richtige Story geschrieben hat.«

»Aber Frank …«

»Meine Entscheidung steht fest, King. Es tut mir leid. Falls es ein Trost ist: Die Story hat echt Hand und Fuß. Glauben Sie nicht, ich wüsste das nicht. Aber der neue Verleger sitzt mir im Nacken mit diesen ganzen Meetings zu unserer Rentabilität und ›Platzierung am Markt‹ und diesem ganzen Quatsch. Ich kann im Moment nichts riskieren. Besonders wenn ich unter Beobachtung stehe und mir dann sowas in den Schoß fällt. Aus der Sache kann eine große Nummer werden.«

»Es ist Ihnen nicht in den Schoß gefallen, ich habe sie Ihnen dort hingelegt«, sagte Lauren empört. »Und sie Doug zu geben … er wird …« Sie wollte »ein selbstgefälliges Arschloch sein« sagen, hielt sich aber zurück, als ihr gerade noch rechtzeitig einfiel, dass Frank seinen gelegentlichen Saufkumpan mochte. »Unmöglich sein«, beendete sie den Satz stattdessen.

»Na ja, so ist es dann eben«, stimmte Frank mit einem gleichgültigen Achselzucken zu und hatte zumindest den Anstand, dabei nicht glücklich auszusehen. »Willkommen im Journalismus der realen Welt. Das Leben besteht nicht nur aus rosa Cocktails und Galaabenden. Aber wenn Sie wollen, kann ich Doug dazu bringen, Ihren Namen bei ›unter Mitarbeit von‹ am Ende zu erwähnen.«

Lauren starrte ihn fassungslos an. Hatte er gerade wirklich ihre Intelligenz dermaßen beleidigt? Als würde ihr die Oberflächlichkeit und Sinnlosigkeit der meisten Partys und das ganze VIP-Gehabe nicht zum Hals raushängen? Um Himmels willen.

Und unter Mitarbeit von? In Schriftgröße sieben Punkt? Unter Mitarbeit von Lauren King wie ein beleidigender Klaps auf den Hinterkopf? Nicht einmal eine Co-Autorenschaft? Sie starrte ihn an. »Sie machen wohl Witze!«

»Nein? Dann nicht. Es ist Ihre Entscheidung. Also, das war dann … alles. Wir sind hier fertig.« Er deutete ihr mit einer Handbewegung an, dass sie gehen könne und fügte dann, ohne aufzuschauen, hinzu: »Eine Sache noch. Sorgen Sie dafür, dass dieses Scheißvideo von unserer Website verschwindet. Ich werde nicht dulden, dass einer meiner Reporter vorgeführt wird wie ein Clown. Ist mir egal, wie viele Klicks es hat. Und bitte bevor Harrington Junior es entdeckt und es auf jeder Nachrichtenagenturseite im Staat sehen will.« Frank warf einen Blick auf seine Wanduhr. »Sie haben zehn Minuten, bevor er zum Meeting erscheint. Wenn dieser Arsch Wolf sich weigert, weil es gerade viral geht oder was auch immer für einen Mist er erzählt, sagen Sie ihm, dass die Anweisung direkt von mir kommt.«

Er begann, in seinem Papierkram zu wühlen, und beendete so ihr Gespräch. Lauren stand auf, immer noch etwas benommen, ihre Wangen vor Wut heiß. Sie machte zwei Schritte auf die Tür zu.

»Oh – und King …«, rief Frank sie zurück und hielt dann leicht verwirrt inne.

Lauren blieb stehen, drehte sich aber nicht um, weil sie ihrem professionellen Gesichtsausdruck noch nicht wieder vertraute, und wartete, ihre Hand fest um die Türklinke geschlossen.

»Was zum Teufel haben Sie da auf dem Kopf?«

KAPITEL 2

SO WERDEN DRACHEN GEZEUGT

Samstagmorgen

Lauren war es leid, die Decke ihres Schlafzimmers anzustarren. Sie grübelte schon seit zwei Stunden. Na ja, zwei Wochen, wenn man ganz genau sein wollte. Jetzt war der Tag gekommen, und es war Zeit sich dem zu stellen, was auch immer der Story angetan worden war. Ihrer Story.

Sie hatte begonnen, den selbstgefälligen, dämlichen Arsch Doug Daley in Gedanken in Doof Daley umzutaufen. In den letzten zwei Wochen war sie ihm im Büro immer wieder über den Weg gelaufen, und wie ihr schien immer dann, wenn er dabei war jemandem von seiner genialen Story über die korrupten Verkehrspolizisten zu erzählen.

Erst gestern hatte sie mitbekommen, wie er in der Büroküche einer schmallippigen Ayers von seiner Großartigkeit vorschwärmte, während sie schweigend in ihrem Kaffee rührte. Sie hatte ausgesehen, als wäre sie am liebsten irgendwo anders. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Der Bastard hatte noch nicht einmal den Anstand, angesichts Laurens empörter Miene beschämt auszusehen. Er hatte gelächelt und sich wieder zu Ayers umgedreht, nur um festzustellen, dass diese bereits verschwunden war.

Lauren setzte sich auf und stellte ihre nackten Füße auf die abgenutzten, polierten Bodenbretter. Sofort verzog sie das Gesicht, als sie mit einem Fuß auf eine aufgerollte Socke trat und mit dem anderen auf etwas Undefinierbares. Hoffentlich nur eine Wollmaus.

Notiz an mich – irgendwann vor Weihnachten den Frühjahrsputz nachholen.

Sie machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Als sie mit der Morgenroutine fertig war, betrachtete sie sich im fleckigen Spiegel. Eine Brünette mit wilden Haaren und leicht geschwollenen Augen starrte zurück, und sie konnte nicht widerstehen, sich die Zunge herauszustrecken. Die sah erfreulicherweise noch recht gesund aus.

Das war doch schonmal was.

Dann ging sie in die Küche. Es war kein langer Weg – die gesamte Wohnung war klein genug, um einer Katze einen Lagerkoller zu verpassen. Sie öffnete die Kühlschranktür. Oh.

Notiz an mich – Einkaufen gehen, bevor der Skorbut einsetzt.

Sie schnüffelte an etwas Schwarzem, das im Gemüsefach gelegen hatte, und schreckte zurück.

Seufzend arrangierte Lauren ihre sechs Flaschen Bier, die drei Flaschen Wasser und eine angebrochene Packung Margarine neu, in der Hoffnung, etwas Essbares zu finden, und stieß schließlich auf ein hartes Stück Käse. Sie wollte schon danach greifen, bevor sie sich entschloss, doch lieber weiterzusuchen, bis sie einen kleinen Proteinriegel fand, der mal Teil einer Geschenktüte bei einer Veranstaltung gewesen war. Sie konnte sich kaum mehr daran erinnern, wann das gewesen war. Vor acht Monaten? Vor neun? Sie musterte zweifelnd die Verpackung. Egal.

Sie griff sich den Riegel und eine Flasche Wasser und stellte beides auf ihren abgenutzten weißen Küchentresen. Das Frühstück war angerichtet. Jetzt brauchte sie nur noch ihre Zeitung. Zeit, sich dem großen Tag zu stellen.

Sie suchte nach ihren Flip-Flops und ihrem Trenchcoat, um ihn über ihren Pyjama zu ziehen, und schlurfte dann die Treppe hinunter. Dann spähte sie vorsichtig in alle Richtungen, weil sie dem für L.A. typischen mitleidigen und zugleich verurteilenden »Ach Liebes, was für eine Mode-Katastrophe«-Blick aus dem Weg gehen wollte, und sprang im winzigen Vorgarten schnell zum Briefkasten und ihrem Exemplar des Daily Sentinels.

Der Briefkasten war leer.

Verdammter Mist.

Notiz an mich – den Zeitungsdieb finden und töten.

Fluchend stieg sie die Treppe wieder hinauf, nahm zwei Stufen auf einmal und gab sich Mühe, die abblätternde weiße Farbe im Treppenhaus zu ignorieren. Es war sowieso das Beste, sich nicht allzu lange hier aufzuhalten. Dieser Seit-Elvis-Tod-nicht-mehr-geputzt-Geruch war nicht gerade angenehm.

Erst als sie wieder oben angekommen war, merkte sie, dass sie ihre Schlüssel nicht mitgenommen hatte. Lauren fluchte und drückte gegen die Tür. Die rührte sich nicht. Sie hatte heute einfach kein Glück. Jetzt blieb nur noch eine Lösung. Sie musste sich einschleimen.

Lauren klopfte behutsam an die limonengrüne Tür ihres Nachbarn und betete, dass Joshua in der Stimmung war, ihr zu helfen. Der junge Möchtegern-Accessoires-Designer war emotional eher … schwankend, wohl die Kehrseite seiner unerschöpflich kreativen Seele. Und er war nicht gerade ein Morgenmensch.

»Wer auch immer du bist, ich hoffe für dich, dass du im Sterben liegst, stinkreich bist oder ein Calvin-Klein-Modell«, rief Joshua durch die Tür, bevor Lauren hörte, wie die Sicherheitskette zurückgeschoben wurde.

»Oh«, sagte er bei ihrem Anblick enttäuscht. »Nichts von alledem. Ich muss wohl nicht fragen, was du hier willst.« Er stutzte und musterte ihr Outfit. »Wie kann es eigentlich sein, dass du so viel Zeit mit Stars und Sternchen verbringst und immer noch die Stilsicherheit eines sternhagelvollen Hinterwäldlers hast? Ist das eine Verkleidung? Die Ode an ein Kindermädchen aus Florida?«

»Das ist der Gerade-aus-dem-Bett-um-meine-Zeitung-zu-holen-die-aber-wieder-von-irgendeinem-Bastard-geklaut-wurde-Look.«

Joshua seufzte und zog seinen karmesinroten Seidenmorgenrock enger um seinen schlanken, durchtrainierten Oberkörper. Er drehte sich um und suchte an seinem Schlüsselbrett nach Laurens Ersatzschlüssel. Sie hatte sich in den letzten drei Monaten fünf Mal ausgesperrt. Das hier war für beide zur Routine geworden.

Als er sich ihr wieder zuwandte, ließ er den Schlüssel vor ihrer Nase baumeln. »Dieses Mal musst du dafür bezahlen, mein kleines zerzaustes Vögelchen.«

»Ernsthaft?« Lauren griff nach dem Schlüssel, doch Joshua war schneller. »Was willst du?«

»Ist nicht bald die Blockbuster-Premiere von Wolverine vs. Predator?«, schnurrte er.

Sie rollte mit den Augen. Joshuas Leidenschaft für Hugh Jackman war das am schlechtesten gehütete Geheimnis der Welt. »Warum fragst du, wenn du die Antwort bereits kennst?« Lauren versuchte wieder, nach dem Schlüssel zu greifen, doch damit hatte Joshua gerechnet.

»Du wirst sicher eine Begleitung brauchen«, grinste er. »Außerdem habe ich gehört, dass die Designerin Monique Hertford erwartet wird. Ich habe eine neue Original Joshua-Bennett-Handtasche, die du ihr aus Versehen absichtlich unter die Nase halten wirst, wenn wir ihr auf dem roten Teppich begegnen. Und da Monique und ich uns beide gerade in einer glänzenden Phase befinden, könnte das mein großer Durchbruch sein!«

»Mann, Josh, komm schon, ich kann darüber jetzt nicht nachdenken. Ich brauche eine Dusche und muss meine Wäsche waschen und will mal fünf Minuten lang nicht an die Arbeit denken. Also gib mir bitte meinen Schlüssel.«

»Eine Nacht im Orbit des süßen Australiers und meiner neuen besten Designerfreundin in spe – das ist der Deal. Komm schon, ich verspreche, ich werde ein umwerfendes Date sein. Du weißt, dass ich das sein werde«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln und einer perfekten weißen Zahnreihe, für die er wahrscheinlich mehr bezahlt hatte, als ihr Chevy wert war.

Es gab einen Grund, warum in L.A. so viele Künstler hungerten.

»Ich werde nicht einmal versuchen, hinter deinem Rücken mit einem süßen Typen zu flirten«, fügte er mit einem flehenden Blick aus seinen braunen Augen hinzu. »Außerdem gehe ich mit dir wieder auf Second-Hand-Outfit-Jagd, damit du deinen Schrankinhalt mal aktualisieren kannst. Du bist schon überfällig. Also, was sagst du?«

»Der Film kommt in zwei Monaten und die Gästelisten werden erst drei Wochen vorher fertig sein«, versuchte es Lauren mit logischen Argumenten. »Ich werde nicht zu jeder VIP-Veranstaltung eingeladen. Ich weiß nicht einmal, ob ich auf dieser Liste stehe.« Sie blickte sehnsüchtig auf ihren Schlüssel. »Komm schon. Können wir aus der Nummer mit meinem Ersatzschlüssel bitte keine Geiselnahme machen?«

Sie ließ ihre Stimme etwas härter klingen und er gab mit einem dramatischen Seufzer nach.

»Na schön.« Er ließ den Schlüssel in ihre Hand fallen. »Aber wenn mir zu Ohren kommt, dass du jemand anderen zu dieser Premiere mitgenommen hast, werde ich einen spektakulären Wutanfall bekommen.« Er musterte sie noch einmal und tippte dabei mit seinem Zeigefinger auf seine Unterlippe. »Wo wir gerade beim Thema sind, wenn du diesen 08/15-Look auffrischen willst – ich habe ein paar Freunde, die allen Stars die Haare machen, den A-Promis und den B-Promis und den C-Promis, die den B-Promis in den Arsch kriechen …«

»Und mit ›auffrischen‹ meinst du nicht zufällig wasserstoffblond?«, hakte Lauren nach. »Bist du schon wieder bei Marilyn? Wann findet deine Fixierung jemals ein Ende?«

»Bin ich so vorhersehbar, Liebes?«

»Keine Sorge, das gilt auch für den Rest dieser Stadt. Keiner weiß mehr die Klassiker zu schätzen«, sagte sie und fuhr mit den Fingern durch ihre braunen Haare. »Wer weiß, das könnte die nächste große Sache sein.«

»Du bist ein hoffnungsloser Fall.« Joshua schüttelte betroffen den Kopf. Er lehnte sich gegen seinen Türrahmen und beobachtete, wie sie ihre Tür aufschloss. »Gut, ich habe es versucht. Gott ist mein Zeuge, dass ich es versucht habe«, sagte er. »Und ernsthaft, Sonnenschein, bitte denk an mich, wenn du Tickets zu dieser Premiere bekommst. Das wäre genau das richtige Event für einen armen, aufstrebenden Accessoire-Designer. Du brauchst nur ein Wort zu sagen, dann bin ich da, mit Glöckchen um den Hals. Und das kann, muss aber nicht nur eine Metapher sein.«

Sein Lächeln war so hoffnungsvoll, dass Lauren lachen musste, als sie ihre Tür hinter sich ins Schloss zog.

* * *

Ichiba-Sushi, 13:00 Uhr

Lauren streckte ihre Beine unter dem Tisch in Mariella Slaters Lieblings-Sushi-Bar aus. Sie hatte schon vor einem Monat diesem Mittagessen zugestimmt und wenn es irgendjemand anderes gewesen wäre, hätte sie abgesagt, wäre im Bett geblieben und hätte sich die Decke über den Kopf gezogen. Aber Mariella war nicht einfach irgendjemand. Sie war die Presseagentin einiger Top-Promis von L.A. und eine der wenigen Personen, die in Laurens Anfangszeit in L.A. freundlich zu ihr gewesen waren.

Es war sicherlich auch in Mariellas eigenem Interesse gewesen, eine junge Journalistin auf ihrer Seite zu haben. Das war der Anfang ihrer Geschäftsbeziehung gewesen. Natürlich wussten beide, dass Mariellas Freundschaft zu Lauren bedeutete, dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit über die Events und die berühmten Klienten berichtete, die Mariella im Rampenlicht sehen wollte.

Da die hartgesottene PR-Agentin sich um die wenigsten Neuankömmlinge bemühte und ihnen zeigte, wie der L.A.-Wahnsinn funktionierte, hatte Lauren es immer als schmeichelhaft empfunden, dass Mariella dachte, sie sei die Mühe wert.

Mariella hatte das gewisse Alter erreicht, in denen Frauen über ihr erstes Facelifting nachdachten – »Sei bitte so lieb und rede mir das aus« – und war mit einem sanftmütigen Regierungsangestellten verheiratet, den sie verehrte. Sie hatten keine Kinder und Lauren vermutete insgeheim, dass sie eine Art Ersatztochter für die extrovertierte Rothaarige war. Nach etlichen langen gemeinsamen Brunches, Mittagessen und Galas waren sie auf jeden Fall gute Freundinnen zu beiderseitigem beruflichen Vorteil geworden.

Lauren profitierte von Mariellas Insiderwissen in Bezug auf die aufstrebenden Stars und Sternchen dieser Stadt, die sie im Auge behalten musste. Mariellas mittlerweile ramponierte schwarze Kontaktemappe war dicker als ein Telefonbuch und prall gefüllt mit Visitenkarten, die wie Konfetti herausflogen, wenn sie sie zu schnell aufklappte.

Es gab nicht viel, was in der Stadt vor sich ging, von dem sie nichts wusste. Und es gab keinen A-Promi, mit dem sie sich nicht duzte.

»Bist du bereit für die große Gala nächste Woche?«, fragte Mariella gleich als sie hereinkam. Sie warf ihre klobige Tasche auf den Sitz neben Lauren und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

Lauren lehnte sich ihr zögernd entgegen und ergab sich der Duftwolke eines von Elizabeth Taylors weniger stinkenden Parfüms. Unwillkürlich rümpfte sie ihre Nase. »Welche?«, fragte sie, als sie nach ihrem Mineralwasser griff. »Sind Galas nicht alle groß?«

»Welche?« Mariella antwortete mit gespieltem Entsetzen und legte sich eine Hand aufs Herz. Die rote Seide ihres makellosen, topaktuellen angesagten Designerkleids flatterte. Lauren versuchte, den Namen des Designers zu erraten, gab aber schnell auf. Sie lag noch mehr als jedes zweite Mal daneben. Mariella wedelte mit der Hand durch die Luft. »Meine natürlich.«

Lauren sah sie nur verständnislos an und versuchte, sich an eine kürzlich eingegangene Einladung von Mariella zu erinnern.

Die PR-Agentin seufzte und winkte den Kellner zu sich. »Martini, extra trocken, ohne Olive«, bestellte sie, ohne den Blick von Lauren abzuwenden. »Die Gala zum Start von SmartPay USA in Kalifornien? Klingelt da irgendwas?«

Lauren schüttelte verwirrt den Kopf.

»Ach, komm schon, Liebes«, seufzte Mariella. »Zwei Gouverneure werden dort sein. Zugegeben, einer kommt aus Nevada, aber einem geschenkten Gaul – und so weiter. Aber unser Gouverneur wird auch da sein. Er ist immer gut für ein bis drei Zitate, wenn er angetrunken ist, darauf steht ihr Reporter doch.« Sie lachte und schaute Lauren erwartungsvoll an.

Lauren blickte völlig ratlos zurück. »Ähm … Mari, bei mir klingelt da gar nichts. Ich habe nichts bekommen. Keine Pressemappe, gar nichts. Ich habe noch nicht einmal von SmartPay USA gehört.«

»Oh, das musst du! Es ist das Start-up-Unternehmen aus Nevada, das ›die Art und Weise, wie wir Geschäfte machen, revolutionieren wird‹«, sagte Mariella. »Und ich sage das nicht, weil ich dafür bezahlt werde. Na ja, okay, aber es ist nicht der einzige Grund.« Ihre vollen, rubinroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Nein? Immer noch nichts?«

Lauren runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

Mariella seufzte und begann mit ihren Fingern aufzuzählen. »Es ist die Technologie der Zukunft. Kalifornien hat schon unterschrieben und wird es für all seine Regierungsangestellten nutzen. Es ist bahnbrechend, umwerfend, die beste Erfindung seit geschnittenem Brot, blablabla. Komm schon, Liebes, wie kannst du noch nie etwas davon gehört haben?«

Lauren zuckte hilflos mit den Schultern und kam sich reichlich dumm vor.

»Na ja, ich sehe, dass ich kläglich mit meiner Öffentlichkeitsarbeit gescheitert bin«, sagte Mariella übertrieben dramatisch. »Okay, Süße, das Wichtigste nochmal zusammengefasst: Es werden jede Menge A-Promis, hochrangige VIPs – Gouverneure, andere Politiker sowie ihre schicken Ehefrauen und Freundinnen – kommen.

Es gibt eine Menge Gerüchte darüber, dass die Sache bald landesweit zum Einsatz kommen wird. Wenn nicht sogar weltweit. Und das ist keine Übertreibung. Na, na, ich kenne diesen Blick, aber ich meine es ernst. Es werden auch eine Menge Polit-Journalisten vor Ort sein. Lass mich nur schnell …«, sie hielt inne und wühlte in ihrer ledernen violetten Tasche, die so groß war wie ein kleiner Fernseher. »Ich schicke dir nur nochmal kurz das Pressekit zu.«

Sie tippte wild auf ihrem iPhone herum und strahlte sie dann an. »Erledigt. Also erwarte ich von dir und deiner anbetungswürdigen Eisköniginnen-Erzfeindin, dass ihr in der ersten Reihe sitzen werdet, die Notizbücher gezückt. Und ich will kein Gejammer hören, dass es langweilig wäre, oder – Gott bewahre – ›irgendein Finanzmist aus Nevada‹.«

Mariellas Befehlston brachte Lauren zum Lachen. Mariella liebte es, Journalisten dazu zu verdonnern, an ihren Events teilzunehmen, und deutete mehr oder weniger dezent an, dass es ein absoluter Fauxpas wäre, nicht dabei zu sein, eine Art sozialer Schande, wenn nicht gar journalistischer und gesellschaftlicher Selbstmord. Ironischerweise schreckte die Business- und Politikkomponente Lauren nicht ab. Sie machte sie eher viel neugieriger darauf hinzugehen. Sie wusste, dass sie das von allen anderen in ihrem Umfeld unterschied. Gerade als sie das anmerken wollte, brachte der Kellner Mariellas Martini.

Sie nahm einen großen Schluck und seufzte übertrieben erleichtert. »Oh, Gott sei Dank, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich das jetzt gebraucht habe. Ich schwöre dir, diese lästigen Boyband-Kinder, die sich selbst für die Größten halten, sind das Schlimmste. Ein Sack voller Hormone auf zwei Beinen. Einer von diesen unmöglichen Halbstarken hat mich den ganzen Morgen auf Trab gehalten – ich kann natürlich keine Namen nennen …«

Lauren schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln und ließ sie einfach reden. Das war wahrscheinlich der Grund, warum Mariella sie so sehr mochte. Nichts von ihren Lunchgesprächen landete je auf den Klatschseiten. Es war wie eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen. Alles Gesagte blieb inoffiziell.

»Wie dem auch sei«, fuhr Mariella fort, als sie mit einem rotlackierten Fingernagel den Stiel ihres Martiniglases entlangstrich. »Ich habe den vorpubertären Idioten dabei erwischt, wie er im Bad seines Hotelzimmers einen Joint durchgezogen hat. Und das, als ich ihn gerade für seine erste Pressekonferenz seit Dem Vorfall holen wollte. Er hatte nicht einmal den Schneid zuzugeben, dass er high war, obwohl er stank wie ein Hippie in Woodstock. Er hat mir direkt in die Augen gesehen und behauptet, es sei nur sein Rasierwasser. Sein Rasierwasser! Das kleine Monster muss sich überhaupt noch nicht rasieren.«

Lauren lachte. »Na ja, du könntest ihm damit drohen, ihn bei seiner Mum zu verpetzen.«

»Oh, glaub ja nicht, dass ich nicht daran gedacht habe, aber sie ist noch schlimmer als er. Soweit ich weiß, besorgt sie ihm das Gras. Ich sage dir, wenn er nur berühmt ist, würde es sie nicht mal interessieren, wenn er dabei erwischt wird, in aller Öffentlichkeit Zitzen zu lutschen.«

»Zitzen?« Lauren musterte sie misstrauisch.

»Natürlich«, sagte Mariella mit einem Augenzwinkern. »Ich habe mich sehr über das Video amüsiert. Jeder im Büro hat darüber gelacht. Wie nett von Ayers, dass sie es hochgeladen hat.«

»Ja«, sagte Lauren mit finsterem Blick. »Überaus aufmerksam.«

Mariella kicherte. »Ach, hör auf zu schmollen, Liebes! In ein paar Monaten wirst du über diese Geschichte lachen. Und vergiss nicht, dass du gerade erst am Anfang deiner Karriere stehst. Die ganze Welt liegt dir zu Füßen. Ein paar kleinere Skandale wie dieser machen dich nur interessanter. Wenn du so weitermachst, finde ich vielleicht endlich jemanden, der bereit ist, mit dir zu einem zweiten Date zu gehen.«

»Nicht das Thema schon wieder!« Lauren stöhnte. »Keine Blind Dates mehr! Die letzten fünf waren der reinste Albtraum!«

»Waren sie wirklich alle so schrecklich? Die letzte, Natashyia, schien ganz …«

»Sie hat den Regisseur am Nebentisch angebaggert, bevor das Hauptgericht serviert wurde. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass sie mir meine Uhr geklaut hat. Beim Salat hatte ich sie noch am Handgelenk, und als der Kaffee kam, war sie verschwunden. Und dieser falsche Akzent? Von wegen französisch! Es reicht. Ich meine es ernst, Mari. Wenn du mit dieser Kuppelei weitermachst, überlege ich mir, ob ich nicht lieber ins Kloster gehe.«

»Na ja, das könnte deine Ausgangslage in der Tat verbessern.« Mariella nickte ernst. »Wie ich höre, ist The Sound of Music sehr beliebt bei euch Damen, die Damen bevorzugen.«

Lauren schlug ganz langsam mit ihrem Kopf auf die Tischplatte. »O Gott. Du kannst ab jetzt gerne den Mund halten. Lass mich nicht bereuen, dass ich dir das erzählt habe.«

»Na schön. Aber da ich jetzt deine ungeteilte Aufmerksamkeit habe, notiere dir bitte den 11. Mai.« Ihr Gesichtsausdruck hatte schlagartig wieder zu Business gewechselt.

»Der 11. Mai?« Lauren hob den Kopf.

Mariella tippte mit dem Zeigefinger ungeduldig auf den Tisch. »SmartPay USA. Zwei Gouverneure? Schreib es dir auf oder so. Ich kann immer noch nicht glauben, dass du die Einladung nicht bekommen hast. Sie hätte letzte Woche da sein sollen. Es hingen sogar Luftballons an meiner fabelhaft überzeugenden Pressemitteilung, die du hier so schamlos verleugnest.«

»Ja klar«, sagte Lauren und verzog das Gesicht. »Als würde ich mich an sowas nicht erinnern.«

Sie zögerte, als ihr einfiel, dass Franks sehr nette, aber zerstreute Sekretärin Florence das Büro am vergangenen Donnerstag mit Ballons verlassen hatte. Sie seufzte und wollte ihren Kopf am liebsten nochmal auf die Tischplatte schlagen. Leider zu riskant für ihre letzten funktionierenden Gehirnzellen. Wahrscheinlich hatte Florence die angehängte Pressemitteilung nicht einmal bemerkt und die Ballons als Geschenk für ihre Kinder betrachtet.

Mariella griff nach der Speisekarte. »Hm, vielleicht muss ich an meinen Tricks arbeiten, wenn das die Reaktion ist. In den 70er Jahren haben bestimmte Vorgänger von mir ihre Pressemitteilungen zusammen mit Champagner und Halluzinogenen verschickt, um sich eine Meute eifriger Reporter zu sichern.«

»Ohne Scheiß?«

»Ja, kein Witz. Natürlich nur in bestimmten Kreisen und an bestimmte Journalisten, du verstehst. Das Problem war, dass die Bedachten zu high waren, um einen zusammenhängenden Artikel zu schreiben. Hier und da wurden rosa Flamingos erwähnt unter ›Gesehen wurden‹.«

»Okay, jetzt weiß ich, dass du dir das nur ausgedacht hast«, sagte Lauren misstrauisch.

»Pfadfinderehrenwort«, beharrte Mariella mit einem Grinsen. »Nicht, dass ich eine besonders gute Pfadfinderin gewesen wäre. Dieses alten Menschen helfen und die Wahrheit sagen steht meinem Eid als PR-Agentin entgegen. Oh, gut, mein Favorit ist heute auf der Tageskarte.«

Sie winkte dem Kellner und schaute dann wieder zu Lauren. »Also, der 11. Mai?«

Lauren kramte ihr Handy heraus und warf einen Blick auf den Kalender. »Das passt. Ayers musst du allerdings selbst Bescheid geben. Nur weil wir im selben Gebäude arbeiten heißt das nicht, dass wir auch miteinander reden.«

Mariella schnaubte. »Ihr zwei. Ich sage dir, wenn sich nach der Apokalypse der Rauch endlich gelegt hat, wärt ihr beiden immer noch mitten im Todeskampf, jede die Hände um die Kehle der anderen gelegt.«

Lauren lachte. »Von wegen. Sie würde sich kaum dazu herablassen, ein einfaches Mädchen aus Iowa anzufassen, selbst wenn es den positiven Nebeneffekt hätte, diesem Mädchen den Garaus zu machen.«

Als der Kellner kam, legte Lauren die Speisekarte auf den Tisch. Rohen Fisch konnte sie heute nicht vertragen. Dazu lag ihr die Sache mit der geklauten Korruptionsstory noch zu schwer im Magen. »Ich hätte gerne die Tempura-Garnelen-Rollen.«

Er nickte und musterte tadelnd ihren Körper.

»Frittierte Kohlenhydrate? Wie verwegen von dir«, sprach Mariella die Gedanken des Mannes laut aus. Sie blickte den Kellner an. »Lachs-Sashimi, bitte. Eine von uns muss tatsächlich Opfer bringen, um ihre Figur zu halten.«

Der Kellner wandte sich zum Gehen. Seine zusammengekniffenen Lippen schienen Mariella beizupflichten.

Selbstgefälliger kleiner …

Im Augenwinkel sah sie ein wogendes Gelb herannahen und Lauren blickte zur Tür.

Oh, verdammt.

Es kam näher.

»Ihr Lieben! Ich dachte mir doch gleich, dass ihr es seid. Ich sagte zu mir selbst, Sahaya, wenn das nicht deine guten Freundinnen Lauren King und Mariella Slater sind, dann weiß ich nicht, wer im Ichiba-Sushi zu Tisch sitzt.«

Gute Freundinnen. Genau.

Eine der klatschmäuligsten PR-Agentinnen Hollywoods hauchte beiden ein paar Küsse zu und setzte sich an ihren Tisch. Sarah Owens – die sich selbst Sahaya Onyx nannte, aus Gründen, die nur sie kannte – brauchte offenbar keine Einladung.

»Mariella, Liebe, wen trägst du da? Ich muss es haben!«

»Willst du wirklich, dass wir beide in identischen Vera Wangs rumlaufen, Schätzchen?«

Vera Wang! Lauren schnippte im Stillen mit den Fingern. Eines Tages würde sie sich die Designernamen merken können.

»Wo du recht hast«, lenkte Sarah ein. »Habe ich richtig gehört? Habt ihr zwei gerade über ihre Frostigkeit geredet? Die eisige Hoheit des Daily Sentinel?«

Lauren zog erstaunt die Augenbrauen nach oben, als die skelettartig dünne Kreatur sich kunstvoll auf ihrem Stuhl arrangierte, als würde sie sich für eine ausgedehnte Runde Klatsch und Tratsch niederlassen. War die Frau etwa eine verdammte Lippenleserin? Das würde erklären, woher sie immer wusste, was in der Stadt vor sich ging.

»Wusstet ihr«, begann Sarah, »dass mein Chef immer noch verbietet, ihren Namen in seiner Gegenwart laut auszusprechen? Er hat ihr die Serie über Schmiergelder und Lobbyisten in Washington nie verziehen, in der sie auch ihn als einen der schlimmsten Täter porträtiert hat.«