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Die junge Astrophysikerin Vanessa Lindner findet in einem Versteck Unterlagen ihres ermordeten Ziehvaters und Freundes Professor Weissrath. Zunächst vermag sie mit den Notizen nichts anzufangen. Sie reist deshalb nach Australien, wo der Professor seinerseits wenige Tage vor seinem Tod illegalen Machenschaften auf die Spur gekommen ist. Bei der Ankunft im australischen Perth lernt sie zufällig den Taxifahrer Joe Slater kennen, der ihr bei der Suche nach der Lösung des Rätsels eine grosse Hilfe ist. Mit ihm zusammen gelingt es Vanessa, Stück für Stück des Puzzles zusammenzusetzen und schliesslich eine Verschwörung auf höchsten politischen Ebenen aufzudecken. Ihre Erkenntnisse führen sie letztendlich nach Washington, wo die Hintermänner ihre Fäden ziehen. Hohe Persönlichkeiten aus Militärkreisen und auch aus der Politik müssen darum fürchten, dass ihre Tarnung aufgedeckt wird. Sie beauftragen deshalb ein Killerkommando mit der Beseitigung des lästigen Problems namens Vanessa Lindner. In den Everglades von Florida lassen sich Vanessa und Joe Slater auf ein sehr gewagtes Treffen ein ...
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Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Das Geheimnis des Dohm
Kriminalroman
von
Joel Dominique Sante
1. Auflage 2003
Printed by: Books on Demand (D-Norderstedt)
ISBN 3-0344-0200-7
© 2003 J. D. Sante
Umschlaggestaltung: Verlag H. Merz, CH-8552 Felben
Neuauflage 2009
Umschlaggestaltung: MESAN-VERLAG, Schweiz
Printed by: Bookstation GmbH (D-Sipplingen)
ISBN 978-9523196-4-2
Joel Dominique Sante (Pseudonym) ist 1954 in Kreuzlingen (CH) geboren, aufgewachsen und hat auch dort die Schulen besucht. Nach erfolgreichem Lehrabschluss als Hochbauzeichner trat er im Jahre 1976 der Kantonspolizei Thurgau bei.
In seiner beruflichen Laufbahn konnte er während seiner Beschäftigung bei der Verkehrspolizei, beim Aussendienst, beim Kriminaltechnischen Dienst und beim Stabsdienst (Kantonale Notrufzentrale) viele Erfahrungen sammeln. Ausserdem war er beinahe 30 Jahre lang als aktiver Diensthundeführer im Schutz- und Fährtenhunde-, wie auch im Drogenspürhundebereich erfolgreich tätig.
In der Zwischenzeit hat der pensionierte Polizeibeamte nebst einem Gedichtband und einer Familiengeschichte mehrere Kriminalromane verfasst und veröffentlicht. Es ist unverkennbar, dass er insbesondere bei den Kriminalgeschichten immer wieder seine angesammelten Erfahrungen und Kenntnisse im Umfeld der Polizei kompetent einfliessen lässt. Mit ausgewogenem Hang zur Realität, aber auch mit der nötigen Prise Fiktion und Fantasie, gelingt es ihm immer wieder, eine spannende Lektüre zu schaffen.
Mesan-Verlag Schweiz
Eine Liste, der im Roman genannten Personen, befindet sich am Ende des Buches. Personen, Handlung und Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
***
Der Inhalt dieses Buches, soweit nicht anders darauf hingewiesen wird, ist urheberrechtlich geschützt. Die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Schritte nach sich ziehen.
„Verdammt noch mal, Jochen. Du kommst doch dauernd zu spät!“
Wütend und gleichzeitig auch kopfschüttelnd taucht Renate den feuchten Wischer in den Bottich. Sie sieht dabei ihren jungen Mitarbeiter mit strengem Blick an.
„Irgendwann einmal wird dich der Chef ertappen!“
Jochen, gerade mal neunzehn Jahre alt, lächelt und winkt ab. Er muss sich ein wenig an die Wand anlehnen, sonst würden ihm die Füsse unter den Beinen weggezogen.
„Ach was, Renate. Hast du schon einmal erlebt, dass uns der grosse Big Boss um diese Zeit einmal besucht hat? Der liegt schön friedlich in seinem Bettchen und zählt seine Schäfchen.“
Renate hat längst bemerkt, dass der junge Mann noch einige Promille Alkohol im Blut hat.
„Und betrunken bist du auch! Also, ich weiss nicht, Jochen. Lange mache ich das nicht mehr mit. Ich habe so schon genug zu tun!“
Langsam weicht das Lächeln in Jochens Gesicht ebenfalls einem etwas enttäuschten Ausdruck.
„Na ja, Renate. Es ist nun eben ein wenig später geworden. Aber ich bin glasklar!“
Jochen stellt sich nun breitbeinig vor Renate hin und will damit demonstrieren, dass ihn im Moment nichts in der Welt umwerfen könnte. Aber gleich darauf merkt er doch selber, dass nicht nur der Boden schaukelt, sondern die ganze Umgebung um ihn herum ins Schwanken kommt.
Renate sieht nochmals zu Jochen hinüber.
„Ja, ich sehe es. Glasklar. Aber wahrscheinlich hast du ein paar Klare im Glas getrunken. Ist doch wohl eher so?“
Abermals schüttelt sie verständnislos den Kopf.
„Und nun, reiss dich zusammen. Ich habe keine Lust, alles alleine zu machen!“
Renate und Jochen gehören zu einem Reinigungsinstitut in Hamburg, das vor allem ausserhalb der normalen Geschäftszeiten ihre Aufträge erledigt. Und zum Zuständigkeitsgebiet gehören auch die Büroräumlichkeiten des Gustav Seidler Institutes. Ein riesiger Komplex, mit ungefähr dreihundert Beschäftigten.
Während Renate wie immer pünktlich um halb vier Uhr morgens zur Arbeit erschienen ist, war Jochen dieses Mal an einem anderen Ort hängen geblieben. Er hatte zusammen mit ein paar Freunden am Vorabend noch eine Diskothek besucht und sich dort amüsiert. All zu schnell verging dann die Zeit und ehe er sich versah, standen die Zeiger seiner Armbanduhr plötzlich auf zehn Minuten vor vier Uhr.
Renate hat kein Erbarmen mit Jochens momentanem Zustand. Sie verspürt zunehmend keine Lust mehr, den grössten Teil der Arbeit immer alleine verrichten zu müssen. Schliesslich erhält Jochen, ebenso wie sie, den Lohn nach geleisteten Arbeitsstunden. Eigentlich sollte sie einen gewissen Anteil von Jochen verlangen. Nötig hätte sie es schon. Wäre ihr Mann im Moment nicht arbeitslos, müsste sie sich möglicherweise frühmorgens auch nicht mit Reinigungsarbeiten abplagen. Aber wenigstens weiss sie, dass ihre Kinder während ihrer Arbeit bei ihrem Mann in guter Obhut sind.
Sie weist mit einem Kopfnicken hinüber zum Reinigungswagen.
„Hol den Besen und beginne damit, in den Büros den Boden zu wischen. So kann ich nachher nur noch nass aufziehen!“
Jochen hat begriffen, dass es nun wohl besser ist, wenn er keine weiteren Sprüche mehr macht. Er kennt Renate mittlerweile recht gut und weiss, dass sie wirklich verärgert ist. Sie ist zwar sonst ein guter Kumpel, aber auch ihre Geduld hat vermutlich irgendwann einmal ein Ende. Und der junge Mann weiss auch, dass er sich in letzter Zeit ziemlich viel erlaubt hat, was sein Chef tatsächlich nicht unbedingt wissen muss.
Ohne zu antworten, begibt er sich nun zum Reinigungswagen, der nur wenige Schritte von ihm entfernt abgestellt ist. Ein, zweimal muss er sich nochmals an der Wand stützen, damit die Reihenfolge seiner Schritte nicht durcheinander kommt.
Mit dem Besen in der Hand torkelt er dann bis zum Ende des Korridors und verschwindet auf der linken Seite in einem der Büros.
Bis zum Erscheinen ihres Arbeitskollegen hatte Renate nicht nur den Aufenthaltsraum, sondern auch schon beinahe den ganzen Korridor gereinigt. An diesem Arbeitsvorgang angekommen, sieht sie dann auch immer automatisch auf die grosse Uhr, die in jedem Korridor des Institutes an der Wand angebracht ist. Sie stellt fest, dass es bereits gegen 0415 Uhr zugeht. Heute ist sie ein wenig später dran, als sonst. Wäre Jochen pünktlich zur Stelle gewesen, hätten sie sich jetzt bereits in das nächste Stockwerk begeben können.
Im gleichen Moment, als Renate das letzte Stück des Korridorbodens aufwischen will, bemerkt sie Jochen, der aus dem Büro stürzt. Er schafft es gerade noch, sich hinzuknien, bevor sich sein Mageninhalt auf dem frisch geputzten Korridorboden ausbreitet.
Renate ist entsetzt und ihr platzt nun endgültig der Kragen. Sie will Jochen massregeln und geht deshalb mit energischen Schritten auf ihn zu.
„Jochen, verdammt noch mal! Ich habe hier erst grad sauber gemacht! Du bist ein Saukerl!“
Der junge Mitarbeiter hat keine Gelegenheit, Renate zu antworten. Nur eine bestimmte Handbewegung von ihm veranlasst seine Kollegin, im Moment nicht weiter auszurasten. Es vergehen einige Sekunden, bis es Jochen gelingt, mit der Hand über seine Schulter hinweg zum Büro zu weisen, aus dem er soeben gekommen ist.
„Im Büro ...“, stammelt er.
Nochmals muss er husten, denn es würgt ihn abermals im Hals.
Dann, nach ein paar Sekunden, sieht er Renate mit tränenden Augen an. Während er sich einige Tränen aus den Augenwinkeln abwischt, weist er nochmals auf das Büro.
„Im Büro ..., da liegt glaube ich ein Toter!“
Renate meint, sich verhört zu haben.
„Was sagst du da?“
Inzwischen hat sich Jochen vom Boden erhoben und er merkt, dass er langsam wieder nüchtern wird. Die Entleerung seines Magens, aber auch seine angebliche Entdeckung hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Kopf dröhnt im zwar, doch das ist ihm gleich. Mit dem Ärmel seiner Arbeitskleidung wischt er sich über den Mund.
„Da liegt ein Toter im Büro! Verdammt, noch mal. Eine riesige Sauerei!“
Ohne weitere Worte wendet sich Renate von Jochen ab und hält nun selber im Büro Nachschau. Neben der Türe ist das Namensschild von Professor Leonard Weissrath angebracht. Sie hat den Raum noch nicht betreten, bemerkt sie ebenfalls bereits eine grosse Unordnung im Büro. Dann entdeckt sie zwei Beine, die hinter dem Schreibtisch hervorlugen. Zudem erkennt sie, dass sich eine grosse Blutlache unter dem Schreibtisch ausgebreitet hat.
Auch sie hat nun Mühe, die Beherrschung nicht zu verlieren, obwohl sie die Leiche eigentlich gar nicht richtig sehen kann.
Jochen hat sich derweil neben Renate gestellt und sieht ebenfalls durch die offene Bürotüre.
„Dem haben sie die Kehle durchgeschnitten! Ich habe es gesehen. Von einem Ohr zum andern geht der Schnitt!“
Aufgrund der letzten Äusserung ihres Partners rumort es nun ebenfalls in Renates Magen. Es gelingt ihr aber, sich noch rechtzeitig in die Damentoilette zu flüchten.
* * *
Vanessa ist höchst erstaunt, als sie durch die riesige Eingangshalle des Gustav Seidler Institutes geht. Bereits am Fuss der breiten Stufen zum Haupteingang hat sie zwei Streifenpolizisten entdeckt. Und nun kann sie auch beim Durchqueren der Halle mehrere uniformierte Beamte entdecken. Sie macht sich jedoch keine weiteren Gedanken darüber, sondern gibt dem instituteigenen Sicherheitsbeamten beim Empfang ein Handzeichen zur Begrüssung und geht zielstrebig hinüber zu den Aufzügen.
Als sie im zweiten Stockwerk den Fahrstuhl verlässt und wie immer ihr Büro aufsuchen will, wird ihr der Weg durch einen weiteren uniformierten Polizeibeamten versperrt.
Barsch erkundigt er sich bei der jungen Frau nach dem Grund ihrer Anwesenheit.
„Wo wollen Sie hin?“
Vanessa Lindner ist neunundzwanzig Jahre alt und arbeitet in diesem Institut seit vier Jahren als technische Assistentin im Forschungslabor über Theoretische Astrophysik. Sie ist nicht verheiratet und pflegt derzeit auch keine feste Bindung. Daran ist nicht etwa ihr Aussehen schuld. Nein, im Gegenteil. Sie ist ein äusserst hübsches, grossgewachsenes Mädchen, mit einer Kurzhaarfrisur, wie man sie heute trägt. Im Moment hat sie weder das Interesse noch die Zeit, eine Beziehung zu pflegen. Zu sehr ist sie in die Arbeit vertieft.
„Ich will an meinen Arbeitsplatz“, antwortet sie dem Polizeibeamten erschrocken. Sie meint auch, dass sie unaufgefordert noch weitere Erklärungen abgeben müsse.
„Mein Name ist Lindner und ich arbeite hier. Ich habe dort hinten, am Ende des Korridors, mein Büro!“
Sie macht eine leichte Kopfbewegung in die genannte Richtung.
Aber der Polizeibeamte versperrt ihr weiterhin den Weg. Offenbar weiss er nicht, wie er sich in dieser Situation verhalten soll.
Erst jetzt bemerkt die junge Frau, dass noch mehrere fremde Leute auf dem Korridor stehen. So spricht zum Beispiel ein unbekannter Mann mit Charly, dem Hausmeister.
„Sie können Charly Wendrich, den Hausmeister fragen. Der kennt mich“, lautet ihre weitere Erklärung gegenüber dem Polizeibeamten. Gleichzeitig erkundigt sie sich über die Anwesenheit der Polizei.
„Was ist denn los? Wurde eingebrochen?“
Das ist wohl die einleuchtendste Antwort, die sich Vanessa, aufgrund der angetroffenen Situation, selber geben kann. Niemals im Leben würde sie vermuten, dass in den Büroräumlichkeiten vielleicht einmal ein Mord geschehen könnte.
In diesem Moment nimmt der Hausmeister wahr, dass eine weitere Mitarbeiterin am Aufzug zurückgehalten wird. Offensichtlich klärt er den unbekannten Mann über die Identität der Frau auf, denn dieser gibt dem uniformierten Beamten am Fahrstuhl gleich darauf ein Zeichen. Vanessa kann nun ungehindert passieren.
Ein wenig unentschlossen geht sie schliesslich auf Charly und den unbekannten Mann zu. Nochmals richtet sie die gleiche Frage an Charly.
„Was ist denn los, Charly? Wurde eingebrochen?“
Der bald sechzigjährige Hausmeister, der sonst zu jeder Zeit für einen Witz aufgelegt ist, bringt beinahe keine Worte heraus.
„Der Professor ...“, sind im Moment seine einzigen Äusserungen.
„Leo?“
Vanessa sieht zuerst zum Unbekannten und dann wieder zum Hausmeister.
„Was ist mit Leo?“
Noch immer ahnt die junge Assistentin von Professor Weissrath nicht, was geschehen sein könnte. Sie erwartet jedoch weiterhin eine Erklärung.
Offensichtlich hat dies der Unbekannte bemerkt, denn er wendet sich nun selber an die junge Frau.
„Sofern ich von Herrn Wendrich richtig informiert worden bin, waren Sie die Assistentin von Professor Weissrath?“
Vanessa hat Herzklopfen und sie weiss nicht warum.
„Ja, das stimmt. Das heisst, ich bin die Assistentin. Was wollen Sie damit sagen, waren?“
Abermals sieht sie vom Unbekannten zum Hausmeister.
Erst jetzt bequemt sich der Mann, sich vorzustellen.
„Mein Name ist Wöllner. Martin Wöllner. Mordkommission. Ich muss Ihnen leider die betrübliche Mitteilung machen, dass Professor Leonard Weissrath ermordet wurde.“
Genau in diesem Augenblick kann Vanessa sehen, wie der schwere Blechsarg durch zwei Männer aus dem Büro ihres Vorgesetzten getragen wird.
Einen Moment lang kann sie nicht begreifen, was ihr der angebliche Polizeibeamte mitgeteilt hat. Ja, im Unterbewusstsein will sie das nicht wahrhaben.
„Was heisst das? Das glaube ich nicht. Ich habe gestern Abend noch mit ihm gesprochen.“
Ein gequältes Lächeln liegt auf Vanessas Gesicht.
Sie sieht Charly, den Hausmeister an. Und in diesem Moment realisiert sie erst, was geschehen ist. Eine dicke Träne sucht sich ihren Weg über Vanessas Wange.
Und einen Augenblick später sucht sie die Nähe eines vertrauten Menschen. Sie tritt zum Hausmeister und schmiegt sich an ihn.
Charly weiss, wie nahe Vanessa dem Professor gestanden hat. Er weiss auch, dass es dem jungen Mädchen in diesem Moment wohl das Herz zerreisst. Er hält sie fest in seinen Armen und versucht, die schluchzende junge Frau zu trösten.
„Sie müssen jetzt stark sein, Vanessa. Hören Sie? Sie müssen stark sein.“
Ein wenig umständlich zieht er ein sauberes Taschentuch aus seiner Tasche und gibt es ihr. Ohne Dankesworte, die in dieser Situation auch nicht erwartet werden, nimmt sie es entgegen und wischt sich damit die Tränen ab.
Oberkommissar Wöllner hat schon oft solche Situationen erlebt und er weiss, dass es für die nahestehenden Personen nicht leicht ist, eine solche Nachricht zu verarbeiten. Dennoch drängt er auf die Beantwortung einiger Fragen.
„Sind Sie in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten, Frau Lindner?“
Vanessa hat die Frage des Polizeibeamten verstanden und nickt. Sie hat sich inzwischen wieder soweit in der Gewalt, dass sie sich von Charly lösen kann.
Martin Wöllner hält die junge Frau nun leicht am Armgelenk fest, als wolle er sie stützen.
„Können wir irgendwo ungestört sprechen?“
Vanessa nickt den Korridor entlang, wo sich ihr Büro befindet. Genau gegenüber demjenigen, wo die grausige Tat verübt worden ist.
„Wir können in mein Büro gehen. Sofern dies erlaubt ist?“
Martin Wöllner nickt ihr wortlos zu.
Gemeinsam gehen sie nun den langen Korridor hinunter und noch bevor sie in Vanessas Büro eintreten, bleibt sie vor der offenstehenden Bürotüre des Ermordeten stehen.
Entsetzt hält sie sich die Hand vor den Mund, denn sie kann augenblicklich erkennen, dass im Büro eine riesige Unordnung herrscht. Aber viel mehr erschrickt sie die Blutlache, die sich unter dem Schreibtisch ausgebreitet hat.
Kommissar Wöllner bemerkt das Entsetzen der Frau, weshalb er ihr nun absichtlich die Sicht verdeckt. Er drängt in das gegenüberliegende Büro.
Vanessa legt nach Betreten ihres behaglichen Büros ihren Rucksack ab, den die jungen Leute von heute mit sich herumtragen. Ein äusserst praktisches Utensil, in dem sehr viel Platz vorhanden ist.
Ohne Worte bietet sie dem Polizeibeamten einen Stuhl an, während sie sich hinter ihren Schreibtisch setzt. Noch immer hält sie Charlys Taschentuch in der Hand, womit sie sich weitere Tränen abwischt.
Martin Wöllner kommt gleich zur Sache.
„Sie erklärten vorhin, dass Sie gestern Abend noch mit Professor Weissrath gesprochen haben? Wann war das und worüber haben Sie gesprochen?“
„Es war gegen neunzehn Uhr und wir haben über seine Reise nach Australien gesprochen. Leo hielt sich knapp eine Woche lang dort auf. Genauer gesagt, in Mount Hardey. Er war zur Einweihung einer neuen Sternwarte eingeladen und blieb dann noch längere Zeit, um einige Tests zu machen. Er kehrte erst vorgestern wieder zurück.“
„Hat er irgendwelche Bemerkungen gemacht, die Hinweise ergeben könnten, weshalb er umgebracht worden ist?“
Vanessa schüttelt den Kopf.
„Nein, absolut nicht. Er hat mir gegenüber nur angedeutet, wonach sich die Reise gelohnt habe. Aber er hätte mit einigen Leuten noch ein kleines Hühnchen zu rupfen. Einige davon hätten einen besonders wackligen Stuhl.“
„Und was meinte er damit?“
„Ich weiss es nicht. Er war nur ziemlich aufgeregt und nervös. So kannte ich ihn eigentlich gar nicht. Ich dachte, dass die Reise möglicherweise recht anstrengend gewesen sei. Ausserdem war ich davon überzeugt, dass er bestimmt noch mit mir reden würde, hätte er mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich dachte, dass ich ihm zunächst einmal eine Verschnaufpause gönnen müsste.“
Der Polizeibeamte nickt verständnisvoll. Inzwischen ist er aufgestanden und geht im Büro umher. Er betrachtet die vielen Fotoaufnahmen an der Wand. Viele davon zeigen Vanessa und einen älteren Mann. Martin Wöllner glaubt zu wissen, um wen es sich bei dem Mann handelt.
„Das sind Sie und der Professor, stimmt’s?“
Vanessa antwortet nicht, sondern nickt nur leicht.
„Das war letztes Jahr im Herbst. Wir haben zusammen die EGA in Mailand besucht.“
Vanessa merkt, dass sie zu ihrem Fachausdruck noch eine Erklärung abgeben muss, denn der Polizeibeamte sieht sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„EGA. Das ist der jährliche Weltkongress über Extragalaktische Astronomie.“
„Aha ...“, meint Wöllner, wobei er vermutlich mit dieser Antwort auch nicht viel klüger geworden ist.
Dann tippt er mit dem Finger auf ein anderes Bild. Es zeigt den Professor mit seiner jungen Assistentin, wobei er ihr freundschaftlich den Arm auf die Schultern legt. Zu freundschaftlich, denkt sich Wöllner.
„Und dieses Bild hier? Ist er hier auch Ihr Vorgesetzter?“
Vanessa bemerkt sofort den Unterton in der Frage des Polizeibeamten und weiss, worauf er hinaus will.
„Leo war mein Vorgesetzter, aber gleichzeitig auch Freund und Vater. Nicht das, was Sie denken. Ich habe es Leo zu verdanken, dass ich an diesem wunderbaren Institut arbeiten kann. Einen grossartigeren Menschen wie Leo gibt es nicht.“
Ertappt und deshalb abwehrend hebt Martin Wöllner beide Hände in die Höhe.
„Okay, ich ergebe mich. Das heisst, ich entschuldige mich für meine, na sagen wir mal, für meine Gedanken.“
Die sofortige positive Reaktion des Polizeibeamten versöhnt Vanessa wieder ein wenig, weshalb sie freiwillig weitere Informationen zu dem Verhältnis mit ihrem offensichtlichen Mäzen gibt.
„Leo, also ich meine, Professor Weissrath, war ein guter Bekannter meiner Eltern. Er hielt mich schon als kleines Kind auf seinen Knien und sang mir Lieder vor. Er war es, der sich um mich kümmerte, als meine Eltern tödlich verunglückten und ich gerade einmal zwölf Jahre alt war. Und er war es, der mir ein Stipendium an der Universität Berlin ermöglichte. Es war meine Pflicht und mein Dank an ihn, dass ich mein Studium über Astrophysik schliesslich mit Höchstnoten abschliessen konnte. Ich sage Ihnen das, nicht um zu prahlen, sondern um Ihnen klar zu machen, dass es sich bei Leonard Weissrath um einen äusserst sensiblen und gütigen Menschen gehandelt hat.“
Obwohl Martin Wöllner interessiert zuhört, lässt er sich nicht von allen Details beeindrucken.
„Sie meinen gütig genug, dass er keine Feinde haben konnte?“
Vanessa hat sich inzwischen, ohne es zu merken, von ihrem Schock etwas erholt.
„Ja, da haben Sie recht. Leo hatte keine Feinde. Er war die Güte in Person.“
„Und wie verhielt es sich im Zusammenhang mit seiner Arbeit. Sind Ihnen in diesem Umfeld irgendwelche Feinde, Neider oder sonst wie irgendwelche Personen bekannt, die gerne an seinem Image gekratzt hätten?“
„Selbstverständlich gab es die immer wieder. Also, ich meine Neider. Aber Leo verstand es immer wieder, solche Menschen von sich und seiner Arbeit zu überzeugen. Er war auf der ganzen Welt ein höchst anerkannter Experte in der Quasarenforschung.“
„Husaren ...was?“
Einmal mehr versteht Wöllner nur Bahnhof.
„Quasarenforschung. Es ist erwiesen, dass sich für die Erforschung des Weltalls die sogenannten Quasaren am besten eignen. Das sind sehr weit entfernte Galaxienkerne, die oft eine sehr intensive punktförmige Radiostrahlung aussenden. Deshalb sind sie als Eich- oder Vermessungspunkte sehr gut geeignet.“
Wöllner lächelt Vanessa an.
„Der Professor war wohl auf der Suche nach ET oder so was?“
Sie jedoch winkt ab, denn sie versteht augenblicklich, dass es keinen Sinn hat, einem Laien die Weiten des Universums zu erklären. Zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt.
„Vergessen Sie’s. Es würde zu lange dauern, um Ihnen auch nur einen Bruchteil dessen zu erklären, womit wir uns hier an diesem Institut beschäftigen.“
Wöllner selber merkt nun auch, dass er mit seiner Bemerkung ein weiteres Mal ins Fettnäpfchen getreten ist. Er hat tatsächlich vom Weltall, geschweige denn von der Entfernung der Sterne, keine Ahnung. Schnell kommt er deshalb wieder auf sein eigenes Fachgebiet zurück.
„Hat Professor Weissrath in letzter Zeit einmal irgendwelche Bemerkungen gemacht, wonach er vielleicht bedroht wurde? Ich nehme an, dass er über einen solchen Vorfall doch sicherlich mit Ihnen gesprochen hätte?“
Vanessa hingegen schüttelt den Kopf.
„Nein, mir gegenüber hat er niemals solche Bemerkungen gemacht.“
„Ich komme nochmals auf die Bemerkung des Professors zurück. Wen oder was könnte er wohl mit seiner Äusserung gemeint haben, wonach Leute auf einem wackligen Stuhl sässen? Er muss doch einen bestimmten Grund gehabt haben, Ihnen gegenüber eine solche Bemerkung zu machen.“
„Das weiss ich auch nicht. Wie ich schon sagte, wollte ich Leonard nicht mit Fragen drängen.“
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, so hatten die Bemerkungen des Professors einen Zusammenhang mit seiner Reise nach Australien.“
„Ja, davon bin ich zumindest überzeugt.“
„Und um welche Tests handelte es sich, die er in diesem Observatorium durchgeführt hat?“
„Das hat er mir nicht gesagt, Herr Wöllner. Vermutlich in Verbindung mit seiner Arbeit.“
Der Polizeibeamte stellt sich breitbeinig wieder vor den Schreibtisch.
„Keine Drohungen, keine Feinde. Vermutlich handelt es sich auch nicht um einen Raubmord, denn der Professor hatte seinen Geldbeutel noch auf sich. Wer hätte dann am Ableben des Professors Interesse gehabt?“
Die junge Wissenschaftlerin sieht gedankenverloren auf die Akten auf ihrem Schreibtisch.
„Ich weiss es nicht, Herr Wöllner. Ich weiss es nicht ...“
* * *
Vanessa musste die vergangenen Tage immer wieder an das schreckliche Ereignis denken. Immer wieder steckte ihr ein Kloss im Hals, wenn sie während der Arbeit an der Bürotüre des Ermordeten vorbeigehen musste. Auch die Polizei hatte immer wieder neue Fragen auf Lager, von denen sie nur wenige beantworten konnte.
Sie versuchte sich aber auch immer wieder daran zu erinnern, welche Äusserungen Leo ihr gegenüber am Vorabend noch gemacht hatte.
Er sprach von seiner Reise zum Kokeby Observatorium und berichtete von einigen interessanten Tests. Er war aber nervös und Vanessa glaubte, eine Verärgerung bei ihrem Vorgesetzten zu spüren. Er sagte ihr noch, dass er eine enorm wichtige Entdeckung gemacht habe. Bevor er jedoch nicht mit den entscheidenden Leuten gesprochen und sich vergewissert habe, liesse sich nichts bewegen.
Vanessa weiss bis jetzt nicht, was Leo mit seinen Aussagen meinte. War er doch ein väterlicher Freund, so konnte er - wenn es um die Arbeit ging - hart und konsequent sein. In der Regel unterhielt sie sich dann mit ihm derart förmlich, dass sie ihn nur noch mit Professor ansprach. Wenn es so weit war, musste man ihn einige Zeit zufrieden lassen. Sie kannte den Professor wie niemand anders.
In seinem Leben hatte nur einmal eine Frau eine Rolle gespielt. Damals, lange nach dem Studium, hatte er sie kennengelernt, wie er ihr einmal erzählt hatte. Die Frau, um die es sich handelte, war zu diesem Zeitpunkt jedoch verheiratet gewesen und ihre Leidenschaft zueinander musste im Verborgenen bleiben. Diverse Umstände führten jedoch dazu, dass sich die Frau schliesslich doch zu ihrem Ehemann bekannte. Dies hat ihm damals beinahe das Herz gebrochen und er war niemals mehr eine feste Verbindung eingegangen. Aber die Trennung von seiner Geliebten erfolgte angeblich in Freundschaft. Er hatte sich dann, wie kein anderer, in seine Arbeit gestürzt. Er hätte wohl weiter um seine Bijou kämpfen sollen, dann wäre vieles anders gekommen, sagte er. Ja, Bijou hat er seine Geliebte genannt.
Aber niemals hat der Professor seiner vertrauten Assistentin erzählt, um wen es sich bei der Frau handelte.
Dass sie dem Professor nicht nur eine gute Assistentin, sondern auch eine sehr nahestehende Person gewesen ist, war nicht nur dem Hausmeister bekannt. Auch der Verwaltungsrat des Institutes wusste von der gegenseitigen Vertrautheit, weshalb er Vanessa schliesslich damit beauftragte, die persönlichen Sachen des Verstorbenen zu sichten und zu ordnen.
Schweren Herzens steht sie nun drei Tage später vor der geschlossenen Bürotüre. Mit ihrem eigenen Schlüssel zu diesem Büro schliesst sie zunächst auf und mit zitternder Hand drückt sie dann die Türklinke hinunter.
Das Büro weist immer noch eine Unordnung auf, die nachweislich von der Täterschaft verursacht worden ist. Wenigstens deuten keine Blutspuren mehr auf das furchtbare Verbrechen hin. Diese wurden in der Zwischenzeit entfernt, so gut es ging.
Mit einem tiefen Seufzer setzt sich Vanessa auf den bequemen Bürostuhl und verharrt einen Augenblick ruhig darin. Sie sieht sich auf dem Schreibtisch um und erblickt die Meerschaumpfeife, die sie vor Jahren ihrem väterlichen Freund zum 50. Geburtstag geschenkt hatte. Behutsam nimmt sie die Pfeife vom Aschenbecher und betrachtet sie lächelnd. Ohne es zu wollen, ziehen die verschiedensten Bilder vor ihrem geistigen Auge vorbei.
Sie erinnert sich daran, wie sie als kleines Kind - damals noch bei Onkel Leonard - durch das Fernrohr sehen durfte, welches er auf der Hausterrasse aufgestellt hatte. Sie erinnert sich an die vielen Vorlesungen beim allseits beliebten Professor Weissrath, die aufgrund seines vorhandenen Humors immer ein Genuss waren. Sie erinnert sich auch an die Abschlussprüfung, die sie dank der Hartnäckigkeit ihres grossen Vorbildes mit Bestnoten abschliessen konnte.
Sie erinnert sich aber auch an viele gemeinsame fröhliche Stunden, die sie in der Freizeit miteinander verbracht hatten. Leonard wohnte in einem kleinen Häuschen, das er sein Eigen nennen durfte und das an einen kleinen See grenzt. Umsäumt von einem Tannenwald, dessen Gerüche bei günstigen Windverhältnissen bis in die Mitte des Sees gelangen. Er verfügte aber auch über ein kleines Ruderboot, womit sie viele Stunden auf dem kleinen See verbrachten. Oft beobachteten sie zusammen noch zu später Stunde den nächtlichen Sternenhimmel und philosophierten dabei über ihre gemeinsame Arbeit. Sie verstanden sich prächtig und Vanessa fühlte sich zu ihm hingezogen. Sie empfand eine seltsame Liebe zu dem Mann und sie wünschte sich nicht nur einmal, seine Tochter zu sein.
Mit einem lauten Seufzer legt sie die Meerschaumpfeife vorsichtig wieder in den Aschenbecher zurück. Es ist ein Gegenstand, den sie schliesslich zur Erinnerung mit nach Hause nehmen würde.
Alsdann besinnt sie sich wieder ihrer Aufgabe und steht ruckartig auf. Sie überlegt, wo sie mit den Aufräumarbeiten beginnen soll und entscheidet sich dann zunächst einmal für die noch am Boden liegenden Akten.
Fein säuberlich legt sie die verstreuten Dossiers auf den Schreibtisch. Sie alle müssen nachträglich noch geordnet und gesichtet werden. Diese Arbeit würde sie dann jedoch in ihrem eigenen Büro erledigen.
Alle handschriftlichen Notizen verstaut sie zunächst einmal in Leonards schwarzer Ledertasche, die sie neben dem Schreibtisch stehend aufgefunden hat. Notizen, die ausser dem Professor nur noch von ihr entziffert werden können. Im Laufe der Jahre hat sie die wirbelnde Handschrift des Wissenschaftlers kennen gelernt.
Deshalb fällt ihr auch sofort ein anderes Stück Papier auf, worauf ebenfalls handschriftliche Notizen gekritzelt sind. An den Notizzettel ist die Einladung zur Einweihung des neuen Observatoriums in Mount Hardey angeheftet. Obwohl Vanessa diese Handschrift fremd ist, gelingt es ihr ohne Mühe zu lesen, was auf dem Zettel steht. Es handelt sich eindeutig um eine geometrische Auswertung des Sternbildes Orion und deshalb auch um ein Teilstück ihrer Forschungsaufgabe. Hingegen hinterlässt die Auswertung bei Vanessa die Überzeugung, wonach darin überhaupt keine Logik vorhanden ist. Sie kennt die Arbeit des Professors nur zu gut und ist sozusagen beinahe auf dem gleichen Wissensstand. Aber eine solche Konstellation des Sternbildes Orion ist ihr fremd. Ja, sie ist sogar unmöglich!
Mit dem Zettel in der Hand setzt sich Vanessa wieder in den bequemen Sessel und versucht, sich über die Notizen einen Reim zu machen.
In diesem Moment klopft jemand an die offenstehende Bürotüre. Vanessa war derart in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie der Hausmeister Charly schmunzelnd seit etwa einer halben Minute unter der Türe stand. Unter seinem Arm hält er zwei grössere Kartonschachteln.
„Darf man eintreten?“
„Ja, natürlich, Charly. Kommen Sie herein!“
Vanessa hatte den Hausmeister zur Mittagszeit darum gebeten, einige Kartonschachteln zu besorgen. Denn irgendwie musste sie ja die persönlichen Sachen des Professors transportieren können.
Man merkt es Charly an, dass ihn der Tod des Professors ebenfalls sehr getroffen hat. Auch er führte ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm und nicht selten trafen sie sich nach Feierabend noch im Büro zu einem kleinen Schnäpschen. Die Flasche holte der Professor dann immer aus einer Schublade des Metallschrankes, der in einer Ecke des Raumes steht.
„Wo soll ich die Schachteln deponieren, Vanessa?“
„Ach, stellen Sie die Schachteln doch bitte einfach hier neben den Schreibtisch, Charly. Ich danke Ihnen.“
Charly stellt die Schachteln am bezeichneten Ort ab.
„Und, wie geht es Ihnen, Vanessa? Sie wissen, wenn ich sonst etwas für Sie oder den Professor tun kann ...“
Weiter kommt Charly nicht, denn er wird von der jungen Wissenschaftlerin unterbrochen.
„Schon gut, Charly. Das Leben muss weitergehen. Ich danke Ihnen. Aber im Moment - ja, Sie sehen ja ...“
Sie weist mit der Hand auf den mit Akten überfüllten Schreibtisch.
„Ich meine ja nur. Sie wissen, wo Sie mich finden können. Ja?“
„Herzlichen Dank, Charly. Das weiss ich sehr zu schätzen.“
Daraufhin tippt der Hausmeister als Gruss leicht an seine Schirmmütze, die er vermutlich auch zur Schlafenszeit niemals ablegen würde. Ohne weitere Worte verlässt er dann das Büro.
Vanessa indessen ist bereits wieder in den fremden Notizzettel vertieft.
Das Datum verrät ihr, dass die Notizen zur gleichen Zeit entstanden sind, wie die Einladung verschickt wurde. Darunter befindet sich der Schriftzug A. Lockdycke.
Ein A. Lockdycke ist Vanessa unbekannt. Und sie ist sich ziemlich sicher, dass Leo diesen Namen auch niemals genannt hat.
Komisch, denkt sie sich. Sie betrachtet den Zettel auch noch auf der Rückseite, doch dort sind keine weiteren Notizen angebracht.
Obwohl die mathematischen Berechnungen keinen Sinn ergeben, legt sie auch diesen Zettel zu den anderen in die Aktentasche. Nach ungefähr einer weiteren Stunde ist sie mit der Sortierung der herumliegenden Arbeitsunterlagen soweit fertig, dass man sie in ihr Büro transportieren kann.
Sie wendet sich deshalb den persönlichen Sachen ihres verstorbenen Freundes zu. Zu diesem Zweck behändigt sie eine von Charly gebrachte Kartonschachtel und stellt sie auf den Schreibtischsessel.
Behutsam nimmt sie diverse Bilder, Urkunden und sonstige persönliche Auszeichnungen des Professors von der Wand und legt sie in die Schachtel. Dann macht sie sich an den Schreibtisch, wovor sie sich jedoch ein wenig fürchtet. Noch nie zuvor musste sie die Schubladen eines fremden Schreibtisches leeren. Und gerade in diesem Fall empfindet sie es beinahe als eine Tortur.
Aber auch diese Aufgabe meistert sie schliesslich und am Ende sind die beiden Kartonschachteln mehr als nur gefüllt.
Ach ja! Die Meerschaumpfeife! Rasch greift sie nach ihr und steckt diese jedoch nicht auch noch in die vollen Schachteln, sondern in ihren abgenutzten Rucksack.
Nun bleibt nur noch das kleine Bild auf dem Schreibtisch übrig. Eine Fotografie, worauf das Haus des Professors am kleinen See abgebildet ist. Leonard und sie sitzen auf den Stufen zum Haus und lachen in die Kamera.
Vanessa erinnert sich an den Zeitpunkt dieser Aufnahme. Es war an dem Tag, als der Professor darüber informiert wurde, dass er von den USA in ein Gremium von internationalen Wissenschaftlern gewählt wurde, welches am Bau eines neuen Astrometriesatelliten beteiligt ist. Alle übermittelten Daten dieses Satelliten laufen über das Kokeby Observatorium in Australien und werden dort auch ausgewertet. Das war vor 9 Jahren. Ein enorm wichtiges Projekt, weshalb er schliesslich auch der Einladung nach Australien folgte.
Dann fällt Vanessa auf, dass auf der Fotografie mit einem Filzstift an einer bestimmten Stelle ein Kreuz gemalt worden ist. Genau bei der Anlegestelle des kleinen Ruderbootes.
Seltsam, denkt sich Vanessa. Entstand das Kreuz auf der Fotografie absichtlich? War Leonard oder vielleicht jemand anders einmal beim Hantieren mit einem Filzschreiber unvorsichtig?
Sie macht sich jedoch keine weiteren Gedanken darüber, sondern legt auch dieses Bild in eine der Kartonschachteln. Dann sieht sich Vanessa nochmals im Büro um und überprüft, ob sie für den Moment alles so weit zusammengesucht hat. Erstmalig sieht sie zu diesem Zeitpunkt auf ihre zierliche Armbanduhr und stellt fest, dass inzwischen wohl die meisten Mitarbeiter das Institut schon verlassen haben müssen. Denn es ist bereits nach fünf Uhr und Freitagabend, so dass das Wochenende vor der Türe steht.
Kurzerhand greift sie nach ihrem Rucksack und macht Anstalten, das Büro mit den kahlen Wänden zu verlassen. Sie würde sich nächste Woche weiter um die Akten und die gefüllten Kartonschachteln kümmern. Charly, der ihr beim Tragen der Schachteln bestimmt helfen würde, sass vermutlich ebenfalls bereits bei seinem wohlverdienten Feierabendbier.
Deshalb löscht Vanessa bereits eine Minute später das Licht im Büro und begibt sich auf den Heimweg ...
* * *
Es ist ein windiger Spätsommerabend. Die Bäume haben hier und da schon damit begonnen, ihr Herbstkleid überzuziehen und sie erscheinen bei der untergehenden Sonne bereits goldbraun. Die Blätter, die schon am Boden liegen und verwelken, wirbeln bei jedem heftigen Windstoss wild durcheinander.
Vanessa liebt diese Jahreszeit genauso wie den Frühling. Aber der kommende Herbst ist etwas Besonderes. Während die Winde noch nicht allzu kalt erscheinen, beweist die Natur einmal mehr, mit welcher Energie sie versehen ist. Sie taucht die Erde in ein goldbraunes Kleid und man macht sich automatisch daran, sich langsam auf das Jahresende vorzubereiten. Oftmals hat Vanessa mit Leonard zu dieser Jahreszeit noch einen Spaziergang um den kleinen See gemacht. Dann, wenn der Boden mit den riesigen, bald verwelkten Ahornblättern übersät war und die Schuhe im Meer dieser Blätter untertauchten. Ja, sie waren dann meistens nicht mehr zu sehen.
Auch heute Abend hat Vanessa das Verlangen, einen solchen Spaziergang zu unternehmen. Sie wohnt ja schliesslich nur etwa 10 Fahrradminuten vom Haus des Professors entfernt.
Nachdem sie sich bei ihrer Heimkehr ein wenig frisch gemacht und sich umgezogen hat, verlässt sie ihre Dreizimmerwohnung und holt ihr Rennrad aus der Garage. Mit diesem Rad, das ihr Leonard zum Abschluss ihres Studiums geschenkt hatte, begibt sie sich oft auf längere Touren. Nicht nur, um sich fit zu halten, sondern auch um die Natur zu geniessen.
Die Dunkelheit ist bereits über der Hansestadt hereingebrochen, als sie das Haus von Professor Weissrath kurz vor halb acht Uhr erreicht. Im Haus ist es dunkel und beinahe kommt ob der Geräusche, welche die aufkommenden Herbstwinde beim Durchstreichen der Baumkronen verursachen, ein leicht schauriges Empfinden auf.
Vanessa stellt ihr Fahrrad wie immer direkt neben die Treppe zum Hauseingang. Abschliessen muss sie ihr Rad nicht, denn auf diesem doch ein wenig abgelegenem Grundstück wurde noch nie etwas gestohlen.
Sie krempelt den Kragen ihrer Windjacke ein wenig hoch und schlendert dann in Richtung des Sees.
Sie kennt sich natürlich hervorragend aus und findet auch in der Dunkelheit den kleinen Weg, der eigentlich mehr ein Trampelpfad ist. Er führt rund um den See.
Auch die Baumkronen des Waldes, gemischt aus Ahorn und Tannen, ächzen unter der Einwirkung des Windes und oftmals sieht Vanessa hoch zu ihnen, wenn sie wieder einmal ein drohendes Geräusch hört. Aber Angst? Nein, Angst verspürt sie keine. Durch die Baumkronen hindurch ist der wolkenlose Himmel zu sehen und schon zeigen sich die ersten Sterne am Firmament.
Bereits hat Vanessa etwa die Hälfte des Sees umrundet und gelangt an eine kleine Bank, wo sie mit Leonard meistens noch eine kleine Rast eingelegt hat. Auch dieses Mal setzt sie sich hin. Sie verschränkt ihre Arme und lehnt sich zurück.
Das Wasser des Sees wird durch die Herbstwinde leicht gekräuselt und auch der Mond erscheint in einem langen gelben Schweif auf der Wasseroberfläche. Noch sind nicht alle Häuser entlang des Sees beleuchtet. Aber hin und wieder gehen vereinzelte Lichter in den Gebäuden an.
Nanu? Habe ich mich nun getäuscht, denkt sich Vanessa. Hat sie nicht soeben einen Lichtschein in Leonards Haus gesehen? Von Vanessas Standort aus befindet sich das Haus nun in einer Entfernung von ungefähr dreihundert Metern. Direkt auf der anderen Seite des Sees.
Da! Schon wieder. Nur kurz.
Vanessa beugt sich nach vorne, was eigentlich zu keiner weiteren Sichtverbesserung führen kann.
Wie gebannt späht sie über den See und sie kneift dabei ein wenig ihre Augenlider zusammen. Aber nun kann die junge Wissenschaftlerin keine weiteren verdächtigen Beobachtungen mehr machen.
Sie schüttelt den Kopf und lacht beinahe über sich selber. Vermutlich eine Spiegelung eines in der Nähe vorbeifahrenden Autos, oder sonst etwas.
Sie entspannt sich wieder und lehnt sich abermals zurück.
Nochmals geht ein Ruck durch ihren Körper. Soeben konnte sie abermals einen Lichtstrahl erkennen, dessen Quelle sich eindeutig im Haus ihres toten Freundes befinden muss.
Vanessa ist sich nun sogar ziemlich sicher, dass es sich dabei um den Schein einer Taschenlampe handelt.
Ohne zu überlegen, springt sie auf und läuft nun den Weg, den sie gekommen ist, zurück. Immer wieder sieht sie über den See hinweg, wo der Mondschein nach wie vor seinen Schweif über die Wasseroberfläche zieht.
Sie hat jetzt doch etliche Mühe, nicht zu stürzen, denn sie achtet während ihres Laufes zu wenig auf die Beschaffenheit des Bodens. Hin und wieder strauchelt sie an einer hervorstehenden Wurzel. Aber sie hat leichte Schuhe an den Füssen und es gelingt ihr immer wieder, die Balance zu halten.
Nach etwa zwei Minuten erreicht sie das Haus, das in voller Dunkelheit liegt.
Vanessas Puls ist infolge des Dauerlaufes nur leicht angestiegen. Die vielen Radtouren halten sie ja ziemlich fit. Langsam umrundet sie nun Leonards Haus und kontrolliert alle Fenster und Türen im Erdgeschoss.
Als sie zur Rückseite der Liegenschaft gelangt, hört sie plötzlich ein eigenartiges Knistern, das von den nahen Büschen zu ihr herüberklingt. Immer mit einem Auge auf das Haus, begibt sie sich in die Richtung, aus der die Geräusche zu vernehmen sind. Sie umrundet das Gebüsch und findet dort zwei Motorräder. Die nun abkühlenden Gehäuse der heissen Motoren sind die Ursache für die knisternden Geräusche. Offensichtlich wurden die beiden Fahrzeuge hier abgestellt, während ich zur Bank auf der anderen Seite des Sees gegangen bin, denkt sich Vanessa.
Sie achtet im Moment nicht auf die Kennzeichen der Zweiräder. Sie stellt nur beiläufig fest, dass es sich um Hamburger Immatrikulationen handelt. Bereits gilt ihr Interesse wieder dem Haus und kehrt dorthin zurück.
Dann plötzlich bemerkt sie einen offenstehenden Fensterflügel, dessen Glas offensichtlich eingeschlagen worden ist. Sie denkt in diesem Augenblick überhaupt nicht daran, dass in diesen Fällen eigentlich die Polizei gerufen werden sollte.
Denn es ist doch mehr als wahrscheinlich, dass sich in diesem Moment jemand unberechtigt im Haus aufhält. Ausser Leonard hat nur sie selber noch einen Schlüssel zum Haus. Und Ruth, seine Haushälterin, wohnt ebenfalls nicht in der Nähe. Zudem verrichtet sie ihre Arbeit immer nur am Morgen.
Wie von einer inneren Kraft getrieben, greift Vanessa bereits an die Fensterbrüstung und zieht sich hoch. Nur eine kleine Kraftanstrengung ist nötig und sie steht im Gästezimmer des kleinen Hauses.
Ein weiteres Mal zuckt sie zusammen. Soeben hat sie ein polterndes Geräusch vernommen. Aber aus welchem Zimmer es genau kam, kann sie nicht beurteilen. Leise schleicht sie zur Türe, die nur angelehnt ist. Nun kann sie sehen, wie der Strahl einer Taschenlampe über die Wand im Arbeitszimmer gleitet. Auch die Geräusche des unerwünschten Besuchers sind nun deutlicher zu hören.
Vanessa verharrt einen Augenblick. Erst jetzt kommt ihr der Gedanke, dass sie eigentlich die Polizei rufen könnte. Aber was ist, wenn der Einbrecher bis zum Eintreffen der Polizei wieder verschwindet?
Also verwirft sie diesen Gedanken wieder. Sie steht bereits im Korridor und drückt sich bei der Garderobe in eine Ecke. Zufällig streift sie mit der Hand einen Spazierstock, der schon seit Jahren im Schirmständer steht. Leonard hatte diesen einmal von einem Urlaub in Österreich mit nach Hause gebracht. Vanessa erinnert sich, dass kleine Edelweissblumen in das Holz geschnitzt sind.
Lautlos zieht sie den Stock aus dem Schirmständer und meint, damit genügend gegen einen herkömmlichen Einbrecher bewaffnet zu sein.
Sie macht einen Schritt weiter in den Korridor. In diesem Moment hört sie hinter sich ein Rascheln. Vanessa kann nicht mehr reagieren, denn sogleich wird sie von kräftigen Armen von hinten gepackt. Ein riesiger Lederhandschuh wird ihr auf den Mund gepresst und vor Schreck verliert sie auch noch den Spazierstock, der polternd auf den Fliesenboden fällt.
Die junge Frau versucht sich sofort mit Händen und Füssen gegen die Umklammerung zu wehren. Sie beisst auch einige Male in den Handschuh, das ihren Peiniger offensichtlich nicht sehr stört. Sie kann dem Einbrecher auf diese Weise lediglich ein Fluchen entlocken.
„Verdammt noch mal, du kleines Biest! Halt still, oder ich schlitze dir die Kehle auf!“
Aufgeschreckt durch den Tumult im Korridor, aber auch durch das entstandene Geräusch, als der Spazierstock zu Boden fiel, taucht unvermittelt eine zweite Gestalt unter der Türe zum Arbeitszimmer auf. Bevor sie der Strahl der Taschenlampe trifft, bemerkt Vanessa noch, dass die Person eine dunkle Motorradbekleidung und einen Motorradhelm trägt.
Ohne eine Frage abzuwarten, erklärt der Täter, der sie festhält, was los ist.
„Die Kleine hier ist durch das Fenster gestiegen! Wir müssen ihr den Mund stopfen!“
„Verdammte Scheisse!“, ist die Antwort seines Kumpans.
Vanessa hat nun doch eine Todesangst. Was soll das bedeuten, den Mund stopfen? Soll sie umgebracht werden?
Noch immer wird sie vom ersten Täter derart brutal festgehalten, dass sie sich nicht befreien kann. Er verfügt über derartige Kräfte, dass er sie nun sogar vom Fussboden abheben kann. Kurzerhand trägt er die junge Frau in Leonards Arbeitszimmer und drückt sie dort auf einen Besucherstuhl.
„Zieh die Vorhänge zu, Nico! Und hol was zum Knebeln!“
Der Einbrecher mit der Taschenlampe kommt dem Befehl sofort nach. Nachdem er die Nachtvorhänge zugezogen hat, hält er blitzschnell ein Messer in der Hand. Damit schneidet er in grösster Eile das Telefonkabel durch.
Inzwischen ist es dem anderen Täter gelungen, der jungen Frau einen Stofffetzen in den Mund zu schieben. Vanessa weiss im Moment nicht, worum es sich dabei handelt. Sie hofft nur, dass es sich dabei nicht um das persönliche Taschentuch des Täters handelt.
Obwohl ihr Herz nun bis zum Hals hinauf pocht, hat sie nicht aufgehört, sich zu wehren. Aber nach wie vor hat ihr Strampeln keinen Sinn.
„Bist ganz schön hartnäckig, du Flittchen!“
Der Mann hinter ihr dreht ihr einmal mehr brutal die Arme hinter die Stuhllehne. Unheimlich schnell wird sie nun an den Stuhl gebunden und wenig später kann sie sich nicht mehr bewegen.
Nun tritt auch der zweite Täter in ihr Blickfeld. Auch er trägt ein Lederkombi und einen Motorradhelm.
Der Mann, der vorhin mit dem Namen Nico angesprochen wurde, hat wohl nicht die besten Nerven.
„Verdammt noch mal! Verschwinden wir hier, bevor die Bullen antanzen!“
Bereits will er sich zur Türe begeben, doch er wird von seinem Kumpel an der Schulter gepackt und zurückgehalten.
„Verliere jetzt nicht die Nerven! Wir haben alles im Griff!“
Inzwischen hält auch er eine Taschenlampe in der Hand und leuchtet damit seinem Opfer in das Gesicht.
„Sieh mal an. Ich kenne dich doch! Du arbeitest doch auch am Institut?“
Vanessa ist aufgrund ihrer Mundknebelung nicht in der Lage, eine Antwort geben zu können. Nur das laute Atmen durch ihre Nase ist zu hören. Mit angsterfüllten Augen sieht sie in den Kegel der Taschenlampe.
Dann hört sie ein Klicken, kann jedoch nicht erklären, was dieses Geräusch verursacht hat. Wenige Sekunden später erkennt sie jedoch im Schein der Lampe die blitzende Klinge eines Stellmessers.
Nico wird der Boden, auf dem er sich gegenwärtig befindet, zu heiss.
„Verdammt, Laszlo. Lass sie zufrieden. Wir hauen lieber ab!“
Der zweite Täter fühlt sich aufgrund der Nervosität seines Kumpels genervt, denn plötzlich dreht er sich zu Nico um und hält ihm die Klinge des Springmessers vor das Helmvisier.
„Halt endlich deine Schnauze, Nico. Oder ich schneide dir schneller die Ohren ab, als du auf zwei zählen kannst! Wir haben einen Auftrag und den erfüllen wir! Ist das klar?“
Nico kennt seinen Kumpan und er weiss, dass mit ihm nicht zu spassen ist. Aus diesem Grund gibt er auch klein bei. Er hält kooperativ die Hände in die Höhe.
„Okay, okay. Du bist der Boss!“
„So ist es, mein Kleiner! Und nun halt die Einfahrt zum Haus im Auge.“
Nico begibt sich widerwillig zum Fenster und späht hinaus.
Laszlo indessen wendet sich wieder seinem Opfer zu.
„Ich nehme dir jetzt den Mundknebel ab. Aber ich schwöre dir! Ein falscher Laut und du bist tot! Kapiert?“
Vanessa konnte sich inzwischen ein wenig erholen. Zu viele Gedanken kreisen im Moment in ihrem Kopf herum. Aber dennoch ist ihr bewusst, dass es dem Einbrecher mit Namen Laszlo vermutlich ernst ist. Vernünftig nickt sie deshalb leicht mit dem Kopf.
Laszlo geht hinter Vanessa und löst den Knebel. Dann zieht er ihr den immer noch unbekannten, flauschigen Gegenstand aus dem Mund.
Bereits hat sich in Vanessas Mundhöhle eine derartige Trockenheit gebildet, dass sie husten muss. Dann wird sie wieder vom Schein der Taschenlampe geblendet.
„Also, nochmals. Du arbeitest doch auch am Institut und was suchst du hier?“
„Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen“, antwortet Vanessa. Eigentlich stimmt diese Antwort auch, denn sie wollte ja spazieren gehen.
„Verkauf mich nicht für dumm und ich warne dich. Ich habe keine Zeit, um Spielchen zu spielen!“
Demonstrativ drückt er ihr nun die Messerspitze an den schlanken Hals.
„Ich wollte spazieren gehen und da habe ich Licht hier drin gesehen. Professor Weissrath war ein Freund von mir. Ich habe mit ihm zusammen gearbeitet.“
„Na also, Süsse. Warum nicht gleich so! Dann hast du also auch am DOHM-Projekt gearbeitet?“
Vanessa hat keine Zeit, sich irgendwelche Ausreden einfallen zu lassen. Aber dennoch ist sie über die Frage des Einbrechers überrascht.
„Das DOHM-Projekt?“
„Du hast schon richtig verstanden, meine Kleine. Das DOHM-Projekt. Wo bewahrt der Professor seine Unterlagen über dieses Projekt auf?“
Erst jetzt wird Vanessa klar, dass es sich hier nicht um Einbrecher handelt, die an Wertsachen interessiert sind.
„Im Institut. In seinem Büro, nehme ich an.“
Wie aus heiterem Himmel schlägt der Einbrecher mit der flachen Hand zu. Der Schmerz ist jedoch zu ertragen, da der Schlag ja mit dem Handschuh erfolgte.
„Noch so eine Antwort und ich schneide dir die Zunge heraus! Im Büro haben wir nachgesehen. Dort ist nichts. Also, nochmals. Wo sind die Unterlagen?“
Vanessa begreift augenblicklich, dass es sich bei den beiden Einbrechern vermutlich um die Mörder ihres väterlichen Freundes handelt. Sofort erhöht sich ihr Pulsschlag wieder.
„Haben Sie den Professor umgebracht?“
Obwohl es Vanessa nicht sehen kann, fühlt sie doch, dass sich hinter dem Motorradvisier ein teuflisches Lächeln entfaltet.
„Der Professor verhielt sich überhaupt nicht kooperativ. Hätte er meinen Wünschen entsprochen, würde er heute Abend vermutlich mit seinem Fernrohr noch die schönsten Sterne betrachten. Und wenn du jetzt nicht spurst, wirst du deinen Professor in der Hölle wieder sehen. Also los! Wo befinden sich die Unterlagen!“
Der Druck der Messerspitze erhöht sich.