Nichts als die unbequeme Wahrheit - Lee Winter - E-Book + Hörbuch

Nichts als die unbequeme Wahrheit E-Book und Hörbuch

Lee Winter

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Beschreibung

Als ambitionierte Wirtschaftsanwältin widmet Eiskönigin Felicity Simmons ihr Leben einzig und allein ihrer erfolgreichen Karriere. Als sie kurz davor steht, die Leitung eines Medienkonzerns zu übernehmen, wird sie von ihrer Chefin, Elena Bartell, auf eine unerwartete Mission geschickt: Felicity soll eine gemeinnützige Organisation überprüfen, die sich in der South Bronx um die Haustiere von Obdachlosen kümmert. Veruntreut dort jemand Geld im großen Stil? Und wie um Himmels willen soll Felicity mit der verflixt attraktiven Tierärztin Sandy Cooper umgehen? Nicht, dass Felicity ernsthaft Interesse an einer Butch-Amazone oder ihrem entzückenden Flohbeutel von einem Hund hätte! Denn nichts kann Felicity von ihrem Auftrag ablenken. Sie muss das Spendenrätsel lösen, ihre Mentorin beeindrucken und sich dann ihren Lebenstraum als Konzernchefin erfüllen. Obwohl eine kleine, romantische Ablenkung vielleicht genau das ist, was sie gerade braucht …

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Seitenzahl: 574

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Zeit:12 Std. 38 min

Veröffentlichungsjahr: 2023

Sprecher:Mona Fischer

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Inhaltsverzeichnis

Von Lee Winter außerdem lieferbar

Widmung

Kapitel 1: Volle Konzentration

Kapitel 2: Roller-Derby-Amazonen

Kapitel 3: Auf Achse

Kapitel 4: Auf Herz und Nieren geprüft

Kapitel 5: Trennungsangst

Kapitel 6: Pets in the Park

Kapitel 7: Das ist kein Date

Kapitel 8: Rätselhaft

Kapitel 9: Zum letzten Mal

Kapitel 10: In perfektem Zustand

Kapitel 11: Klar wie Schlammbrühe

Kapitel 12: Eine unnötige Lüge

Kapitel 13: Beschlossene Sache

Kapitel 14: Ambitionen

Kapitel 15: Allein

Kapitel 16: Weiter unten ist noch mehr

Kapitel 17: Sandy Cooper den Hof machen

Kapitel 18: Eine absolut brillante Idee

Kapitel 19: Das Mädchen aus Pinckney

Epilog

Wenn auch Sie das Leid der Hunde nicht kalt lässt

Danksagung

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Lee Winter

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Von Lee Winter außerdem lieferbar

Ein Hotel und zwei Rivalinnen

Happy End am Ende der Welt

Nichts als die ungeschminkte Wahrheit

Aus der Rolle gefallen

Requiem mit tödlicher Partitur

Aus dem Newsroom:

Das Geheimnis der roten Akten

Unter die Haut – Liebe, Verschwörung und eine fast geplatzte Hochzeit

Widmung

Für all die guten Jungs und Mädchen – egal, wo ihr zu Hause seid.

Kapitel 1

Volle Konzentration

Am dreiundzwanzigsten November um 10:07 Uhr schnappte sich Felicity Simmons die Teetasse ihrer Chefin und feuerte sie gegen die Wand, was ihr Leben für immer verändern würde.

»Ich bin nicht Ihre Assistentin, Elena.« Felicity straffte die Schultern und starrte ihr Gegenüber finster an. »Ich bin nicht diejenige, die Sie dafür bezahlen, Ihnen Getränke zu bringen und Kopien für Sie zu machen. Ich werde Ihnen nie wieder einen verdammten Chai Latte holen, also sparen Sie sich das in Zukunft einfach direkt. Ich bin Ihre Chief of Staff. Ist das klar? Ich bin studierte Juristin, herausragend in meinen Job und verdiene es, entsprechend behandelt zu werden.«

»Ich verstehe.« Das zufriedene Lächeln, das Elenas Mundwinkel umspielte, nahm Felicity komplett den Wind aus den Segeln. »Das hat ja lange genug gedauert.«

Und dann beförderte sie Felicity.

Erstaunlich, dass man die Karriereleiter mithilfe von neun Keramikbruchstücken und einem klebrigen Fleck, verursacht durch einen Chai Latte (fettarme Milch, extraheiß) auf dem hellgrauen Teppich, hinaufklettern konnte. Und da sollte noch mal jemand sagen, dass Medienmogulin Elena Bartell berechenbar war.

Und selbst heute, am zehnten März um 20:58 Uhr, wusste Felicity immer noch nicht so recht, wie ihr geschehen war. Sie betrachtete die Skyline von New York durch die Balkontüren ihres Apartments im dreißigsten Stock eines Wolkenkratzers in Manhattan. Dank der Gehaltserhöhung würde sie es vielleicht sogar schaffen, den Wohnungskredit dieses Jahr abzubezahlen, nachdem Elena sie von ihrer Chief of Staff zur COO gemacht hatte – was bedeutete, dass sie die Bartell Corp demnächst als Chief Operating Officer und somit Elenas Stellvertreterin führen würde. Das kam ihr vollkommen surreal vor. Immer noch.

Ein Geräusch ließ sie erschrocken zusammenzucken. Sie spähte angestrengt in die Dunkelheit auf ihrem Balkon, auch wenn sie schon eine Ahnung hatte, wer da wieder sein Unwesen trieb.

Die Balkone bestanden aus einer langen Betonfläche, die auf jedem Stockwerk am Gebäude entlang verliefen und durch eine Glasbrüstung begrenzt wurden. Die Bereiche der einzelnen Wohnungen wurden durch brusthohe Milchglaswände voneinander getrennt, in die irgendein schlauer Designer Löcher eingebaut hatte, um den Wind durchzulassen. Leider stellten diese jedoch auch ideale Kletterhilfen dar, wenn man Pfoten besaß. So konnte die Nachbarskatze Loki von Balkon zu Balkon hüpfen und es sich in Felicitys Designer-Formschnittbäumchen gemütlich machen.

Oh, auf frischer Tat ertappt hatte Felicity das Tier noch nicht, aber das überall verteilte Laub war Beweis genug, dass das kleine Monster gerne an den Stämmen hochkletterte und durch die kugelförmigen Kronen tobte wie eine Kreatur aus einem dieser Alien-Filme.

Was natürlich auf unzähligen Ebenen vollkommen inakzeptabel war, angefangen bei den teuren, verschandelten Bäumen bis hin zu der Tatsache, dass sie Hausfriedensbruch durch die einbrecherischen Gewohnheiten eines Tiers hinnehmen musste. Aber das vielleicht Schlimmste an der Sache: Es war eine Katze. Felicity wollte Katzen nicht um sich haben. Hunde auch nicht. Das hatte mit persönlichem Sicherheitsabstand zu tun. Etwas, das für diese Tiere nicht existierte.

Felicity wusste, dass sie beobachtet wurde. Sie stand auf und schlich sich zur Wand neben dem Balkon, um die Tür aufzuschließen. Vorsichtig schob sie sie einen winzigen Spaltbreit auf. Dank der letzten zwanzig Jahre, in denen sie wie eine Hollywood-Schauspielerin auf ihre Ernährung geachtet hatte, brauchte sie auch nicht mehr Platz.

Das Rascheln ertönte erneut.

Felicity holte tief Luft und steckte die Hand mit einem Ruck in die Baumkrone, ohne zu sehen, wo sie da genau hinfasste.

»Au! Shit!« Sie zuckte zurück und betrachtete ungläubig die kleinen, punktförmigen Wunden, die sich auf ihrem Handrücken zeigten.

Plötzlich tauchte ein cremefarbenes Köpfchen in der Blätterkugel auf und blaue Augen starrten Felicity unverwandt an. Beiden entfuhr ein erschrockener Laut, bevor Felicity sich am Riemen riss, nach vorn stürzte und das Tier packte.

Ungläubig starrte sie ihr zappelndes Opfer an. Großer Gott, das Ding sah aus wie ein kleiner Pompon mit Augen. Ein Siamkätzchen! Und so süß, dass man glatt Karies davon bekam. »Solltest du nicht für eine Instagram-Seite posieren, anstatt mich und mein Eigentum anzugreifen?«, fragte sie angesäuert.

Der Pompon fauchte.

In diesem Moment kreischte jemand aufgebracht hinter ihr.

Felicity fuhr herum und stand ihrer Nachbarin gegenüber, die sie mit offenem Mund anstarrte. Mrs Henderson war Mitte vierzig und die Art von Personalleiterin, die zu viel blauen Lidschatten und die Art von selbst gemachter Dauerwelle trug, die in den Siebzigern jeder gehabt hatte. Und von der heute jeder behauptete, sie nie getragen zu haben.

»Loki!« Mrs Henderson schnappte nach Luft und warf Felicity einen anklagenden Blick zu. »Sie erwürgen meine Katze! Lassen Sie sie sofort los!«

Es sah wohl schon ein bisschen verdächtig danach aus, als hätte sie die Finger um die Kehle des sich windenden Tiers gelegt, aber das war nicht der Fall. Sie marschierte zu der Trennwand zwischen den Balkonen. »Loki sollte in Kakerloki umgetauft werden«, meinte sie, auch wenn ihr klar war, dass das Wortspiel mit einer Kakerlake nicht ihre beste Leistung war. Sie hielt die Katze ihrer Besitzerin hin.

Die Frau riss sie ihr praktisch aus der Hand und säuselte dann umgehend beruhigende Worte, während sie das Tier in den Armen wiegte. Loki starrte Felicity über die Schulter ihrer Besitzerin hinweg an, als würde sie bittere Vergeltung planen.

Felicity erwiderte den Blick finster. Das Vieh täuschte seine Niedlichkeit ganz offensichtlich nur vor.

Mrs Henderson drehte sich schwungvoll wieder zu ihr um. »Was für ein Monster muss man denn sein, um ein zauberhaftes, hilfloses Kätzchen anzugreifen?«

Hilflos? Die Wunden auf Felicitys Hand erzählten da aber eine ganz andere Geschichte. »Wie dumm muss man denn sein, um nicht dafür sorgen zu können, dass das Haustier in der Wohnung bleibt?«, schoss sie zurück. »Das sind zwei sehr teure Lilly-Pillys, die sie da zerstört.«

»Sie ist eine Katze«, protestierte Mrs Henderson. »Manchmal entwischt sie eben nach draußen. Zeigen Sie doch mal ein bisschen Herz.«

Felicity verengte die Augen ein wenig. »Jetzt hören Sie mal gut zu: Sperren Sie diese Ausgeburt der Hölle ein. Ich will sie nie wieder auf meinem Balkon sehen, sonst bekommen Sie die Rechnung für die Arbeit meines Gärtners und nur zu Ihrer Information – sein Stundensatz treibt einem die Tränen in die Augen.«

»Monster! Ich habe fast schon Mitleid mit Ihnen. Sie sind eine verbitterte, einsame Anwältin, die ein trauriges Dasein ohne Freunde führt.«

Autsch. Felicity hatte gar nicht gewusst, dass offenbar Hinz und Kunz über ihren Mangel an Sozialleben Bescheid wusste. »Wie bitte? Ich bin nicht verbittert. Ich bin nur überaus professionell und verfolge hochgesteckte Karriereziele.«

»Nein, Ms Simmons, Sie kann man nur bemitleiden. Das weiß ich, weil Sie Tiere hassen.« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern machte auf dem Absatz kehrt und marschierte mit Loki zurück in ihre Wohnung, bevor sie die Balkontür zuknallte.

Gerade als Felicity diesen Abgang auf ihrer Seite der Trennwand nachahmen wollte, stieg ihr plötzlich ein widerlicher Gestank in die Nase. Sie schaute sich um und entdeckte das dampfende Geschenk, das ihre vierbeinige Besucherin in der Erde der getopften Bäume hinterlassen hatte.

Wundervoll.

Putzen war eine Tätigkeit, für die man Tageslicht und Handschuhe in Industriequalität brauchte. Seufzend ging sie wieder nach drinnen. Nachdem sie sich im Bad dekontaminiert hatte – durch Tierspeichel und Kratzer konnten Krankheiten übertragen werden, so viel wusste sie –, goss Felicity sich ein Glas Wein ein und ließ sich auf die schicke Neuntausend-Dollar-Couch fallen, die das Highlight ihrer Wohnung darstellte. Sie schaute wieder auf das zerrupft wirkende Bäumchen auf dem Balkon. Verfluchte Loki. So zerstörte man Perfektion.

Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild in der Glasscheibe.

Eine verbitterte, einsame Anwältin, die ein trauriges Dasein ohne Freunde führt? Das war eine ziemlich beeindruckende Aufzählung. Die natürlich kein Stück den Tatsachen entsprach.

Weswegen sollte ich denn verbittert sein? Felicity spielte auf beruflicher Ebene jetzt ganz oben mit. Ihre Mentorin Elena hatte endlich den Wert ihrer Arbeit erkannt.

Okay, es stimmte schon, dass sie sich keine Zeit für Freunde nahm, sofern man die Stammbelegschaft bei ihrem Lieblings-Starbucks nicht mitzählte, aber eigentlich zeugte es von einer wirklich exzellenten Beziehung, dass diese ihr jeden Morgen einen dreifachen Espresso hinstellte, ohne dass sie ihn noch bestellen musste.

Und es stimmte auch, dass ihr Bett schon länger keine menschliche Gesellschaft mehr gesehen hatte. Aber pfft, das war nun kein Verlust. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass sie durch die Beförderung nun dauerhaft in New York lebte. Davor war sie zehn Monate in Sydney gewesen, wo sie Phillip gedatet hatte. Sein mangelndes Interesse an einer transpazifischen Fernbeziehung hatte das abrupte Aus ihrer Beziehung bedeutet.

»Das bist du nicht wert«, war seine Reaktion gewesen.

Und das hatte gesessen.

Du auch nicht. Das hätte sie natürlich sagen sollen. Stattdessen gaffte sie ihn sprachlos mit offenem Mund an, während sie fieberhaft nach einer schlagfertigen Erwiderung suchte und er sie einfach stehen ließ.

Das war alles sowieso vollkommen sinnlos. Beziehungen, Freundschaften, Ex-Partner. Die konnten sich gerne mal kopfüber in den Hudson stürzen und ihren unnützen Ballast gleich mitnehmen. Endlich stand ihre Karriere kurz vor dem Höhepunkt. Alles, wofür sie so hart gearbeitet, wofür sie alles geopfert hatte, rückte in greifbare Nähe. Und nur das zählte. Sie zupfte sich entschlossen ein verirrtes Katzenhaar von der Designerhose.

Nein, ihre gesamte Konzentration galt der Arbeit. Und nichts und niemand anderem.

* * *

Elena Bartell lehnte sich in ihrem nüchternen, schwarzen Ledersessel zurück und wirkte dabei wie eine Katze, die sich selbstgefällig in der Sonne aalte.

Erneut wischte Felicity sich die Hände an ihrer maßgeschneiderten, marineblauen Hose ab. Angemessen für eine Führungskraft, nicht zu langweilig. Elena gefällt langweilig nicht. Gott, es fiel ihr so schwer, unter dem durchdringenden Blick des Tigerhais ruhig zu bleiben, aber sie hatte ja gewusst, was ihr bevorstand. Es war zwar Freitag, aber auch Tag eins des Trainings, das sie brauchte, um Elenas Job zu übernehmen, damit ihre Chefin sich nach Australien verdrücken konnte, um ihre internationalen Modemagazine von dort aus zu betreuen. Dieser Berufswechsel verblüffte sie immer noch und die Wahl des Wohnorts noch viel mehr, aber Felicity würde einem geschenkten Gaul auch sicher nicht ins Maul schauen.

»Ihr Chief-of-Staff-Nachfolger macht sich recht gut«, sagte Elena. »Aber vielleicht sollten Sie Scott nicht darum bitten, Ihnen Tee zu bringen. Ich habe gehört, dass Leute in dieser Position es nicht gut aufnehmen, wenn sie die Assistenten spielen sollen.«

Felicity spürte, wie sich Hitze von ihren Schlüsselbeinen bis über ihre Ohren ausbreitete. »Ähm. Nein.«

Oh, sehr elegant, Felicity.

Elena grinste, wodurch sie noch einschüchternder wirkte. Ihre schwarzen Haare waren streng nach hinten gekämmt, was ihre scharfen Wangenknochen und ihre hellblauen Augen betonte und ihr eine insgesamt furchteinflößende Ausstrahlung verlieh. Zusammen mit der Nadelstreifenweste, der dazu passenden Hose und der weißen Seidenbluse war sie eine wirklich beeindruckende Erscheinung.

Spannenderweise war Elena nicht besonders groß. Tatsächlich überragte Felicity sie um ein gutes Stück, aber neben ihrer Chefin fühlte sie sich oft, als würde sie schrumpfen – wie eine Schildkröte, die den Hals in ihren Panzer einzog. Aus irgendeinem Grund besaß Elena mehr Präsenz als irgendwer sonst, den Felicity kannte.

Sie konnte ihrem direkten, belustigten Blick nicht länger standhalten, also ließ sie ihren Blick schweifen. Als Erstes über Elenas Schreibtisch. Der Bilderrahmen mit dem Foto ihres jetzt Ex-Manns Richard war verschwunden. Gott sei Dank. Dieser Arsch war die Luft nicht wert, die er weggeatmet hat. In diesem Moment fiel ihr das neue Bild auf, das da vor einer Woche noch nicht gestanden hatte. Sie reckte den Hals ein wenig – sehr unauffällig natürlich –, um zu sehen, wer sich da Rahmenstatus erworben hatte. Und dann musste sie ein überraschtes Zusammenzucken unterdrücken.

Du lieber Himmel. Was zum Teufel machte ein Foto von Maddie Grey auf Elenas Schreibtisch? Die australische Nachtschicht-Journalistin, die nie ein Blatt vor den Mund nahm, hatte es irgendwie geschafft, eine Verbindung zu Elena aufzubauen. Die sie feuerte. Und sie dann wieder einstellte. Und sie dann wieder feuerte. Bei der Sache kam man kaum mit.

Und jetzt waren sie … Freundinnen? Wie war das denn passiert? Felicity hatte seit Jahren mit Elena zu tun und es trotzdem nie in einen Bilderrahmen auf ihrem Schreibtisch geschafft. Und wenn sie sich nicht absolut sicher gewesen wäre, dass die zweifach geschiedene Elena Bartell durch und durch hetero war, würde sie dieses Foto mit ganz anderen Augen betrachten.

Felicity schluckte die Eifersucht runter, die in ihr aufstieg. Nein, sie hatte sich geschworen, dass dies nicht wieder passieren würde. Im Rahmen ihres Vorsatzes, ein besserer Mensch zu werden, würde sie sich nicht mehr derart darauf fixieren, was Madeleine Grey einfach so in den Schoß fiel, obwohl sie nichts davon verdiente. Die Frau war ja irgendwie auch nett, wenn man mal von dem Nicht verdienen-Aspekt absah.

Das Schweigen dehnte sich zu lange aus und Felicity merkte erschrocken, dass sie beim Betrachten des Fotos erwischt worden war.

Elenas Gesicht blieb neutral, doch in ihre Augen war ein abschätzender Blick getreten. Sie wartete, eine Augenbraue halb nach oben gezogen, als würde sie eine ungelenke Nachfrage erwarten, warum da ein Foto von Maddie Grey auf ihrem Schreibtisch stand.

Allerdings bestand Felicitys Aufgabe darin, ihrer Chefin das Leben leichter zu machen und nicht umgekehrt. Also schaute sie ihr mit ihrer üblichen distanzierten Gleichgültigkeit in die Augen.

Schließlich gab Elena die Warterei auf eine Reaktion auf und sortierte einige Papiere neu. »Na schön.« Sie nahm einen Schluck aus ihrer Teetasse, die Felicity ihr als Ersatz für die kaputte besorgt hatte. »Ich gewöhne mich langsam an sie«, sagte Elena. »Nachdem meine andere ja ein vorzeitiges Ende gefunden hat.«

»Oh. Ja. Tja. Das tut mir wirklich leid.«

»Mir nicht. Ich habe darauf gewartet, dass die Frau sich zeigt, die ich schon lange in Ihnen gesehen habe. Die für sich einsteht und einfordert, als Chief of Staff respektiert zu werden. Ich war schon neugierig, wie lange das dauern würde, aber bis vor Kurzem war mir das noch nicht wichtig, weil es keinen drängenden Grund gab, dass Sie sich weiterentwickeln. Doch das hat sich geändert. Ihr Timing kommt meinen Zukunftsplänen entgegen.«

Felicity schaute sie ungläubig an. »Okay«, war alles, was ihr dazu einfiel. Das war ja zum Glück überhaupt nicht peinlich.

Elena lachte tief und kehlig – ein Laut, den Felicity schon seit Jahren mit voller Absicht nicht sexy fand, weil das einfach nur seltsam wäre.

»Felicity.« Elena klang nicht unfreundlich. »Ich kann niemanden ohne Rückgrat in meiner Abwesenheit mein Unternehmen leiten lassen. Ja, ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann, aber die Person muss auch durchsetzungsfähig sein. Ich bekomme seit Jahren mit, dass Sie sich nichts von einflussreichen, mächtigen Leuten bieten lassen. Wenn es ein Kampf ist, den sie für mich ausfechten müssen. Jetzt müssen Sie das für sich selbst tun, auch wenn Sie sich Sorgen machen, dass mir das nicht passt. Und nicht nur davon will ich mehr sehen. Ich habe einen kleinen Auftrag für Sie.«

Felicity setzte sich kerzengerade hin und machte sich innerlich auf alles gefasst.

»Aber bevor wir dazu kommen … Ich habe gerade ein Telefonat mit ein paar sehr aufgebrachten Anwälten vom Mornington Herald geführt. Die schienen der Meinung zu sein, dass Sie den Aufkauf gekippt haben, der für den Herald und uns ziemlich lukrativ wäre.«

»Das stimmt.«

»Arbeitet Brad Tolliver nicht für Sie? Dieser sarkastische Kolumnist mit Hunderttausenden von Lesern? Der Kolumnist, von dem Sie behauptet haben, dass er uns durch den Zusammenschluss mit seiner Zeitung ein hübsches Sümmchen einbringen würde?«

»Ja.« Felicity schwieg einen Moment. »Ich habe in meinem Managementbericht umrissen, was passiert ist. Den habe ich Ihnen gemailt.«

»Ich bin erst bei einem Drittel meiner ungelesenen Nachrichten. Klären Sie mich auf.«

»Ich habe den Deal abgeblasen, nachdem mir der Redakteur nicht bestätigen konnte, dass Tolliver zu diesem Zeitpunkt der Verhandlungen noch immer bei ihnen unter Vertrag ist.«

Elena runzelte die Stirn. »Das muss er doch sein. Unser Deal nennt ihn namentlich in der Vereinbarung als Teil des Pakets, das wir erwerben wollen.«

»Ich weiß. Also habe ich diskret Erkundigungen eingeholt. Wie sich herausgestellt hat, weiß Tolliver seit dem Auslaufen seines Vertrags vor zwei Monaten, dass er das Zünglein an der Waage für unseren Aufkauf ist. Also weigert er sich, einen neuen Vertrag zu unterschreiben, weil er mehr Geld von seinem Auftraggeber will.«

»Bei dem, was dabei auf dem Spiel steht, wird die Zeitung ihm doch sicher einiges geboten haben, um ihn zur Unterschrift zu bewegen. Warum haben Sie nicht abgewartet und stattdessen die Verhandlungen vorzeitig abgebrochen?«

»Ich habe das Ganze durchgerechnet und mir noch einmal genau angesehen, was wir beim Kauf des Mornington Heralds bekommen würden. Und ehrlich – das ist es nicht wert. Der Bericht eines unabhängigen Sachverständigen ergab, dass die Druckerpressen in die Jahre gekommen sind und zunehmend strukturelle Probleme aufweisen, weswegen sie generalüberholt werden müssen. Ich weiß, dass wir die Maschinen eigentlich für zusätzliche, externe Druckaufträge nutzen wollten, doch das wird so nicht funktionieren. Damit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es kosteneffizienter für uns ist, den Deal zu kippen und Tolliver einen Exklusivvertrag bei Bartell Corp anzubieten. Er war das Einzige, was unterm Strich wirklich dafür sprach, die Zeitung überhaupt aufzukaufen.«

Elena lehnte sich nach vorn. »Ich verstehe. Und wie sieht der nächste Schritt aus?«

»Tolliver hat zugesagt, für das Doppelte seines aktuellen Honorars exklusiv bei uns zu unterschreiben.«

»Was deutlich billiger ist, als das Blatt, das seine Kolumne veröffentlicht, nur für diesen einen Vertrag zu kaufen.«

»Ja. Aber ich habe abgelehnt.«

Elena zog die Augenbrauen nach oben, wartete aber ab.

»Statt einer Gehaltserhöhung von hundert Prozent habe ich ihm fünf Prozent mehr und dazu ein Reisespesenkonto angeboten. Gedeckelt natürlich.«

»Er hat zugestimmt?«, fragte Elena überrascht.

»Ohne zu zögern.« Felicity unterdrückte ein Grinsen. »So kann er durch Amerika reisen und nun von überall aus auf unsere Kosten schreiben. Das ist seine offizielle Begründung. Mir ist außerdem aufgefallen, dass er ein arroganter junger Mann ist, der gerne durch verschiedene Betten turnt. Oft. Nachdem ich ihm erklärt habe, dass wir ihn mit einer neuen, landesweiten Kolumne bei einer unserer angeschlossenen Zeitungen berühmt machen, ist er sofort darauf angesprungen.«

Elena schnaubte spöttisch. »Sie haben Ihr Opfer perfekt eingeschätzt.«

»Ja. Tja.« Felicity fühlte sich ein bisschen unwohl mit dem Kompliment. »Ich hatte da so ein Gefühl. Und es hat sich ausgezahlt.«

»Okay, wie viel haben wir gespart, indem wir den Deal mit dem Mornington Herald haben platzen lassen, abzüglich dessen, was wir schon investiert haben?«

»4,2 Millionen.«

Elenas Grinsen hatte etwas Raubtierhaftes. »Na, das wird die Herausgeber lehren, die Taube in ihrer Hand nicht zu füttern. Na schön, ich sage den Anwälten, dass wir unsere Meinung nicht ändern werden und sie sich damit abfinden sollen. Wo wollen Sie Tolliver bei Bartell Corp unterbringen?«

»Er ist eine kleine Nervensäge und der Hype um ihn ist ihm zu Kopf gestiegen. Er kommt zu Boston National News. Die leitende Managerin Michelle Masterton kümmert sich um seine Deadlines und sie wird auch ein Auge auf sein Reisebudget haben.«

Elena lachte leise. »Der arme Kerl. Michelle jagt selbst den abgebrühtesten Leuten eine Heidenangst ein. Gut.« Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen. »Sehr gut. Sie überraschen mich immer wieder, Felicity. Genau das will ich von Ihnen sehen. Was mich zurück zu Ihrem kleinen Spezialauftrag bringt.«

Felicity straffte die Schultern. Elenas Lob ließ wohlige Wärme in ihr aufsteigen.

»Letzten August habe ich von einer gemeinnützigen Organisation namens Living Ruff New York erfahren, die den Haustieren von Obdachlosen hilft. Sie gehen raus auf die Straße, versorgen die Leute mit Tierfutter, bieten ihnen kostenlose Tierarztbehandlungen und Kastrationen an und so weiter. Der Artikel, den ich über sie gelesen habe, war so spannend, dass ich ihnen eine anonyme Spende habe zukommen lassen.« Ihre blauen Augen verdunkelten sich ein wenig. »Eine sehr großzügige.«

Felicity nickte, sagte aber nichts. Die anonymen Spenden in Elenas Privatausgaben waren ihr schon aufgefallen. Sie wählte immer kleine Organisationen mit außergewöhnlichen Zielen aus. Dieses Mal auch, wie es schien.

»Das Geld hätte Living Ruff mehrere Jahre lang über Wasser halten sollen, aber nicht mal zwölf Monate später lese ich nun das.« Sie drehte ihren Computerbildschirm zu Felicity herum.

Gemeinnützige Organisation für Tiere von Obdachlosen vor dem Aus

Felicity überflog den Artikel. In ihm wurde erklärt, dass die Schließung der Organisation aus Mangel an Geldmitteln bevorstand. Auf dem beigefügten Foto war eine blonde Frau zu sehen, die einen großen Hund festhielt und die Bildunterschrift besagte: »Dr. Sandy Cooper, Tierärztin bei Living Ruff NY, mit Gladiator, den sie für den obdachlosen Veteranen Martin Ruiz untersucht.«

»Es kann unmöglich sein, dass Living Ruff New York nach so kurzer Zeit das Geld schon aufgebraucht hat«, meinte Elena nachdrücklich. »Also habe ich Kontakt zu ihrem Geschäftsführer Harvey Clifford aufgenommen. Da meine Spende anonym war, weiß er nicht, warum. Ich habe angedeutet, seiner Organisation etwas zukommen lassen zu wollen. Allerdings nicht, ohne mich vorher zu erkundigen, ob die Geschichte stimmt. Meine Erklärung war, dass es für mich keinen Sinn macht, ihnen Geld zu spenden, wenn das Ganze kurz vor der Abwicklung steht.«

»Was hat er gesagt?«

Elena verengte die Augen. »Er hat behauptet, dass die Geschichte nur eine Spendenfangaktion ist, sie ganz normal operieren und dass die Organisation nicht dichtgemacht wird. Er war offen für neue Spenden und hatte den Artikel als Zeitungsente bezeichnet. Der Mann ist echt ein furchtbar schlechter Lügner.« Sie schnitt eine angewiderte Grimasse. »Der versucht im Ernst, jemandem, dem die Hälfte der Zeitungen weltweit gehört, zu erklären, wie eine Ente aussieht? So sehen die nie aus. Mitfühlend und mit Zitaten und Fotos der Mitarbeitenden? Das war eine Story, die das Management angestoßen hat.«

Felicity nickte. »Also hat der Geschäftsführer gelogen.«

»Ja, ich bin mir nur nicht sicher warum. Vielleicht ist es ja wirklich nur ein Versuch, mehr Spendengelder einzufahren, vielleicht auch nicht, aber ich will dem auf den Grund gehen. Ich will wissen, wohin mein Geld geflossen ist, weil ich es sicher nicht auf mir sitzen lassen werde, wenn es veruntreut wurde.«

»Verstanden«, sagte Felicity und fühlte sich jetzt, wo sie die Aufgabe nachvollziehen konnte, deutlich sicherer: Den Finanzstatus der Organisation auf Herz und Nieren prüfen und herausfinden, wo Elenas Spende gelandet war. »Wir könnten Thomas aus der Buchhaltung darauf ansetzen und …«

»Ich vertraue Thomas nicht mehr.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Felicity. Der Mann arbeitete seit sechzehn Jahren für Bartell Corp. Er war ihr erfahrenster Buchhalter.

»Bevor ich meine Spende getätigt habe, hat er auf meine Anweisung hin die Bücher der Organisation geprüft, um sicherzugehen, dass sie stabil dastehen und alles mit rechten Dingen zugeht. Ich habe ihn gebeten, sich das persönlich anzusehen. Heute habe ich herausgefunden, dass er die Aufgabe einem Mitarbeiter übertragen hat. Wenn ich jemanden anweise, sich persönlich um etwas zu kümmern, meine ich damit nicht, dass man jemanden dafür einspannt, den ich nicht kenne, dem ich nicht vertraue und dem die Qualifikationen fehlen, um … sich daran mal auszuprobieren.«

Der Mann war so unglaublich dumm. Elena meinte immer, was sie sagte. »In Ordnung. Ja, das verstehe ich.«

»Gut.« Ein angespannter Ausdruck erschien auf Elenas Gesicht. »Ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann und der herausfindet, was Living Ruff macht, wie sie das genau tun und ob es bei ihnen irgendwelche Unregelmäßigkeiten gibt. Locken Sie sie mit der Aussicht auf eine Spende, falls sie nicht entgegenkommend sind.«

»Gemeinnützige Organisationen sind gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Unterlagen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen«, meinte Felicity stirnrunzelnd. Das wusste Elena doch bestimmt? »Die meisten stellen ihre Finanzberichte auf ihre Webseiten.«

»Natürlich. Und das macht Living Ruff auch. Sie werden außerdem auf vielen entsprechenden Bewertungsseiten als Organisation eingestuft, die exzellent geführt wird. Aber Sie wissen besser als jeder andere durch die Deals, die wir abschließen, wie oft ein Unternehmen Details verschweigt, die es nicht preisgeben will. Es ist eigentlich ganz einfach: Fahren Sie hin und finden Sie heraus, wohin mein Geld verschwunden ist. Aber ich verlange Diskretion. Ich weiß, dass Sie gerne mal einen auf Rambo machen, wenn Sie etwas erledigt haben wollen. Aber können Sie auch Fingerspitzengefühl beweisen, Felicity? Unauffälligkeit? Ich will wissen, ob meine neue Chief Operation Officer ein Problem lösen kann, während sie sich weit außerhalb ihrer Komfortzone befindet und dabei auch noch vorsichtig vorgehen muss. Finden wir es heraus. Zeigen Sie mir, was in Ihnen steckt.«

Felicity blinzelte verwirrt. Selbstverständlich konnte sie unauffällig sein!

»Ich will Ihnen nicht unterstellen, dass Sie das nicht schaffen«, fügte Elena eilig hinzu. »Ich habe Ihnen nur bislang nie groß Gelegenheit gegeben, diese Fähigkeiten auszuprobieren oder sich etwas ausdenken zu müssen, das nicht ins übliche Schema passt. Ich will, dass Sie das Problem finden, dann eine Lösung dafür suchen und dabei meinen Namen aus allem raushalten. Im Bestfall bekommen möglichst wenige Leute mit, weswegen Sie dort sind und wie Sie dabei vorgehen.«

Wie bitte? Seit wann fasste Elena denn irgendetwas oder irgendjemanden mit Samthandschuhen an? »Warum?«, platzte sie heraus.

»Felicity.« Elena seufzte. »Wenn ich die Polizei ins Spiel bringen wollte, hätte ich das schon getan.«

»Sie … wollen die Organisation schützen?«, wollte Felicity ungläubig wissen. »Obwohl die vielleicht Ihre Spende veruntreut haben?«

»Natürlich nicht. Aber gute Einrichtungen müssen mitunter wegen des bloßen Gerüchts einer Ermittlung dichtmachen. Ich will nicht, dass das passiert, wenn dort wirklich alles ordnungsgemäß abläuft.«

»Okay. Aber was, wenn sie alle korrupt sind? Dann informieren wir doch sicher die Polizei?«

»Das entscheiden wir, wenn es so weit ist.«

Felicitys Bauchgefühl sagte ihr, dass Elena ihr nicht alles erzählte. Kannte sie jemanden, der für die Organisation arbeitete? Oder vielleicht dachte sie, dass es sie in schlechtem Licht dastehen ließ, wenn sie einen Haufen Geld in einem korrupten Unternehmen versenkt hatte und die Vorprüfung nicht sauber gelaufen war? Wobei das eigentlich Thomas’ Schuld war, der hatte sie in diese Lage gebracht. Er konnte von Glück reden, dass er seinen Job noch hatte. »Es wäre leichter für meine Ermittlungen, wenn ich der Organisation sagen dürfte, dass Sie bereits Spenderin sind und ein Recht auf die Information haben, wohin Ihr Geld geflossen ist.«

»Nein.«

Felicity sparte sich die Mühe, das weiter auszudiskutieren. Elena hielt die Infos, warum sie an wen spendete, immer fest unter Verschluss. Das war auch klug, weil sonst ständig Leute bei ihr auf der Matte stehen und um Geld betteln würden, wenn sie wüssten, wie großzügig sie sein konnte.

»Wie viel genau haben Sie gespendet?«, fragte Felicity schließlich, auch wenn sie beinahe Angst hatte zu fragen.

»1,4 Millionen Dollar.«

Ach du Scheiße! Felicity riss die Augen auf und konnte den erstickten Laut nicht rechtzeitig unterdrücken, der ihr entwich.

»Hmm«, meinte Elena sichtlich angespannt. »Jetzt verstehen Sie mein Problem wohl. Gehen Sie der Sache auf den Grund. Und glauben Sie dem Geschäftsführer kein Wort. Der Mann ist wie ein Golden Retriever.«

»Ein … Golden Retriever?«

»Überschwänglich, plump vertraulich und irgendwie naiv. Lösen Sie das Problem für mich, Felicity. Zeigen Sie mir, was Sie draufhaben.«

»Natürlich, Elena.« Stolz wallte in Felicity auf, dass sie mit dieser heiklen Angelegenheit betraut worden war. »Sie können auf mich zählen. Ich sollte wohl nicht mehr als ein paar Stunden brauchen, um das herauszufinden. Ich werde einfach …«

»Felicity«, unterbrach Elena sie. »Ich erwarte, dass Sie sich dafür Zeit nehmen. Eine Woche, wenn es nötig ist auch mehr. Ich will das so gründlich erledigt haben, als würde ich die Überprüfung selbst durchführen. Lassen Sie keinen Stein auf dem anderen.«

»Ich … Ja, natürlich.« Moment mal … Wochen? »Aber wie soll ich als COO eingearbeitet werden, wenn ich mit der Überprüfung der Organisation beschäftigt bin? Beides gleichzeitig geht nicht.«

»Eins nach dem anderen. Wenn Sie wieder hier sind, kann ich, wenn notwendig, länger bleiben.«

Oh. Na ja, dann … Was sollte Felicity davon halten? »Und … wo genau muss ich hin?«

»In die Bronx.« Ein Lächeln breitete sich langsam auf dem Gesicht ihrer Chefin aus, als sie Felicitys teuren Hosenanzug musterte. »Und … ziehen Sie sich vielleicht etwas Unauffälligeres an, wenn Sie nächste Woche hinfahren. Falls Ihr Kleiderschrank denn etwas Entsprechendes hergibt.«

Felicity wurde die Kehle eng. Die Bronx? Die richtige echte Bronx? Sie hatte das Gefühl, jeden Moment zu hyperventilieren. Das klang alles andere als sicher. Oder sauber. Oder … angenehm. Felicitys erklärtes Lebensziel bestand darin, sich ausschließlich in sicheren, sauberen und angenehmen Umgebungen zu bewegen.

Die Belustigung in Elenas Augen war unübersehbar. »Viel Glück.« Sie nahm noch einen letzten Schluck aus ihrer Teetasse und stellte sie dann mit einer endgültig wirkenden Geste auf dem Schreibtisch ab. »Wir sind hier fertig.«

Kapitel 2

Roller-Derby-Amazonen

Felicity verbrachte das Wochenende damit, alles über Living Ruff auszugraben, was sie finden konnte, um sich auf ihren Besuch am Montag vorzubereiten. Offensichtlich handelte es sich um keine normale gemeinnützige Organisation, sondern eine Stiftung, die von einem Mitglied der oberen Zehntausend eingerichtet worden war. Ihr Ruf eilte Rosalind Stone voraus – sie war reich und intelligent und Felicity hatte von ihr als gerissener Geschäftsfrau gehört, die man nicht unterschätzen sollte. Persönlich kennengelernt hatte Felicity sie bisher noch nicht.

Rosalind war berühmt für ihre Tierliebe und schmiss gerne Partys für ihre reichen Freunde, auf denen sie Spenden für Living Ruff sammelte. Das erklärte die jährlichen Einnahmen der Stiftung, die sich auf rund siebenhunderttausend Dollar beliefen. Ein hübsches Sümmchen für so eine kleine Organisation, die nur einen Geschäftsführer, zwei Tierärzte in Vollzeit, einige pensionierte Tierärzte auf Springerbasis und eine Empfangsmitarbeiterin/Tierarzthelferin sowie eine Teilzeitreinigungskraft beschäftigte.

Es war erst kurz nach Sonnenaufgang und Felicity hatte es noch nicht geschafft, ihren bequemen Schlafanzug in lebensbejahendem Grau gegen etwas einzutauschen, das besser zu einer hochprofessionellen Vertreterin eines Großkonzerns passte – Wochenende hin oder her. Sie kuschelte sich tiefer unter die warme Decke, in die sie sich auf der Couch eingerollt hatte, und scrollte auf ihrem Handy durch ein paar weitere Webseiten.

Es war ungewöhnlich für eine Stiftung, eine eigene, direkt operierende Organisation zu betreiben, anstatt sich einfach eine zu finanzieren, die dem Stiftungszweck am nächsten kam. Doch offenbar machte Ms Stone keine halben Sachen. Oder vielleicht war sie ja ein Kontrollfreak? Fakt war, dass Rosalind den Vorsitz im Vorstand führte und der Rest der Mitglieder aus ihren Familienmitgliedern und Freunden bestand.

Der Geschäftsführer – oder »Golden Retriever«, wie Elena ihn spöttisch genannt hatte – war Rosalinds Ehemann. Harvey Clifford war auf dem Papier vollkommen unauffällig, kam aus der Buchhaltungsbranche und hatte weit über seinem gesellschaftlichen Stand geheiratet. Vielleicht würde sie ja bei einem persönlichen Kennenlernen andere Qualitäten an ihm entdecken, aber bislang waren sie ziemlich dürftig. Kein Wunder, dass Rosalind bei der Heirat ihren eigenen Nachnamen behalten hatte.

Ein Geräusch lenkte sie ab und als sie zur Balkontür schaute, entdeckte sie Loki, die sich gerade in Richtung der Lilly-Pillys vorbeischlich.

Felicity verengte die Augen. »Kschhhhht!«, rief sie laut und wedelte mit den Armen, um die Katze zu verscheuchen.

Loki hielt inne, starrte ihr in die Augen und setzte sich hin. Und begann sich kackdreist die Pfoten zu putzen, als wäre sie nicht gerade beim widerrechtlichen Betreten des Balkons ertappt worden.

Felicity schnappte sich eins der cremefarben-blau gemusterten Kissen und in diesem Moment war ihr sogar egal, dass es aus einer französischen Boutique stammte – einer französischen Boutique in Frankreich. Mit Schwung warf sie es gegen die Glastür, von der es wirkungslos abprallte.

Loki hangelte sich in Windeseile den Baumstamm hinauf und verschwand in der Kugelkrone. Einen Moment später tauchte ihr weißes Pompon-Gesicht wieder auf und sie starrte Felicity erneut mit ihren großen Augen an.

»Ach, komm schon! Hättest du nicht wenigstens so tun können, als wäre es dir nicht egal, dass ich dich sehen kann?«

»Miauuu.«

»Wag es ja nicht, meine Lilly-Pillys noch mal als Klo zu benutzen, sonst …«

Was? Was würde sie dann tun?

Felicity seufzte in sich hinein. War es denn wirklich so schlimm, wenn sie nicht alles in ihrem hübsch geordneten Leben kontrollieren konnte? Sie warf der Katze noch einen Blick zu. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich gerade einem Rätsel auf der Spur bin und gleichzeitig eine Existenzkrise durchmache.«

Loki ignorierte sie einfach und besetzte weiterhin die Baumkrone.

Also gab Felicity auf und widmete sich mit einem genervten Schnaufen wieder ihrer Arbeit. Immerhin hatte sie Living Ruffs Steuerunterlagen vom Vorjahr auftreiben können. Gemeinnützige Organisationen waren verpflichtet, diese jährlichen Zusammenfassungen der Bundessteuerbehörde zu melden, die diese wiederum online veröffentlichte. Sie sah das Ganze noch einmal durch, doch als ihr nach wie vor nichts Auffälliges ins Auge sprang, rief sie Thomas an.

»Ms Simmons?«, meldete er sich mürrisch. »Es ist sechs Uhr morgens an einem Sonntag.«

»Das ist korrekt. Aber wenn ich auf Elenas Abschussliste stehen würde, weil ich einen Bock geschossen habe, wäre ich sehr daran interessiert, es wiedergutzumachen, indem ich an der Lösung eines Problems mitarbeite, das sie interessiert.«

Das ließ ihn aufmerken. »Welches Problem? Wie kann ich helfen?«

»Schauen Sie sich die Unterlagen von Living Ruff noch einmal für mich an. Persönlich dieses Mal«, fügte sie trocken hinzu. Sie nahm einen großen Schluck von ihrer heißen Schokolade. Nichts im Vergleich zu dem Energieschub, den ihr ein dreifacher Espresso verschaffte, aber sie versuchte ja, sich ein paar schlechte Gewohnheiten abzutrainieren. »Finden Sie raus, ob die irgendwas unter den Tisch fallen lassen.«

»Wie kommen Sie darauf, dass da was nicht stimmt?«

»Elena hat letzten September 1,4 Millionen an die Organisation gespendet. Wir haben März, also ist es noch zu früh für die Veröffentlichung der Steuerunterlagen von letztem Jahr, die zeigen würde, wohin das Geld geflossen ist. Aber irgendwohin ist es geflossen, wenn man dem Zeitungsartikel glauben darf, in dem behauptet wird, dass sie kurz vor dem Aus stehen. Ich will, dass Sie herausfinden, ob da irgendwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Gehen Sie alle Steuererklärungen durch und was auch immer Sie sonst noch an öffentlich zugänglichen Unterlagen finden. Ihre Mitarbeiter in der Buchhaltung wissen, wo man die Zahlen findet.«

»Ja, natürlich.«

»Ich brauche die Infos spätestens am Dienstag zum Feierabend. Rufen Sie mich an, sobald Sie was gefunden haben.«

»Vielleicht gibt es gar nichts Auffälliges. Peters Vorprüfung, die Ms Bartells Spende vorausging, hat keine Unregelmäßigkeiten ergeben.«

»Und Peter arbeitet schon wie lange als Buchhalter?«

Stille.

»Genau. Kein Wunder, dass Elena von Ihnen enttäuscht ist. Kann ich mich auf Sie verlassen, Thomas?«, fragte Felicity aalglatt. »Dass Sie Elena helfen?«

»Natürlich.« Die Beunruhigung ob dieser Erinnerung war ihm deutlich anzuhören. »Immer.«

»Gut.« Ohne ein weiteres Wort beendete Felicity das Telefonat.

* * *

»Wir sind da, Ma’am«, informierte sie Amir, einer der dienstältesten Chauffeure von Bartell Corp.

Felicity schaute von ihrem Handy auf und hin zu dem nüchternen, zweistöckigen Gebäude mit der verblassten Backsteinfassade vor ihnen. Der untere Teil war mit Graffiti-Tags übersät. Sie seufzte. Schickes Etablissement.

Während sie ihre Sachen zusammensuchte, warf sie Amir noch einen Blick zu. Nicht mehr lange, dann würde er seine Zelte hier abbrechen und auf Elenas Angebot hin als ihr Fahrer nach Sydney umziehen. Ein gewaltiger Tapetenwechsel für ihn. Felicity fragte sich, ob er das wohl aus Loyalität machte oder ob die Aussicht auf besseres Wetter ihn zu so einer Lebensveränderung bewogen hatte.

Loyalität vermutlich. Die weckte Elena gerne in Menschen.

Felicity konnte sich nur schwer vorstellen, dass irgendwer so loyal zu ihr stehen würde, wie die Leute es bei Elena taten. Aber ehrlich gesagt war es ihr ziemlich egal, ob ihre Belegschaft sie mochte oder nicht, solange jeder seinen Job ordentlich machte. Sie dachte darüber eigentlich nie viel nach. Und es verwunderte sie jedes Mal wieder aufs Neue, dass nicht mehr Leute ihre überaus logische Sicht auf die Welt teilten.

Es war noch früh am Morgen, doch plötzlich erregte das Aufblitzen von Metall ihre Aufmerksamkeit. Ein schmuddelig wirkender Mann mit ungewaschenen Haaren schlurfte vorbei und schob dabei einen Einkaufswagen vor sich her, der mit seinen Habseligkeiten vollgepackt war. Das war schon die dritte obdachlose Person in den paar Minuten, die sie durchs Viertel gefahren waren. Felicity schürzte die Lippen. Konnte sich nicht mal jemand erbarmen und diese Situation beheben? Dass die Straßen der South Bronx von so vielen müden, abgerissenen Menschen ohne echten Lebensinhalt bevölkert wurden, die ihr Hab und Gut mit sich herumtrugen, war ganz offensichtlich dem Systemversagen geschuldet. Wir schwer konnte es schon sein, dieses Problem zu lösen?

Neben dem roten Backsteingebäude befand sich ein menschenleerer »Park«, dessen Bezeichnung nur ironisch gemeint sein konnte, weil weit und breit kein Baum zu sehen war. Es gab nur Sitzgelegenheiten aus Beton und ein paar quadratische Tische. Welchem Zweck diente das? Sie runzelte die Stirn. Bestimmt setzte sich hier niemand zum Mittagsessen hin mit der wundervollen Aufsicht auf … Sie verengte die Augen ein wenig. Drei Pfandleiher, ein Donutladen und ein Optiker, dessen Schaufensterscheibe einen Sprung hatte.

Mitten in der Betonwüste stand ein widerrechtlich abgestellter, weißer Van halb der Straße zugewandt, dessen Aufschrift ihn als zu Living Ruff gehörend auswies. Nun, es ergab durchaus Sinn, dass die Organisation ein Fahrzeug besaß, da die Betreuung von Obdachlosen zu ihren erklärten Zielen gehörte.

Sie schaute zurück zum Hauptgebäude der Organisation. Hinter den Fenstern im ersten Stock regte sich nichts. Das Schild über dem Eingang hatte schon deutlich bessere Tage gesehen und auch die große, kaputte Scheibe darunter deutete eher darauf hin, dass hier niemand arbeitete.

»Eigentlich sollte geöffnet sein«, murmelte Felicity Amir zu und schaute auf ihr Handy. »Auf der Webseite steht ›7:30 Uhr bis spätabends. Unsere Türen stehen allen offen.‹ Die haben ja eine seltsame Vorstellung von offen.«

»Ja, Ms Simmons«, erwiderte Amir freundlich. »Möchten Sie warten, bis geöffnet wird?«

Der Mann verdiente eine Goldmedaille für seine Gelassenheit. Dass er sich nie aus der Ruhe bringen ließ, war genauso wertvoll wie seine Fahrkünste. Vermutlich hatte er noch nie in seinem Leben einen Strafzettel bekommen.

Felicity war immer der Meinung gewesen, dass man das Leben in Höchstgeschwindigkeit angehen sollte – wie sollte man denn sonst alles schaffen, was zu erledigen war? Sie spazierte nie irgendwohin. Nein, sie marschierte und lief zügig und schritt weit aus. Das war wesentlich effizienter als die Trödler, die ständig stehen blieben, um an Rosen zu schnuppern.

Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit und als sie herumfuhr, erkannte sie, dass der Obdachlose von eben inzwischen halb in der Fahrerkabine des Vans von Living Ruff verschwunden war. Was zum Henker? Brach da im Ernst gerade so ein dahergelaufener Penner in das Auto ein und durchwühlte es auf der Suche nach etwas, das sich zu stehlen lohnte?

Da die Tür ihre Sicht behinderte, sah Felicity von ihm nur Waden in schmutzigen Jeans und Stiefel, die aussahen, als könnten sie dringend eine Runde Politur vertragen, weil sie praktisch nur aus blankem Leder bestanden.

Auf gar keinen Fall.

Amir warf ihr einen überraschten Blick zu. »Ms Simmons?«

Hatte sie das laut gesagt? Egal. Sie fixierte den Dieb mit finsterem Blick. Was, wenn er sich gleich mit den Sachen davonmachte, die von Elenas Spende gekauft worden waren? Damit war sie persönlich dafür verantwortlich, oder? Sie hatte hier eine Verpflichtung. »Ich kümmere mich darum«, sagte sie zu Amir. »Rufen Sie die Polizei, wenn die Sache haarig wird.«

Amirs Augenbrauen schossen nach oben. »Ma’am?«

Felicity stieß die Autotür auf, stürzte nach draußen und hielt zügig auf den Herumtreiber zu. Er war noch immer damit beschäftigt, im Fahrerhaus herumzukramen, also tippte sie ihm kräftig auf den Rücken – okay, vielleicht pikte sie ihn eher mit einem Finger – und sagte: »Entschuldigen Sie bitte! Was glauben Sie denn, was Sie da machen?«

Der Mann richtete sich so ruckartig auf, dass er sich den Kopf am Autodach stieß. Ihm entwich ein hoher Schmerzlaut und er fuhr zu Felicity herum, bevor er sich zu voller, beeindruckender Größe aufrichtete.

Felicity machte erschrocken einen Schritt nach hinten. Wo kam denn dieser Brienne-von-Tarth-Verschnitt her?

Zum einen handelte es sich hier nicht um einen er, sondern um eine sie. Und nicht nur irgendeine sie. Die Frau war unfassbar groß und gebaut wie eine Ziegelmauer. Sie hatte muskulöse Oberschenkel und breite Schultern, die aussahen, als könnte sie sich locker ein Shetlandpony daraufwuchten.

Felicity stockte der Atem, als ihr Blick weiter nach unten glitt. Volle Brüste und ein unerwartet weich aussehender Bauch milderten ihre einschüchternde Ausstrahlung etwas und gaben ihr mehr die eines Teddybären – na ja, eines Teddybären, den man mit einer Roller-Derby-fahrenden Amazone gekreuzt hatte.

Sie blinzelte ein paarmal. So jemandem war sie noch nie begegnet. Noch nie in ihrem ganzen Leben. Mit wenigen Ausnahmen passten die Frauen in Felicitys beruflichem Umfeld aus Medien, Anwaltskanzleien und der Modeindustrie alle in ein bestimmtes Schema: Zierlich und hübsch in teuren Outfits, als wären sie bereit, jederzeit vor eine Kamera zu treten. Sie waren der Inbegriff von Weiblichkeit, die sich mühelos überall einfügte und gerne auch mal mit dem Hintergrund verschmolz. Diese Frauen beobachteten, leiteten aus den Schatten heraus clevere Schachzüge und manipulierten ihre Umwelt geschickt mit einem hohen, falschen Lachen nach dem anderen.

Felicitys Gegenüber war dreimal so breit wie diese Frauen. Ihre ganze Präsenz schien zu schreien: Ja, du kannst ja mal versuchen, mich von der Stelle zu bewegen. Und viel Glück dabei, mich zu übersehen! Vermutlich gefolgt von einem amüsierten Zwinkern.

Amüsiertes Zwinkern? Felicitys Hirn hatte offenbar wirklich den Geist aufgegeben, wenn es solchen Unsinn hervorbrachte.

Die Frau räusperte sich.

Felicity schaute wieder nach oben, über das zerknitterte T-Shirt, auf dem das Logo von Living Ruff prangte.

Oh.

Unter dem Logo war der Slogan »Think Paw-sitive« eingestickt. Denk pfot-itiv. Ihr Augenlid zuckte bei dem furchtbaren Wortspiel. Aber wenigstens hatten sie sich keinen Spruch à la »den vom Leben weniger Begünstigten wieder auf die Pfoten zu helfen« ausgesucht.

Na schön, dann hatte Felicity vielleicht ein paar falsche Schlüsse über den Einbruch in den Van gezogen. Aber mal ganz im Ernst – die Jeans und Stiefel dieser Frau waren in einem wirklich erschreckenden Zustand. Hatte die Belegschaft der Organisation denn keine Ahnung, wie man professionell auftrat? Genau danach wollte Felicity sich gerade erkundigen, als sie der Frau in die überraschend intelligent dreinblickenden Augen schaute. Und plötzlich erstarb die Gleichgültigkeit, die sie normalerweise gegenüber allen Menschen außer Elena an den Tag legte, zusammen mit der Frage, die ihr auf der Zunge lag.

»Wer sind Sie denn?«, wollte die Frau mit rauer Stimme wissen. Man hörte ihr die Verärgerung deutlich an. Sie rieb sich den Kopf an der Stelle, wo sie ihn sich an der Wagendecke gestoßen hatte und zog eine Augenbraue nach oben. »Und womit habe ich es verdient, dass Sie mich derart mit Ihrem Finger malträtieren? Ich bin nicht Ihre Voodoo-Puppe.«

»Ich dachte, Sie wären ein Penner, der Geld für seine Drogen aus dem Van einer gemeinnützigen Organisation stehlen will.« Das würde der guten Samariterin Felicity doch sicher Pluspunkte einbringen.

Doch die Frau runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

Oder auch nicht. »Ich habe das Logo nicht gesehen«, fügte Felicity hastig hinzu und tippte sich selbst auf die Bluse, um auf die Stelle hinzudeuten, an der sich bei der Frau das Emblem von Living Ruff befand. »Also habe ich gedacht …«

»Ja, ich habe schon verstanden. Ein Penner. Auf Geld für Drogen aus. Weil alle Obdachlosen ja Junkies sind. Nicht wahr?« Sie presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

Oh. Na ja, das hatte Felicity tatsächlich gesagt, nicht wahr? Sie widerstand dem Impuls, noch einen Schritt zurückzuweichen, um mehr Abstand zwischen sie zu bringen.

Moment mal, warum kam ihr die Frau eigentlich so bekannt vor? Plötzlich fiel der Groschen. Okay, sie hatten sie für das Foto ordentlich zurechtgemacht und versucht, die Tierärztin für die breite Masse tauglich zu machen, mal ganz abgesehen davon, dass das Bild sie nur bis zur Brust gezeigt hatte. Doch Felicity war sich ziemlich sicher, dass sie die Tierärztin aus dem Artikel vor sich hatte, in dem behauptet wurde, dass die Organisation kurz vor der Schließung stand. Dr. Sandy Cooper.

Schon seltsam, dass sie es auch geschafft hatten, ihre enorme Präsenz für das Foto in dem Artikel wegzuretouchieren.

»Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?« Dr. Coopers Mundwinkel zuckten. »Hey. Medizinerwitz.«

»Kein besonders guter«, erwiderte Felicity, ohne darüber nachzudenken. »Ich meine, er ist nicht gerade originell.«

»Stimmt schon.« Die Tierärztin zuckte die Schultern, scheinbar vollkommen unbeeindruckt von der Kritik, während sie Felicitys Outfit von oben bis unten musterte.

Es war ein Elle-Saab-Hosenanzug aus der aktuellen Kollektion. Felicity wusste, dass sie darin gut aussah. Professionell. Davon sollte sich die Tierärztin vielleicht mal eine Scheibe abschneiden.

»Wollen wir noch mal von vorne anfangen? Ich bin Doktor …«

»Sandy Cooper«, unterbrach Felicity sie. Und das klang … seltsam vorwurfsvoll.

Die Frau neigte den Kopf zustimmend zur Seite. »Nennen Sie mich Cooper, das machen alle.« Sie schloss die Fahrertür des Vans ab und beäugte Felicity dann erneut. »Da scheinen Sie mir ja Wissen vorauszuhaben. Und Sie sind?«

»Felicity Simmons«, sagte sie, bevor sie ihren neuen Titel hinterherschob. »Deputy Chief Operating Officer der Bartell Corp.« Bald sogar in voller Eigenverantwortung, doch diesen Hinweis verkniff sie sich. Felicity stellte sich ein wenig auf die Zehenspitzen. Ihr neuer Titel fühlte sich immer noch surreal an.

»Und stolz drauf, wie ich sehe«, meinte Cooper.

»Warum auch nicht?«, gab Felicity giftig zurück.

Die andere Frau seufzte. »Wollen Sie mir vielleicht auch erklären, woher Sie mich kennen?«

»Aus einem Zeitungsartikel«, entgegnete Felicity. »Living Ruff New York soll schließen?«

»Ah.« Ein angespannter Zug legte sich um Coopers Augen, als wäre damit ein Nerv getroffen worden, und sie ging an Felicity vorbei, um die Doppeltüren auf der Rückseite des Vans zu öffnen.

Felicity blieb auf Abstand und beobachtete fasziniert, wie die Frau ein paar riesige Säcke mit der Aufschrift HUNDEFUTTER 10 kg herauswuchtete und neben sich auf den Boden stellte.

»Spenden«, erklärte Cooper, als sie ihren neugierigen Blick bemerkte. »Kurz vorm Verfallsdatum, also habe ich sie kostenlos bekommen.« Sie musterte Felicity noch einmal von oben bis unten, schien dann aber zu einem Schluss zu kommen und lachte. »Ich wollte Sie gerade bitten, mir beim Reintragen zu helfen. Aber das lasse ich mal lieber.«

»Ja. Tja. Ich bin Anwältin, kein Sherpa.« Felicity verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie keinen dieser Säcke auch nur ein Stück mit dem Fuß beiseiteschieben, geschweige denn, sie hochheben könnte. Für so etwas heuerte man Menschen mit Muskeln an.

»Anwältin, hmm? Wollen Sie uns verklagen?« Der Ausdruck in Coopers Augen wurde härter. »Bei uns ist nicht viel zu holen. Alles kommt den Tieren und ihren Besitzern zugute.«

»Natürlich nicht. Ich bin hier, um mir ein Bild von Living Ruff zu machen in Vorbereitung auf eine mögliche Spende. Durch die Bartell Corporation.«

Cooper stutzte und verengte die Augen ein wenig. »Ich verstehe.« Sie warf sich einen der großen Säcke über die Schulter. »Großer Medienkonzern, oder?«

»Der größte.«

Dann hob sie noch einen Sack auf, als würde der erste nichts wiegen, und marschierte in Richtung des Gebäudes. »Könnten Sie eben die Tür übernehmen?«, rief sie über die Schulter.

Felicity schaute zum Van, nickte und versetzte den Türen dann einen kräftigen Schubs, sodass sie zuschlugen.

»Nicht die, aber danke. Ich meinte die zum Büro.« Cooper deutete mit dem Kopf auf das schäbige Backsteingebäude.

Oh. Natürlich. Brennende Hitze stieg Felicity ob ihrer eigenen Dummheit in die Wangen und sie beeilte sich, die Haustür aufzumachen. Die jedoch nicht nachgab. »Es ist abgeschlossen.«

»Verdammt. Unsere Empfangsmitarbeiterin Mrs Brooks muss schon wieder aufgehalten worden sein. Okay …« Cooper warf Felicity einen abschätzenden Blick zu, bis diese neben ihr stand. »Sie könnten direkt anfangen, was Gutes zu tun.«

Felicity runzelte die Stirn. »Wie denn?«

»Fassen Sie mal in meine linke Hosentasche, da sind die Schlüssel drin.« Sie schob die Hüfte ein wenig nach vorn.

In der Hosentasche? War das ihr Ernst? Das war doch ziemlich persönlich. Um so etwas bat man eine Fremde doch nicht einfach … und schon gar nicht, wenn man Jeans trug, in der man sich ganz offensichtlich vor nicht allzu langer Zeit im Dreck gewälzt hatte.

Allerdings kribbelten Felicitys Finger ein wenig bei der Vorstellung, diesen beeindruckenden Oberschenkeln nahe zu kommen. Vollkommen ohne ihr Zutun schob sie die Hand langsam in die Hosentasche der Frau und fasste nach dem Metall, das sie darin fand.

Cooper strahlte eine unglaubliche Körperwärme ab, aber das ergab durchaus Sinn, bedachte man die körperliche Arbeit, die sie gerade verrichtete. Felicity stellte sie sich in einem Tanktop vor, wie ihre kräftigen Muskeln glänzten, während sie sich in irgendeiner Form physisch betätigte. Ihre Arme waren bestimmt genauso stark und definiert wie ihre Schultern. Das mussten sie doch sein, oder?

»Hey, Felicity?«

»Hmm?«

»Die Schlüssel müssen sich außerhalb meiner Tasche befinden, damit man sie benutzen kann.«

Oh Gott! Felicity riss sie aus der Hosentasche und jetzt fühlte sich ihr ganzes Gesicht heiß an. Was zum Teufel war denn los mit ihr?

Cooper lachte leise. »Okay, es ist der große Schlüssel, der zweite von links am Ring. Danke.«

Ihre Hände zitterten aus Gründen, die Felicity sicher nicht näher unter die Lupe nehmen würde, aber sie schaffte es beim ersten Versuch, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, und drehte ihn, bis es klickte. Dann zog sie die Tür auf und Cooper schob sich an ihr vorbei, um die Säcke drinnen abzustellen.

»Danke«, wiederholte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn, was einen breiten, schmutzigen Streifen auf ihrer Haut hinterließ, bevor sie sich den Staub von den Beinen klopfte, die eine ziemlich auffällige Ähnlichkeit mit Eichenstämmen hatten.

Plötzlich fand Felicity dieses Gesamtbild von dreckverschmierter Unvollkommenheit faszinierender als alles, was sie je zuvor gesehen hatte.

»Okay.« Cooper richtete sich wieder auf und machte eine Handbewegung in Richtung der Säcke. »Ich lagere Überschüsse an Futterspenden lieber außerhalb des Vans, damit nichts gestohlen wird oder verdirbt oder so.«

Felicity erwiderte nichts. Merkwürdig, wie diese Dreckstreifen dem Gesicht der Frau etwas Draufgängerisches verliehen.

»Hab ich was im Gesicht?«, fragte Cooper, als sie ihren Blick bemerkte. Sie griff in ihre hintere Hosentasche und zog ein Männertaschentuch heraus, um sich damit über die Haut zu wischen. »Weg?«

»Ja«, sagte Felicity leise und schmerzlich trauernd. »Alles weg.«

»Na schön, dann kommen Sie mal rein. Kann ich Ihnen einen Tee oder Kaffee anbieten, während Sie auf Harvey warten? Er ist der Geschäftsführer unserer Organisation, mit dem Sie sich darüber unterhalten können, welche Ziele wir verfolgen und wie man Spender wird.«

»Oder ich unterhalte mich erst mal mit Ihnen. Ich würde gerne ein Gefühl für die komplette Stiftung bekommen. Mit allen reden. Alle Aspekte kennenlernen.«

Cooper zuckte die fantastischen Schultern.

Felicity erwischte sich dabei, wie sie der Bewegung mit offenem Mund folgte, und klappte ihn hastig wieder zu. Das ist nun wirklich unangebracht.

»Wie Sie wollen«, sagte Cooper. »Ich kann Ihnen gerne was über die praktische Seite meines Jobs erzählen, aber ich muss demnächst wieder raus. Meine Runde machen. Ein paar gute Jungs füttern.« Sie grinste. »Und gute Mädchen.«

Felicity starrte sie vollkommen verständnislos an.

»Hunde, Ms Simmons. Nebst anderen Tieren. Haben Sie Haustiere? Kommen Sie mit nach oben.« Sie führte sie eine Betontreppe hinauf, deren Stufen mit Rostflecken übersät war.

»Nein«, antwortete Felicity und konnte den Blick nicht von dem runden, muskulösen Hintern vor sich nehmen, der einfach nicht so faszinierend hätte sein sollen. Aber er war es. Sehr.

»Oh? Aus einem bestimmten Grund?«

War Coopers Tonfall gerade merklich kühler geworden?

Auf einmal wollte Felicity nicht, dass die Frau den Eindruck bekam, sie würde Tiere hassen oder so. Das stimmte ja schließlich auch nicht. »Ich denke, es wäre dem Tier gegenüber unfair, wenn es von einer Person in meiner Position gehalten wird. Während der letzten Jahre bin ich aufgrund der Arbeit für meine Chefin oft umgezogen. Sie reist durch die ganze Welt, um bei ihren Geschäften auf dem Laufenden zu bleiben. Zum Beispiel habe ich die letzten zehn Monate in Australien verbracht, während sie dort eins ihrer Magazine neu aufgestellt hat.«

»Australien?« Cooper öffnete die Doppeltür am oberen Ende der Treppe und fixierte sie auf beiden Seiten mit je einem Haken. »Erklärt das Ihren un-new-yorkischen Akzent? Komisch. Ich hätte Sie eher in die britische Ecke einsortiert.«

Dann waren die Bemühungen der britischen Mrs Allsop, ihr eine gewählte Ausdrucksweise beizubringen, also nicht umsonst gewesen? Felicity grinste zufrieden. »Nein, ich bin Amerikanerin. Ich war noch nie in England.«

Cooper warf ihr einen seltsamen Blick zu und machte dann schwungvoll die Bürotür auf. »Okay, dann kommen Sie mal rein. Ich geh mich nur schnell waschen. Ich sehe bestimmt eklig aus. Musste Hebamme für eine Hündin spielen, die sich direkt mal im Dreck unter einem Gebäude versteckt hat. Und auf dem Rückweg hierher habe ich den Anruf wegen der Futterspende bekommen.«

Na gut, das erklärte, warum ihre Kleidung so aussah, als wäre ein Penner darin gestorben.

Felicity sah sich aufmerksam im Büro um. In der Mitte des Raums stand ein runder Tisch, der schon bessere Tage gesehen hatte, und darum fünf Stühle, die nicht zusammenpassten. Akten und Papiere lagen darauf verteilt. Außerdem gab es ein paar Schreibtische mit wuchtigen Röhrenmonitoren, die direkt aus den Achtzigern entsprungen sein könnten. Auf dem größten Schreibtisch entdeckte sie ein riesiges Telefon und auf der halbhohen Trennwand war ein Namensschild angebracht: Mrs Brooks, Empfang/Tierarzthelferin.

In der Ecke am anderen Ende des Raums befand sich ein abgeschlossenes Glasbüro. An der Tür verkündete ein Schild aus Bronze, dass es Geschäftsführer Harvey Clifford gehörte. Daneben gab es noch einen weiteren abgetrennten Raum mit dem Hinweis: Tierklinik – ZUERST ANKLOPFEN. Darunter war ein lächelnder Comic Hund abgebildet.

Tierposter mit Motivationssprüchen hingen an den Wänden ohne Fenster. Und Letztere müssten dringend mal wieder geputzt werden.

Coopers Ziel war eine Küchenzeile und Felicity versuchte sehr, die Frau nicht zu beobachten, als sie sich über das kleine Waschbecken beugte und sich gründlich mit zwei verschiedenen Seifen wusch – eine roch nach Desinfektionsmittel, die andere nach Zitrone. Während sie sich die Hände mit einem Papiertuch abtrocknete, rief sie über die Schulter: »Tee oder Kaffee?« Dann beförderte sie das benutzte Papiertuch mit Schwung in den Mülleimer.

»Nichts«, brachte Felicity heiser hervor. »Im Moment zumindest nicht. Ich versuche, nicht mehr so exzessiv viel Koffein zu trinken. Schritt eins: Nicht zu früh am Tag damit anfangen.«

»Kein Ding. Setzen Sie sich ruhig.« Sie deutete auf den runden Tisch. »Ich muss mich eben umziehen. Zahlt sich in meinem Job aus, wenn man ein paar frische Klamotten im Büro deponiert.«

Felicity nickte und ließ sich langsam auf den Stuhl sinken, der ihr am nächsten stand. Sie versuchte verzweifelt, nicht daran zu denken, was dieses Umziehen im Einzelnen beinhaltete … eine Hose, die über diese beeindruckenden Beine nach unten glitt.

Vielleicht hätte sie den Kaffee doch annehmen sollen. Dann hätte sie sich voll und ganz auf ihre Tasse konzentrieren können, anstatt auf die Frau, die gerade zu einem weiteren Raum im hinteren Teil des Büros marschierte. Cooper verschwand darin, ließ die Tür jedoch offen.

Einen Moment später war das Klappern einer Gürtelschnalle zu hören, die auf dem Boden aufkam. »Ich weiß, dass ich mich auf der Toilette umziehen könnte, aber die ist unten und hat die Größe einer Telefonzelle«, meinte sie laut zu Felicity. Plötzlich kam ein Stiefel durch die offene Tür geflogen und landete mit einem dumpfen Laut, gefolgt von einem »Ups. Da ist mir doch glatt der Steer aus der Hand gerutscht«.

»Von wo stammen Sie?«, erkundigte Felicity sich neugierig. »Wo nennt man denn Arbeitsstiefel ›Steers‹?«

»Ach, von hier und da. Ich bin ein typisches Soldatenkind, wir sind ständig umgezogen.« Ein weiteres, dumpfes Poltern, doch dieses Mal folgte kein Stiefel. »Und Sie? Jemand, der britisch klingt, aber nicht von da stammt, tut das doch absichtlich, oder?«

Es klatschte, als eine Jeans in ihrem Sichtfeld landete und Felicity schluckte unwillkürlich, als ihr aufging, was das bedeutete. Am liebsten hätte sie sich selbst geschüttelt. Sie war hier, um einen Job zu erledigen – oder besser gesagt eine Ermittlung über eine mögliche Veruntreuung durchzuführen und nicht um sich von einer Angestellten der Organisation ablenken zu lassen. Die gerade keine Hose anhat.

»Felicity?« Die Tierärztin streckte den Kopf um die Ecke. »Ist das ein wunder Punkt? Tut mir leid, wenn die Frage daneben war.«

»Oh. Nein.« Konzentrier dich. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Mein Akzent war fürchterlich und ich habe entsprechend Unterricht genommen, um professioneller zu klingen. Meine Lehrerin war Engländerin, also ist wohl ein bisschen was von ihrem Akzent und ihrer Ausdrucksweise hängen geblieben. Ich habe mich aber sprachlich schon immer schnell angepasst. Es überrascht mich, dass ich nicht nach einer Australierin klinge. Was eine Katastrophe wäre.« Sie erschauderte.

Cooper lachte und verschwand wieder. »Verstehe.« Plötzlich kam eine Socke geflogen. »Verdammt.«

Dem Kleidungsstück folgten drei aufregende Sekunden, in denen eine Amazone ihm nachhechtete, bekleidet nur mit einem weißen T-Shirt, das sich über ihren vollen Brüsten spannte, und einer schwarzen Boxershorts, die über dem Hintern eng anlag.

Felicity entkam ein leises Wimmern.

Warum zum Teufel fand sie so jemanden derart attraktiv? Jemanden, der so stark war? Und ein bisschen maskulin? Der ordentlich Fleisch auf den Knochen hatte? Das widersprach allem, was sie über sich selbst wusste. Sie hatte schon immer Anwälte attraktiv gefunden. Schlanke, sehnige, fitte, gepflegte Männer und Frauen mit exzellentem Modegeschmack und hervorragenden Manieren, die sich selbst kunstvoll in Szene zu setzen wussten. Sie waren alle anspruchsvoll, ordentlich, klug und auf Genauigkeit bedacht – wie sie selbst.

Auf kurvige, teddybärhafte Soldatenkinder, die vom Körperbau her als kleine Scheune durchgehen konnten, stand sie ganz sicher nicht. Insbesondere nicht auf solche, die in gruselige, dreckige Ecken krochen, um Hebammen für niederkommende Hunde zu spielen. Nichts, aber auch gar nichts davon passte zu den Menschen, zu denen Felicity sich normalerweise hingezogen fühlte. Und doch saß sie hier, unfähig, diese großartigen drei Sekunden zu verdrängen.

Cooper lachte verlegen und verschwand schnell wieder in ihrer Umkleide. »Sorry. Ich bin so müde, dass meine Koordination inzwischen echt zu wünschen übrig lässt.«

Wie mein Hirn. Offensichtlich.

»War eine lange Nacht«, fuhr Cooper fort. »Oder eher Morgen. Ich bin schon seit vierzehn Stunden im Dienst. Normalerweise bin ich durch und durch professionell und behalte meistens sogar meine Klamotten an, versprochen.«

»Vierzehn Stunden?«, keuchte Felicity. Das machte sie durchaus auch mit schöner Regelmäßigkeit, aber sie arbeitete im oberen Management und hatte einen Schreibtischjob. Tierärzte taten das auch?

»Schon okay, ich habe nur noch ein paar Stunden. Dann mache ich ein Nickerchen.« Eine Hand erschien im Türrahmen und deutete auf etwas.

Felicity folgte der Geste und entdeckte eine kleine, offene Tür, die sie zuvor übersehen hatte. Hinter dieser konnte sie eine schmale Pritsche ausmachen.

»Das ist super, um sich während einer Doppelschicht mal aufs Ohr zu hauen.«

»Schieben Sie denn oft Doppelschichten?«, erkundigte Felicity sich neugierig.

»Ab und zu. Tiernotfälle gehören bei mir zum Alltag und der Springer, der mich normalerweise ablösen kann, fällt gerade wegen einer Gallenstein-OP aus.« Cooper kam zurück in den Hauptbüroraum und stopfte ein Bündel schmutziger Kleidung in eine Tasche. Diese klemmte sie sich unter den Arm und steckte dann ihr T-Shirt in den Bund ihrer sauberen Jeans, bevor sie die große Silberschnalle ihres Gürtels schloss. »Viel besser, oder?«

Felicity betrachtete das Flanellhemd, das weiße T-Shirt und die ausgeblichene, blaue Jeans. »J-ja«, murmelte sie und spürte, wie ihr schon wieder Hitze in die Wangen stieg. »Sehr gut. Ja.«

Was zum Geier war denn nur mit ihr los? Sie wurde von lüsternen Gedanken geplagt, während der Arbeitszeit, und das auch noch gegenüber jemandem, der absolut nicht ihr Typ war!

»Gleich zweimal ja, hm?« Cooper grinste. »Volltreffer.« Ihre Zähne waren vollkommen ebenmäßig und weiß und ihr Lächeln atemberaubend.

Felicity fragte sich, ob der Sauerstoffgehalt der Luft möglicherweise plötzlich abgefallen war. Oh. Da kam das Wort also her. Atemberaubend. Ergab Sinn.

»Also gut, geben Sie mir Zeit für eine Runde Koffein, dann beantworte ich Ihnen Ihre Fragen, bis mein Chef da ist.« Mit einem weiteren Grinsen ging sie wieder zur Küchenzeile.

»Stimmt, ja.«

Die Frau ließ sich eine Tasse Kaffee aus einem großen Kaffeespender, der auf Augenhöhe angebracht und mit Vorsicht heiß! beschriftet war. Überaus spannend.

Felicity fluchte in sich hinein. Das wurde langsam wirklich lächerlich. Gott, sie war vier Monate lang mit Phillip zusammen gewesen und war währenddessen nie so abgelenkt gewesen.

»Cooper? Tut mir leid, dass ich zu spät dran bin!«, ertönte in diesem Moment die Stimme einer älteren Frau vom Fuß der Treppe aus, begleitet von rhythmischem Klackern.