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Shattergirl ist eine brillante, aber unnahbare schwarze außerirdische Superheldin, die durch die Kraft ihrer Gedanken Gegenstände bewegen und zerstören kann. Die Menschheit verehrt sie und andere ihrer Art, die die Welt beschützen und Menschen in Not helfen. Doch plötzlich verschwindet sie von der Bildfläche und Lena Martin, die gerissene menschliche Trackerin, hat nur wenige Tage, um Shattergirl zu finden. Als ihr das gelingt, wird ihre Welt auf den Kopf gestellt, Masken bröckeln und die Wahrheit kommt Stück für Stück ans Licht. Ein preisgekrönter queerer Science-Fiction, in dem sich zwei starke Frauen nicht nur einem gemeinsamen Gegner, sondern auch ihrer eigenen Vergangenheit stellen müssen.
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Seitenzahl: 372
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Inhaltsverzeichnis
Von Lee Winter außerdem lieferbar
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog: Sechs Monate später
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über Lee Winter
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Von Lee Winter außerdem lieferbar
Nichts als die unbequeme Wahrheit
Ein Hotel und zwei Rivalinnen
Happy End am Ende der Welt
Nichts als die ungeschminkte Wahrheit
Aus der Rolle gefallen
Requiem mit tödlicher Partitur
Aus dem Newsroom:
Das Geheimnis der roten Akten
Unter die Haut – Liebe, Verschwörung und eine fast geplatzte Hochzeit
Widmung
Wir alle verdienen Helden.
Für alle, die nicht in die Schubladen der Gesellschaft passen – Shattergirl ist eure Heldin.
Kapitel 1
Lena Martin stand im wirbelnden Schnee, hielt den Atem an und lauschte. So gut es ging, blendete sie den heulenden Wind aus, der zwischen den gewaltigen Kiefern hindurchfegte. Es musste auch noch andere Geräusche geben. Geräusche, die sie auf die richtige Spur brachten. Nach denen suchte sie.
Nicht atmen zu müssen war eine Wohltat. Hier in Oimjakon, im Herzen von Sibirien, herrschten Temperaturen von –55 °C. Hätte sie die Wahl zwischen tausend Nadeln, die sich in ihren Rachen bohrten, oder atmen, würde sie sich für die Nadeln entscheiden.
Sie widerstand dem Drang, mit den eisigen Füßen zu stampfen. Das Geräusch würde den Flüchtigen nur auf sie aufmerksam machen. Beast Lord. Ein mit dreihundert Pfund Muskeln und Sehnen bepackter, labiler Guardian – und einer der beliebtesten Superhelden der Erde. Mitten in dieser gottverlassenen Gegend schien er aber den Verstand verloren zu haben. Irgendwie konnte sie das ja verstehen. Oimjakon, das die Liste der kältesten Orte der Welt anführte, war nicht gerade Balsam für die Seele.
In den vergangenen Monaten war Lena bereits ein halbes Dutzend Mal auf Beast Lord gestoßen, hatte ein flüchtiges Aufblitzen seiner pelzigen Arme und seines struppigen Haupts erhascht. Sie war mittlerweile sehr geschickt darin, ihn nicht auf sich aufmerksam zu machen. Das Letzte, was sie wollte, war, seinen Zorn auf sich zu ziehen. Wenn er richtig wütend war, endete eine Begegnung mit Beast Lord jedes Mal in einem Heulen, das so laut war, dass es das Trommelfell zu durchlöchern, Fenster zu zerschmettern und Bäume umzunieten vermochte.
Ein- oder zweimal hatte er den Kopf in ihre Richtung gedreht und ihre Blicke hatten sich getroffen. Beast Lords zerklüftetes Antlitz war verstörend und seine wilden Augen glühten rot. Sein gegerbtes Gesicht war eingefallen, seine Kleidung zerschlissen und dreckig. Seit sie ihn zuletzt in den Nachrichten gesehen hatte, war es ziemlich bergab mit ihm gegangen. Vielleicht bekam ihm die Paleo-Diät nicht.
So nah wie heute war sie ihm allerdings noch nie gekommen. Lena konnte nicht nur seinen Körpergeruch wahrnehmen, erdig und ursprünglich, sondern auch tiefe Stapfen von großen Füßen mit scharfen Krallen im Schnee ausmachen. Mit gerunzelter Stirn untersuchte sie sie. Die Spuren endeten mitten im Nirgendwo, als ob Beast Lord plötzlich zur Seite gesprungen wäre.
Lena wirbelte herum. Ihr Herz raste, als sie versuchte, seine Gestalt zwischen den Bäumen auszumachen. Wo zum Teufel steckte er?
Schneller als sie wollte, bekam sie ihre Antwort. Ohne Vorwarnung sprang der verschwommene, haarige Riese mit drei ungeheuren Sätzen auf sie zu. Er stürzte sich auf sie. Um seine kräftigen Schultern spannte sich eine abgewetzte schwarze Lederjacke ohne Ärmel. Seine zerrissene Jeans starrte vor Schmutz. Darunter ragten die dicksohligen, nackten Füße hervor, schnell und groß und dunkel behaart.
Gerade noch rechtzeitig warf Lena sich zur Seite. Unsanft kam Lena auf dem Boden auf und landete auf den Knien. Der Rums, mit dem sein Körper neben ihrem einschlug, ließ den Schnee erzittern. Um ein Haar hätte er sie zerquetscht.
Beast Lords krallenbewehrte Klaue raste seitwärts auf sie zu. Blindlings schlug er nach ihr.
Lena hob ihren Arm, um ihn abzuwehren. Mit einer merkwürdig überraschten Abgeklärtheit starrte sie auf das Blut, das kurz darauf ihren Arm herunterlief. Es dauerte einen Moment, doch dann schoss Schmerz durch ihren Körper.
Er verpasste ihr eine mit dem Handrücken.
Sie krachte rückwärts auf den Boden.
Beast Lord warf seinen Arm über ihren Brustkorb. Er drückte sie mit einer solchen Kraft herunter, dass ihr die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Lena lag hilflos und benommen da. Sie drohte im Schmerz zu versinken.
»Für eine Gewöhnliche bist du hartnäckig, das muss man dir lassen«, knurrte Beast Lord.
Statt einer Antwort keuchte sie nur. Es war, als ob eine Abrissbirne auf ihrer Brust gelandet wäre.
Beast Lord hob den Kopf und heulte. Ein unheimlicher, qualvoller Urschrei, der die Stille zerriss. Wie bei einer Explosion bogen sich die Bäume, ächzten, wurden entwurzelt, und Schneegestöber prasselte auf Lena ein. Sie zitterte unkontrolliert trotz der drei Schichten Thermowäsche und des dick gefütterten Mantels.
Während um sie herum ein Inferno herrschte, wartete Lena das Gebrüll ab und studierte dabei ihr Ziel. Sie hatte sich schon lange gefragt, ob Beast Lord nicht nur wölfisch aussah, sondern auch fühlte wie ein Wolf. Ihre Augen tränten inzwischen. Das Heulen wehte ihr Schnee und Pflanzenteile ins Gesicht. Aber sie war jetzt nahe genug, um die Taktik auszuprobieren, die sie für Beast Lord erarbeitet hatte.
Er hielt inne und wartete, bis das Echo seines Heulens verklungen war. Dann sah er auf sie herab. Endlich hob er den Arm von ihrer Brust und beäugte sie eingehend. Überraschung breitete sich auf seinen Zügen aus. Er neigte den Kopf, um einen besseren Blick auf ihre Ohren werfen zu können. Wahrscheinlich hatte er erwartet, Blut herausfließen zu sehen.
Arschloch!
Wenn sie nicht ein spezielles Paar Ohrstöpsel benutzt hätte, wäre sie jetzt taub. So nah an der Quelle hätte die akustische Druckwelle ihre Trommelfelle zerfetzt. Doch die Hightech-Teile filterten Geräusche und wandelten alles bis auf humanoide Stimmen in weißes Rauschen um.
Er fuhr in die Höhe und hockte sich rittlings auf sie. Seine fleischigen, haarigen Fäuste stemmte er rechts und links neben ihrem Kopf in den Boden, mit seinen massiven Schenkeln fixierte er ihre Hüften.
»Sag mir, warum ich dich nicht sofort erledigen sollte«, verlangte er. »Ich bin es leid, dass du mich verfolgst. Wie lange soll ich noch deine Beute sein? Gibst du denn nie auf?«
»Nein«, sagte sie, als endlich wieder Luft in ihre Lungen strömte. Es tat noch immer höllisch weh. »Ich gebe nicht auf. Und nein, du wirst mich nicht erledigen. Denn Guardians sind keine Killer. Ihr seid Helden, schon vergessen? Ihr beschützt Menschen wie mich, die Gewöhnlichen. Ihr seid die Guten.«
»Es wäre so einfach«, entfuhr es ihm. Seine Augen blitzten auf, als er begriff, wie sehr das stimmte. »Es wäre so einfach, dich verschwinden zu lassen, damit ich meine Ruhe habe. Ich dachte, du würdest aufgeben. Aber das hast du nicht.« Er musterte sie, schien seine Optionen abzuwägen.
Lena verspürte keine Angst, nur eine seltsame Gelassenheit, während er über ihr Schicksal entschied. Sie atmete tief ein und bereute es sofort, denn die kalte Luft schnitt tief in ihre Lunge. Der Schmerz riss sie in die Gegenwart zurück. Verdammt noch mal, so würde sie nicht draufgehen!
»Denkst du, ich weiß nicht, wie du dich fühlst?«, fragte sie sanft. »Ich weiß, dass du sie vermisst, deine Leute, die Guardians. Sie sind wie ein Rudel für dich, nicht wahr? Sie vermissen dich. Sie wollen dich zurück.«
»Tagshart!«, fluchte er in seiner Muttersprache. »Ich bin eine Schande.«
»Nein«, erwiderte Lena ernst und sah ihm tief in die Augen. Sie hob den blutverschmierten Arm und berührte seinen struppigen Bart mit den behandschuhten Fingern. »Du hast ein paar Fehler gemacht. Das war keine Absicht. Die Einheimischen haben sich vor einer seltsamen Bestie gefürchtet, die ihre Fenster zerschlug und ihre Tiere verschreckte. Aber es war nur ein Versehen und es lässt sich aus der Welt räumen. Das ist das, was ich mache: Fehler in Ordnung bringen. Niemand außerhalb der Einrichtung würde je davon erfahren. Außerdem, weißt du denn nicht, was das Allerwichtigste ist?«
Er lehnte sich vor und lauschte gebannt ihren Worten.
»Ohne dich sind sie unvollständig. Ein Rudel ohne eines seiner Mitglieder ist wie ein Körper, dem ein Körperteil fehlt.«
Er atmete scharf ein. »Weißt du nicht, was sie mit mir machen werden?«, knurrte er. »Ich kann nicht zurückgehen. Ich muss frei sein. Muss hier draußen sein, nicht gefangen in irgendeiner Stadt und für die Gewöhnlichen Stöckchen holen.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß. Es ist wie ein Ruf für dich, nicht wahr? Hier draußen zu sein?« Sie begann, sein zotteliges Haar sanft, beruhigend, mit den Fingern zu kämmen. »Du musst frei sein«, wiederholte sie. »Du musst umherstreifen. Das liegt dir im Blut.«
»Ja.« Sein Kopf sackte zustimmend nach vorne. »Ja, das muss ich. Ich kann nicht so sein, wie mein Volk es will. Oder wie dein Volk es will.«
»Hey, ist schon okay«, beruhigte ihn Lena. »Dein Anführer versteht das. Er ist nicht böse auf dich. Er weiß, warum du hier draußen bist.«
»Tal ist nicht sauer?« Er hob den Kopf und Hoffnung leuchtete in seinen Augen.
»Natürlich nicht. Er vermisst dich. Er möchte, dass du nach Hause kommst. Darum hat er mich geschickt. Du wirst dort gebraucht.« Sie strich ihm mit den Fingern über den Kopf und tätschelte ihm den Nacken wie einem Hund. Und wie bei einem Hund wurde auch seine Körpersprache tatsächlich noch fügsamer.
»Ich wollte nicht weglaufen.« Beast Lords Stimme versagte und aus seinen seltsamen, blutroten Augen sah er sie flehentlich an. »Ich musste einfach dort weg. Die Stadt, die Anforderungen. Du weißt nicht, wie es ist. Wie solltest du auch? Du bist eine Gewöhnliche.«
»Woher sollten wir wissen, was du durchmachst?«, pflichtete Lena ihm bei und legte unendlich viel Mitgefühl in ihre Stimme. »Ein Held zu sein, ist eine Bürde, das weiß ich. Aber du kannst diese Bürde nicht allein tragen. Vergiss nicht, dass deine Leute auf dich warten. Sie können dir helfen. Sie verstehen es. Es ist an der Zeit, nicht mehr wegzulaufen. Komm mit mir nach Hause. Du wirst dich fragen, wovor du solche Angst hattest. Alles wird gut.«
Sie gab ihm einen solidarischen Klaps auf die Schulter.
Sein Körper erschlaffte.
Sie hatte ihn. Sie wusste, dass sie ihn hatte. Lena musste nur …
Ihr FacTrack meldete sich mit einem Vibrieren und einem leisen Klingeln. Sie runzelte die Stirn. Ihre Auftraggeber würden sie nicht mitten in einem Einsatz kontaktieren, es sei denn, es wäre ein Notfall.
Beast Lord lehnte sich misstrauisch zurück, als Lena behutsam den Jackenärmel von ihrem Handgelenk schob, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. Sie kniff die Augen zusammen.
Sie wurde dringend zurückbeordert?
Sie tippte »1T?« ein, um einen Tag Aufschub zu erbitten, bevor sie zurückkehrte. Selbst ein halber Tag würde ausreichen, um Beast Lord zurückzuholen, der jetzt fügsam wie ein Welpe war, nachdem sie seine Verteidigung durchbrochen und eine Verbindung hergestellt hatte.
Der Bildschirm leuchtete augenblicklich auf: »SOFORT«.
Verdammt.
Sie streifte den Ärmel wieder über und sah den Guardian an, der seinen Blick nicht von ihr abgewendet hatte. Lena gefiel sein Gesichtsausdruck nicht. Offensichtlich ein wenig benebelt mühte er sich ab, herauszufinden, was vor sich ging. Seine Fähigkeiten waren in letzter Zeit geschwächt. Er hätte schon vor Wochen herausfinden können, dass sie eine Trackerin war, aber bis zu diesem Augenblick waren ihre subtilen Manipulationen unbemerkt geblieben.
Beast Lords Gesicht verfinsterte sich, als er eins und eins zusammenzählte. Ja, natürlich war sie angeheuert worden, um ihn zu seinen Leuten zurückzubringen, wenn nötig mit Gewalt. Es gab keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, keine wie auch immer geartete Verbindung.
Das hier war geschäftlich.
Der dämmernde Ausdruck des Verstehens, von Zweifel, Hass und Misstrauen, verriet ihr den genauen Moment, in dem er erkannte, dass er ausgetrickst worden war – von einem absoluten Profi.
»Neue Befehle?«, zischte er.
»Das könnte man so sagen«, sagte Lena leise. »Aber das ändert doch nichts. Wir …«
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
Lena kannte diesen Blick. Ah, verdammt! Ein Beast Lord mit angeknackstem Ego war eine besonders gefährliche Kreatur.
»Du Stück tagshart!«, brüllte er plötzlich und holte mit seinem gewaltigen Arm zu einem fiesen Schlag aus.
Sie befreite ihre Beine, rollte sich schnell auf die Seite. In der gleichen Bewegung zog sie den an ihrer Hüfte befestigten Dazr unter dem Mantel hervor.
Ihr Gegner sprang auf. Er überragte sie.
Ihr Handschuh war zu dick, um die Waffe zu betätigen. Lena verlor wertvolle Zeit damit, ihn auszuziehen. Sie hatte heute nicht mit einer direkten Konfrontation gerechnet, ansonsten hätte sie vielleicht Erfrierungen riskiert und ein dünneres Paar getragen.
Die winzige Verzögerung genügte, um ihm den Vorteil zu verschaffen, den er brauchte.
»Du verlogener shreekopf!«, donnerte Beast Lord. Seine rasiermesserscharfen Krallen schnitten durch die Luft und sausten auf sie zu.
Lena zwang sich, ruhig zu bleiben. Routiniert löste sie die Sicherung und drehte die Einstellung des Dazrs mit dem Daumen auf Maximum.
»Du hast keine Seele!«, donnerte er.
Sie drückte den Abzug.
»Du bist ein kaputtes Stück …«
Ein blaues elektrisches Feld schoss aus der Pistole und lähmte den Guardian. Lena hechtete zur Seite, um ihm auszuweichen, als er zu Boden stürzte.
Langsam kam sie wieder auf die Beine. Zorn machte sich in ihr breit. Warum war sie ausgerechnet jetzt abberufen worden? Was für eine Verschwendung! Sie klopfte sich den Schnee von den Knien und blickte angewidert auf Beast Lords ausgestreckte Gestalt. Eine freiwillige Rückkehr war immer sehr viel einfacher. Das wussten sie. Sie war so verdammt nah dran gewesen.
Beast Lord starrte sie rebellisch an, doch seine Stimmbänder waren genauso eingefroren wie der Rest seines Körpers, der unter dem schimmernden elektrischen Netz gefangen war.
Lena bedachte ihn mit einem schmalen, unbeeindruckten Lächeln. Sie sicherte den Dazr wieder und rammte ihn in ihr Holster. »Du hast den Nagel übrigens auf den Kopf getroffen. Wie hast du es genannt? Kaputt und seelenlos. Genau das bin ich.« Sie ließ sich in die Hocke sinken und sah in seine blitzenden Augen. »Aber du hast das zynische, kaltherzige, manipulative, intrigante Miststück mit den massiven Vertrauensproblemen ausgelassen.«
Lena legte den Kopf schief und fügte hinzu: »Glaubst du wirklich, dass es irgendeine Wirkung auf mich hätte, was deinesgleichen sagt? Ich hab das alles schon so oft gehört. Aber egal für wie wertlos du mich hältst, von deinem Volk hat mich noch nie jemand besiegt. Trotz eurer außerirdischen Superkräfte. Am schlimmsten ist euer Getue. Alles, was ihr Guardians macht, ist jammern. ›Ach, ich Armer, das Leben ist so hart, ich halte das nicht aus.‹ Verdammt! Euch ist schon bewusst, dass wir euch erlaubt haben, auf der Erde Zuflucht zu suchen, oder? Alles, was wir im Gegenzug wollten, war, dass ihr eure Fähigkeiten einsetzt, um uns zu helfen. Die Anbetung gab es gratis obendrein. Nicht, dass ihr das wert wäret. Scheiße, das ist der größte Schwindel überhaupt.«
Sie schaute ihm tief in die Augen und grinste spöttisch. »Och, schau dich nur an. So verbittert und wütend, weil ich mit dir gespielt und dir erzählt habe, was ich musste, damit du nach Hause kommst. Du bist am Leben, Arschloch, und kannst dank meiner Leute immer noch über dein erbärmliches Leben jammern. Also zeig verdammt noch mal ein bisschen Respekt!«
Sie hob den Arm, schaltete das FacTrack in ein anderes Menü, wählte den Code für die Notfallevakuierung und drückte die Rückhol-Taste. Sie richtete einen gebündelten blauen Strahl auf Beast Lord und wartete drei Sekunden, bis der Strahl ihn erfasst hatte und das Gerät einen bestätigenden Piepton von sich gab. »So. Ich habe deine Koordinaten an die Guardians in der Moskauer Einrichtung übermittelt. Sie werden dich in einer Stunde oder so abholen kommen. Ich werde nicht so lange warten. Ich muss woanders hin – dringend, wie es aussieht. Aber du kommst schon klar. Immerhin hast du hier ganz viel schöne frische Luft zum Einatmen und all die wunderbare Freiheit, an der du so hängst. Ich würde das Beste daraus machen, wenn ich du wäre.«
Auf sein giftiges Funkeln hin warf sie ihm einen wissenden Blick zu.
»Du würdest mich jetzt umbringen, wenn du könntest, nicht wahr?«, stichelte Lena. Durch den zerfetzten Ärmel rieb sie über ihren Unterarm mit den drei tiefen, blutigen, parallel verlaufenden Kratzern, die sie seinem Angriff verdankte. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass wir Gewöhnlichen, die du so sehr hasst, mehr Zurückhaltung üben als du.«
Sie schüttelte den Kopf, drehte sich um und ließ den reglosen Fellhaufen zurück. »Die Helden der Menschheit, von wegen!«, murmelte sie, als sie den Rückweg zu ihrem Basislager antrat. »Ihr seid so erbärmlich.«
Kapitel 2
Lena hüpfte von einem Fuß auf den anderen und zerrte an ihrer schwarzen Jeans. Ihr Hintern landete kurz auf dem lindgrünen Sessel, der sich schon bei ihrem Einzug in der teilmöblierten Wohnung befunden hatte. Genauso wie der beschissene Couchtisch aus Glas, der schon dutzende Male das Zeitliche hätte segnen sollen. Wenn sie es eilig hatte, lief sie jedes Mal beinahe mitten durch das Ding hindurch. So wie heute, an ihrem ersten Arbeitstag, nachdem sie gestern Nacht aus Sibirien zurückgekommen war.
Sie rappelte sich auf und machte sich auf die Jagd nach den letzten noch fehlenden Dingen. Dicke schwarze Socken und glänzende schwarze Stiefel. Check. Sie ließ die Stiefel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden fallen und schüttelte die Socken aus. Als sie den ersten anzog, wäre sie dank des Jetlags fast mit dem Gesicht auf dem Couchtisch gelandet. In letzter Sekunde schaffte sie es mit einem Hechtsprung auf ihr unförmiges Sofa, das über und über voll war mit knallpinken Kissen, die ihre Nachbarin ihr als Einweihungsgeschenk überreicht hatte.
Was war sie doch für ein Glückspilz! Bis zu ihrem Einzug hatte sie nicht gewusst, dass Rosa derartig grell sein konnte.
BH und weißes T-Shirt? Erledigt und erledigt. Lena fuhr sich mit den Fingern durch das wirre blonde Haar, das sie in einem tiefen Seitenscheitel trug und das ihr ständig in die Augen fiel. Ein Haarschnitt war längst überfällig, hatte aber keine hohe Priorität. Schwarze, wattierte Bomberjacke. Check. Lena zog sie an, machte den Reißverschluss zu und fühlte sich beinahe wie ein Mensch.
Zum Schluss das Tüpfelchen auf dem i: die schwarze Ledermanschette. Sie hatte sie im Werkunterricht in der Highschool selbst hergestellt und sie war halbwegs was geworden. Sehr zur Überraschung ihres Lehrers.
Das, was sie ihre Rüstung nannte, war angelegt. Es konnte losgehen. Während Lena ins Bad ging, zog sie die Schnalle der Manschette am Handgelenk fest. Zufrieden stellte sie fest, dass diese die Spuren von Beast Lords Krallen verdeckte.
Sie betrachtete sich im gesprungenen Spiegel. Lena war nie dazu gekommen, den Vermieter zu bitten, ihn zu reparieren oder zu ersetzen, nachdem sie eingezogen war. Sie war zu selten hier, als dass ihr das wirklich wichtig gewesen wäre. Japp, fertig! Sie nickte entschlossen. Ihre beiden Spiegelbilder nickten zurück.
Okay, wenn sie die sechs Blocks zur U-Bahn sprintete, konnte sie gerade noch den 7.40-Uhr-Express erwischen und auf der Arbeit sein, bevor allen auffiel, dass sie zu spät war. Ihre Fitness war, im Gegensatz zum Zustand ihrer Einzimmerwohnung, hervorragend, also war es durchaus machbar.
BUMM! BUMM-BUMM-BUMM!
Ihre Wohnungstür flog fast aus dem Rahmen.
Lena seufzte. Außer von ihrer Nachbarin – die mit den quietschpinken Kissen – wurde sie eigentlich nie von jemandem behelligt. Und da die ältere Frau wusste, dass man Lena morgens nicht nerven sollte, es sei denn, es handelte sich um einen Notfall, hatte Lena so eine Ahnung, dass ihr Tag im Begriff war, eine ungute Wendung zu nehmen.
Sie zwang sich zu einem zivilisierten Lächeln und öffnete die Tür.
Mrs Josephine Finkel stand mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck vor Lena. »Blut!«, japste sie. »Überall ist Blut!«
Lena zog eine Augenbraue hoch und nickte einmal, als wäre es völlig normal, zu irgendwelchen blutigen Notfällen gerufen zu werden. Was, wenn sie es recht bedachte, für sie tatsächlich zutraf. Nicht, dass Mrs Finkel das wusste.
»Führen Sie mich hin«, war alles, was sie sagte, dann schloss sie schon hinter sich ab.
* * *
Auf einem kleinen Balkon, umringt von Topfpflanzen, von denen manche mehr tot als lebendig waren, wischte Lena auf Händen und Knien eine sich ausbreitende Lache aus Blut und Federn auf. Dies war der Tatort eines ziemlich grausamen Tauben-Doppelmords. Sie warf Bernstein einen Seitenblick zu, dem pummeligen Kater, der für das Massaker verantwortlich war.
Er schloss seine ausdrucksstarken grünen Augen, gähnte und wirkte sehr zufrieden mit sich selbst. Dies war nicht sein schlimmster Tatort, aber er hatte einen Platz recht weit oben.
Lena zupfte sich eine verirrte Feder aus dem Haar und musterte die Katzenbesitzerin. Mrs Finkel war eine rüstige Frau. Einundsiebzig Jahre jung, erzählte sie jedem, der ihr zuhören wollte. In letzter Zeit handelte es sich dabei meist um den skrupellosen Bernstein, ihren Goldfisch Woodward und Lena.
Mrs Finkel hatte in den gesamten USA für einige der größten Zeitungen gearbeitet – wie Lena nur zu gut wusste, weil sie die Geschichten schon oft genug gehört hatte. Wann immer Lena staubbedeckt von irgendwelchen weitentfernten Orten heimkehrte und bei ihrer Nachbarin vorbeischaute, um ihre Post abzuholen, nutzte diese die Gelegenheit, Lena das Ohr abzukauen.
Rosafarbenes Wasser spritzte, als Lena den Schrubber in den Eimer tauchte. Sie rümpfte angewidert die Nase und bemühte sich, nichts von dem Schmutzwasser auf ihrer Kleidung zu verteilen.
Verdammt, sie sollte jetzt auf der Arbeit sein und herausfinden, was der große Notfall war, der sie so plötzlich aus Sibirien herausgerissen hatte. Aber es war etwas schwierig, mit Mrs Finkel über Arbeitsnotfälle zu diskutieren, schließlich hatte die keine Ahnung, womit Lena ihren Lebensunterhalt verdiente, geschweige denn, warum ihr Job gelegentlich überlebenswichtig für die Menschheit war. Obwohl ihre Nachbarin so neugierig war, wie man es von jemandem ihres Berufs erwartete, hatte sie Lena nie gefragt, was sie machte. Genauso wenig hatte sie sich jemals nach den vielen Verletzungen erkundigt – von blauen Augen über merkwürdige Narben bis hin zu zerschrammten Knien–, mit denen Lena oft von ihren diversen Einsätzen nach Hause kam.
Nein, Mrs Finkel behielt ihre Gedanken für sich. Lena mochte das an ihr. Genauso wie ihren scharfen Verstand, der es einigermaßen erträglich machte, auch noch die zehnte oder elfte Version ihrer Zeitungsgeschichten zu hören.
Lena schnappte sich den Eimer und stapfte hinein, um ihn im Abfluss auszugießen. Noch einmal den Balkon nachspülen und dann war sie hier weg. Alles kein Problem.
* * *
Lena hockte auf der Kante eines übergroßen blauen, bestickten Sofas. Ihr Blick schweifte über einen ausgestopften Fasan zu ihrer Rechten, eine verblichene Weltkarte an der Wand hinter ihr, eine Schreibmaschine auf dem Tisch am Fenster und eine merklich erleichterte Mrs Finkel vor ihr.
Lena saß mit einer Tasse Tee fest, von dem ihre Nachbarin behauptete, es wäre Kaffee. In all den Jahren, die sie schon Nachbarn waren, hatte Mrs Finkel nie die Kunst gemeistert, flüssiges Koffein herzustellen, das genießbar schmeckte.
»Nochmals vielen Dank, meine Liebe«, sagte Mrs Finkel, während sie ihren dicken schwarzen Kater streichelte.
Bernsteins Schwanz bewegte sich. Der Kater blinzelte sie an.
Lena verengte die Augen. Selbstgefälliger kleiner Scheißer.
Grimmig schluckte Lena noch mehr Tee herunter. »Kein Problem.« Ob zwei Schlucke wohl genug waren? Konnte sie jetzt die Tasse abstellen und abhauen? Sie war sich nicht sicher, was schlimmer war: die Brühe in ihrer Tasse oder der Zwang, gesellig zu sein.
Mrs Finkel lachte. »Sie sind ja so angespannt, meine Liebe. Wir müssen einen Weg finden, wie Sie sich entspannen können.«
»Wie Sie nicht müde werden, mir zu sagen.«
»Es stimmt ja auch. Wissen Sie, meine Enkelin ist ungefähr in Ihrem Alter. Und nein, nein, schauen Sie mich nicht wieder so an! Sie ist nicht wie die meisten anderen jungen Frauen. Diane ist Kriegsberichterstatterin. Oh, die Geschichten, die sie zu erzählen hat! Alles überaus fesselnd. Sie ist momentan in den Staaten und sucht händeringend nach Aktivitäten und neuen Leuten, die sie treffen kann. Sie würde sogar Sie aus Ihrem Schneckenhaus holen.«
»Ich mag mein Schneckenhaus«, entgegnete Lena ehrlich.
Mrs Finkel lachte erneut. »Nun, falls Sie Ihre Meinung ändern sollten, hier ist ihre Karte. Sie erzählt mir immer, wie langweilig Leute in ihrem Alter sind. Sie aber sind nicht langweilig, stimmt’s, Lena?« Verschmitzt funkelte sie sie an, wie jedes Mal, wenn sie mehr oder weniger subtil in Lenas Arbeitsleben herumstocherte.
Es war ein Spiel, das sie spielten. Mrs Finkel öffnete die Tür immer einen Spalt breit für den Fall, dass Lena ausnahmsweise mal gesprächig war. Doch selbst wenn Lena gewollt hätte, durfte sie gar nicht darauf eingehen. Niemand wusste davon, dass Guardians Ausraster hatten oder abtrünnig wurden, geschweige denn, dass Tracker wie Lena nötig waren, um diese zu finden. Das passte so gar nicht in das Superhelden-Narrativ.
»Ach, ich bin sehr langweilig«, meinte Lena und steckte die Visitenkarte aus Höflichkeit ein. Sie würde sie an den Kühlschrank hängen und umgehend vergessen. »Sie kennen mich doch.«
»Ich wünschte, ich täte das«, erwiderte Mrs Finkel. »Es ist ja nicht so, dass ich es nicht versucht hätte. Was auch immer es ist, weswegen Sie immer wieder verschwinden, manchmal monatelang, es kann doch nicht alles in Ihrem Leben sein, oder? Sie brauchen Freunde, meine Liebe. Vielleicht ein Hobby?«
Sie sah Lena hoffnungsvoll an, doch die lächelte bloß, stellte die noch fast volle Tasse auf den hölzernen Wohnzimmertisch und erhob sich. »Ich muss los. Ich muss den Zug noch erwischen.«
»Also gut. Entschuldigung, dass ich Sie aufgehalten habe. Danke für die Hilfe mit dem Chaos. Vergessen Sie nicht, Diane anzurufen. Schließen Sie neue Freundschaften, leben Sie ein bisschen!«
Als Lena nicht antwortete, stieß Mrs Finkel einen leidgeprüften Seufzer aus, doch ihre Augen funkelten. »Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache.«
Lena winkte ihr über die Schulter zu und öffnete die Tür. »Ich auch nicht. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.«
»Keineswegs«, protestierte Mrs Finkel, bevor sie die Tür hinter ihr schloss.
* * *
Die Uhr auf dem prunkvollen Turm des amerikanischen Hauptsitzes ihrer Firma zeigte deutlich, wie spät Lena wirklich dran war. Sie beschleunigte ihr Tempo und umrundete das schwarze Glas-Stahl-Gebäude, das seit einem halben Jahrzehnt ihr Arbeitsplatz war.
Die Einrichtung. Was für ein freundlicher, sauberer, unpersönlicher Name für das, was da drinnen vor sich ging. Wenn die Leute nur wüssten! Sie eilte zur Vorderseite des Gebäudes und die Steintreppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend.
Lena hasste es, zu spät zu kommen, und zwar aus einem guten Grund: Sie wollte wissen, was los war. Den wirklich aufschlussreichen Klatsch und Tratsch gab es allerdings montags vor acht Uhr vor Duttons Büro. Und nicht nach zehn.
Als sie das Granitfoyer der Einrichtung betrat, wurden ihre Sinne sofort von den riesigen, hochauflösenden Bildschirmen bombardiert, die an gegenüberliegenden Wänden miteinander konkurrierten. Sie übertrugen die täglichen Superhelden-Nachrichten: Welcher Guardian hatte vergangene Nacht wen und was auf welche spektakuläre Weise gerettet?
Lena verdrehte die Augen. Das waren doch alles nur Vorwände, um angespannte Muskeln und Dekolletés zur Schau zu stellen, bei denen Gewöhnliche, wie die Menschen von den Guardians genannt wurden, weiche Knie bekamen. In Endlosschleife prasselten Szenen von bewundernden Fans, ihren perfekten Superstars und zu Tränen gerührten Geretteten auf sie ein.
Sie waren zugegebenermaßen schön anzusehen, aber für Lena waren die Guardians kaum mehr als Talente, die zu Stars aufgebauscht wurden. Es war alles Kabuki-Theater, was diese Nachrichtenbeiträge zeigten. Alles nur Show. Zensur war an der Tagesordnung. Das Hochglanz-PR-Image der Guardians durfte bloß keine Macken aufweisen. Gott bewahre!
Zugegeben, ein bisschen hypnotisierend war dieser Bilderreigen schon. Manchmal schaute Lena die Nachrichten, um herauszufinden, wer in der Weltordnung der Einrichtung im Kommen war. Wissen war mehr als nur Macht. Wissen bedeutete Kontrolle.
Und Lena Martin bevorzugte es, stets die Kontrolle zu haben.
Ihr Blick fiel auf neue Aufnahmen von Talon Man. Der Anführer der Guardians mit dem scharfgeschnittenen Gesicht und dem orangen Anzug lächelte sein strahlendes Lächeln und verkündete, dass jeder Guardian lebte, um zu dienen. Seine Stimme hallte durch das Foyer.
Lena schnaubte. Und wie sie das taten. Auch wenn die drei parallelen Narben auf ihrem Arm das Gegenteil bezeugten.
Sie hielt dem Security-Typen, der teils Vulkangestein, teils Gott weiß was war, ihren Ausweis hin. Er brummte als Antwort – mehr sagte dieser Guardian grundsätzlich nicht. Sie hatte sich nie die Mühe gemacht, nach seinem Namen zu fragen, und er hatte sich ihr nie vorgestellt.
Bei den Aufzügen legte sie ihre Handfläche auf ein verchromtes Wallpad. Die Türen öffneten sich und eine Computerstimme verkündete: »ID akzeptiert, Lena Martin, 1342-22A. Tracker erster Klasse. Zutritt zu den Unterebenen zehn bis siebzehn gewährt. Eintreten!«
Das tat sie. Der Aufzug fuhr nach unten. War er nicht normalerweise schneller?
»Komm schon!«, murmelte Lena. Ihr war nur zu bewusst, wie spät es war. Gereizt starrte sie auf die Stockwerkanzeige.
Plötzlich blitzte ein scharfes, blaues Licht in der Kabine auf. Sie kniff die Augen zu. Ein stichprobenartiger Sicherheitscheck, der ihre Berechtigung, sich hier aufzuhalten, auf molekularer Ebene ablas. Es war eine wenig subtile Erinnerung daran, dass die Guardians ihr und den anderen menschlichen Subunternehmern, die die niederen Arbeiten erledigten, genauso wenig trauten wie sie ihnen.
Der Aufzug hielt auf der Unterebene elf. Zwei weitere Tracker stiegen ein. Sie nickte ihnen aus professioneller Höflichkeit zur Begrüßung zu, obwohl sie eine gesunde Abneigung gegen sowohl Wills als auch Rossi hatte.
»Großer Tag heute?«, fragte Wills seinen Kollegen.
»Es gibt einen Flüchtigen und einen Platscher«, erwiderte Rossi. »Ich übernehme den Platscher. Das ist einfacher, Becky hat heute nämlich Geburtstag. Die Kleine wird zehn.«
Ein Platscher. Sie schluckte angewidert. Wenn Superheldenkräfte versagten, dann so richtig. Manchmal überschätzten die Guardians auch ihre eigenen Fähigkeiten, wenn sie einen außer Kontrolle geratenen Zug stoppten, einen Sturzflug abfingen oder was sie sonst noch so taten. Warum Rossi dachte, verstorbene Talente aufzuräumen sei »einfacher«, würde sie nie erfahren. Sie mochte nicht viel von den Guardians halten, aber es war trotzdem abstoßend, sie in diesem Zustand zu sehen. Sie war froh, diesen Job nicht mehr machen zu müssen. Eine derartig hohe Einstufung wie ihre hatte durchaus Vorteile. Einer davon war, dass sie ein gewisses Mitspracherecht bei der Auswahl ihrer Aufgaben hatte.
»Oh, wie schön. Gratulier ihr von mir!«, sagte Wills. »Ich habe einen Bruch auf der Südseite. Sollte nicht allzu lange dauern. Sie haben ihn bereits in einem Lagerhaus in die Enge getrieben. Er ruft ständig nach seiner Mami.«
Die beiden lachten.
Was für Ärsche! Aus irgendeinem Grund hatten Guardians in letzter Zeit vermehrt Zusammenbrüche – was ihnen den knackigen Spitznamen Brüche eingebracht hatte –, auch wenn ihre Bosse das natürlich nicht zugaben. Um auch nur annähernd effizient zu agieren, musste die Einrichtung in solchen Fällen einen Tracker einsetzen, der Empathie vorspielen konnte. Der tätschelte dem Guardian dann die Hand und versicherte ihm, dass alles wieder gut wurde. Dass man ihm helfen würde. Dass man sich in der Einrichtung richtig gut um ihn kümmern würde.
Was für ein Witz. Die Einrichtung wusste doch gar nicht, was »Hilfe« bedeutete. Sie hatte so viele Geheimnisse, da war es nur die Spitze des Eisbergs, dass sie die Fehlbarkeit ihrer Supermitglieder leugneten.
Rossi wandte sich ihr zu. »Was hast du, Silver?«
Der Klang ihres Codenamens riss Lena aus ihren Grübeleien. »Weiß ich noch nicht. Bin gerade erst gekommen.«
Rossi stieß einen Pfiff aus und schaute auf seine Timeslide, ein blitzendes Ding aus purem Platin, das unter den Gewöhnlichen momentan total angesagt war. Auch wenn es absolut unnötig war, wo er doch sein FacTrack trug, das die Uhrzeit genauso anzeigte, und nebenbei noch über eine Datenbank, einen Multimedia-Player, eine GPS-Ortung sowie ein Satellitenkommunikationssystem verfügte.
»Scheiße, sie werden dir für die Verspätung das Fell über die Ohren ziehen.«
»Sollen sie doch«, erwiderte Lena. »Ist ja nicht so, als könnten sie so einfach einen Ersatz für mich finden.«
Rossi und Wills warfen einander vielsagende Blicke zu.
Aber das, was sie gesagt hatte, stimmte. Niemand hatte ihre Fähigkeiten. Zwischen ihr und dem Rest der Tracker lagen Welten. Sie war dieses Jahr weltweit die beste Trackerin. So wie im letzten Jahr und dem Jahr davor, als sie endlich Hastings von der Londoner Einrichtung, dem internationalen Hauptquartier, überholt hatte.
»Du hast gerade erst Beast Lord zurückgeschleift, oder?« Rossi stieß einen Pfiff aus. »Komplizierter Fall.«
Statt einer Antwort zuckte sie bloß mit den Schultern. Noch immer konnte sie die Kälte in ihren Knochen spüren.
»Können wir den Sack bald zumachen?«
Lena schenkte ihm ein schmales Lächeln. Beast Lord wurde heiß diskutiert. Etwa alle zehn Jahre rastete er aus und wurde halbwild. Niemand hatte den Trackern je den Grund dafür genannt. Womöglich wussten ihre Alien-Bosse es noch nicht einmal selbst. Inzwischen hatten die Tracker eine Wette auf die unterschiedlichsten Erklärungen laufen. Ihre Theorien reichten von Änderungen in seiner Hirnchemie bis hin zu Paarungszeit.
»Keine neuen Erkenntnisse«, antwortete sie.
Rossi schüttelte den Kopf. »War zu erwarten. Sonderlich gesprächig wirkt er ja nicht.« Er wandte sich wieder Wills zu. »Weißt du, was ich mich frage? Was scheren uns die Guardians, die sich irgendwo im Nirgendwo verstecken, so wie Beast Lord? Die machen den Gewöhnlichen doch keine Probleme, stimmt’s? Sie sollten uns besser Jobs geben, wo es tatsächlich um etwas geht, wo tatsächlich jemand gefährdet ist. Es ist ja nicht so, dass die Menschen sonst plötzlich begreifen würden, was wirklich läuft. Die haben keine Ahnung. Sie würden es nicht herausfinden, wir würden es nicht verraten. Davon würden doch alle profitieren. Stimmt’s oder hab ich recht?«
»Sag mal, geht’s noch?«, unterbrach Lena ihn unwirsch.
»Was?« Rossi fuhr zu ihr herum. »Ich will doch nur sagen, dass das eine absolute Ressourcenverschwendung ist. Komm schon, Silver, du fandest es bestimmt auch nicht super, dir wegen so eines Wichsers in Sibirien den Arsch abzufrieren. Das ist doch simple Mathematik – manchmal haut das Talent ab. Na und? Sollen sie doch, solange sie sich irgendwo verkriechen und keine Schlagzeilen machen. Wir haben genug um die Ohren mit den zusätzlichen Brüchen und Platschern in letzter Zeit.«
Lena sah ihm so lange in die Augen, bis er den Blick abwandte. Dann sagte sie: »Du weißt, warum wir das tun. Scheiße, das weiß ja selbst deine Tochter«, sagte sie genervt. »Die Leute haben ein Recht zu wissen, dass die Talente im Superzoo jederzeit unter Aufsicht stehen. Sonst riskieren wir, dass sich alle möglichen paranoiden Verschwörungstheorien über die Aliens, die unter uns weilen, ausbreiten.«
»Das weiß ich.« Rossi warf ihr einen leidenden Blick zu. Er verschränkte die Arme. »Ich meine doch nur, dass die Öffentlichkeit nicht wissen muss, dass sie verschwunden sind. Warum setzen wir unsere Tracker nicht besser ein? Warum konzentrieren wir uns nicht auf die Guardians, die tatsächlich eine Bedrohung sind, statt auf die, die irgendwo untergetaucht sind?«
Lena schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Verdammt, Rossi, du bist ein Tracker. Du weißt besser als jeder andere, wie viel Macht die Guardians allein in ihrem kleinen Finger haben. Welchen Schaden könnte ein Flüchtiger anrichten, wenn er durchdreht, während er irgendwo untergetaucht ist? Was, wenn wir ihn nicht rechtzeitig finden? Und was, wenn wir sie nicht davon abhalten können, ihre Kräfte gegen uns einzusetzen?«
»Einer ist ja noch lange –«
»Was, wenn es nicht nur einer ist?« Sie funkelte ihn an.
»Komm schon, Silver. Sie sind doch harmlos.« Er musterte sie unsicher.
»So? Sag das den Einwohnern von Oimjakon, deren Fenster jedes Mal zersprungen sind, wenn Beast Lord danach war, den Mond anzuheulen, oder was auch immer der sonst so treibt. Guardians zu tracken schützt die Menschheit vor potenziell tödlichen Waffen.« Sie bedachte den inzwischen recht zerknirschten Mann mit einem verächtlichen Blick. »Ich fasse es nicht, dass ich das einem Tracker erklären muss.«
Mit einem Rucken und einem Ping hielt der Aufzug. Lena ignorierte die beiden, die wieder dazu übergegangen waren, darüber zu rätseln, wie schlimm Rossis Platscher wohl war, und verließ den Aufzug.
Ekelhaft.
»Silver!«, blaffte jemand, kaum dass sie den Kontrollraum der Tracker betreten hatte. Sie sah auf und entdeckte ihren Boss, Bruce Dutton, am anderen Ende des Raums. Er war Mitte vierzig, hatte verkniffene Gesichtszüge und einen nervösen Tick, der ihn zu oft blinzeln ließ. Er erinnerte sie immer an einen gestressten, bebrillten, bürokratischen Storch. Aber er war klug und fair, darum ertrug sie ihn.
»Was glauben Sie eigentlich, wie spät es ist?«
Lena verdrehte die Augen. Sie kam so gut wie nie zu spät, was hatte er also für ein Problem? Sie würdigte seine Frage keiner Antwort. Stattdessen reckte sie ihr Kinn und schlenderte zu ihm hinüber. »Brauchen Sie mich?«
»Achten Sie auf Ihren Ton.«
Sie ließ sich in den Stuhl ihm gegenüber fallen und verschränkte die Arme.
»Willkommen zurück aus Sibirien. Sind Sie ohne Frostbeulen davongekommen?«
Lena trommelte mit den Fingerspitzen auf ihren Unterarm. Hoffentlich kam er bald auf den Punkt.
»Nun gut«, murmelte er, als sie ihm immer noch nicht antwortete. »Die da oben haben die Dringlichkeit erhöht, wenn es darum geht, überfällige Guardians einzusammeln und wieder unter unsere Kontrolle zu bringen. Die Zeit drängt. Wir halten uns nicht mehr mit Nettigkeiten auf. Markieren Sie sie in Zukunft einfach und sammeln Sie sie ein.«
Das erklärte den eiligen Rückruf. Wenn ein Guardian über einen Monat auf der Flucht war, wurde sein Akt als überfällig gestempelt. Lena war durchaus stolz darauf, dass man in solchen Fällen stets sie rief, weil sie rasche Ergebnisse lieferte. Wegen ihrer Survival-Skills war Lena auf die Flüchtigen spezialisiert, die sich in der Wildnis durchschlugen – die Cleveren, die sich an den entlegensten Orten versteckten und ihre Kommunikations-Timeslides weggeworfen hatten, um nicht gefunden zu werden. Für wie lange sie dieses Mal wohl ihre Sachen packen musste?
»Wie lange ist der Guardian denn überfällig, um den es hier geht?«
»In diesem Fall gab es seit achtzehn Monaten keinen Kontakt mehr.«
Lena verkniff sich ein schockiertes Aufkeuchen. Achtzehn Monate? Das war ein geradezu unglaublich langer Zeitraum. Wie konnte es sein, dass sie nichts davon mitbekommen hatte?
»Wir haben vier Tracker darauf angesetzt und jeder von ihnen hatte gute erste Anhaltspunkte«, sagte Dutton. »Wirklich gute Tracker. Bei ihrer Rückkehr erklärten alle, dass da nichts war. Keine Spur.«
Er tippte etwas auf seiner Tastatur und eine holografische Projektion erschien zwischen ihnen.
Lena musterte den Rücken des schwebenden Bildes und wartete darauf, dass es zur Vorderseite rotierte. »Wer ist es dieses Mal?«
»Es überrascht mich, dass Sie sie nicht erkennen. Vor zehn Jahren war sie ganz vorne mit dabei. Eine absolute Berühmtheit.«
Lena lehnte sich vor, als die Vorderseite des Guardians ins Bild kam. Eine schlanke, muskulöse, große Gestalt in einem hautengen schwarzen Anzug. Glatte, dunkle Haut. Kurzgeschorenes Haar, das die scharf geschnittenen Wangenknochen nur betonte. Volle, geschwungene Lippen und tiefbraune Augen, deren Blick sich einem bis ins Mark bohrte. Ein Blick, der deutlich machte, dass sie sich nichts gefallen ließ.
Lena fuhr hoch und schluckte. Das war eine historische Persönlichkeit. Eine echte Gründerin. Und rätselhafter als alle anderen Guardians zusammen.
Bis vor zehn Jahren war Shattergirl die vergessene Guardian gewesen. Bis zu dem Zeitpunkt, als Paparazzi sie geoutet hatten. Als erste lesbische Superheldin auf der Erde war ihr Ruhm plötzlich durch die Decke gegangen. Shattergirl hatte keinen Hehl daraus gemacht, wie sehr sie das verabscheute. Ihre Launen konnten so verheerend sein wie ihre Fähigkeiten – sie konnte fliegen und sie konnte mit Hilfe ihrer Gedanken Gegenstände bewegen und zerschmettern.
»Ernsthaft? Shattergirl ist überfällig?« Lena konnte es kaum fassen. Die Gründer flohen nie. Klar, manche aus der zweiten Generation schon. Am schlimmsten waren aber die Enkel der Gründer, die musste man scharf im Auge behalten. Teenager neigten anscheinend über alle Grenzen der Genetik hinweg zur Rebellion. In ihrem Job befasste sie sich meistens mit den aufmüpfigen Guardians der dritten Generation.
Die Gründer jedoch, die Aliens, die sich ursprünglich auf der Erde niedergelassen hatten, sollten mit leuchtendem Beispiel vorangehen. Unter ihnen gab es keine Brüche und Platscher. Ihretwegen hatte sich die ganze Welt ja überhaupt erst in ihre Art verliebt. Eine flüchtige Gründerin? Verdammt. Das hatte es noch nie gegeben.
»Ja.« Dutton fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. »Darum herrscht oben solche Panik. Es überrascht mich, dass ausgerechnet Sie davon noch nichts mitbekommen haben.«
»Haben Sie vergessen, dass ich die letzten vier Monate am Arsch der Welt verbracht habe?« Lena zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin erst letzte Nacht zurückgekommen. Wann hätte ich an einem Briefing zu dem Thema teilnehmen sollen?«
»Es gab keine Briefings zu dem Thema. Aber mir ist bewusst, wie gut Sie über alle Abläufe im Haus informiert sind. Darum war ich überzeugt, dass Sie davon wissen. Fürs Protokoll, in diesem Fall gilt absolute Nachrichtensperre, sowohl intern als auch nach außen. Sie wissen, wie das läuft.«
Das tat sie. Ihre vielgepriesenen Superbosse zensierten routinemäßig die Verfehlungen ihrer Leute. Gelegentlich drangen kleinere Geschichten, etwa über Fehlfunktionen der Anzüge, zu unabhängigen Medien durch. Die großen Geschichten jedoch konnte die PR-Maschinerie der Guardians effektiv unter Verschluss halten. Es half natürlich, dass Lena und die anderen Gewöhnlichen, die in der Einrichtung arbeiteten, Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnet hatten. Für die Welt sah es so aus, als hätte kein Guardian jemals Mist gebaut. Noch nie.
»Verstehe ich das richtig?«, fragte Lena. »Eine Gründerin, noch dazu eine echte Ikone, ist seit achtzehn Monaten flüchtig und niemand hat sie seither gesehen? Wie ist das überhaupt möglich? Wen haben Sie vor mir mit dem Fall beauftragt?«
»Sachs, Ferretti, Cragen und Miller.«
Sie starrte ihn an. Die vier waren hervorragende Tracker.
»Ich vermute«, fuhr Dutton fort und seufzte, »dass Shattergirl irgendwie weiß, wenn wir ihr auf der Spur sind. Ihr Spionagenetzwerk muss so gut sein wie Ihres. Wann immer wir uns ihr nähern, verschwindet sie. Darum gibt es laut der Berichte keine Hinweise auf sie.«
Mit gerunzelter Stirn dachte Lena über dieses Szenario nach. Für gewöhnlich waren Überfällige Einzelgänger und nicht Teil eines Netzwerks. Ihre Instinkte schrien sie förmlich an, dass Dutton falsch lag. Shattergirl schien die Gesellschaft ihrer eigenen Leute schon kaum zu ertragen, ganz zu schweigen von der der Gewöhnlichen. Die Vorstellung, dass es ihr dank ihres hervorragenden Netzwerks gelang, sich der Gefangennahme zu entziehen, war lächerlich. Da musste etwas anderes dahinterstecken.
Sie tippte sich mit einem Finger auf die Lippe. Soweit sie wusste, ertrug Shattergirl keine Dummheit. Sie war beängstigend klug und im Gegensatz zu ihren beständig strahlenden Brüdern und Schwestern weigerte sie sich, auch nur irgendetwas vorzutäuschen. Lena lächelte. Eine halbwegs gute Guardian zu tracken, versprach eine nette Abwechslung. Endlich mal eine Herausforderung. Sie straffte die Schultern.
»Aber warum haben Sie mich derartig eilig zurückbeordert? Ich war so kurz davor, Beast Lord zu einer freiwilligen Rückkehr zu bewegen. Jetzt musste ich ihn stattdessen in Fesseln nach Hause schicken. Sie wissen doch, dass eine freiwillige Rückkehr langfristig gesehen immer besser ist.«
»Das ist mir bewusst, aber wir haben gerade einen glaubwürdigen Hinweis erhalten.« Er tippte wieder auf seiner Tastatur herum. »Shattergirl wurde auf Sokotra gesichtet. Das ist die erste frische Spur seit sechs Monaten.«
»Sokotra? Wo ist das denn?«
»Haben Sie in der Schule denn gar nicht aufgepasst, Silver?«
»Genug, um zu wissen, dass das reine Zeitverschwendung gewesen wäre.« Lena grinste ihn an.
Dutton seufzte und drückte demonstrativ auf eine Taste. »Okay, ich habe alles für Sie hochgeladen. Spätestens zum 21. August muss diese Überfällige zurück sein. Das ist zwar weniger als eine Woche, aber wir konnten den Suchradius ja bereits auf eine kleine Insel begrenzen. Die Deadline ist nicht verhandelbar. Talon Man hat doch sein Event geplant.«
Sein Event. Natürlich. So konnte man das übertrieben extravagante Großereignis auch nennen, das den hundertsten Jahrestag der Ankunft der Guardians auf der Erde zelebrieren sollte. Weder Kosten noch Mühen waren gescheut worden. Tickets hab es schon lange keine mehr, noch nicht einmal auf dem Schwarzmarkt. Egal, wie viel man dafür bot. Natürlich würde es nicht reichen, wenn bei diesem Anlass nur neunundvierzig der fünfzig Gründer anwesend wären.
»Ich verstehe«, meinte Lena, während sie überprüfte, ob Duttons Dateien auf ihrem FacTrack erschienen. Der Ordner blinkte. Sie bedachte Dutton mit einem wissenden Blick. »Jetzt weiß ich, warum Sie meine Engelszunge so dringend brauchen, mit der ich Ihnen jeden Guardian auf dem Silbertablett serviere.«
»Sie haben nicht Unrecht«, erwiderte Dutton. »Die Sache ist von höchster Dringlichkeit. Es wird Fragen aufwerfen, wenn ein Platz auf der Bühne leerbleibt.«
»Und Gott bewahre, dass es so aussieht, als hätten die Guardians ihre eigenen Leute nicht im Griff«, murmelte Lena. »Schön, überlassen Sie das mir. Zum Glück habe ich Fähigkeiten, über die die wunderbaren Guardians nicht verfügen.«
Zum ersten Mal, seit sie sich ihm gegenübergesetzt hatte, entspannten sich Duttons Schultern. Er lächelte sie an. »Ich wusste, dass Sie die richtige Trackerin für diesen Fall sind.« Er richtete seine Brille. »Oh, und Sokotra?«
»Ja?«
»Man nennt es auch die Insel der Glückseligkeit.«
Lena grinste angenehm überrascht. »Alles, was über dem Gefrierpunkt liegt, ist für mich aktuell der Inbegriff von Glückseligkeit.«
»Das glaube ich.« Seine Gesichtszüge wurden wieder ernst. »Nehmen Sie Ihren Dazr mit.«
Kapitel 3
Sobald sie die Reiseflughöhe erreicht hatten, schnallte Lena sich ab. Das kleine gelbe Licht ignorierte sie genauso wie den Shoppingkanal von Yemenia Airways, der über mehrere Bildschirme im Flugzeug flirrte. Nein, sie wollte keine »halbe Tola eines authentisch arabischen Oud-Parfüms«. Sie scrollte durch ihr FacTrack und rief das Videoarchiv auf.
