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Eine romantische Komödie für alle, die Ice Queens und enemies-to-lovers-Geschichten lieben. Muffinbäckerin Olivia hat es satt, ständig von anderen ausgenutzt zu werden. Als ihre Ex dann auch noch den geliebten ausgestopfen Pinguin stiehlt, den Olivia von ihrer Oma geerbt hat, ist es mit ihrer Gutmütigkeit vorbei. Genug ist genug! Entschlossen hängt sie am Schwarzen Brett ihres örtlichen Krimi-Buchladens eine Anzeige auf: Gesucht wird eine Komplizin für eine kleine Racheaktion. Zu Olivias Erstaunen meldet sich ausgerechnet Margaret Blackwood, die mysteriöse, eiskalte und nervtötende Besitzerin des Buchladens. Die zwei klugen und durchaus fähigen Frauen müssen bald feststellen, dass es einfacher ist, Rachepläne zu schmieden, als diese dann erfolgreich durchzuführen. Aber zu ihrer großen Überraschung und ihrem Entsetzen stellen sie fest, dass sie ziemlich gut darin sind, sich ineinander zu verlieben!
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Seitenzahl: 563
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Inhaltsverzeichnis
Von Lee Winter außerdem lieferbar
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Danksagung
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über Lee Winter
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Von Lee Winter außerdem lieferbar
Shattered – Zerbrochen
Nichts als die unbequeme Wahrheit
Ein Hotel und zwei Rivalinnen
Happy End am Ende der Welt
Nichts als die ungeschminkte Wahrheit
Aus der Rolle gefallen
Requiem mit tödlicher Partitur
Aus dem Newsroom:
Das Geheimnis der roten Akten
Unter die Haut – Liebe, Verschwörung und eine fast geplatzte Hochzeit
Widmung
Manchmal braucht man einfach nur einen Pinguin und das Gefühl, erwünscht zu sein. Oder war es eher, gebraucht zu werden und sich einen Pinguin zu wünschen? So oder so ist die Antwort ganz klar: Pinguine.
Für Sam, die mich immer zum Lachen bringt und mich auch nach mehr als fünfundzwanzig Jahren noch an ihrer Seite haben will. (Die Sache mit den Pinguinen ist allerdings noch offen.)
Kapitel 1
Der schönste Ort der Welt
Olivia Roberts parkte hinter der himmlichsten Buchhandlung der Stadt und drehte sich zu ihrem Begleiter um. »Was bereitet dir Freude?«, fragte sie Trip. Wenn ihr jemand auf diese Frage eine Antwort geben konnte, dann ihr gefiederter Freund, der sie seit mehr als einem Jahrzehnt begleitete. Er hatte schon mehr Sehenswürdigkeiten gesehen als die meisten Leute, obwohl er … na ja, ausgestopft war. Aber dass er ein recht unlebendiges Plüschtier war, spielte überhaupt keine Rolle. Trip war ein hervorragender Zuhörer.
Jetzt allerdings starrte ihr Pinguin allerdings nur auf den Parkplatz, auf dem ein paar Kundenfahrzeuge, der rostige, alte Mazda ihrer Schwester Kelly und ein schicker schwarzer Jaguar standen. Dreimal durfte man raten, wem der gehörte.
»Na, dann muss ich das wohl alleine entscheiden.« Olivia öffnete das Handschuhfach ihres Love Muffins-Vans und wühlte sich durch die kleinen, runden Anstecker. Auf allen waren Sprüche zu lesen, die – theoretisch – ihren Kunden ein wenig Freude bereiten sollten. Zwei davon kamen in die engere Wahl. »Es ist Dienstag, also nehmen wir entweder Da wird ja die Füllung im Mixer verrückt oder Einen Muffin in Ehren kann niemand verwehren.« Sie hielt Trip die Buttons zur Begutachtung hin.
Er starrte den blitzblanken Jaguar der Inhaberin der Buchhandlung noch bedeutungsvoller an.
Schon, oder? Das war ein wirklich protziges Auto. Da hatte Trip nicht unrecht. Wie konnte sie sich den von ihrem Gehalt eigentlich leisten?
Olivia fällte also selbst eine Entscheidung und pinnte sich Einen Muffin in Ehren kann niemand verwehren ans Flanellhemd. Der erschien ihr passend, da sich heute auch der Buchclub traf. Nach Backen befand sich Lesen auf Platz zwei ihrer persönlichen Vorstellung von perfektem Glück. »Ja?«
Dieses Mal lag eindeutig Zustimmung in Trips Blick.
»Vielen Dank. Ich bin bald wieder da. Du passt auf den Van auf.«
* * *
Himmlisch war für diese Buchhandlung wirklich keine Übertreibung. Mary Bugg’s Bookstore and Coffee House war Olivias bescheidener Meinung nach der schönste Ort der Welt. Der Laden hatte große, in Bronzerahmen gefasste Fenster, die viel Licht ins Innere ließen. Gerade war die Auslage mit einer spannenden Auswahl an australischen Krimis bestückt. Neben der Tür hing eine gravierte Metallplatte.
MARY ANN BUGG (1834-1905) WAR AUSTRALIENS BERÜHMTESTE WEIBLICHE BUSHRANGERIN, WURDE VON DER GESCHICHTSSCHREIBUNG JEDOCH GRÖßTENTEILS ÜBERSEHEN. DIE ABORIGINAL FRAU NUTZTE IHREN SCHARFEN VERSTAND UND IHR WISSEN ÜBER DAS LEBEN IM BUSCH, UM DER POLIZEI ZUSAMMEN MIT IHREM LIEBHABER, DEM BERÜCHTIGTEN GESETZLOSEN CAPTAIN THUNDERBOLT, IMMER WIEDER ZU ENTKOMMEN.
Durch den Namen des Buchladens wand sich eine hübsche Pfauenfeder, deren schimmernde Blau- und Grüntöne einen schönen Kontrast zu dem Bronzerahmen bildeten.
Wer durch die Doppeltür des Mary Bugg’s ins Innere trat, wurde von polierten Bodendielen begrüßt, die bei jedem Schritt knarzten. An einem der Seitenfenster befand sich eine lange Bank und vor ihr etliche Holzhocker. Der Duft nach gerösteten Kaffeebohnen, Gebäck und Olivias hausgemachten Muffins erfüllte den kleinen Café-Bereich, eine köstlich riechende Einladung an alle, die am Buchladen vorbeikamen.
Dahinter erstreckten sich Regalreihen über Banditinnen, Mörder, Detectives und Geschichten über Verbrechen, Geheimnisse und Heldentaten. Das Mary Bugg’s war vor allem auf australische Bushrangerinnen und Bushranger spezialisiert – Gesetzlose, die Vieh und Pferde stahlen, kämpften, Raubzüge begingen und manchmal töteten, von dem lebten, was das Land ihnen gab, und ständig in Konflikt mit wutentbrannten Polizisten kamen.
Von ihrer Schwester, die hier in Vollzeit als Barista arbeitete und manchmal als Verkäuferin in der Buchhandlung aushalf, wusste Olivia, dass ein Großteil des Unternehmensgewinns vom Café stammte und nicht von den ausgeschmückten Geschichten über Verbrechen und Vergeltung.
Kelly hatte für Olivia einen Deal mit der Inhaberin ausgehandelt, was Olivia einen Grund verschaffte, jeden Tag im Morgengrauen in den wunderschönen Laden zu kommen, um ihn mit Love Muffins-Backwaren zu versorgen. Dienstage, wie heute, waren noch viel besser, weil sie am Nachmittag noch einmal herkommen durfte, um die Treffen des Women in Crime Book Clubs zu leiten.
Ihr Lieblingsbereich befand sich ganz hinten im Laden, jenseits der gut bestückten Regalreihen, direkt vor dem Durchgang, der zum Büro, der Toilette für die Mitarbeitenden und den Lagerräumen führte.
Um einen kleinen, runden Couchtisch aus Glas standen gemütliche blassgrüne Ledersessel, die Lesende dazu einluden, vor dem Kauf ein wenig in den Büchern zu schmökern. Dieses friedliche Eckchen liebte Olivia mehr als alles andere, abgesehen vom Backen. Es war ihr Zufluchtsort. Und in einer Viertelstunde traf sich Olivias Buchclub hier in gemütlicher Runde.
Froh über die kleine Verschnaufpause ließ sie sich auf einem der Hocker des Cafés nieder und betrachtete zufrieden den auffällig farbenfroh gestalteten Gehweg vor dem Fenster. Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild in der Glasscheibe und sie fuhr sich mit den Fingern durch die schulterlangen kastanienbraunen Haare, die wild in alle Richtungen abstanden. Der kleinste Windhauch genügte, um die feinen Strähnen wie die Samen einer Pusteblume durch die Gegend zu wirbeln.
»Hey, Liv«, ertönte Kellys Stimme neben ihr. Ein dampfender Cappuccino wurde in ihr Sichtfeld geschoben. »Alles okay? Du sitzt doch sonst nicht so kurz vor dem Buchclub einfach nur rum.«
Olivia nahm den Kaffee dankend an und wandte sich ihrer großen Schwester zu. Sie standen sich sehr nahe, wohnten zusammen in einem Haus und waren bei den wichtigen Dingen einer Meinung: Ihre Eltern waren scheiße, Cornflakes mit Milch zählten als Suppe und Ananas gehörte auf Pizza.
Kelly trug ihre übliche Arbeitskleidung, bestehend aus einer schwarzen Hose und einem schwarzen, langärmeligen Shirt unter einer weißen Schürze, auf der die Worte Mary Bugg’s in Dunkelblau in eine Ecke eingestickt waren. Mit ihrer schlanken Figur, den welligen dunkelroten Haaren und den fein geschnittenen Gesichtszügen hatte Kelly definitiv die besseren Gene in Sachen Aussehen geerbt. Doch wenn Olivia einen entsprechenden Kommentar abgab, schnaufte Kelly jedes Mal nur genervt und gab zurück, dass sie lieber »eine krasse Meisterbäckerin« wie Olivia wäre.
Klar doch. Weil es ja auch so viel besser war, einen superleckeren Muffin zustande zu bringen, als ständig von schönen Menschen auf Dates eingeladen zu werden.
Kelly lehnte sich ein wenig zu ihr. »Liv? Alles okay? Warum siehst du aus wie ein trauriger kleiner Welpe?«
»Musst du nicht arbeiten?« Olivia schaute sich hoffnungsvoll nach Kundschaft um, weil sie noch nicht bereit war, die letzte Folge der Serie Das glücklose Liebesleben der Olivia Roberts zu rekapitulieren. Aber im Moment saß nur ein Geschäftsmann am Ende des Tresens, der seine Zeitung las und sich einen nachmittäglichen Kaffee schmecken ließ. Sie seufzte enttäuscht.
»Pech gehabt, Ablenken bringt nichts.« Kelly musterte sie liebevoll. »Raus damit.«
»Tina schreibt mir in einer Tour Nachrichten.« Das verwirrte Olivia zutiefst. »Dutzende innerhalb einer Stunde.«
»Ah.« Kelly gab einen mitfühlenden Laut von sich. »Was will die diebische Elster denn noch?«
»Wieder mit mir zusammenkommen.« Olivia fuhr mit den Fingern den Griff ihrer Kaffeetasse entlang. »Sie sagt, dass es ihr wirklich leidtut und dass sie sich ändert. Und sie vermisst mich. Sehr.«
Kelly war deutlich anzusehen, dass sie das stark bezweifelte.
»Sie ist jetzt in Therapie«, fügte Olivia hastig hinzu. »Offenbar war der Diebstahl nur ein Hilferuf. Sie klingt, als würde sie es ernst meinen.«
»Wenn die ehrlich ist, fresse ich einen Besen.« Kelly verschränkte die Arme vor der Brust. »Liv, ich weiß, dass du immer das Beste in den Menschen sehen willst, aber sie hat deine Sachen für Partydrogen verkauft. Du warst ein Bankkonto für sie.«
»Aber was, wenn das jetzt wirklich alles hinter ihr liegt?«, fragte Olivia.
Kelly schüttelte den Kopf. »Lass diese Frau nicht wieder in dein Leben. Vertrau mir. Tina ist genau wie die anderen davor.«
»Aber …« Olivia zögerte. »Ich glaube, sie vermisst mich wirklich.«
»Natürlich tut sie das! Du hast ein gutes Herz und fühlst mit allen mit. Es ist furchtbar, wie manche Leute das ausnutzen.«
»Ich bin auch nicht anders als alle anderen«, protestierte Olivia. »Ich bin doch kein Magnet für besonders schreckliche Partnerinnen, oder?«
Kelly sah sie skeptisch an. »Okay, muss ich dich an Annalise erinnern?«
Annalise. Bei der Erwähnung ihrer schlimmsten Ex-Freundin stieg Übelkeit in ihr auf. »Ich weiß, dass Annalise grauenvoll war«, sagte Olivia. »Natürlich. Aber gerade deswegen überlege ich, ob ich Tina eine zweite Chance geben soll. Sie gibt sich wirklich Mühe, sich zu ändern. Sie hat sogar gefragt, wie es Trip geht.«
»Sie hat gefragt, wie es deinem schmuddeligen, alten Pinguin geht? Aber nicht nach dir?«, fragte Kelly bissig. »Bei dieser Frau gibt es so viele Red Flags, das ist schon nicht mehr feierlich. Denk dran: Du hast aus gutem Grund mit ihr Schluss gemacht.«
Tatsächlich hatte Tina mit ihr Schluss gemacht. In weiser Voraussicht. Bevor Olivia sie rauswerfen konnte, nachdem sie sie beim Klauen erwischt hatte. Und außerdem … schmuddelig? Sie warf ihrer Schwester einen bösen Blick zu. Trip konnte ja nichts dafür, dass er nicht mehr der jüngste Pinguin war.
Kelly schwieg einen Moment lang und musterte ihr Gesicht misstrauisch. »Okay, lass uns das Thema vertagen, bis wir heute Abend zu Hause sind. Aber apropos Ex, meiner lungert hier irgendwo rum. Sasha versucht immer noch, meine Chefin rumzukriegen.«
Olivia verdrehte die Augen. »Versucht immer noch, dich wieder rumzukriegen, meinst du wohl. Dir ist schon klar, dass er dich damit eifersüchtig machen will, oder?«
Sasha Volkov war ein ehemaliger russischer Balletttänzer, der sich nun als Möchtegernschauspieler und Gelegenheitsmodel versuchte. Er hatte ein kantiges Kinn, wundervolle dunkle Haare und noch dunklere Augen, und er bewegte sich mit atemberaubender Eleganz. Außerdem flirtete er mit allem, was nicht bei drei auf den Bäumen war, und konnte mit seinem Charme Sand in der Wüste verkaufen.
»Das kann er gerne weiter probieren«, sagte Kelly. »Aber ich habe kein Interesse an jemandem, der zwischen den Gängen die Kellnerin anflirtet, während er mit mir als Date an einem Tisch sitzt. Er meinte, dass er das ganz automatisch macht und es nicht ernst gemeint war.« Sie schnaubte spöttisch. »Also habe ich ihm gesagt, dass ich ihn nicht ernst nehmen kann. Ich wünsche meiner Chefin viel Glück mit ihm.«
Olivia versuchte, sich vorzustellen, wie Sasha die Inhaberin der Buchhandlung, Dr. Margaret Blackwood anmachte. Sie kam damit aber nicht weit, weil sie die Frau noch nie persönlich kennengelernt hatte. Ab und zu konnte sie mal einen kurzen Blick von hinten auf sie erhaschen, wenn Kelly ihr einen entsprechenden Hinweis gab, doch die Frau war blitzschnell: Sie marschierte durch die Gegend wie eine Anne Lister, die äußerst wichtigen Geschäften nachging. In einer Gegenüberstellung könnte Olivia sie jedoch nie identifizieren. »Groß und verschwommen, Officer? Hm, eine Frau? Fährt einen schicken Jaguar?« – so stellte sie sich das in etwa vor.
Laut Kelly war Dr. Blackwood respekteinflößend, intellektuell und hochgradig introvertiert. Sie verkroch sich lieber mit Papierkram in ihrem Büro, als mit der Kundschaft zu interagieren. Deswegen überließ sie die »menschlichen Pflichten« rund ums Mary Bugg’s Kelly und Stephanie, der Teilzeitangestellten, die sich zwischen den Kursen ihres Literaturstudiums am College um den Verkauf der Bücher kümmerte.
Am Anfang war Olivia beleidigt gewesen, weil Dr. Blackwood sie ganz bewusst mied, obwohl Olivias preisgekrönte Muffins ihr so viel neue Kundschaft beschert hatten. Doch dann hatte Kelly ihr erklärt, dass ihre Chefin ausnahmslos allen aus dem Weg ging. Und das machte Sashas Annäherungsversuche ihr gegenüber noch mal deutlich lustiger.
»Wie hat Dr. Blackwood denn auf Sashas Verführungsversuch reagiert?«, fragte Olivia neugierig.
»Das ist vertraulich und geht dich nichts an«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr.
Olivia drehte sich um und sah sich Sasha gegenüber, der sie angrinste. Er gab ihr je einen Kuss auf die Wangen. »Olivia, dorogusha! Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen. Du siehst wie immer fabelhaft aus.«
»Auf ganzer Linie gescheitert, hm?«, erwiderte Olivia trocken, der der schnelle Themenwechsel nicht entging.
»Nun, es war nicht mein größter Triumph.« Er griff sich theatralisch ans Herz. »Hätte ich mit der Tür gesprochen, hätte ich mehr Erfolg gehabt. Genau das habe ich getan. Die grimmige Dr. Blackwood hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. So viel Kraft! Jetzt bin ich furchtbar taub.« Er schürzte die Lippen zu einem Schmollmund.
Kelly zog eine Augenbraue nach oben. »Ich habe mich schon gefragt, was da so laut geknallt hat.«
»Das ist nicht mehr wichtig.« Sasha fuhr sich mit den Fingern durch die perfekten Haare, wodurch sich seine trainierten Oberarmmuskeln spannten. Er verharrte einen Moment in dieser Pose, um ihre Wirkung zu verstärken, und fügte mit einem gewinnenden Lächeln hinzu: »So kann ich mich auf Anderes konzentrieren..« Er warf Kelly einen hoffnungsvollen Blick zu.
»Nein.« Kelly schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Danke.«
Sashas Mundwinkel zuckten nach oben. »Wenigstens bist du höflich. Deine Dr. Blackwood … Ich weiß nicht, ob ich je ein Nein bekommen habe mit so viel … Wie heißt das noch? Gift. Sie ist sehr direkt – wie russische Frau.« Jetzt klang er beinahe beeindruckt.
»Ich würde das nicht persönlich nehmen. Sie hat was gegen die Menschheit im Allgemeinen.«
»Das ist verwirrend.«
»Was, dass jemand dir und deinem hübschen Hintern einen Korb gibt?«, fragte Kelly honigsüß.
»Das würde ich auch machen«, warf Olivia bereitwillig ein. »Sorry, Sasha. Ich hatte meine Erleuchtung schon: Ich bleibe bei den Ladies.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ja, ja, ihr seid beide sehr lustig. Ich habe gemeint, warum hat Dr. Blackwood diesen Laden, in dem immer Leute sind, wenn sie doch eigentlich gern sagen würde …« Er tat, als würde er eine Tür zuschlagen. »Hinfort, lästige Menschen!«
Kelly neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Ja, keine Ahnung. Das habe ich mich auch schon oft gefragt.«
Plötzlich lief eine Erschütterung durch das Fenster vor ihnen. Ein engelhaftes Gesicht presste sich dagegen und links und rechts davon zwei schwitzige Händchen. Der Junge schenkte Olivia ein freches Grinsen. »Wiviaaa!«, jammerte er dramatisch. »Ich verhuuuungere!«
Sein kleines, platt gedrücktes Gesicht brachte Wivia zum Lachen – wann war Toby Garrity mit seinen vier dreiviertel Jahren denn mal nicht hungrig? Olivia verbarg ihr Lächeln, als seine erschöpft aussehende Mutter hinter ihm auftauchte und ihre fadenscheinige grüne Strickjacke fester um ihren mageren Oberkörper wickelte. Samantha Garrity zog ihren Sohn vom Fenster weg und formte mit den Lippen eine Entschuldigung in Olivias Richtung.
Hinter ihr ging ein zehnjähriges Mädchen mit einem ungekämmten, rot-braunen Pferdeschwanz und besorgtem Gesichtsausdruck. Als sie Olivia entdeckte, trat kurz ein freudiges Leuchten in ihre Augen, und sie winkte ihr aufgeregt zu, bevor sie sich abwandte und ihrer Mutter und ihrem Bruder hinterhertrottete.
Oh je. Olivia trank rasch den Rest ihres Cappuccinos aus und rutschte von ihrem Hocker, um sich nützlich zu machen.
Kelly lachte. »Ich sage dem Buchclub Bescheid, dass du ein bisschen später kommst.«
»Danke.« Olivia grinste.
»Hey, könntest du dran denken, dass wir auch was zu essen brauchen?«, fragte sie in einem freundlichen Ton und sammelte die leere Tasse ein.
Olivia setzte einen unschuldigen Gesichtsausdruck auf. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Natürlich nicht. Okay, ich gehe mal wieder an die Arbeit. Ich muss noch sauber machen, bevor mein Bereich Feierabend macht.«
Das interpretierte Sasha als Aufforderung, Kelly die ganzen vier Meter zurück zu ihrem Kaffeetresen zu begleiten. Dabei flirtete er, was das Zeug hielt, und hatte Dr. Blackwood offenbar schon wieder vollkommen vergessen.
So flatterhaft.
* * *
Ein Blick genügte Olivia, um zu erkennen, dass Samantha Garrity mit den Nerven am Ende war. Sie hatte zwei Jobs und musste mit ihren Kindern in einem klapprigen, alten Kombi leben, während sie auf der Warteliste für eine Sozialwohnung standen. Und irgendwie hatte Samantha es trotz allem geschafft, zwei der wundervollsten Kinder hervorzubringen, die Olivia je kennengelernt hatte.
Toby war ein vorwitziges Energiebündel. Kein Baum war vor ihm sicher, egal wie hoch. Mit seinen starken kleinen Armen klammerte er sich an den Stamm und seine Beine trugen ihn in Windeseile nach oben wie eine Raupe. Außerdem schaufelte Toby Essen in sich hinein wie ein Industriestaubsauger.
Seine Schwester Emma war deutlich zurückhaltender, aber ihr entging selten etwas und sie war eine leidenschaftliche Leseratte, die nichts mehr liebte, als sich mit Olivia über Bücher zu unterhalten. Anders als die strahlend blauen Augen ihres Bruders erinnerten Emmas eher an sehr helle Kornblumen, und ihre blassen Wangen waren mit Sommersprossen gesprenkelt.
Das Leben hatte den Garritys Zitronen geschenkt, doch ihnen fehlte immer noch eine ganze Menge Zucker, um Limonade daraus zu machen.
Kennengelernt hatte Olivia die Familie vor vielen Monaten, als sie Toby in einem der Müllcontainer vor dem Mary Bugg’s erwischte. Er steckte kopfüber so tief darin, dass nur noch seine braunen Beine und nackten Füße herausschauten. Zwei wackelig aufeinandergestapelte Holzkisten hatten ihm als Trittleiter gedient. Beim Rausziehen kam ein kleiner Junge mit zerzaustem Haarschopf zum Vorschein, der in jeder Hand einen Muffin vom Vortag hielt und gerade wie wild an einem dritten kaute. Olivia musste ihn mit frisch gebackenen Muffins bestechen, damit er die aus dem Container hergab.
Auf dem Weg zurück zur Kindertagesstätte drei Straßen weiter erfuhr sie seine ganze Lebensgeschichte. Er erzählte ihr bereitwillig, dass sein Dad gestorben war, wie die Familie ihr Zuhause verloren hatte und nun in einem Auto lebte, das »stinkig« roch, »vor allem, seit es gesterbtet war«, und ließ auch die Kletterpartie über das Gartentor der Kita nicht aus. So war er ausgebüxt, als gerade niemand hingesehen hatte.
»Olivia«, begrüßte Samantha sie müde. »Schön, dich zu sehen.« Sie wirkte wie immer auf der Hut, doch der misstrauische Ausdruck in ihren Augen schwand für einen Moment, bevor sie die Mauern um sich herum wieder hochzog.
»Was ist los?«, fragte Olivia leise und führte das Trio zum Parkplatz auf der Rückseite des Mary Bugg’s.
Am Rand der Kiesfläche standen eine niedrige Holzbank und zwei große, grüne Müllcontainer, einer gefüllt mit plattgefalteten Bücherkartons, der andere mit Essensresten und nicht verkauften Backwaren.
»Eine ganze Menge und nicht viel Gutes«, antwortete Samantha so verhalten, dass ihre Kinder sie nicht hörten. Sie schenkte Olivia ein mattes Lächeln. »Aber so ist das Leben eben, oder?«
Oliva reichte ihr die Schlüssel ihres Vans. »Setz dich doch einen Moment. Schieb Trip einfach beiseite. Ich kümmere mich um die Kinder, dann können wir uns in Ruhe unterhalten.«
Dass Samantha nicht einmal protestierte, war ein weiterer Beweis für ihre Erschöpfung.
Olivia holte Stift und Notizblock aus ihrem Rucksack und rief Toby und Emma zu sich zur Bank. Sie ging vor ihnen in die Hocke und erklärte ihnen ein neues Spiel: Emma musste Toby ein Nashorn beschreiben – ein Tier, von dem ihr Bruder noch nie gehört hatte. Und Toby musste es nur anhand von Emmas Beschreibung zeichnen. Wenn ihre Mutter das Tier richtig erriet, hatten sie gewonnen.
Damit waren die Kinder beschäftigt und Toby brachte allein die Vorstellung zum Kichern, dass ein Tier nur ein großes Horn haben sollte. Olivia kehrte zum Van zurück, wo sie sich auf dem Fahrersitz niederließ und Samantha zuwandte. »Okidoki, schieß los.«
Samantha seufzte. »Mir werden zwei meiner Café-Schichten gestrichen, also ist das Geld noch knapper als sonst. Aber den Wochenendjob im Supermarkt habe ich noch. Damit wird es schon reichen.« Sie versuchte zu lächeln. »Aber Toby wurde gebeten, nicht mehr in die Kita zu kommen, weil er die Abläufe dort stört und ›zu viel Energie‹ hat.«
»Weil er zu lebhaft ist, meinst du.«
»Ja. Sie haben ihm nie verziehen, wie viel sie der neue Zaun gekostet hat, um das angeblich kindersichere Tor aufzustocken, über das er entwischt ist.«
»Ah.«
»Eine ältere Dame aus der Nachbarschaft hat angeboten, auf ihn aufzupassen, wenn ich arbeiten muss. Ihre Wohnung ist winzig, aber sicher. Emma geht schon jeden Tag nach der Schule zu ihr. Toby liebt Mrs. Clarke genauso sehr wie ihre Süßigkeiten und die Aufmerksamkeit, die er von ihr bekommt, aber Emma fühlt sich dort nicht wohl. Sie würde lieber im Park lesen, bis meine Schicht zu Ende ist, aber das geht nicht. Da wird mit Drogen gehandelt, das kann ich nicht riskieren.«
»Nein«, stimmte Olivia ihr zu.
»Und dann habe ich noch rausgefunden, dass Emma nur die Hälfte ihres Mittagessens aufisst und den Rest für Toby wieder mit nach Hause bringt, weil ihr kleiner Bruder ständig sagt, dass er Hunger hat. Ich habe so ein schlechtes Gewissen. Was für eine Mutter bringt denn nicht genug Essen für ihre Kinder auf den Tisch?« Die Schuldgefühle und die Scham waren ihr deutlich anzusehen. Sie massierte sich die Schläfen. »Selbst mit der Sozialhilfe reicht es hinten und vorne kaum, weil ich immer noch die Schulden abzahle, die Pete mit unserer gemeinsamen Kreditkarte gemacht hat.«
»Ich glaube, dass Toby einfach ein schwarzes Loch als Magen hat«, erwiderte Olivia und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Jede Familie hätte Schwierigkeiten, mit seinem Appetit mitzuhalten. Apropos, da kann ich helfen. Ich habe letzte Woche versehentlich zu viel bestellt und jetzt macht Kelly mir die Hölle heiß, weil unsere Küche bis obenhin vollsteht. Deswegen habe ich die haltbaren Sachen hier im Van zwischengelagert.« Sie deutete über die Schulter in den Laderaum. »Vielleicht kannst du mir ja was davon abnehmen?«
»Olivia«, meinte Samantha mit einer Mischung aus Protest und Seufzen. »Wie oft kann eine einzelne Frau denn versehentlich zu viel bestellen? Das ist schon das vierte Mal. Entweder bist du echt schlecht mit deinen Lagerbeständen oder unglaublich nett.«
»Hör mal, ich … ich war auch schon an dem Punkt.« Olivia schloss einen Moment lang die Augen. »Nicht so schlimm dran wie ihr, aber ich habe mit Anfang zwanzig mal eine Weile in meinem Van gelebt, weil ich in eine blöde Situation geraten bin. Und anders als du hatte ich eine Familie, die mir aus dem Schlamassel geholfen hat. Hier geht’s nicht um Almosen, Sam. Ich … ich weiß nur, wie sich das anfühlt – als wäre man unsichtbar und wertlos. Aber das bist du nicht. Ich will doch nur helfen.«
Samantha atmete langsam aus. »Ich werde es dir zurückzahlen, versprochen. Sobald ich wieder auf die Beine komme.« Olivia machte eine wegwerfende Handbewegung, doch Samantha schüttelte den Kopf und wiederholte: »Versprochen.«
»Fertig!«, ertönten in diesem Moment die Stimmen der beiden Kinder von der Bank.
»Da fällt mir ein …« Olivia grinste und legte die Hand auf den Türgriff. »Was auch immer sie dir zeigen – es ist ein Nashorn.«
»Natürlich«, gab Samantha trocken zurück. »Was sonst?« Sie schaute Olivia fest in die Augen. »Vielen Dank«, sagte sie ernst.
»Keine Ursache. Wirklich nicht.« Olivia stieg aus dem Van.
Emma und Toby rannten an ihr vorbei. Was die beiden gezeichnet hatten, sah aus wie eine Kakerlake mit Stiefeln an den Füßen, einer Pferdenase und einem Einhorn-Horn. Die Geschwister redeten wild durcheinander auf ihre Mutter ein, verstummten aber schließlich in Erwartung von Samanthas Beurteilung.
Diese betrachtete das Bild eingehend und meinte dann: »Hmm … ein Nashorn?«
»Ja!«, riefen die beiden Kinder begeistert. »Du hast es erraten!«
Olivia lachte in sich hinein, während sie im hinteren Teil ihres Vans nach der Ausgabe von Matilda suchte, die sie letzte Woche für Emma ergattert hatte. Dazu kamen noch ein Käse-Muffin für Toby und eine kleine Tüte mit haltbaren Grundnahrungsmitteln. Sie überlegte kurz und angelte sich dann auch die Taschen mit dem frischen Obst, das sie gerade erst gekauft hatte.
Tja. Vielleicht würde Kelly ja nicht auffallen, wenn ein Teil davon nicht den Weg nach Hause fand …
Kapitel 2
Der Buchclub
Olivia ließ sich tief in ihren Lieblingssessel im Mary Bugg’s sinken. Es fiel ihr schwer, sich auf den Moment zu konzentrieren, weil sie in Gedanken immer noch bei den Garritys war. Sie machte sich nach wie vor Sorgen um die Familie. Doch schließlich merkte sie, dass vier Augenpaare auf sie gerichtet waren.
Breanna war die Älteste in der Runde, eine Beamtin im Ruhestand mit wilden, braunen Locken, die von grauen Strähnen durchzogen waren. Sie verschränkte die Arme über ihrem Fuck the Patriarchy-Shirt vor der Brust. Offensichtlich widersetzte das Patriarchat sich hartnäckig, denn das Shirt war ausgeblichen und Jahrzehnte alt.
Neben Breanna saß Tess, eine junge Aboriginal Schauspielstudentin, die in ihrer Freizeit an einem »dopen, indigenen Sci-Fi-Outback-Roman« schrieb. Dope hieß offenbar so viel wie cool. Tess war neugierig und lieb, und Breanna hatte sie fest unter ihre Fittiche genommen.
Um den ersten Platz für das umgänglichste Mitglied der Gruppe gab es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Damien, einem Berg von einem Mann, und Bo, einer kleinen aber starken Butch-Bühnenarbeiterin. Aktuell wirkte sie am Prahran Community Theatre an der Produktion von Les Misérables mit, was ihr nicht viel Zeit zum Lesen ließ, weswegen sie die meisten der Buchclub-Titel ausließ.
Damien war das genaue Gegenteil: Er fraß Bücher während seiner Schicht als Nachtwächter am Empfang eines Apartmentgebäudes in der Innenstadt nur so in sich hinein. Sein beeindruckend massiger Körperbau ließ ihn auf den ersten Blick einschüchternd wirken, aber er war nett, drückte sich kurz und bündig aus, und nichts brachte ihn aus der Fassung. Außer wenn ein Buch traurig ausging. Und Käse.
»Wie hat euch das Buch gefallen?«, fragte Olivia in die Runde.
»Warum ausgerechnet dieses Buch?«, meldete Breanna sich als Erste entnervt zu Wort. »Ich dachte schon, dass du nicht mehr alle Tassen im Schrank hast.«
Wie aufs Stichwort klickte die Bürotür links hinter Olivia. Sie drehte sich in ihrem Sessel um. Die normalerweise geschlossene Tür stand nun einen Spaltbreit offen, wie immer, wenn der Buchclub tagte.
Margaret Blackwood war nun ebenfalls anwesend.
Olivia wusste gar nicht mehr, wann das angefangen hatte. Konnte auch gut und gerne schon zwei Jahre her sein – so lange gab es die Gruppe schon. Doch ab irgendeinem Punkt hatte die einsiedlerische Buchladenbesitzerin an ihren wöchentlichen Treffen »teilgenommen«. Schon ein bisschen komisch, oder? Wobei, vielleicht auch nicht. Man konnte schließlich davon ausgehen, dass eine Buchhändlerin auch selbst gerne las.
Natürlich wollte Olivia höflich sein, nachdem sie das zum ersten Mal bewusst mitbekommen hatte. Also klopfte sie in der folgenden Woche vor Beginn des Treffens an die Bürotür, um Dr. Blackwood einzuladen, sich ihnen anzuschließen. Das war rundheraus ignoriert worden. Sie rief ihr Angebot durch die geschlossene Tür, doch das wurde erst recht ignoriert.
»Das Geheimnis des Fiakers ist hundert Jahre alt!«, fuhr Breanna fort und wedelte mit ihrem Kindle, auf dessen Display das Cover von Fergus Humes Roman zu sehen war.
»Wohl eher 138 Jahre«, murmelte eine weibliche Stimme aus dem Büro. Sie war kaum zu hören – und da Olivia dem Gang und damit der Bürotür am nächsten saß, bekam sie es gerade so mit. Beinahe wäre sie vor Schreck vom Stuhl gefallen. Die geheimnisumwitterte Dr. Blackwood sprach? Mit ihr? Wobei, dass sie überhaupt sprach, war schon außergewöhnlich.
Olivia ließ den Blick über die Runde schweifen, ob das noch jemand mitbekommen hatte. Nichts wies darauf hin. Okay, hatte sie sich das vielleicht nur eingebildet? Sie wartete. Kein weiteres Gemurmel durchbrach die Stille.
Schließlich wandte Olivia sich an Breanna. »Na ja, ich dachte, es wäre vielleicht interessant, Australiens ersten internationalen Krimi-Bestseller zu lesen, nachdem sich unser Buchclub ja auf das Thema spezialisiert hat. Um unseren Horizont zu erweitern.«
»Mein Horizont war vorher schon weiter als der des Autors«, gab Breanna zurück. »Ist euch aufgefallen, dass alle Frauen in diesem Buch – bis auf die Erbin – hässliche Spinatwachteln sind? Die eine heißt sogar Mutter Gossenkind! Und dann ist da noch die verbitterte Vermieterin, die ständig rumplärrt, dass alle Männer Wüstlinge sind.«
Das war keine Übertreibung.
»Ha! Das ist echt lustig.« Bo verlagerte das Gewicht in ihrem Sessel und schlug ihre Doc Martens aneinander. »Ich hätte schwören können, dass du das feierst, Bree.«
Breanna schnaubte leise. »Und von der einzig passabel dargestellten Frau, der Erbin, wird geschwärmt, weil sie hübsch ist und ihren Verlobten so toll unterstützt, als der eine Mordanklage am Hals hat. Sie tut niemals etwas aus eigenen Beweggründen. Oh, und das geistlose Wesen fällt auch noch permanent in Ohnmacht!«
»Na, immerhin kippt einer der Kerle auch um«, meinte Damien.
Olivia verkniff sich ein Lachen. Sie mochte Damien wirklich gerne. »Stimmt. Der Autor hat jede sich bietende Gelegenheit für eine Ohnmacht genutzt.«
Breanna verengte die Augen einen Moment lang – ihre Art, widerstrebend ein Gegenargument anzuerkennen – und startete dann in Runde zwei. »Außerdem ist es furchtbar geschrieben. Die Erzählperspektive wechselt mitten in der Szene und eine Szene hat überhaupt keine Erzählperspektive. Der Protagonist der ersten Buchhälfte, der Detective, ist in der zweiten Hälfte einfach weg, ohne jede Erklärung. Es gibt keine Szenenwechsel, keine Absätze. Es ist ein einziger, langer Textblock, nur unterbrochen von Werbeanzeigen für Bovril.«
»Was um Himmels willen ist Bovril überhaupt?«, fragte Tess neugierig. »In meiner Ausgabe war das nicht drin.«
»Was Abartiges«, antwortete Breanna und verzog das Gesicht. »Ein brauner Fleisch- und Hefeextrakt, der aussieht wie Schuhcreme und auch genauso schmeckt. Das Zeug musste ich als Kind immer essen.«
»Also im Prinzip einfach Vegemite mit Fleischaroma aus dem 19. Jahrhundert«, meinte Damien.
»Aus dem 19. Jahrhundert? Für wie alt hältst du mich bitte?« Breanna drehte sich zu ihm um und fixierte ihn aus schmalen Augen.
Er tippte sich grinsend ans Kinn. »Na ja …«
»Okay!«, ging Olivia ein bisschen zu fröhlich dazwischen. »Ich glaube, wir schweifen vom Thema ab.«
»Was Sie nicht sagen«, ertönte eine leise, spöttische Stimme hinter ihr.
Olivia blinzelte. Natürlich hatte Dr. Blackwood alles mitbekommen. »Könnten wir uns dann wieder mit der Handlung beschäftigten?«, bat sie die Gruppe eindringlich.
»Mit der Handlung?«, wiederholte Breanna. »Von dem Buch ohne weibliche Hauptfigur, das nicht von einer weiblichen Autorin geschrieben wurde, obwohl wir der Women in Crime-Buchclub sind? Oder die Handlung, die wir vor allem deswegen mitbekommen, weil ausnahmslos jede Figur laut ausspricht, was ihr durch den Kopf geht? Diese Handlung?«
»Hört mal«, meinte Olivia, deren Geduld sich langsam dem Ende neigte. »Das Buch ist nicht perfekt, das ist mir klar, aber es ist ein Stück australische Geschichte. Es wurde von einem Autor, der in Melbourne gelebt hat, selbst veröffentlicht und war dann ein riesiger Hit. Aber eigentlich habe ich es ausgesucht, weil es Arthur Conan Doyle dazu inspiriert hat, Sherlock Holmes zu schreiben. Versteht ihr? Das ist australische Literaturgeschichte. Zollt ihr ein bisschen mehr Respekt.«
»Literatur. Sicher doch.« Dieses Mal waren Dr. Blackwoods Worte deutlich lauter als zuvor. Laut genug, dass Olivia unmöglich die Einzige gewesen sein konnte, die sie mitbekam.
Der versammelte Buchclub erstarrte.
Wut kochte in Olivia hoch. Diese Zwischenrufe waren einfach nur unfassbar unhöflich. Sie fuhr zu der angelehnten Tür herum. »Muss das sein?«
»Liv?« Tessa runzelte die Stirn. »Mit wem redest du da? Ich meine, wer redet da mit uns?«
»Niemand.« Olivia setzte sich wieder richtig hin. »Ein unglaublich nerviger Floh in meinem Ohr.«
»Klang für mich, als wäre da jemand«, meinte Damien neugierig.
»Arthur Conan Doyle«, murmelte der besagte nervige Floh, »wurde nur zu Sherlock Holmes inspiriert, weil Ihr Stück Literaturgeschichte so schlecht war, dass er es besser machen wollte.«
Olivia biss die Zähne zusammen.
Bo kritzelte etwas auf ihren Notizblock, bevor sie ihn für alle sichtbar hochhielt und dramatisch auf die Worte tippte: Ignorieren wir die Stimme einfach?
»Beachtet unseren Störenfried einfach nicht«, erwiderte Olivia mit einem leidgeplagten Seufzen. »Die Inhaberin des Buchladens – die uns mit ihren Kommentaren beglückt – hat offenbar zu viel Zeit. Sonst noch Meinungen dazu? Zur Handlung? Dem Mörder?«
Daraufhin entbrannte ein Streit darüber, warum sich der Detective nicht gefragt hatte, warum ein vermeintlicher Affektmörder praktischerweise Chloroform mit sich herumtrug. Aber immerhin diskutierten sie nun über das richtige Thema.
Olivia atmete erleichtert auf.
»Sie geben sich mit viel zu wenig zufrieden«, raunte ihr die leise Stimme zu, während die anderen mit sich selbst beschäftigt waren. »Sie können aus der kompletten Bandbreite von australischen Krimis schöpfen, und Sie entscheiden sich ausgerechnet für das unterdurchschnittliche Werk eines englischen Schreiberlings von 1886. Ein Buch, das Conan Doyle als ›schwache Geschichte, die sich vor allem durch Marktschreierei verkauft hat‹ bezeichnet hat. Und da war er noch nett.«
So viel hatte Dr. Blackwood noch nie auf einmal gesagt, und es brachte die Runde schlagartig zum Schweigen.
Bo gestikulierte mit einer neuen Notiz: Es spricht!
Eigentlich wäre es lustig, würde ihr Störenfried nicht solche Unruhe in den Buchclub bringen. Die Gruppe war auch so schon chaotisch genug. Olivia bedeutete Bo mit einer Handbewegung und einem finsteren Blick, den Notizblock runterzunehmen.
Bo gehorchte. »Hey, könnten wir nächste Woche vielleicht The Marmalade Files lesen? Das ist ein cooles Buch. Finde ich klasse.«
»Du findest Anna Torv klasse, meinst du wohl«, gab Breanna trocken zurück, doch die anderen schauten nur verständnislos drein. »Der Star von Secret City? Der Fernsehserie, die auf The Marmalade Files beruht?«
»Kann ich nicht abstreiten«, sagte Bo. »Sie ist meine Promi-Ehefrau. Sie weiß es nur noch nicht.«
»Du willst dich doch nur vorm Lesen drücken«, erwiderte Breanna bissig. »Hast du das von dieser Woche überhaupt angeschaut?«
Bo zog verlegen die Schultern hoch. »Ich wollte ja, aber ich musste die Les-Mis-Barrikaden fürs Theater reparieren, weil die Stühle, die sie ganz oben reinrammen, ständig ins Publikum fallen. Da konnte ich doch nicht Nein sagen. Ich will ja nicht, dass die Französische Revolution noch mehr Opfer fordert.«
Das brachte alle zum Lachen. Bos Job als Bühnenarbeiterin lieferte immer wieder unterhaltsame Anekdoten.
»Ich finde nicht, dass wir ein Buch nehmen sollten, nur weil die Schauspielerin der TV-Serie heiß ist«, wandte Breanna sich entnervt an Olivia und zog eine Augenbraue nach oben. »Wie seht ihr das?«
»Ach, ich weiß nicht …«, erwiderte Damien. »Klingt nach einem guten Argument.«
»War klar, dass du das sagst.« Breanna seufzte. »Manchmal bist du so ein Mann.«
»Ich fand Anna Torv in Fringe ganz großartig«, steuerte Tess ebenfalls einen konstruktiven Kommentar bei. »Könnten wir vielleicht als Nächstes einen Science-Fiction-Roman lesen?«
Und schon stürzte das Treffen wieder in die Untiefen irgendwelcher Themen ab, die nicht einmal annähernd etwas mit dem aktuellen Lesestoff zu tun hatten. Liebe Güte, sie war eine wirklich schlechte Gruppenleiterin. Oder war ihr Buchclub einfach nur schlecht darin, bei der Sache zu bleiben?
»Und einmal mehr regiert das Chaos«, murmelte die Stimme leise. »Danach kann man die Uhr stellen.«
»Okay, das reicht!« Olivia sprang auf.
Die Diskussion brach abrupt ab und alle Blicke richteten sich auf sie.
»Liv?« Sorge huschte über Bos breites, gebräuntes Gesicht. »Alles okay bei dir?«
»Bestens«, grummelte sie und ließ sich wieder in ihren Sessel sinken. Auf einmal kam sie sich albern vor.
Warum waren die anderen nicht so sauer über die störende Einmischung wie sie? Vielleicht, weil der Rest der Gruppe nicht versucht hatte, Dr. Blackwood zur Teilnahme einzuladen, nur um dabei eiskalt abzublitzen. Das tat immer noch weh.
»Hört mal … Das Buch für nächste Woche sollte allen gefallen: Es ist modern, australisch, hat eine weibliche Protagonistin und wurde von einer Frau geschrieben. Und …« Olivia wandte sich an Bo. »… Crimson Lake ist auch als Serie verfilmt worden, falls jemand keine Zeit hat, es zu lesen, also dürften damit alle zufrieden sein.«
»Stirbt die Frau?«, fragte Tess besorgt. »In letzter Zeit fällt mir immer öfter auf, dass wir uns mit brutalen Morden an Frauen abfinden müssen, wenn wir einen guten Krimi lesen wollen.«
Langsam bekam Olivia Kopfschmerzen. »Ich … habe keine Ahnung. Ich habe es auch noch nicht gelesen. Es kommen … Krokodile drin vor«, schob sie noch schwächlich hinterher. »Mehr weiß ich nicht.«
Tess lehnte sich nach vorn. »Mich stört, dass wir noch nie darüber gesprochen haben, wie viele schreckliche Morde in unserer Buchauswahl begangen werden.«
»Das ist eine Krimi-Gruppe«, warf Dr. Blackwood provokant ein.
Ach was, wollte Olivia giftig zurückgeben. Sie räusperte sich und wiederholte die Worte der Buchladenbesitzerin dann für alle. »Wir sind eine Krimi-Gruppe.«
»Oh, sehr originell«, kam die Reaktion, dieses Mal lauter und spöttisch.
Grr.
Damien brach in schallendes Gelächter aus.
»Also es wirkt schon sexistisch, dass die schlimmsten Morde immer den weiblichen Figuren zustoßen«, sagte Tess. »Vielleicht sollten wir eine neue Regel für die Bücher aufstellen, die wir in Zukunft lesen.«
»Oder nicht lesen«, meinte Breanna und warf Bo einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Sollten wir nicht Geschichten ausschließen, in denen Frauen nur für den Kick umgebracht werden?« Tess ließ nicht locker. »Ich meine, sind wir hier nicht auf der Seite der Frauen?«
»Auf Nimmerwiedersehen, Shakespeare.« Dr. Blackwood war deutlich anzuhören, wie gut sie sich amüsierte. »So nobel dieses Vorhaben auch ist – die verbleibende Auswahl an Büchern wäre doch sehr überschaubar.«
Olivia sank tiefer in ihren Sessel. Da hatte Dr. Blackwood nicht unrecht. Tess allerdings auch nicht. In Krimis starb tatsächlich ein Haufen Frauen unnötige Tode.
»Wäre das nicht Zensur?«, fragte Breanna und zog die Augenbrauen zusammen. »Ich finde es schon nicht gut, wenn die Regierung so was macht, also will ich es erst recht nicht in meiner Freizeit. Wie hier.« Sie machte eine Geste in die Runde. »Alle Krimis sollten diskutiert werden können.«
»Die Morde sind ja sowieso nur Nebensache«, hielt Damien versöhnlich dagegen. »Eigentlich geht es doch darum, wer es war und wie es passiert ist. Auf die Hinweise zu achten. Die Blutspritzer an der Wand, die Position der Einschusslöcher – darum geht es bei Krimis.«
»Du bist so blutrünstig!«, meinte Bo lachend und gab Damien einen Klaps auf den Arm.
Er zuckte die Schultern. »Aber ich habe recht.«
Danach drehte sich die Diskussion darum, wie viele Klassiker einem entgehen würden und, dass man misogynen Autoren kein Geld geben wolle. Olivias Kopfschmerzen machten sich stärker bemerkbar.
»Hm, kann ich vielleicht noch eine Bitte äußern?«, unterbrach Tess das Gespräch.
Olivia seufzte. »Ja bitte?«
»Wir müssen wirklich mehr indigene Krimis aufnehmen. Ich habe mich noch nie in den Büchern wiedergefunden, die ich hier lese.«
»Moment kurz«, erwiderte Breanna behutsam. »Möchtest du mehr indigene Autoren und Autorinnen lesen oder mehr Geschichten mit indigenen Figuren? Das ist ja nicht das Gleiche.«
»Beides!«, rief Tessa enthusiastisch. »Und am liebsten welche, bei denen ein Fall aufgeklärt werden muss. Warum lesen wir so was nicht?«
»Weil es, zumindest in Australien, nur ganz wenige Bücher gibt, die diese Kriterien erfüllen«, erklärte Olivia bedauernd.
»Ich könnte mal danach recherchieren«, bot Breanna an. »Aber so aus dem Stegreif fallen mir auch nicht viele ein. Außer, wir beziehen Sachbücher mit ein. Ich meine, muss ich euch daran erinnern, nach wem dieser Buchladen benannt ist?«
Schweigen senkte sich über die Runde. Ja, die Biografie von Mary Ann Bugg war für die Gruppe immer noch ein wunder Punkt. Die Frau selbst war grandios, ritt und kleidete sich wie ein Mann, und ihr Verbrecher-Liebhaber hatte nur überlebt, weil sie so viel über den Busch wusste. Anders als die meisten in ihrem Umfeld konnte sie lesen und hatte sich einmal sogar so eloquent in schriftlicher Form gegen den Vorwurf des Diebstahls von zwölf Stoffballen verteidigt, dass sie damit die breite Öffentlichkeit auf ihre Seite zog und man die Anklage fallen ließ.
Außerdem rankten sich übertriebene Legenden um sie. So sollte sie angeblich mit einer Feile zwischen den Zähnen zum Gefängnis nach Cockatoo Island geschwommen sein, um Captain Thunderbolt aus dem Gefängnis zu befreien.
All das machte sie zu einer würdigen Namensgeberin eines Buchladens. Einer würdigen Person, über die man ein Buch schreiben sollte. Doch die Historiker widmeten sich viel lieber ihrem berühmten männlichen Weggefährten. Deswegen lautete auch der Titel des einzigen Werks, das sich mit ihrem Leben auseinandersetzte, Captain Thunderbolt and His Lady.
»Das war echt scheiße«, sagte Bo. »Ich bin zwar nicht dazu gekommen, das Buch zu lesen, aber sie hat Besseres verdient, als die Fußnote in einem Buchtitel zu sein.«
»Wahre Worte«, ertönte es leise aus dem Hintergrund.
Eine positive Bemerkung von Dr. Blackwood? Der Schock würde Olivia später sicher einholen – sobald sie den Schock darüber verdaut hatte, dass die Frau sich überhaupt an dem Gespräch beteiligte.
»Abgesehen davon war es aber ein gutes Buch«, wandte Damien ein. »Exzellent recherchiert. Großartige Action-Szenen. Sehr spannend. Stimmt doch, oder?«
»Wie immer legst du deinen Fokus auf das Falsche.« Breanna schnaufte. »Dir ist schon klar, dass Captain Thunderbolt nur deswegen allen ein Schnippchen schlagen konnte, weil seine Frau der Kopf dieser Verbindung war?«
Damien winkte gelassen ab. »Er war schlau. Immerhin hat er sich ja von Mary Ann Lesen und Schreiben beibringen lassen. Wenn man mal drüber nachdenkt, ist das erstklassiger Führungsstil – seine Schwächen zu kennen und die Fähigkeiten der Experten in seinem Umfeld zu nutzen, um sie zu überwinden.« Er schaute in die Runde. »Findet ihr nicht, dass das allgemein ein guter Ratschlag fürs Leben ist?«
»Dann hätte er sich mal selbst daran halten sollen«, sagte Breanna trocken. »Er hat mit Mary Ann – der intelligentesten Person in seinem Umfeld – Schluss gemacht und erst dann hat die Polizei ihn erwischt. Zufall? Wohl kaum.« Breanna schnaubte spöttisch. »Es gibt einen Grund, warum sie steinalt geworden ist und er nicht. Mann, sie hatte sogar Zeit, fünfzehn Kinder auf die Welt zu bringen, bevor sie sich irgendwann die Radieschen von unten angeschaut hat.«
»Wir kommen vom Thema ab«, wandte Olivia ein.
»Sehe ich auch so«, meinte Tess. »Der wichtigste Punkt ist: Können wir bitte aufhören, ständig Bücher auszusuchen, in denen so viele Frauen ermordet werden?«
»Wir kommen nächste Woche noch mal auf deinen Vorschlag zurück.«
»Und nehmen ihn dann nicht an.« Tess klang niedergeschlagen.
»Schauen wir mal, was Breannas Recherche ergibt«, erwiderte Olivia diplomatisch. »Unsere Zeit ist um. Vielen Dank fürs Kommen. Und denkt dran: Crimson Lake.«
Die Gruppe sammelte ihre Notizen zusammen. Breanna ging als Erste, immer noch in eine Diskussion mit Damien vertieft. Tess machte sich auf den Weg zu einem College-Seminar und fragte Bo darüber aus, was man alles für eine ordentliche Barrikade der Französischen Revolution brauchte.
Olivia hatte jedoch mehr Interesse an der Person, die noch da war. Sie stand auf und ging zum Büro. Dr. Blackwoods Einmischung in den Buchclub konnte sie nicht so stehen lassen.
Als sie die Tür erreichte, schloss diese sich jedoch plötzlich mit einem Klicken. »Entschuldigung, könnten Sie mir bitte mal verraten, was Ihr Problem ist?« Sie versuchte es mit Klopfen.
Das Türschloss rastete geräuschvoll ein.
»Oh, sehr erwachsen«, grummelte Olivia. Normalerweise war sie ein höflicher Mensch, aber ihre Verärgerung machte es ihr gerade schwer. Sie klopfte noch einmal lauter. »Wenn Sie sich so dringend über unsere Bücher unterhalten wollen, warum stoßen Sie dann nicht einfach zu uns? Wie ich es Ihnen angeboten habe!«
Stille war die einzige Reaktion.
Sie seufzte. Vermutlich sollte sie bleiben und warten, um die Sache ein für alle Mal zu klären. Aber das Mary Bugg’s war ein hervorragender Abnehmer täglicher Lieferungen von Love Muffins-Backwaren. Wollte Olivia das wirklich aufs Spiel setzen, indem sie hier einen Streit anzettelte? Oder noch schlimmer: Wollte sie das Risiko eingehen, vom schönsten Ort der Welt verbannt zu werden, weil seine Inhaberin gerne merkwürdige, halblaut gemurmelte Buchclub-Kritiken in Echtzeit abgab?
Okay.
Dr. Blackwood konnte tun und lassen, was sie wollte, weil ihr der Laden gehörte. Sie war wahrscheinlich die nervigste Frau, die Olivia je kennengelernt hatte.
Oder besser gesagt – nicht kennengelernt hatte.
Tagebuch von Dr. Blackwood
Dienstag, 3. März
Tag 1123 nach H
Sonnenuntergang:19:57 Uhr
Temperatur:14.7°C-19.5°C
Regen:0 mm
Lärm:Klimaanlage des Nachbarn in 1B mit 65 dB um 22 Uhr! Fortgesetzte Überwachung.
Getränk:Trentham Estate Shiraz 2020. Zwei Gläser. Vertretbar.
Lektüre:Sachbuch – frisch eingetroffen: Journal der Australian Library and Information Association (JALIA), Band 69, Heft 1.Artikel über digitales Kuratieren erfordert weitere Beschäftigung mit dem Thema.
Belletristik – Das Geheimnis des Fiakers (Fergus Hume). Mangelhaft verfasster Nonsens eines Schreiberlings, der sich für einen großen Literaten hielt. Schlechteste Auswahl des Buchclubs der letzten drei Monate.
Allgemeine Beobachtungen:Der Sonnenuntergang sieht vom Balkon meines Apartments heute besonders schön aus. Die roten und orangefarbenen Streifen wirken, als hätte ein Künstler seinen Pinsel über den Himmel geführt. Diese friedvolle Stimmung, während ich hier sitze, meinen Wein trinke und meine Gedanken niederschreibe, ist ein Ausgleich zum Rest des Tages.
Dieser hartnäckige russische Balletttänzer wollte sich schon wieder bei mir einschmeicheln, zweifellos ein Versuch, seine Verflossene erneut für sich zu gewinnen. Wenn meine Barista diesem Sasha nicht so unerklärlich zugetan wäre, würde ich ihm Hausverbot für den Buchladen erteilen. Wenn er mit den Wimpern klimpert und seine Muskeln albern spielen lässt, erinnert er mich an einen Pavian, der seine Bereitschaft zur Paarung zeigt. Noch befriedigender, als ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, war seine Überraschung, als ihm aufgegangen ist, dass ich genau das getan habe.
Buchclub. Chaotisch, wie immer. Olivia hat mitunter Argumente angebracht, die einer substanziellen Aussage gefährlich nahekamen; wage nicht zu hoffen, dass sich diese Anomalie wiederholen wird. Ihre Versuche, den Sack Flöhe zu hüten, und diese stumpfsinnige Gruppe beim Thema zu halten, erbrachte die üblichen, vorhersehbaren Ergebnisse. Offenbar sollte ich demnächstScience-Fictionin meinemKrimi-Buchladen anbieten! Und was kommt als Nächstes? Fifty Shades of Grey?! (H würde mich für diesen Satz natürlich einen Snob nennen. In diesem Kontext trage ich den Titel mit Stolz.)
Diese Woche konnte ich mich nicht zurückhalten. Die ganze Zeit über, all die Monate habe ich meine sarkastischen Kommentare in mich hineingemurmelt. Aber nicht heute. Ich wurde von der passiven Beobachterin zur lautstarken Kritikerin. Damit habe ich Olivia schockiert – geschlossen aus der Tatsache, dass sie wiederholt in die Luft gegangen ist –, doch mich selbst noch mehr.
Apropos Olivia: Ich war gerade im Lager, als die Garritys direkt davor auf den Parkplatz kamen. Olivias Erfahrung im Flöhehüten kam hier sehr gelegen. Die Kinder hat sie wie ein Profi gehändelt. Ich habe außerdem beobachtet, dass sie einen guten Teil ihres Wocheneinkaufs an Samantha Garrity abgegeben hat. Und was plant sie selbst zu essen? Olivia hat ein derart weiches Herz, dass ich nicht weiß, wie sie in dieser Welt überlebt.
Kapitel 3
Ein Trip auf Abwegen
Nach der letzten Lieferung am Mittwochmorgen ließ Olivia sich auf den Fahrersitz ihres Vans sinken und machte sich wieder auf den Weg. Sie war erschöpft und nach dem gestrigen Tag einfach nur durch mit allem. Kelly hatte sehr deutliche Worte zum Thema Tina gefunden und sie hatten bis spät in die Nacht geredet.
Olivias erste Handlung am Morgen war ein höfliches, aber sehr deutliches Nein an ihre Ex-Freundin via Textnachricht. Sie erklärte Tina, dass sie ihr keine zweite Chance geben würde. Kelly hatte recht. Tina behauptete zwar, dass sie sich geändert hatte, aber seit der Trennung waren gerade mal ein paar Monate vergangen. Warum fallen Kelly die Warnzeichen immer auf und mir nicht?
Trip schaute nachdenklich aus dem Fenster. Olivia hatte ihn von ihrer verstorbenen Großmutter geerbt. Ihre Nana Betty Roberts hatte ihn mit einundsiebzig nach einer Romanze mit einem Tierpräparator auf einer ihrer vielen Reisen erstanden – von denen stammte auch die Inspiration für seinen Namen. Betty und ihr treuer Pinguin hatten zusammen zahlreiche Trips unternommen.
Der Kleine hatte einen kurzen, orangefarbenen Schnabel und war selbst für Pinguinverhältnisse sehr schlank. Er besaß das typische schwarz-weiße Gefieder und war etwa so groß wie ein Schuhkarton. Angesichts der Tatsache, dass er Betty überallhin begleitet hatte, war es nicht verwunderlich, dass er schon ein wenig mitgenommen aussah. Seine einst so glatten Federn waren zerzaust.
Olivia kümmerte es nicht, dass er seine besten Jahre schon hinter sich hatte, oder dass er der schweigsame Typ war. Als Begleiter war er einsame Spitze und das frühe Aufstehen machte ihm auch nichts aus.
»In einem halben Jahr könnte ich vielleicht noch mal drüber nachdenken«, meinte Olivia zu Trip, weil ihr plötzlich Zweifel kamen. War sie ein gefühlskalter, nachtragender Mensch? Wenn Tina dann noch Interesse hätte und weiterhin an sich arbeitete, verstand sich. Tina könnte sich wirklich ändern. Es wäre furchtbar, wenn Tina sich wirklich zum Positiven wandelte und Olivia sich nicht einmal die Zeit nahm, es mitzubekommen.
Sie schürzte die Lippen, schloss die Finger ein wenig fester um das abgegriffene Lenkrad und warf Trip einen Seitenblick zu. »Sieh mich nicht so an«, moserte sie, obwohl Trip immer noch stur sein Leben Revue passieren ließ. »Man weiß nie. Das Universum überrascht einen doch immer wieder.«
Die Ampel schaltete auf Grün und Olivia gab Gas – wobei das nicht ganz das richtige Wort war, angesichts des Zustands, in dem sich ihr uralter gelber Van befand, den sie zum Foodtruck umgebaut hatte. Auch das hatte Nana Betty ihr hinterlassen – einen fahrbaren Untersatz. Er ermöglichte es ihr, ihre handgemachten Muffins an Melbournes besten Kaffeedrehkreuzen anzubieten.
Sie gondelte langsam durch Prahran, einen belebten Vorort voller Cafés, nur fünf Kilometer von der Melbourner Innenstadt entfernt. Das Viertel zog Kaffee-Snobs ebenso an wie Bauernmarkt-Gänger und Möchtegern-Hipster. Prahran war eine Mischung aus Shabby-chic-Läden, dem Mode-Mekka der Chapel Street – die inzwischen kurz davor war, ihren schicken Ruf zu verlieren – und trendigen Apartments. In Letzteren wohnten vor allem Leute aus dem alten Geldadel, weswegen sie mittlerweile weit außerhalb von Olivias Preisklasse lagen. Deswegen hatten ihre Schwester und sie sich auch ein kleines Haus eine halbe Stunde entfernt weiter am Stadtrand gemietet.
Olivia hielt an einem kleinen Park, von dem Büroangestellte in ihren Pausen angezogen wurden wie Motten vom Licht. Es war später als sonst, fast schon Mittag. Ihre tägliche Lieferrunde an Kaffeehäuser, Lunch-Bars, Cafés und den himmlischen Buchladen hatte etwas länger gedauert.
Sie schob die Seitentür des Vans auf, was leider dazu führte, dass die Aufschrift mit ihrem Firmennamen zu »Love Muff« verkürzt wurde – ein peinliches Problem, da ihr Geschäft absolut nichts mit dem Slangwort für Intimbehaarung zu tun hatte.
Sie zog die Auslagen raus, auf denen zwei Bleche Muffins standen. Ihr Ruf sorgte dafür, dass sie hier nie länger als eine Stunde stehen musste, bevor sie ausverkauft waren. Die Passanten krallten sich immer alles, was von ihren Backwaren übrig war. Das war jedes Mal ein schöner Abschluss für ihren Arbeitstag, der morgens um halb fünf begann. Und wenn sie Glück hatte, wurde sie sogar belohnt: mit einem Blick auf die Buchfrau.
Erwartungsvoll drehte sie sich um. Da war sie. Saß auf einer Bank mitten im Park, vor dem Olivia ihre unverkauften Muffins anbot, und steckte ihre aristokratische Nase in einen Roman. Das machte sie oft – in ihrer Mittagspause Romane verschlingen. Sogar echte Printbücher – sie mochte es oldschool, was Olivia spannend fand –, deren Seiten sie zügig umblätterte.
Die Häufigkeit, mit der die Farben der Buchcover wechselten, ließ vermuten, dass sie einen Roman pro Tag las. Und da die meisten Cover in schwarz oder rot gehalten waren, tippte Olivia auf Krimis.
Die Frau sah aus wie eine geheimnisvolle Morticia Addams mit kurzen Haaren – elegant, in sich gekehrt und distanziert, als wüsste sie über die Ausführung der Hälfte der Morde in ihren Büchern Bescheid.
Die auffälligsten Merkmale der Buchfrau waren jedoch ihre hohen Wangenknochen, die ihre blasse Haut, die schwarzen Haare und das dunkle Brillengestell perfekt ergänzten. Auf ihrem Gesicht war kein Make-up und auch sonst kein Hauch Farbe zu sehen. Sie strahlte mit ihrer ausdruckslosen Miene vor allem Verachtung für alles und jeden aus. Im Moment wirkte sie tatsächlich wie die Imitation eines schlanken, arroganten menschlichen Geiers, der über seiner Papierbeute kauerte.
Vermutlich verscheuchte sie mit ihrer Vorbotin-des-Weltuntergangs-Aura so ziemlich jeden, doch Olivia war vollkommen fasziniert von ihr. Oft fragte sie sich, was die Buchfrau wohl beruflich machte. Gekleidet war sie immer tadellos, aber interessant – eine maskulin geschnittene, schwarze Anzughose, die ihren schmalen Körperbau betonte, und dazu auf Hochglanz polierte, schwarze Ankleboots. Eines Tages würde Olivia sie vielleicht ansprechen und danach fragen.
Ja, klar doch.
»Hey, Love Muff! Ich warte schon ewig.«
Das lenkte Olivias Aufmerksamkeit zurück auf ihre Kunden. Na ja, den einen Kunden. Andy, einer ihrer Stammgäste, seufzte theatralisch, um seine Qual zu untermauern. Der Maschinenbaustudent sah immer halb verhungert aus. Er schenkte ihr sein breites, dümmliches, jungenhaftes Grinsen und dafür hätte Olivia ihm beinahe den abstoßenden Spottnamen verziehen.
»Ja, der Van hat mal wieder rumgezickt«, erklärte sie. »Aber dafür habe ich heute deine Lieblinge dabei.« Olivia schob ihre drei größten Drei-Käse-Kräuterkruste-Muffins auf einen Pappteller. Die hatte sie extra für ihn aufgehoben.
Bei dem Anblick fing Andy praktisch an zu sabbern. Er bezahlte – in kleinen Münzen – und kaute bereits zufrieden am ersten Muffin. »Hmmpf. Damge, Livvy. Beste. Muffins. Der. Welt!«
Nicht Livvy. Nicht Love Muff. Olivia – oder Liv, wenn es denn unbedingt sein muss.
Doch sie korrigierte ihn nicht. Er war ein guter Kunde, harmlos und irgendwie süß, auf eine verpeilte Art. Sie vergab ihm wieder einmal und schaute ihm lächelnd hinterher, als er sich auf eine niedrige Mauer setzte und sein Mittagessen über sein Handy gebeugt in sich hineinstopfte.
Die nächste Stunde verging relativ zügig und schließlich hatte Olivia nur noch einen Muffin übrig: eine Kreation aus Süßkartoffeln und einer alten Tomatensorte mit einem knusprigen Parmesan-Topping. An dem Namen »Parma Sutra« musste sie vielleicht noch mal arbeiten. Der stammte von Damien aus dem Buchclub. Er war so begeistert von seinem »Geistesblitz« gewesen, dass sie ihn nicht ablehnen wollte, also hatte sie den Namen genommen.
Aber heute wollte niemand den letzten Parma Sutra haben. Ihn wegzuschmeißen, wäre Verschwendung, und sie hatte schon vor Jahren gelernt, ihre Restbestände nicht selbst aufzuessen, weil sich ihr Hintern sonst sehr bedankte. Seine eher rundlich-ausladenden Proportionen waren noch nie besonders gut für ihr Selbstbewusstsein gewesen, auch dank der Ex-Freundin, die sie gnadenlos damit verspottet hatte.
So oft ging ihr die Frage durch den Kopf, warum man sich überhaupt auf eine Person einließ, die man offenbar so unattraktiv fand. Doch eine Antwort blieb nach wie vor aus.
Beim Zusammenpacken fiel Olivias Blick wieder auf den unverkauften Muffin und sie schaute sich in der Hoffnung auf letzte Kundschaft noch einmal um. Da blieb sie erneut an der Buchfrau hängen.
Olivia hielt einen Moment lang inne. Sie liebte es, wie die Frau die Seiten ihrer Romane umblätterte – mit knappen Bewegungen, als wäre langsames Umblättern zu ineffizient. Aber dann strich sie jedes Mal die neu aufgeschlagene Seite glatt, eine ehrfürchtig-liebevolle Geste. Als würde sie sich für ihre Schroffheit entschuldigen.
Olivias Blick huschte zurück zu dem Parma Sutra und eine Idee schoss ihr durch den Kopf. Sollte sie es wagen?
Okay. Jep. Okay. Sie würde genau das machen. Rasch rückte sie ihren Anstecker zurecht: Punktum und Streusel drauf.
Sie legte den einsamen Muffin auf einen kleinen Pappteller, atmete noch einmal tief durch und straffte die Schultern. Sie würde jetzt nicht kneifen, sondern der Frau ihr Gebäck anbieten.
Auf halbem Weg ging Olivia jedoch auf, dass jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, um in Panik auszubrechen. Sie, eine völlig Fremde, wollte jemanden mit einem selbst gebackenen Muffin belästigen – und da war es auch vollkommen egal, dass besagter Muffin im vergangenen Jahr im heiß begehrten Good Food Guide mit dem Titel »Beste Foodtruck-Backware (herzhaft) in Prahran« ausgezeichnet worden war.
Was, wenn die Frau Angst hatte, dass Olivia sie damit vergiften wollte? Ihre Schritte wurden langsamer und ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an.
Die Frau schaute auf und ihre Blicke trafen sich. Ein Schauer durchfuhr Olivia, weil in diesen dunklen Augen so viel Autorität lag.
Sie zog fragend eine ihrer mehr als perfekt gezupften Augenbrauen nach oben. Ihr Blick huschte über Olivias ausgetretene Sneaker, ihre Jeans hinauf über die breiten Hüften und den Bauch, das Flanellhemd und das weiße T-Shirt bis zu ihrem Gesicht, dessen Ausdruck zweifellos an ein Reh im Scheinwerferlicht erinnerte.
Die Frau reckte langsam das Kinn nach vorn, als würde sie Olivia gnädig eine wertvolle Minute gewähren.
»Ähm, hi.« Olivia blieb vor ihr stehen und verlagerte unruhig das Gewicht von einem Bein aufs andere. Fieberhaft suchte sie nach einem passenden Eröffnungssatz für das Gespräch. Wie dumm! Das hätte sie sich vorher überlegen sollen!
Was halten Sie von einem Parma Sutra? Nein, das klang total beknackt.
Möchten Sie gerne meinen köstlichen Muffin probieren? Gott. Nein.
Hi, ich bin Love Muffins und … Shit.
Waren ihre Hände schon immer so schwitzig gewesen?
Hitze stieg Olivia in die Wangen und sie wusste leider mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass ihre helle, sommersprossige Haut sich gerade dunkelrot färbte. Verzweifelt wünschte sie sich eine clevere Begrüßung herbei, weil das hier gerade wirklich unangenehm wurde.
Die Lippen der Frau zuckten, als würden sie es in Erwägung ziehen, Belustigung auszudrücken, doch dann stutzte sie und ihr Blick wanderte zu etwas hinter Olivia.
Gleichzeitig rief Andy: »Hey, Livvy! Jemand stiehlt deinen …«
Was? Olivia fuhr herum.
Er kniff die Augen zusammen und deutete auf die Straße. »… Pinguin?«
Trip?! Entsetzen durchflutete sie. Nein! Eine Gestalt rannte mit Olivias gefiedertem Freund unterm Arm von ihrem Van weg.
»Oh mein Gott!« Sie warf den kleinen Pappteller samt Muffin auf die Bank und sprintete los.
Keuchend verfolgte sie den Dieb, doch ihre Beinmuskeln protestierten heftig gegen die unerwartete körperliche Anstrengung. Später konnte sie sich dafür verfluchen, dass sie vollkommen außer Form war, doch im Moment konnte sie einfach nur beten, dass niemand diese peinliche Aktion mitbekam.
»Schnapp ihn dir, Livvy!«, rief Andy ihr ermunternd zu. Dicht gefolgt von einem leisen, schnaubenden Lachen hinter ihr. Das war definitiv nicht Andys, sondern eine weibliche Stimme.
Olivia verzog das Gesicht, weil sie nur zu gut wusste, von dem das kam. Ganz toll: Zeuginnen anwesend.
* * *
Vielleicht hatte der Dieb nicht erwartet, in flagranti erwischt zu werden, denn als Olivia um die Ecke bog, entdeckte sie die Person, wie sie sich außer Atem an eine Wand lehnte. Trip hielt sie immer noch wie einen Dudelsack unterm Arm.
Und Olivia erkannte den Dieb sofort. »Tina?«
»Oh, hey, Livvy. Schön, dich wiederzusehen.« Ihre Ex-Freundin rang immer noch nach Luft und winkte ihr beiläufig zu.
»Hast du sie noch alle?«
Tina grinste sie an. »Okay, also das ist jetzt nicht so, wie es aussieht. Du musst echt mal ein bisschen runterkommen, Süße.«
»Dann hast du also nicht gerade meinen Pinguin geklaut?« Olivia versuchte, sich Trip zu schnappen.
Tina brachte ihn mühelos außer Reichweite.
Olivia warf ihr einen finsteren Blick zu. Was musste sie denn so nervig fit sein? Mit ihrem drahtigen, durchtrainierten Körper und den blond gefärbten Haaren sah sie immer aus wie ein nichtsnutziges, reiches Partygirl. So weit war das von der Realität auch gar nicht entfernt. Tinas kolossale Anspruchshaltung war der Tatsache geschuldet, dass sie das einzige Kind vermögender Eltern war, die ihr immer alles gegeben hatten, was sie wollte.
Als sie sich den Partydrogen zugewandt hatte, waren ihr jedoch die monatlichen Zuwendungen gestrichen worden. In der Konsequenz waren Olivias Habseligkeiten anschließend Freiwild für Tina, die sie dann verpfändete. Sie hatte nicht einmal etwas von Tinas Drogenproblem gewusst, bis immer mehr ihrer Besitztümer verschwanden.
»Okay, hör mir zu.« Tina holte tief Luft und nahm ihre Du-weißt-dass-du-mich-willst-Pose ein, die ihr auf Social Media jedes Mal Likes einbrachte. »Als ich heute Morgen deine Nachricht bekommen habe, war ich so traurig. Verstehst du?« Sie zog einen Schmollmund. »Ich wollte nicht, dass es mit einer dummen Textnachricht vorbei ist. Ich wollte nicht, dass das mit uns vorbei ist, einfach so …« Sie strich mit einem Finger über Olivias Ansteckbutton. Punktum und Streusel drauf.
Wenn Tina jetzt ihre abgewandelten Gute-Laune-Redewendungen gegen sie verwendete, war es gleich endgültig aus mit Olivias Geduld.
»Haben wir beide nicht mehr verdient?« In Tinas großen Augen stand ein flehender Ausdruck. Sie wirkte so aufrichtig.
»Oh.« Olivia blinzelte verwirrt. »Aber … ich meine …« Sie deutete auf Trip. »Warum?«
»Ich musste irgendwie deine Aufmerksamkeit erregen, das ist alles. Ich habe dich so sehr vermisst. Hatten wir nicht eine tolle Zeit miteinander? Wir haben doch so gut zusammengepasst, als noch alles in Ordnung war.« Ihr Lächeln war liebevoll und frech, wie ganz am Anfang ihrer Beziehung. »Also bin ich tief in mich gegangen, während ich zu Hause war, und habe darüber nachgedacht, wie ich alles versaut habe. Mehr steckt nicht dahinter.« Sie machte einen Schritt auf Olivia zu. »Ich wollte dich wirklich einfach nur wiedersehen.«
Dann hielt Tina ihr Trip hin und Olivia schnappte ihn sich sofort.
