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Piet Wenger und Mägi Buchwald von der Kripo werden mitten in der Nacht nach Weinfelden gerufen. Ein ehemaliger Beamter der Kantonspolizei Thurgau wurde leblos in seiner Wohnung aufgefunden. Die angetroffene Situation vor Ort lässt eindeutig darauf schliessen, dass ein Tötungsdelikt vorliegt. Das alleinlebende Opfer bestritt seinen Lebensunterhalt in den letzten Jahren als Privatdetektiv. Seine Arbeit lässt deshalb darauf schliessen, dass er sich bei gewissen Leuten nicht unbedingt beliebt gemacht hat. Da er mit seinen Auftraggebern aber meistens vertraulichen Kontakt pflegte und wenige bis keine Hinweise auf sie hinterliess, erweisen sich die Nachforschungen in seinem Bekanntenkreis durch die Kriminalpolizei als äusserst schwierig. Die beiden Kripobeamten stossen dann aber bei ihren Abklärungen auf eine Verbindung zu einem im Kanton Thurgau lebenden Multimillionär und ahnen nicht, dass in dessen Umfeld ein weiteres Verbrechen geplant ist. Es geht um ein riesiges Vermögen, das auf eine hinterlistige und perfide Art seinen Besitzer wechseln soll. Dadurch steht ein weiteres Menschenleben auf dem Spiel! Der äusserst erfahrene Ermittler Piet und seine Kollegin Mägi werden in der Ausübung ihrer Pflicht in einer Art und Weise getäuscht, wie man es sich nicht vorstellen kann. Sie sind mehr als verblüfft, als sie eines Tages einen überraschenden Telefonanruf aus der Villa des betuchten Kaufmanns erhalten. Und von da an ist Eile geboten…
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Seitenzahl: 619
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Dein Blut,mein Blut
Band VI
Kriminalroman
von
Joel Dominique Sante
Tatort Thurgau
© 2021 J. D. Sante
Umschlaggestaltung: MESAN-VERLAG SCHWEIZ
published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de
Zum Autor:
Joel Dominique Sante (Pseudonym) ist 1954 in Kreuzlingen (CH) geboren, aufgewachsen und hat auch dort die Schulen besucht. Nach erfolgreichem Lehrabschluss als Hochbauzeichner trat er im Jahre 1976 der Kantonspolizei Thurgau bei.
In seiner beruflichen Laufbahn konnte er während seiner Beschäftigung bei der Verkehrspolizei, beim Aussendienst, beim Kriminaltechnischen Dienst und beim Stabsdienst (Kantonale Notrufzentrale) viele Erfahrungen sammeln. Ausserdem war er beinahe 30 Jahre lang als aktiver Diensthundeführer im Schutz- und Fährtenhunde-, wie auch im Drogenspürhundebereich erfolgreich tätig.
In der Zwischenzeit hat der pensionierte Polizeibeamte nebst einem Gedichtband und einer Familiengeschichte mehrere Kriminalromane verfasst und veröffentlicht. Es ist unverkennbar, dass er insbesondere bei den Kriminalgeschichten immer wieder seine angesammelten Erfahrungen und Kenntnisse im Umfeld der Polizei kompetent einfliessen lässt. Mit ausgewogenem Hang zur Realität, aber auch mit der nötigen Prise Fiktion und Fantasie, gelingt es ihm immer wieder, eine spannende Lektüre zu schaffen.
Mesan-Verlag Schweiz
Eine alphabetische Auflistung der im Roman genannten wichtigen Personen und eine Liste mit Erklärungen zu Abkürzungen, die in der Polizeilandschaft und sonstigen Ermittlungsbehörden real zu finden sind, befinden sich am Ende des Buches.
Personen, Handlung und Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
Der Inhalt dieses Buches, soweit nicht anders darauf hingewiesen wird, resultiert aus realistischen und sachlichen Erzählungen des Autors und ist urheberrechtlich geschützt. Die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Schritte nach sich ziehen.
24. März 1966
Eine Geburt ist für die werdende Mutter immer mit Schmerzen verbunden. Ob die Schlange daran die Schuld trifft, weil sie Eva zum Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis verleitete, worauf Gott sprach: «Unter Schmerzen sollst du gebären», bleibe dahingestellt.
Die Ärzte vermuten, dass sich Renate Schulze eine Schwangerschaftsvergiftung zugezogen hat. Eine solche Vergiftung kann in verschiedenen Schweregraden auftreten. Bei einer heftigen Form der Gestose, der Eklampsie, kann es zu Krampfanfällen kommen. Als Komplikationen können Thrombosen, Hirnödeme sowie akutes Nierenversagen auftreten, die für Mutter und Kind lebensbedrohlich sind.
Als die junge Frau in ihrem Bett liegend eiligst in den Gebärraum des Kantonsspitals Münsterlingen geschoben wird, ist sie nicht mehr ansprechbar. Noch schlimmer, denn sie ist eigentlich schon klinisch tot. Sie ist im achten Monat schwanger und die Entbindung kann aufgrund dieser besonderen Umstände nicht mehr länger hinausgezögert werden. Die Ärzte können für die Frau selbst nichts mehr tun. Sie können nur noch dafür sorgen, dass das heranwachsende Leben im Mutterleib gerettet wird, indem sie es sofort zur Welt bringen.
Der Oberarzt wie auch die Hebamme wissen aus persönlichen Gesprächen mit Renate Schulze, dass sie eine deutsche Staatsangehörige ist. Genauer gesagt stammt sie von Ravensburg. Sie lebt aber schon seit einigen Jahren in Kreuzlingen und arbeitete dort als Serviertochter in einem Restaurant. Gemäss ihren Angaben hat sie keine Verwandten mehr. Ihre Eltern waren etwa zwei Monate nach Beendigung des zweiten Weltkrieges auf tragische Weise ums Leben gekommen, als sie in den Trümmern ihres zerbombten Wohnhauses noch nach brauchbaren Utensilien suchten.
Dabei stürzte eine, durch einen vorangegangenen Bombenhagel entstandene brüchige Wand ein und begrub sie unter sich. Sie selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt auf der Strasse und spielte mit anderen Kindern. Nach der familiären Tragödie wurde sie in ein Heim gesteckt. Damals war sie drei Jahre alt gewesen. Was die Schwangerschaft betrifft, hat sie erzählt, dass sie eines Tages ein intimes Verhältnis mit einem Schweizer hatte, der regelmässig im Restaurant verkehrte, wo sie arbeitete. Erst als sie ihm mitteilte, dass sie schwanger ist und er der Vater sein muss, gestand er ihr ein, bereits verheiratet zu sein. Er habe selbst bereits drei Kinder und führe angeblich auch eine glückliche Ehe.
"Ha! Glückliche Ehe!", bemerkte sie im vertrauten Gespräch mit dem Oberarzt abschätzig. Der werdende Vater liess sie sitzen, wollte von seiner Vaterschaft nichts mehr wissen und war von diesem Zeitpunkt an im Restaurant auch nicht mehr gesehen worden. Sie kenne natürlich seinen Namen. Aber er sei eben eine angesehene Person im Ort und sie fürchte sich davor, einen Skandal hervorzurufen, würde sie die Sache ans Tageslicht bringen. Sie war natürlich zutiefst verletzt, fand sich aber je länger je mehr mit den Tatsachen ab. Eine Abtreibung komme für sie nicht in Frage, erklärte sie zudem. Wobei sie gar nicht wisse, an wen sie sich zwecks einer eventuellen Abtreibung hätte wenden können. Sie schwor sich deshalb, die Schwangerschaft durchzustehen, zu gebären und niemandem zu sagen, wer der Vater ist. Auch gegenüber dem Oberarzt und der Hebamme hat sie nie verraten, um wen es sich dabei handelt….
* * *
Als Theresa Lindt durch die massive Holztüre der Hörnli-Hütte tritt, schlägt ihr eine schwüle Wärme entgegen. Die Temperatur im Innenraum der Gastwirtschaft ist nicht nur durch die Heizung und den Küchenbetrieb, sondern auch durch die Sonneneinwirkung am späten Vormittag auf vierundzwanzig Grad angestiegen. Aber durch den plötzlichen Temperaturwechsel, von draussen nach drinnen, könnte man in diesem Moment denken, man betrete eine Sauna. Sofort lockert sie den Schal um ihren Hals und öffnet ihre warme Winterjacke. Auch zieht sie ihre behaglichen Handschuhe aus, während sie sich auf den Weg zu den Toiletten macht.
Theresa hat sich zu Hause kurz dazu entschlossen, das Wochenende in Arosa zu verbringen. Die als Privatsekretärin tätige und äusserst attraktive Frau ist inzwischen vierzig Jahre alt, grossgewachsen und hält ihren Körper mit regelmässigen Trainingsstunden in einem Fitnesscenter fit. Sie hat sich an diesem Tag, einem Samstag im Februar, vorgenommen, die Hörnli-Hütte zu besuchen, wo sie sich einige Zeit lang in eine der dort zur Benützung vorhandenen Pritschen an die Sonne legen und einfach nur relaxen will.
Aus diesem Grund bestieg sie gegen zehn Uhr die Gondelbahn Hörnli-Express, welche sie innerhalb von etwa sieben Minuten auf den 2513 Meter hohen Berggipfel brachte. Hier ist das Panorama einmalig und man kann nicht nur hinunter in den bekannten Kurort, sondern auch ins sogenannte Urdental blicken. Sie war auch schon im Sommer hier oben gewesen, wobei sie den Hin- und Rückweg meistens zu Fuss absolviert hat. Nun aber liegt ziemlich viel Schnee, nachdem es die Woche zuvor tagelang geschneit hat. Heute zeigt sich der Himmel jedoch wolkenlos und in einem Blau, das man sonst nur von Ansichtskarten her kennt.
Theresa ist happy, denn als sie wieder ins Freie kommt, sind gerade noch zwei Liegen frei. Sofort belegt sie einen dieser Plätze und breitet die zur Verfügung stehende Wolldecke über ihren Beinen aus. So ist ihr wohlig warm. Wie sie ausserdem noch beim Verlassen der Hörnli-Hütte bei einem an der Hauswand angebrachten Informations-Bildschirm feststellen konnte, herrscht auf dem Hörnli im Moment eine Temperatur von sechzehn Grad. Die Windgeschwindigkeit beträgt sozusagen null. Es sei aber zu erwarten, dass gegen Mittag die Sonne noch effizienter scheinen und die Temperatur noch ansteigen werde.
Nachdem ihr das Glas Weisswein, das sie vorher beim Hinausgehen noch in der Gaststube bestellt hatte, durch eine weibliche Bedienung auf das kleine Beistelltischchen gestellt worden ist, lehnt sich die Sekretärin entspannt zurück. Sie ist mit sich und der Welt zufrieden. Na ja, mit der Welt nicht ganz. Ihre Gedanken kreisen um ihren beruflichen Werdegang. Eigentlich hat sie in der Zwischenzeit vieles erreicht, was sie sich als Mädchen von sechzehn Jahren nicht so vorgestellt hatte. Damals, als sie die Lehre als Kaufmännische Angestellte begann. Sie ist ein Einzelkind und wurde seit ihrem vierten Lebensjahr allein durch ihre Mutter grossgezogen.
Ihr Vater, er heisst Remo mit Vornamen, war bei ihrer Geburt in einem Baugeschäft in Bischofszell als Maurer angestellt. Ein grossgewachsener, kräftiger Mann. Aber er war auch… Alkoholiker. Oftmals begab er sich abends in den Ausgang, traf sich mit Kumpels in diversen Kneipen und frönte mit ihnen zusammen dem Alkohol. Eines Tages jedoch kam es zu später Stunde vor einem Restaurant zu einer Keilerei, wobei ihr Vater in seinem Suff einem der Kontrahenten einen derart wuchtigen Schlag ins Gesicht versetzte, dass dieser unglücklich stürzte und mit dem Kopf auf das Kopfsteinpflaster schlug. Der Mann trug dabei einen Schädelbruch davon, wovon er sich nicht wieder erholte. Er verstarb zwei Wochen später im Spital an Blutgerinnseln im Kopf.
Ihr Vater war den Behörden schon früher negativ aufgefallen und wurde auch von vielen Seiten her als gewalttätig eingestuft. Er wurde schliesslich wegen fahrlässigen Totschlags zu einer beinahe sechzehnjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Ihre Mutter, die seit damals niemals mehr eine Liaison mit einem anderen Mann eingegangen war, liess sich scheiden, was ihren Vater eigentlich nicht gross kümmerte. Die Jahre vergingen und weder ihre Mutter noch sie selbst hatten Verlangen nach ihm. Er hatte sich zwar nach seiner Freilassung nochmals gemeldet, doch gab ihm ihre Mutter klar und deutlich zu verstehen, dass er dorthin gehen solle, wo der Pfeffer wächst. Das letzte Mal, als sie ihren Vater gesehen hat, war zur Beerdigung ihrer Mutter, die aufgrund einer Krebserkrankung allzu früh verstorben ist. Dies liegt nun bereits etwa neun Jahre zurück.
Sie selbst war in ihrer Jugend aber auch nicht gerade als pflegeleicht zu bezeichnen gewesen. Sie verhielt sich ab einem bestimmten Alter rebellisch und ihre Mutter hatte auch mit ihr ihre Sorgen gehabt. Als sie in der Sekundarschule einmal einem Jungen ebenfalls mit einem Faustschlag die Nase gebrochen hat, weil er sie dauernd hänselte und schikanierte, zogen sie und ihre Mutter nach Amriswil, wo sie die Schule schliesslich mit sehr guten Noten beenden konnte.
Auch die anschliessende Lehre als Kaufmännische Angestellte meisterte sie mit Bravour. Sie fand nach Abschluss ihrer Berufsausbildung, dank ihres guten Abschlusszeugnisses, sogar sofort eine Anstellung in einem Treuhandbüro in Romanshorn. Der damals sechzigjährige Firmeninhaber erkannte mehr und mehr, welches Potential in ihr steckte und ermunterte sie dazu, sich weiterzubilden. Er war sich dessen sicher, dass sie in der Lage sein würde, weit höhere Ziele in ihrem Berufsleben zu erreichen. So entschied sie sich schliesslich für ein Studium an einer Fachhochschule. Dies war ihr ohne weiteres möglich, weil sie die KV-Lehre ohnehin mit der Berufsmaturität abgeschlossen hatte. Nach drei Jahren erlangte sie den eidgenössischen Fachausweis als Direktionsassistentin. Die Fremdsprachenausbildung in Französisch und Englisch schloss sie ebenfalls mit Bestnoten ab.
Es war dann wieder ihr ehemaliger Arbeitgeber gewesen, der ihr zu einem verheissungsvollen Job verhalf. Er wusste von einer Stellenausschreibung eines überaus vermögenden, etwa siebenundvierzigjährigen Mannes, der aufgrund eines Reitunfalls von der Hüfte an abwärts gelähmt und deshalb an den Rollstuhl gefesselt ist. Dieser suchte eine zuverlässige und kompetente Arbeitskraft in seinem Büro. Sie war damals der Ansicht, dass genau eine solche Anstellung für sie vorteilhaft sein könnte. Der Kaufmann war niemals verheiratet gewesen und hatte sein Privatvermögen durch Immobiliengeschäfte, nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Ausland, angehäuft. Was Theresa damals noch nicht wusste, dafür aber heute, bewegt sich sein Vermögen im dreistelligen Millionenbereich.
Theresa bewarb sich also bei Magnus Dickenmann um die besagte Stelle, wobei ihr ehemaliger Arbeitgeber, so hat sie viel später erst einmal erfahren, noch etwas "Vitamin B" beigesteuert hatte. Sie lernte den Multimillionär als einen etwas vergrämten Mann kennen, der sich mit seinem Schicksal bis zum heutigen Tag nicht abfinden konnte. Zunächst verhielt er sich ihr gegenüber noch ein wenig misstrauisch und sehr distanziert, doch fand sie mit ihrer Art je länger je mehr Zugang zu ihm. Sie wusste auch, dass sie immer noch sehr attraktiv war und auf das männliche Geschlecht anziehend wirkte. Ausserdem erkannte er ihre beruflichen Qualitäten und es gelang ihr immer wieder, ihn in Erstaunen zu versetzen, über welches Wissen sie bezüglich des Immobilienhandels verfügte. Wissen, welches sie sich durch fortwährendes Studium in ihrer Freizeit angeeignet hat.
Nun ist sie bereits seit sieben Jahren für den reichen Paraplegiker tätig und hat nach und nach verantwortungsvolle Aufgaben übernommen, die über die Pflichten einer Privatsekretärin hinausgehen. Ihr Arbeitgeber übertrug ihr schrittweise weitere Kompetenzen. Nicht nur im geschäftlichen Sektor, sondern auch in Verbindung mit dem Personalbereich. So war sie es bald einmal allein, die auch Entscheidungen traf, die sich auf die wenigen Arbeitskräfte in und ums Wohnhaus beziehen. Ein traumhaftes Wohnhaus an traumhafter Lage oberhalb Güttingen, mit Blick auf den Bodensee. Eines Tages offerierte ihr Dickenmann sogar, in der riesigen Villa zu wohnen. Es hätte dafür ein überaus grosszügiges Gästezimmer zur Verfügung gestanden, das ebenfalls mit allem Komfort ausgerüstet ist. Aber dieses Angebot schlug sie aus diversen Überlegungen heraus aus.
Ihre Arbeit als Privatsekretärin und Vertraute wird dementsprechend gut, nein – sogar sehr gut bezahlt. Sie kann deshalb im Moment eigentlich nicht über finanzielle Sorgen klagen und sie kann sich heute auch einige Dinge in ihrem Leben leisten, welche wohl als normale Kaufmännische Angestellte nicht möglich wären. Wie nun auch das Wochenende im Kurort Arosa, wohin sie mit ihrem neuen Porsche Cayenne Turbo gelangt ist. Aber für ihren Lebensstil hat sie sich in den letzten zehn Jahren auch buchstäblich den Arsch aufgerissen. Dennoch sehnt sie sich manchmal nach einem Leben im Luxus, wenn sie immer mal wieder die millionenschweren Immobilienangebote ihres Arbeitgebers in den Werbeunterlagen betrachtet, die sich auf der ganzen Welt verteilt in seinem Besitz befinden. Manchmal denkt sie sich insgeheim schon, was will dieser Krüppel mit so viel Geld? Er kann, nein, will eigentlich seinen Reichtum gar nicht geniessen. Er sitzt den ganzen Tag in seinem Büro, das er sein Refugium nennt, stiert in die verschiedenen Bildschirme der Computer und vergrössert sein Vermögen laufend.
Begleitet mit diesen Gedanken geniesst sie nun die warmen Sonnenstrahlen, wobei sie keine Angst davor hat, sich irgendwelche Hautrötungen oder gar Verbrennungen im Gesicht zuzuziehen. Ihre Haut ist ohnehin noch sonnengebräunt von ihrem Herbsturlaub in der Karibik und sie legt sich auch sonst hin und wieder einmal noch auf die Sonnenbank. Dann jedoch spürt sie trotz geschlossenen Augen plötzlich einen Schatten auf ihrem Gesicht, das dadurch an der kühlen Luft sofort etwas an Wärme verliert. Gleichzeitig vernimmt sie eine männliche Stimme. Jemand der Serviceangestellten der Hörnli-Hütte hat offenbar festgestellt, dass ihr Glas leer ist.
"Darf ich Ihnen noch etwas zu trinken bringen?", erkundigt sich der Kellner höflich.
Theresa schlägt die Augen auf. Im ersten Moment denkt sie, die Stimme sei ihr bekannt. Das Gesicht des Mannes ist in diesem Moment aber nicht zu erkennen, denn sein Kopf befindet sich direkt vor der Sonne. Sie blinzelt ihn trotz der aufgesetzten Sonnenbrille an und wirft dann ebenfalls einen Blick auf das leere Glas. Daraufhin wendet sie sich wieder dem Kellner zu. "Ja, gerne. Nochmals das Gleiche bitte", antwortet sie. Gleichzeitig reicht sie ihm das leere Glas.
"Und das war?"
"Ach so, ja. Nochmals ein Glas Weisswein, bitte. Vom Chardonnay."
Der Mann nimmt das Glas entgegen und stellt es auf sein Tablett, worauf bereits andere schmutzige Gläser vorhanden sind. "Nochmals einen Chardonnay. Gerne", bestätigt er und tritt dann aus der Sonne.
Im gleichen Moment, als die Gesichtskonturen des Mannes zu erkennen sind, bleibt Theresa beinahe das Herz stehen. Automatisch langt sie nach den Armlehnen der Liege und zieht sich etwas in die Höhe. Sie sieht dem Kellner von hinten nach, wie er an einem anderen Ort nochmals ein leeres Glas einsammelt und nachher eilig die Treppe zum Wirtschaftslokal hochgeht.
"Das darf doch nicht wahr sein", spricht sie mit sich selbst. "Spinne ich jetzt, oder was?"
Sie lässt ihren Oberkörper wieder in die Liege zurücksinken und sieht in die Ferne, ohne das wunderbare Panoramabild mit den schneebedeckten Berggipfeln wahrzunehmen. Dann setzt sie sich doch wieder auf. Sie muss sich etwa sieben Minuten gedulden, bis sie den Kellner wieder erspäht, als er mit dem an Getränken gefüllten Tablett wieder aus der Gaststube kommt. Nach und nach verteilt er die bestellten Getränke an den Tischen. Zuletzt kommt er mit dem Glas Weisswein auf sie zu.
Ihr Herz pocht, je näher er kommt. Das ist unmöglich, denkt sie.
Zuvorkommend und lächelnd reicht ihr der Kellner das Glas, zusammen mit einer Papierserviette. "Zum Wohlsein", lässt er dabei verlauten und will sich dann gleich wieder entfernen.
"Äh… Entschuldigung", ruft Theresa ihm mit dem Weinglas in der Hand unüberlegt nach, woraufhin er stehen bleibt und sich ihr nochmals zuwendet.
"Ja, bitte? Etwas nicht in Ordnung?"
Sie weiss nicht, was sie sagen soll oder will. Sie ist überrascht, nein - sie ist verstört. Sie bringt deshalb schliesslich nur ein "Äh, nein… alles in Ordnung. Danke", heraus.
"Gerne", gibt er weiterhin freundlich zur Antwort und entfernt sich daraufhin wieder.
Theresa spürt, wie ihre Hände zittern. Und das liegt nicht daran, dass sich das Glas mit dem kühlen Weisswein in ihrer Hand kalt anfühlt…
Benedict Studer stellt seinen Mazda nach Einbruch der Dunkelheit auf einem öffentlichen Parkplatz an einer Quartierstrasse so ab, dass er nicht nur den Personaleingang und den Zugang zur Anlieferung mit seinen beiden Rampen, sondern auch die Fahrzeuge der Angestellten im Blickfeld hat. Seine Kamera, eine Nikon D5600, ist mit einem leistungsstarken Teleobjektiv ausgestattet. 500 Millimeter Brennweite und mit einer ausserordentlich guten Lichtverstärkung. Aber die Lichtverhältnisse im grösseren Umkreis sind ohnehin nicht schlecht, da dieser durch den in unmittelbarer Nähe befindlichen Bahnübergang gut ausgeleuchtet ist. Die kombinierte Kameraausrüstung liegt griffbereit auf dem beigefarbenen Kunstlederpolster des Beifahrersitzes. Geduldig beobachtet er das Kommen und Gehen hinter dem Supermarkt.
Studer ist 56 Jahre alt, Privatdetektiv und verfügt über alle Zeit der Welt. Er ist einmal verheiratet gewesen. Die kinderlose Ehe wurde aber nach acht Jahren wieder geschieden. Einer der Gründe dafür war, dass er mit seinem Job bei der Kantonspolizei Thurgau je länger je mehr kaum mehr Zeit für seine Frau gefunden hatte. Viele Abkommandierungen, viel Überzeit und viele überraschende dienstliche Aufgebote zehrten am Verständnis seiner Frau gegenüber seinen beruflichen Tätigkeiten. Im Gegensatz zu ihm. Denn sie selbst arbeitete als gelernte Pflegefachfrau in der Reha-Klinik in Zihlschlacht. Auch ihre Arbeitsstunden, die ebenfalls manchmal aus Nachtdienst bestanden, waren ebenfalls nicht förderlich für eine langfristige, harmonische Ehe. Aber niemand von ihnen wollte oder konnte kürzer treten. Letztendlich lieferte aber nicht die enorme berufliche Belastung den Grund zur Scheidung.
Karin, wie seine Ex-Frau heisst, fühlte sich mehr und mehr zu einem in der Klinik tätigen Arzt hingezogen. Es entstand ein Verhältnis, das Benedict Studer eines Tages zu Ohren gekommen ist. Zunächst überlegte er sich, ob er Karin nicht einfach zur Rede stellen sollte. Nach reiflicher Überlegung jedoch, sah er davon ab. Was wäre, wenn sie alles in Abrede stellen würde? Nein, das war ihm zu unsicher. Also machte er sich seine beruflichen Möglichkeiten zunutze, um seine untreue Frau und den Arzt in flagranti zu erwischen. Was ihm nach zwei Monaten intensiver Überwachung auch gelang. Überwachungen, teilweise auch während der Arbeitszeit. Er überraschte die beiden in der Wohnung seines Kontrahenten, wobei es zu einer tätlichen Auseinandersetzung kam, was dem Arzt eine gebrochene Nase und eine gequetschte Rippe einbrachte. Dann überrollten den Polizisten die Ereignisse. Der Arzt erstattete Anzeige wegen Körperverletzung und es kam im Verlaufe der internen Untersuchungen heraus, wonach er, Studer, massiv gegen dienstinterne Vorschriften gehandelt hatte. Er wurde freigestellt und die Kündigung liess nicht lange auf sich warten.
Sein Leben ist dann ein wenig aus dem Ruder gelaufen und er ersäufte seinen Kummer zunächst im Alkohol. Er verdankte es aber einem seiner Freunde, die er damals doch noch hatte, dass er nicht total abstürzte. Klaus Rüeger war sehr darum bemüht, dass sein Freund seinen Weg ins normale Leben wieder fand. Eine Aus- und Weiterbildung zum Privatdetektiv war dann irgendwann Studers Ziel. Er hatte ja schliesslich während seiner polizeilichen Laufbahn genügend Sporen abverdient, um sich in dieser Sparte beweisen zu können.
Nun also ist er ein weiteres Mal mit einer Beschattung beschäftigt. Bei seinem Auftraggeber handelt es sich um ein Detailhandel- und Grosshandelsunternehmen, das einen Mitarbeiter verdächtigt, hin und wieder Waren aus dem Lager zu entwenden. Ein langjähriger Mitarbeiter, wie ihm sein Auftraggeber vertraulich mitgeteilt hat, weshalb die Angelegenheit als sehr delikat eingestuft wird. Eine Schuld des Verdächtigen konnte niemals nachgewiesen werden, da in seinem Arbeitsbereich keinerlei Kameras oder andere Überwachungsgeräte vorhanden sind. Und da die Zielperson meistens auch nur zu später Stunde und mehr oder weniger alleine arbeitet, ist die Kontrolle löchrig wie ein Schweizer Käse.
Studer hält sich nun bereits das dritte Mal an seinem Beobachtungsposten auf. Er ist, was seine Bekleidung betrifft, warm eingepackt. Er trägt eine Art Winterstiefel, eine graue Manchesterhose und eine qualitativ sehr gute, dunkelblaue Daunenjacke. Denn im Freien beträgt die Temperatur im Moment etwa zwei Grad unter null. Ausserdem hat er eine olivgrüne Wollmütze über seinen Kopf gezogen. Es hat an diesem Tag noch leicht geschneit, aber nun zeigt sich der Himmel wolkenlos, weshalb sich die Temperatur merklich abgesenkt hat. Obwohl sein Auto, ein Mazda, über eine Standheizung verfügt, verzichtet er auf deren Verwendung. Zwar verursacht die Heizung in Betrieb keine grossen Geräusche, dennoch ist er aus Erfahrung vorsichtig. Je nachdem, wo er sich aufhält, kann selbst ein leise arbeitendes Aggregat einer vorbeigehenden Person auffallen und ihre Aufmerksamkeit auf ihn ziehen. Vor allem in der Nacht. Denn eine Person, die sich über längere Zeit sozusagen regungslos in einem unbekannten Fahrzeug aufhält, kann in einem Quartier schnell einmal verdächtig auffallen. Er würde dann vielleicht sogar selbst einen Augenblick lang der Beobachtung ausgesetzt sein. Unbequemen Fragen einer solchen Person, die möglicherweise in der Nachbarschaft wohnt, die vielleicht über Eigenschaften von Forschheit und grossem Selbstvertrauen verfügt und deshalb vielleicht an das Fenster klopft, um sich nach seinem Aufenthalt an dieser Stelle zu erkundigen, will er vermeiden. Auch die Möglichkeit ist in Betracht zu ziehen, dass sich eine solche Person bei der Polizei meldet und ihre verdächtige Beobachtung an sie weiterleitet.
Polizeifahrzeuge mit ihren Signalfarben kann er bei seinen Observationen überhaupt nicht gebrauchen. Auch wenn ihn die Polizisten nur kurz einer Routineüberprüfung unterziehen würden. Er tut ja schliesslich nichts Unrechtes und kann sich auch als Privatdetektiv ausweisen. Er ist deshalb auch nicht dazu verpflichtet, den Grund seiner Anwesenheit den Gesetzeshütern auf die Nase zu binden. Aber es besteht immer die Gefahr, dass er als Beschatter durch solche polizeilichen Aktionen auffliegen kann und seinen Standort zudem noch wechseln muss. So etwas wäre wiederum ärgerlich und würde seinen eigenen Plan durcheinander bringen.
Selbstverständlich hat er sich über die Zielperson, soweit das möglich war, noch weiter informiert, nachdem er den Auftrag erhalten hat. Ein verheirateter Familienvater im Alter von achtunddreissig Jahren. Dieser wohnt ganz in der Nähe seines Arbeitsortes und hat, gemäss den Auskünften seines Arbeitgebers, vermutlich keine Schulden. Umso mehr sind Zweifel vorhanden, ob er sich tatsächlich durch Diebstähle in seinem Arbeitsumfeld bereichert. Dennoch fehlen immer mal wieder irgendwelche Sachen im Lager.
Studer hat schon viele solcher Situationen erlebt und es erstaunt ihn eigentlich nichts mehr. Auch schon vorher, als er noch bei der Polizei tätig war, konnte er manchmal nur den Kopf darüber schütteln, dass sich Leute irgendwelche krummen Dinger leisteten, obwohl es ihnen eigentlich gut ging. Ja natürlich. Manchmal hing es auch mit einer Krankheit zusammen, die man Kleptomanie nennt. Aber vielmals ist die Versuchung für Leute in einer gewissen Position auf die Dauer doch zu gross, sich mit der Aneignung fremder Waren zu bereichern. Und hat man damit einmal angefangen, steht die Wiederholung unmittelbar bevor, insbesondere dann, wenn man noch nie erwischt worden ist.
Studer kennt die Arbeitszeiten der Zielperson, da sie ihm durch seinen Auftraggeber mitgeteilt worden ist. Er weiss deshalb, dass er um 18 Uhr zur Arbeit kommt und die Arbeit um etwa 23 Uhr beenden wird. Also muss er schlimmstenfalls wieder etwa fünf Stunden ausharren. Der Grossmarkt schliesst seine Türen für das Publikum um 20 Uhr und bis zu diesem Zeitpunkt befindet sich natürlich noch sehr viel Personal im Gebäude. Dieses verlässt jedoch bald einmal nach und nach das Haus.
Studer hat sich insofern Überlegungen angestellt, wonach der Verdächtige wohl kaum irgendwelche Diebstähle begehen würde, solange er damit rechnen muss, durch einen anderen Angestellten bei seinen Handlungen überrascht zu werden. Mit Sicherheit wird er abwarten, bis er nur noch alleine im Lager beschäftigt ist. An den bisherigen zwei Abenden, die der Privatdetektiv am selben Ort verbracht hatte, konnte er keinerlei Widerrechtlichkeiten der Zielperson erkennen. Sie verliess jeweils gegen 23 Uhr das Gebäude durch den Personaleingang, schloss diesen ab und stieg dann in sein Auto. Niemals hatte er etwas bei sich, wobei man annehmen könnte, es handle sich nicht um sein Eigentum. Zumindest konnte Studer nichts Auffälliges beobachten.
Er hat seinen Sitz zurückgeschoben, damit er seine Beine besser ausstrecken kann. Dann wartet er einmal mehr und harrt der Dinge, die da vielleicht kommen werden…
Theresa Lindt logiert während ihres gelegentlichen Aufenthaltes in Arosa wie immer im Hotel Kulm. Wie sie in einer hoteleigenen Broschüre einmal nachlesen konnte, erwarb ein Zuckerbäcker namens Hold noch vor 1882 das Gebäude, welches sich damals neben seinem Bauernhaus befand. Sein Sohn Thomas verband dann einmal diese zwei Häuser und erbaute ein Drittes. Daraus entstand ein Hotel mit 30 Zimmern und 48 Betten und er nannte es fortan Kurhaus. Elektrisches Licht, Telefon sowie Abholdienst an der Postkutschen-Endstation waren bereits vorhanden. Im Jahre 1894, nach dem Tod von Thomas Hold, wechselte der Besitzer, der es auf den Namen Kulm taufte.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wechselten die Besitzer weiterhin laufend. Während des Ausbruchs des ersten Weltkrieges wurde die Chur-Arosa-Bahn eingeweiht und es erfolgte ein weiterer Anbau beim Kulm. Mehr und mehr wandelte sich das Hotel aber auch zum Erholungs- und Wellnessort. Zunächst war in einem der Untergeschosse die sogenannte Beauty-Farm mit integriertem Fitnessraum eingerichtet worden und aufgrund dieses Angebotes besuchte vornehmlich zahlungskräftige Kundschaft das Gästehaus. Es galt lange Zeit als erstes Hotel am Platz, erhielt aber im Laufe der Zeit viel Konkurrenz durch den Bau anderer Hotels und Herbergen. Denn Arosa hatte sich nicht nur zu einem aussergewöhnlichen Wintersportort entwickelt, sondern verfügte auch im Sommer für Freizeitaktivitäten über die nötige Infrastruktur. Heute umfasst das Hotel Kulm über 119 Zimmer mit 207 Betten und wird als Fünfsterne-Hotel geführt.
Theresa kommt seit etwa sechs Jahren schon mehr oder weniger regelmässig nach Arosa. Hin und wieder im Sommer, zumeist jedoch im Winter. Anfänglich fuhr sie noch Ski. Sie entwickelte sich aber nie zu einer fanatischen Skifahrerin und nachdem sie sich einmal bei einem Sturz sogar den Unterschenkel gebrochen hatte, bewegte sie sich niemals mehr mit langen Latten an den Schuhen auf dem Schnee.
Nach ihrer Rückkehr von der Hörnli-Hütte begab sie sich sofort auf ihr Zimmer in der vierten Etage, welches sich Eck-Suite nennt und pro Nacht über tausend Franken kostet. Von diesem Zimmer aus geniesst sie bei gutem Wetter eine traumhafte Aussicht nicht nur zum Hörnli, sondern auch zum Weisshorn, dessen Gipfel sich auf 2653 Metern befindet. Sie liebt die Berge, wenn sie so verschneit sind, dass man annehmen könnte, jemand habe alles mit einer dicken Schicht weissem Puderzucker überdeckt. Umso mehr, wenn sich der Himmel dazu noch wolkenlos und in einem leuchtenden Blau zeigt.
Obwohl sie zu Hause selten ein Bad nimmt, weil sie die Dusche bevorzugt, geniesst sie es an diesem späten Nachmittag dennoch, ihren etwas unterkühlten Körper in der mit heissem Wasser gefüllten Badewanne aufzuwärmen. Entspannt rekelt sie sich im Schaumbad, das nach Lavendel duftet und sie horcht hin und wieder nach den Geräuschen vom Treppenhaus her, die manchmal doch noch durch die relativ massive Zimmertüre an ihr Ohr gelangen. Manchmal sind es dumpfe Stimmen von heimkehrenden Gästen oder vielleicht auch einmal ein kurzes Kindergeschrei. Aber es ist nicht als laut zu empfinden, denn sie vernimmt auch deutlich das Hineinklatschen von Wassertropfen, die in langsamer Folge regelmässig aus dem Wasserhahn in die Badewanne fallen.
Während sie sich bedächtig mit einem Schwamm über ihre wohlgeformten Brüste und um den Hals fährt und somit auch immer wieder warmes Wasser über ihren etwas im Trockenen liegenden Oberkörper fliessen lässt, versinkt sie immer mehr in ihren Gedanken. Ihr Blick ist dabei auf ihre rosa gefärbten Zehennägel gerichtet, die ebenfalls ein wenig aus dem Wasser ragen. Sie erinnert sich nochmals daran, was sie heute bei ihrem Ausflug zur Hörnli-Hütte erlebt hat. Bruno ist der Name des Mannes, der ihr ein weiteres Mal ein Glas Weisswein auf die Sonnenterrasse gebracht hat. Dieser Name stand auf einem kleinen, glänzend polierten Namenstäfelchen, das mit einer Anstecknadel an seinem Hemd befestigt war. Den Nachnamen weiss sie jedoch nicht. Er bediente sie noch zweimal, weil sie so oft eine weitere Bestellung aufgegeben hatte. Jedes Mal unterhielt sie sich mit Bruno kurz, denn sie wollte unbedingt mehr über den Mann erfahren. Er war jedoch immer etwas kurz angebunden, denn zunehmend waren mehr Gäste zu bedienen. Sie war fasziniert von dem Mann. Und dies hatte in erster Linie mit seinem Aussehen zu tun. Erst als sie die Getränke bezahlte, achtete sie darauf, ob der Kellner einen Ring trägt, der allenfalls darauf hingewiesen hätte, wonach er vielleicht verheiratet sein könnte. Doch er trug keinen Schmuck an den Händen. Sie wollte unbedingt noch mehr über den Mann in Erfahrung bringen, was jedoch an diesem Ort nicht möglich gewesen wäre. Aus diesem Grund überlegte sie sich, wie es zu einem weiteren Gespräch zwischen ihnen kommen könnte. Immerhin hatte sie noch herausgefunden, dass er kein Mitglied der Wirtefamilie ist und deshalb auch nicht in der Hörnli-Hütte übernachtete, sondern in Arosa selbst. Wie er erwähnte, benützt er jeweils die letzte Talfahrt der Gondelbahn Hörnli-Express ins Dorf hinunter. Geistesgegenwärtig hat sie ihn dann einfach zu einem Drink an der Hotelbar vom Kulm eingeladen. An diesem Abend. Sofern er Zeit und Lust dazu hätte…
Magnus Dickenmann fährt, in seinem elektrisch betriebenen Rollstuhl Forest3 sitzend, von seinem Arbeitszimmer über einen langen und breiten Korridor in Richtung Esszimmer. Der Rollstuhl, der mit einem 350W-Motor ausgestattet ist, macht absolut keinen Lärm. Nur die Reifen verursachen auf den überall im Haus vorhandenen Natursteinen aus poliertem Marmor hin und wieder leichte Quietschgeräusche. Insbesondere dann, wenn das Gefährt auf der Stelle gewendet oder an einer engen Stelle kurven muss. Der Immobilienhändler, der seine Haare niemals länger als drei Millimeter trägt, weil er sie mit einer handlichen kleinen Maschine selbst schneiden kann, hat das Haus selbst projektiert und er bestand damals darauf, diesen auf Hochglanz polierten Marmor als Bodenbelag zu verwenden. Und zwar in sämtlichen Räumen. War dies nun im Korridor, im Wohnzimmer, Esszimmer, Bad und so weiter. Selbst im Keller wurde dieser nicht gerade billige Belag eingebaut. Aus dem einfachen Grund, dass er mit seinem Rollstuhl überall ungehindert verkehren kann. Nicht jedermanns Geschmack, dessen ist er sich bewusst. Aber in allen Belangen praktisch, wie auch die Reinigung und Pflege. Seit er im Rollstuhl sitzt, wurde er ohnehin mehr und mehr pedantischer, was die Sauberkeit und die damit verbundene Hygiene betrifft. Er ist in seinen Handlungen in vielen Belangen massiv eingeschränkt, dass er Vorsorge gegen etwaige Virenträger oder sonstige Schädlinge hält, damit er nicht unnötigerweise noch weiteren schmerzlichen Erkrankungen ausgesetzt wird.
Weiterhin geräuschlos gelangt er in das Esszimmer, von wo ihm von den Anhöhen oberhalb Güttingen ein wunderbarer Ausblick über den Bodensee beschert wird. Zwar ist die Dunkelheit bereits eingetreten, doch faszinieren ihn immer wieder die vielen teils starren, teils blinkenden Lichter in den verschiedenen Farben an den gegenüberliegenden Ufergestaden des Bodensees.
Das Esszimmer ist im Verhältnis des grossen und komfortablen Hauses eher klein gehalten. Aber da er sowieso niemals Besuch empfängt, genügt es seinen Anforderungen bei Weitem. Aus dem gleichen Grund befinden sich am gläsernen Esszimmertisch auch keine Stühle. Diese sind in einem Abstellraum untergebracht. Er fährt mit seinem Rollstuhl an den Tisch, wo bereits ein Gedeck mit einem gefüllten Glas Wasser auf ihn wartet.
Die Küche befindet sich unmittelbar neben dem Esszimmer und er hört, wie sich Margarethe Eberle, seine Haushälterin, dort zu schaffen macht. Er ist es sich gewohnt, wenigstens abends eine warme Mahlzeit zu sich zu nehmen. Frühstück kam für ihn schon seit langer Zeit nicht mehr in Frage. Nur ein Kaffee, den er mit der in der Küche stehenden Maschine jeweils selbst zubereiten kann. Zu Mittag verspürt er auch selten Hunger. Im schlimmsten Fall kann er sich aber selbst bedienen, denn Margarethe sorgt immer dafür, dass sich im Kühlschrank jederzeit entsprechende Lebensmittel befinden, die ihm zusagen und den leichten Hunger befriedigen. Vor allem leichte Kost und Obst.
Die zeitliche Abstimmung passt, denn gleich darauf kommt die Haushälterin herein und serviert ihrem Arbeitgeber das Abendessen auf einem angerichteten Teller.
Margarethe Eberle ist 62 Jahre alt, verheiratet und wohnt etwa zehn Autofahrminuten von Dickenmanns Villa entfernt. Sie ist eine stattliche Erscheinung, denn ihre Körpergrösse beträgt etwa einen Meter fünfundachtzig und hat eine sehr kräftige Statur. Nicht nur für einen Mann, der im Rollstuhl sitzt, ist sie sozusagen eine Riesin. Aber sie ist eine herzensgute Person und Dickenmann hatte eine gute Hand, als er sie vor elf Jahren als Haushälterin anstellte. Zu dem Zeitpunkt, als er in das neue Haus eingezogen war. Ausserdem kocht sie, nebst ihren Haushaltspflichten, regelmässig für ihn das Abendessen. Ausser über das Wochenende. Da sorgt der Multimillionär selbst für sich.
Sie ist gerne im Hause Dickenmann beschäftigt und sie kocht auch gern. Es macht ihr nichts aus, für ihren Arbeitgeber zu kochen und nachher zu Hause auch noch für sich selbst und ihren Mann eine Mahlzeit zuzubereiten.
Das Essen auf dem Teller ist nicht nur warm, sondern heiss. Schwaden heisser und feuchter Luft wirbeln über dem Teller hoch und verbreiteten einen herrlichen Duft.
Dickenmann beugt sich augenblicklich ein wenig nach vorne und atmet den Duft genussvoll durch die Nase ein.
"Mmh, wie das duftet, Margarethe", ist sein erstes Resultat bei der Beurteilung seiner Mahlzeit.
Margarethe, die neben dem Paraplegiker stehen geblieben ist, überrascht die Reaktion ihres Arbeitgebers ein wenig. Offenbar ist er nicht schlecht gelaunt, denkt sie sich sofort. Denn solche Komplimente erhält sie von ihm nicht oft. Der Millionär ist vielmals vergrämt, missmutig und wortkarg. Dies resultiert aber vermutlich in erster Linie daher, dass er schon seit vielen Jahren an den Rollstuhl gefesselt ist, schlussfolgert Margarethe. Auch sie hat sich schon Überlegungen dazu angestellt, was ihr vermögender Arbeitgeber als gesunder, aufrecht gehender Mann wohl alles tun und erleben könnte. Sie stellte sich auch schon vor, er wäre verheiratet und hätte ein paar Kinder. Er würde möglicherweise immer viel auf Reisen sein und viel erleben. Aber die Realität sieht nun mal anders aus.
"Rehpfeffer mit Champignons, ein wenig Eierspätzle und ein wenig Rotkraut. Ich weiss, dass Sie das mögen", erklärt sie lächelnd.
Tatsächlich liebt Dickenmann Wild, obwohl er kein ausgesprochener Feinschmecker ist. Bei solchen Mahlzeiten erinnert er sich immer wieder an seinen Vater, der schon früh auf tragische Weise aus dem Leben gerissen worden ist. Er war passionierter Jäger und sehr mit der Natur verbunden. Er hatte ihn vielmals mit auf die Jagd genommen und ihm ausführlich erklärt, wie sich die Wildtiere verhalten. Natürlich hatte sich der kleine Magnus einmal danach erkundigt, wieso man Jagd auf die schönen Rehe und Hirsche macht und sie umbringt. Weisst du, mein Sohn, sagte sein Vater. Rehe und Hirsche, wie auch Hasen und Füchse, sind Wildtiere, die im Wald leben und sich dort auch ernähren. Aber manchmal nehmen die Tiere überhand und die Wälder sind zu klein. Rehe zum Beispiel sind echte Feinschmecker. Sie lieben die jungen Triebe kleiner Bäumchen. Wenn sie diese abknabbern, kann der Baum nicht mehr wachsen und er verkümmert. Einem Wald, indem nicht zu viel Wild lebt, macht das nichts aus. Dort können immer noch genug Triebe zu hohen Bäumen werden. Deshalb sorgen wir Menschen dafür, dass es einerseits genügend Rehe und Hirsche gibt und dass andererseits aber auch der Wald weiterleben kann.
Magnus Dickenmann kann sich noch genau an die Worte seines Vaters erinnern. Dennoch gefiel ihm das Töten der im Wald lebenden Tiere nie, weshalb er sich später, als er selbst hätte zum Jäger werden können, nicht mehr dafür interessierte. In diesem Alter war er zu einem richtigen Stubenhocker geworden und befasste sich nur noch mit dem Computer. Was war die Folge? Er bildete sich nach der Schule im Bereich der IT-Branche aus und erlangte an der Technischen Hochschule letztendlich das Diplom. Er stieg daraufhin in das Geschäft seines Vaters ein, der damals von Romanshorn aus schon im grossen Stil mit Immobilien handelte. Wenig später verunfallten seine Eltern mit dem Auto, wobei sein Vater augenblicklich den Tod fand. Seine Mutter war auch schwer verletzt worden und erlag vier Tage später ebenfalls ihren Verletzungen.
Magnus, als einziger direkter Nachkomme, erbte das gesamte Vermögen seiner Eltern. Fortan kümmerte er sich weiter um das Geschäft, das er mit seinem erworbenen Wissen in der IT-Branche überaus erfolgreich führte. Nebst den vielen Millionen Franken, die er geerbt hatte, gelang es ihm durch geschicktes Geschäftsgebaren, sein Vermögen innert kürzester Zeit zu vervielfachen. Er hielt sich auch im Jetset auf und war vielmals von attraktiven Frauen umgarnt worden. Für ihn spielte es dabei keine grosse Rolle, dass diese Damen möglicherweise nur hinter seinem Geld her waren. Er hatte damals viele Freunde. Das heisst, angebliche Freunde.
Dann aber, elf Tage nach seinem 30. Geburtstag, den er in St. Moritz noch ausgiebig gefeiert hatte, schlug das Schicksal nochmals erbarmungslos zu. Er unternahm mit seiner damaligen Freundin Angela, mit der eine gemeinsame Zukunft möglicherweise sogar noch in Betracht gezogen werden konnte, einen Reitausflug. Dann, sie befanden sich bereits auf dem Ritt nach Hause, scheute sein Pferd vor etwas und bäumte sich plötzlich auf. Er war darauf nicht vorbereitet gewesen und rutschte vom Pferd. Er fiel unglücklicherweise mit dem Rücken auf eine im Boden hervorgetretene dicke Baumwurzel.
Weshalb das Pferd scheute, ist ihm bis heute noch nicht klar. Überhaupt kann er sich nicht mehr an alle Details dieses Tages erinnern. Er kam erst im Krankenhaus wieder zur Besinnung, wo ihm die Ärzte schliesslich erklärten, dass seine Wirbelsäule grossen Schaden davongetragen habe und er wohl niemals mehr würde gehen können. Dies bewahrheitete sich leider. Er war innert Sekunden von einem sehr sportlichen Mann zum Querschnittsgelähmten geworden. Er verbrachte anschliessend längere Zeit im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil und musste lernen, mit seiner Behinderung umzugehen. Was ihn zudem noch schmerzte, war die Erkenntnis, dass die Liebe seiner Freundin wohl doch nicht so gross war. Denn sie löste sich relativ schnell von ihm, brach die Beziehung ab und ging eine Liaison mit einem anderen, erfolgreichen Mann ein. Auch seine angeblichen Freunde liessen je länger je mehr nichts mehr von sich hören. Er geriet zusehends in Vergessenheit. Aus diesem Grund hatte er sich irgendwann geschworen, niemals mehr eine Beziehung einzugehen und er wollte auch sonst niemanden mehr sehen. Er zog sich vergrämt zurück und widmete sich vollends dem Geschäft.
Heute ist er auf internationaler Ebene überaus erfolgreich, wobei er seine Geschäfte allein nur über das Internet abwickelt. Aber Freunde? Nein, Freunde im üblichen Sinn hat er keine.
"Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?", erkundigt sich Margarethe freundlich. "Sonst würde ich dann…"
Dickenmann legt die Gabel zur Seite und hebt dann eine Hand hoch. "Nein, Margarethe. Sie können Feierabend machen. Danke."
Die Haushälterin wendet sich daraufhin ab und verlässt den Raum, ohne sich zu verabschieden. Es ist keine Unhöflichkeit, denn ihr Arbeitgeber hält keine grossen Stücke auf solche Floskeln. Das Geschirr wird sie wie üblich am nächsten Morgen wieder abräumen und in die Spülmaschine stecken…
Nach ihrem erholsamen Bad hat sich Theresa auf den Abend vorbereitet. Sie war noch nie eine Freundin von Make-up gewesen, was sie übrigens auch gar nicht nötig hat. Dennoch verzichtet sie heute nicht auf ein wenig Rouge für die Wangen und ihre Wimpern hebt sie mit geeigneter Tusche etwas hervor. Auch die Lippen erhalten durch einen dezent farbigen Lippenstift einen dezenten Anstrich. Ihre mittellangen, dunkelbraunen Haare hat sie geföhnt und in eine etwas frech anmutende Form gebracht. Als sie sich schliesslich nackt vor dem Spiegel betrachtet, ist sie mit sich zufrieden. Sie dreht sich zu beiden Seiten halbwegs um und beurteilt dabei auch ihre Figur, die mit ihren vierzig Jahren offensichtlich noch mit vielen fünfundzwanzig- bis dreissigjährigen Mädels konkurrieren kann. Sie hebt auch mit beiden Händen einmal noch ihre Brüste an, die nicht zu gross und nicht zu klein sind. Alles ist soweit tadellos, weshalb sie sich dann abwendet und ankleidet.
Wenige Minuten vor 18 Uhr verlässt sie die Eck-Suite und begibt sich in das sogenannte Stüva-Kulm. Eine von mehreren Essmöglichkeiten im Hotel, wo man sich kulinarisch verwöhnen lassen kann. Einen Tisch hatte sie bereits morgens an der Rezeption für sich allein reserviert, denn das Restaurant ist erfahrungsgemäss immer gut besucht und deshalb schnell einmal ausgebucht…
In Arosa ging die Sonne an diesem Samstag um etwa 17.30 Uhr unter, womit die Tageslänge etwa zehn Stunden gedauert hat. Der Himmel ist weiterhin klar und die Wetteraussichten prognostizieren für die Nacht keine Veränderungen. Aus diesem Grund würde es im Freien vermutlich beissend kalt werden, bevor der neue Tag mit der aufgehenden Sonne wieder für etwas Wärme sorgen wird.
In dem Bündner Kurort, wie in vielen anderen auch, war an den Vortagen so viel Schnee gefallen, dass die Strassen ebenfalls mit der weissen Pracht bedeckt sind. Die Räumfahrzeuge waren Tage zuvor noch immens damit beschäftigt gewesen, die Schneemassen nicht nur einfach zur Seite zu schieben, sondern meistens auch noch abzutransportieren. Die Gemeindebehörden wollten auf diese Weise vorbereitet sein, falls plötzlich wieder eine grosse Menge an Schneeflocken vom Himmel fallen sollte. Den Einheimischen im Dorf sind solche Situationen natürlich vertraut und sie wissen, mit ihnen umzugehen. Die meisten von ihnen fahren deshalb auch zweckmässige Autos, die über einen Vierradantrieb verfügen. Oder sie haben schon früh Schneeketten an den Rädern montiert, womit ihnen die Durchfahrt auf allen Strassen in Arosa, aber auch hinunter in Richtung Chur mehr oder weniger garantiert wird. Anders verhält es sich mit den Wintertouristen, an deren Autos zwar Winterreifen montiert sind, aber dennoch bereits bei der Anfahrt nach Arosa Schwierigkeiten mit den Strassenverhältnissen bekunden. Nicht selten muss sich deshalb der Abschleppdienst in Richtung Langwies aufmachen, um liegengebliebene Fahrzeuge auf der Schanfiggerstrasse abzuschleppen. Nach Mitternacht sollte dies jedoch nicht mehr der Fall sein. Denn ab diesem Zeitpunkt bis morgens um sechs Uhr gilt in Arosa ein generelles Fahrverbot. Ausnahmen bestehen nur für den Linienbus, die öffentliche Dienste und Taxis. Diese Regelung wird von den Einheimischen und Gästen sehr begrüsst, weil sie erheblich zur Nachtruhe beiträgt.
Weil die Strassen und Trottoirs eine relativ dicke Schneedecke aufweisen, sind deren Grenzen vielmals nicht auszumachen. Deshalb sind insbesondere nachts viele Fussgänger auch auf der Strasse unterwegs. So muss man eher auf irgendwelche Schlitten- oder Skifahrer achten, die auf der abwärtsführenden Hauptstrasse bis hinunter zum Postplatz fahren, als auf herumkurvende Autobusse oder Taxis.
Arosa bietet aber auch noch eine besondere Dienstleistung an. Denn ganzjährig kann der öffentliche Bus kostenlos benützt werden. Dass diese Fahrzeuge in der Hochsaison tagsüber von sehr vielen Touristen benützt werden, liegt auf der Hand. Haben sie dann alle noch ein Paar Skis oder einen Schlitten dabei, wird es schnell einmal eng im überfüllten Bus.
Auch Bruno Lenhart benützt das blaue Gefährt, worauf mehrfach verschiedenfarbige Enziane und die weissen Schriftzüge des Dorfnamens angebracht sind. Was für manche Touristen eine Wohltat bedeutet, am Abend noch längere Spaziergänge zu machen, ist für einen Kellner eines gut besuchten Ausflugsortes eher mühsam. Denn tagsüber leisten sie in ihrem Beruf wohl tausende Schritte, die schnell einmal einer Strecke von mehr als zehn Kilometern entsprechen.
Bruno kennt mittlerweile fast jeden Buschauffeur mit Namen und begrüsst nun auch Sepp Nussbaumer beim Einsteigen bei der Haltestelle Alteinplatz, als er in das lange, nur noch gering besetzte Fahrzeug einsteigt. Die Linie Kulm/Gada endet beim grossen Parkplatz zur Gondelbahn Hörnli-Express, wo der Bus wieder wendet. Aber auch beim Kulm befindet sich eine Haltestelle.
Nachdem Theresa mutig und unkonventionell vorgeschlagen hatte, dass sie sich abends noch zu einem Drink treffen könnten, war er immer wieder mit rätselhaften Gedanken beschäftigt gewesen. So etwas ist ihm bis jetzt noch nie passiert und er musste immer wieder leicht den Kopf schütteln. Natürlich hatte er der attraktiven Frau zugesagt, sie aber bezüglich des Zeitpunktes für das Treffen ein wenig vertrösten müssen. Denn er musste an diesem Samstag noch zwei kleinere Dinge erledigen, sobald er die Hörnli-Hütte verlassen und das Dorfzentrum mit der Bahn erreicht hatte.
Er will natürlich auch einen guten Eindruck hinterlassen, was sein Auftreten betrifft. So hat er sich dazu entschlossen, eine seiner besten dunklen Hosen und seine helle Wildlederjacke anzuziehen. Darunter trägt er ein helles, blaugestreiftes Hemd. Er verzichtete auf eine Krawatte, die ihm für eine solche Zusammenkunft doch zu konservativ erschien.
Er ist niemals verheiratet gewesen und lebt auch heute noch als Single. Darum muss er gegenüber niemandem Rechenschaft ablegen, was er treibt. Dies war vor etwa zwei Jahren noch anders gewesen, als er noch mit einer Frau liiert war. Sie hatten viel Spass miteinander gehabt, doch stellte es sich auf die Dauer heraus, dass diese Verbindung nicht die Richtige war. Er weiss natürlich, dass er keine ausgesprochene Schönheit darstellt und bei vielen Frauen in seinem Alter überhaupt keine Chancen mehr haben wird. Er verfügt über keinen Waschbrettbauch und ist auch nur im Gesicht etwas sonnengebräunt. Dennoch hält er sich relativ fit und auch seine Arbeit mit der vielen Lauferei verhindert, dass er zu viel Fett ansetzt. Aber dass sich nun eine Frau für ihn interessiert, die zudem noch sehr attraktiv ist, kann er kaum verstehen. Ausserdem dürfte sie vermögend sein, wenn sie sich einen Aufenthalt im Kulm leisten kann. Es ist ihm während seiner Bedienung des weiblichen Gastes auch nicht entgangen, dass sie einen offensichtlich teuren Brillantring am rechten Mittelfinger und eine ebenso vermutlich wertvolle Halskette trug. Aber wie er, trug auch sie keinen Ehering. Also, was soll das?, denkt er sich. Aber dann fällt ihm noch etwas ein. Gütiger Gott, ich kenne ja noch nicht mal ihren Namen!
Diese Gedanken begleiteten ihn einmal mehr, als er kurz nach 19.20 Uhr bei der Haltestelle Kulm den Bus verlässt und die wenigen Meter zum Hotel hinter sich bringt. Es ist relativ still, da sonst kein Verkehr mehr herrscht und er hört, wie der teilweise gefrorene Schnee unter seinen bequemen und warmen Schuhen knirscht. Der Treffpunkt mit der geheimnisvollen Dame aus dem Unterland soll in der sogenannten K-Lounge des Hotels stattfinden…
Studer verfügt über Sitzfleisch, wie man so schön sagt. Geduldig hält er sich in seinem Auto auf und beobachtet das Kommen und Gehen im Bereich des Personalparkplatzes. Die Sonne ist schon lange untergegangen. Das heisst, die Sonne hat man heute eigentlich gar nicht gesehen. Aber der Umstand, wonach es dunkel geworden ist, lässt logischerweise auf den erfolgten Sonnenuntergang schliessen.
Solche Überwachungen sind für ihn nicht fremd. Während seiner Tätigkeit bei der Kantonspolizei Thurgau hatte er an manchen Observationen teilgenommen. Nicht nur bei Tageslicht, sondern auch in der Nacht. Damals war er aber selten, so wie heute, auf sich allein gestellt. In der Regel waren noch weitere verdeckte Ermittler mit ihren zivilen Einsatzfahrzeugen an einer Aktion beteiligt und sie hielten untereinander über einen speziellen Funkkanal Kontakt. Meistens ging es darum, irgendwelche Drogendelinquenten zu überwachen, wenn entsprechende Verdachtsmomente vorlagen oder wenn bei irgendwelchen Gesprächen der Verdächtigen am Telefon, welches man mit gerichtlichem Beschluss abhörte, mögliche rechtswidrige Verhalten zu einem gewissen Zeitpunkt angekündigt wurden. Oder man beobachtete konspirative Wohnungen solange, bis die Einsatzkräfte mit ihren Eingreiftruppen soweit waren, in einem Überraschungsmoment vorzurücken und zuzuschlagen. Und so weiter.
Studer hat während seiner polizeilichen Laufbahn einiges erlebt. Glücklicherweise ist er niemals in eine höchst bedrohliche oder gar lebensgefährliche Situation geraten. Er war zwar während den Einsätzen immer bewaffnet gewesen, was als Dienstvorschrift galt, doch benötigte er seine SIG Sauer letztendlich nur anlässlich der regelmässig intern stattfindenden Schiesskurse bei der Polizei oder für die Eigensicherung bei irgendwelchen Einsätzen. Seine Waffe musste er dabei aber niemals abfeuern.
Nach seinem Weggang bei der Kapo musste er jedoch auch seine persönliche Waffe, eine SIG-Sauer abgeben. Er erlangte dann aber doch wieder einen Waffenerwerbs- und Tragschein, nachdem er sich als Privatdetektiv selbstständig gemacht hatte. Heute Abend jedoch liegt seine handliche Pistole mit Kaliber 7,65 in der Schublade seines Schreibtisches. Er hat sie schon lange nicht mehr in der Hand gehalten, da seine Aufträge dies in der Regel nicht erfordern.
Weiterhin seine Augen auf die Rückseite des Grossmarktes gerichtet, langt er zu seiner Thermosflasche und nimmt den darauf sitzenden Plastikbecher ab. Gleich darauf schenkt er sich einen heissen Kaffee ein, den er vor seinem Weggang zu Hause noch vorbereitet hat. Dann schaltet er das Radio ein und hört leise ein wenig Musik. Sein Einsatz vor Ort wird möglicherweise noch längere Zeit dauern…
Die sogenannte K-Lounge befindet sich in unmittelbarer Nähe des Einganges und zur Hotelbar. In diesem Raum befinden sich unzählige verschiedenfarbige Sessel und Sofas mit kleinen Tischchen aus Kiefernholz. Ein Kaminfeuer sorgt in diesem lichtgedämpften Raum in der Regel für einen entspannten Aufenthalt, wo man sein Glas kühlen Champagners oder seinen Whiskey konsumieren und sich dezent unterhalten kann.
Als die Privatsekretärin um etwa 19.15 Uhr in die Lounge gelangt, muss sie feststellen, dass sie gut besucht ist. Sie hatte schon bei der Vorbestellung ihres Zimmers die Auskunft erhalten, wonach das Hotel sozusagen ausgebucht sei. Tatsächlich, so angeblich die Auskunft an der Rezeption, war deshalb nur noch das Eckzimmer in der vierten Etage frei gewesen.
Sie erspäht jedoch glücklicherweise noch eine freie Sitzgelegenheit an einem der riesigen Fenster. Vermutlich sassen dort unmittelbar vorher noch Leute, denn es stehen noch leere Gläser auf dem Tischchen. Sofort steuert sie darauf zu und setzt sich in einen der vorhandenen schwarzen Ledersessel, von wo sie nicht nur durch die Fenster sehen kann, sondern auch einen grossen Teil des Eingangsbereiches im Auge hat.
Sie überprüft nochmals kurz ihre Bekleidung, die sie als einfach einstuft. Sie trägt einen dunklen Rollkragenpullover aus Baumwolle und eine hellfarbige Hose. Für diesen Abend hat sie auch bequeme, zur Hose passende Schuhe angezogen. Ihr kleines, graues Handtäschchen aus dem Hause Bogner, legt sie auf das Tischchen ab. Darin befinden sich nur wenige Utensilien. Ihr Handy, die Zimmerschlüssel und ihr Lippenstift. Seidig glänzend und rougefarbig. Ihre silbrige Visa-Kreditkarte befindet sich ebenfalls noch in einem Seitenfach des Täschchens. Letztere nur für einen etwaigen Notfall. Denn ihre Konsumation im Hotel wird ohnehin auf ihrer Zimmerrechnung aufgeführt und abgerechnet. Sie schlägt ihre schlanken Beine übereinander und lehnt sich zurück. Ihre kleine Armbanduhr zeigt mittlerweile etwa 10 Minuten vor 19.30 Uhr an…
Bruno Lenhart tritt durch die Drehtür des Hotels und klopft gleich darauf seine Schuhe auf der dicken Gummimatte am Boden ab, damit die an ihnen haftenden Schneerückstände abgeschüttelt werden. Da er von einer bissigen Kälte in das warme Foyer gelangt, öffnete er sofort seine Jacke und lockert den Schal, den er um den Hals trägt. Im Gehen sieht er sich in der Lounge um und blickt dabei nochmals auf seine Uhr am Handgelenk. Er will natürlich keinesfalls zu spät kommen. Aber er liegt gut in der Zeit. Ja, er ist sogar einige Minuten zu früh.
Wie er sofort feststellt, ist die Lounge gut besucht. Aber dennoch entdeckt er die attraktive Frau, welche er am Nachmittag noch auf der Sonnenterrasse der Hörnli-Hütte bedient und die ihn an diesem Abend zu einem Drink eingeladen hat. Sie sitzt in einem Sessel nahe der grossen Fenster. Auch sie hat ihn offenbar bemerkt und bereits eine Hand erhoben, um ihm zu signalisieren, wo sie sich befindet. Ihr Gebaren ist von einem Lächeln begleitet.
Auch in diesem Moment bleibt ihr wieder fast der Atem stehen, als sie den Mann durch die diversen Sitzmöglichkeiten schlängeln sieht. Wahnsinn, denkt sie sich in diesem Augenblick einmal mehr.
Als Bruno herantritt, bleibt sie sitzen, und reicht ihm weiterhin lächelnd die Hand. Wäre die Situation umgekehrt, so würde der Mann zur Begrüssung natürlich aufstehen.
Der Kellner der Hörnli-Hütte zieht seine Jacke aus und entledigt sich auch des Schals. Beide Kleidungsstücke legt er auf einen weiteren leeren Sessel, der sich in unmittelbarer Nähe befindet. Dann setzt er sich mit der Frage: "Darf ich?", seiner Bekanntschaft gegenüber hin. Sie nickt stumm. Gleich darauf kommt auch der Hotelkellner zu ihnen. Er hält ein kleines, silberfarbenes Tablett auf der flachen Hand und nimmt von dort eine kleine Schale mit gesalzenen Crackers herunter, die er auf das kleine Tischchen stellt. Gleich darauf räumt er natürlich auch die leeren Gläser ab.
"Was darf es sein?", erkundigt er sich, während er abwechselnd die beiden Gäste ansieht.
Lindt weist einladend mit ihrer Hand auf ihr Gegenüber. Lenhart muss eine Sekunde lang überlegen und entscheidet sich dann für einen Wodka Tonic.
"Ein Wodka Tonic", wiederholt der Kellner die Bestellung und fordert dann die Frau mit einem entsprechenden Blick auf, ihren Wunsch ebenfalls zu äussern.
"Ich denke, ich schliesse mich an. Ebenfalls ein Wodka Tonic. Aber bitte ohne Eis."
Auch diese Bestellung wird bestätigt, woraufhin die Bedienung sich wieder entfernen will. Er dreht sich dann aber nochmals um, denn sein weiblicher Gast ruft ihm noch zu. "Und die Rechnung bitte auf mein Zimmer. 403!"
Er nickt und macht sich auf den Weg zur Bar, wobei er gleichzeitig diverse leere Flaschen und Gläser von den Tischchen einsammelt.
"Ja, also…", beginnt Bruno mit der Konversation. "Äh… entschuldigen Sie bitte, aber ich weiss noch nicht einmal Ihren Namen."
Theresa beugt sich in ihrem Sessel leicht vor und reicht dem Mann nochmals ihre Hand. "Theresa. Theresa Lindt", erklärt sie lächelnd. "Aber sagen Sie einfach nur Theresa, bitte."
Bruno beugt sich ebenfalls etwas vor und nimmt ihre Hand. "Bruno Lenhart… selbstverständlich auch nur Bruno."
Auch er lacht sie an. Selbstverständlich hat er ebenfalls mitgekriegt, wonach sein Getränk auf ihre Rechnung geht. "Und… äh… danke für den Drink."
"Nichts zu danken", antwortet der weibliche Gast des Hauses. "Ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten."
Bruno kennt sich mit den Gepflogenheiten in Gegenwart von Frauen aus. Schliesslich ist er ja auch schon 52 Jahre alt und hat nicht nur privat, sondern auch beruflich schon seine Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht gesammelt.
"Ja, ich freue mich auch. Aber… ich muss ehrlich gestehen, dass ich über Ihre Einladung schon ein wenig überrascht bin. Ich weiss nicht, womit ich das verdient habe."
Theresa wartet mit einer Antwort zu, weil in diesem Augenblick der Kellner bereits wieder an ihren Tisch tritt und die bestellten Getränke serviert. "Zwei Wodka Tonic, einmal ohne Eis. Bitte schön. Und auf Zimmer 403?"
Theresa bedankt sich und nickt ihm bestätigend zu. Nachdem er sich wieder auf den Rückweg macht, hebt sie ihr Glas an und prostet ihrem Gegenüber zu. "Also, dann zum Wohl."
Die Gläser klirren beim Anstossen nicht, da es sich um dickes Kristallglas handelt. Nur ein dumpfes Geräusch ist zu hören. Daraufhin genehmigen sie sich den ersten Schluck.
"Ich wollte dich kennenlernen", antwortet Theresa auf Brunos Frage, während sie ihr Getränk wieder auf dem weissen Papieruntersetzer auf dem Tischchen abstellt.
"Aha", reagiert Bruno, zieht ein wenig überrascht die Augenbrauen hoch und kratzt sich mit dem Nagel seines Zeigefingers verlegen am Hals. Dann sieht er sich in der Lounge um, denn er weiss in diesem Augenblick nicht, was er sagen soll. Theresa führt aber weiter aus. "Also… du musst das richtig verstehen… hm… wie soll ich es sagen. Du scheinst eine interessante Person zu sein und ich… ja, also… ich kann mich auch nicht so recht ausdrücken."
"Ich fühle mich geschmeichelt", antwortet Bruno dann seinerseits und nimmt nochmals einen Schluck von seinem alkoholischen Getränk. Er kann sich immer noch nicht so richtig fassen, dass er von dieser attraktiven Frau möglicherweise begehrt wird. Denn etwas anderes kann er sich im Moment nicht vorstellen.
"Tja, also… es ist vielleicht wichtig, festzustellen, dass ich derzeit in keiner festen Beziehung lebe. Ich weiss nicht, ob…"
Theresa ist sich schon auf der Hörnli-Hütte klar gewesen, dass ihr Verhalten einen merkwürdigen Eindruck hinterlassen würde. Vielleicht eine wohlhabende, attraktive Frau, welche ein Abenteuer sucht. Aber ihr geht etwas anderes durch den Kopf, was sie in diesem Moment noch nicht darlegen will. Sie gibt sich deshalb gelassen.
"Ja, also. Um es ebenfalls gerade klar zu stellen. Ich bin ebenfalls Single. Aber… äh… es geht mir nicht darum, dass wir… na ja… du weisst schon was ich sagen will, oder?"
"Hm… ja, klar…" Weiter kommt er nicht, denn sein Gegenüber führt weiter aus. "Also… nicht dass ich vielleicht etwas dagegen hätte… also, vielleicht irgendwann einmal… oder so. Äh… nein. Eigentlich fände ich es schön, wenn wir uns einfach ein wenig unterhalten könnten."
"Unterhalten?" Bruno beugt sich wieder etwas vor und faltet dabei seine Hände, während er seine Ellbogen auf den Knien abstützt. "Und worüber?"
"Ich würde gerne vieles über dich wissen", antwortet sie und blickt ihm dabei mit stechendem Blick in die Augen.
Bruno lehnt sich wieder zurück und muss ein wenig lachen. Wieder sieht er sich in der Lounge um und vergewissert sich damit, ob nicht irgendwo eine versteckte Kamera lauert und jemand gleich einmal hervorstürmt und die Situation aufklärt. Aber niemand eilt herbei und alle anderen Gäste in der Lounge sind mit sich selbst beschäftigt.
"Über mich!? Ja, da gibt es nicht so viel zu erzählen, denke ich. Ich arbeite als Kellner in der Hörnli-Hütte, wie du weisst."
Theresa nippt nochmals an ihrem Glas. "Darf ich wissen, woher du sonst kommst? Wann und wo bist du geboren und was hast du so gemacht?"
Lenhart ist sichtlich irritiert. Er gibt daraufhin aber dennoch Antwort. Es folgt ein Frage- und Antwortspiel, wobei es immer wieder Theresa ist, die in seiner Vergangenheit herumstochert. Die Unterhaltung sollte noch länger dauern, wobei gleichzeitig der Alkoholkonsum nicht vernachlässigt wird…
Wenige Minuten vor 23 Uhr bemerkt der Detektiv, dass das Licht beim Nebeneingang der Anlieferung, also beim Personaleingang, eingeschaltet wird. Sekunden später öffnet sich die Türe und die Zielperson tritt hinaus. Sie ist mit einer dunklen Arbeitshose, einem karierten Hemd und einer ärmellosen Weste bekleidet. Darauf ist das Logo des Einkaufsmarktes angenäht. Studer nimmt sofort seine Nikon mit dem Teleobjektiv zur Hand, womit er die Person eindeutig identifizieren kann. Dann betätigt er mit seinem nackten und kalten Zeigefinger zweimal den Auslöser. Er trägt keine wärmenden Handschuhe, denn diese hätten ihn möglicherweise bei der Bedienung des Fotoapparats behindern können.
Der Detektiv beobachtet weiter, wie sich der Mann auffällig umsieht und gleich darauf den Türstopper hinunterdrückt. Offensichtlich hat er bereits vor dem Öffnen der Türe irgendwelche Waren dahinter deponiert. Denn er muss sich nur noch kurz hinunterbeugen und hält sogleich eine grössere Kartonschachtel in den Händen. Schnell geht er damit die stählerne Treppe mit fünf Stufen hinunter und trägt das Paket zu seinem nahe parkierten Auto. Dabei rutscht er auf einer kleinen Eisplatte aus, die sich dort aufgrund der tiefen Temperaturen gebildet hat. Aber er kann sich im letzten Augenblick auf den Beinen halten. Studers Kamera klickt und klickt. Die Zielperson öffnet mit der Fernbedienung die Zentralverriegelung und gleich darauf die Heckklappe. Dort verstaut er die Schachtel. Sekunden später ist der Kofferraum wieder zu und der Mann kehrt ins Gebäude zurück. Dieses Mal ist er vorsichtiger und geht der kleinen Eisplatte aus dem Weg.
Studer hat sich vorher schon Gedanken darüber gemacht, wieso der Mann mit seinem Auto zur Arbeit gekommen ist. Denn sein Wohnort liegt nur etwa fünf Gehminuten von seinem Arbeitsort entfernt. Logisch erscheint ihm dann, dass man vermutlich mit geklauten Waren nicht unbedingt gerne zu Fuss durch das Städtchen gehen will.
Dem Detektiv ist aufgefallen, dass beim Weggang des Verdächtigen die Leuchten am Auto nicht mehr aufblinkten und somit, wie beim Entriegeln, die Betätigung der Zentralverriegelung angezeigt hätte. Also hat der Mann das Auto möglicherweise nicht wieder verschlossen. Er überlegt nicht lange. Ruckartig steigt er aus, wobei er die Kälte im Freien gar nicht richtig wahrnimmt. Denn die Temperatur im Auto ist vermutlich höchstens ein Grad höher. Er eilt über den nahen Bahnübergang zum Parkplatz hinüber. Seine Kamera hat er ebenfalls dabei.
Er sieht kurz auf seine Armbanduhr. Er muss sich beeilen, denn der Fahrzeughalter wird vermutlich gleich Feierabend machen und wieder aus dem Gebäude kommen. Er flucht leise, weil er die kleine Eisplatte vergessen hat und ausrutscht ebenfalls aus. Sein Gleichgewicht kann er nur mit grosser Mühe halten. Im Eifer des Gefechtes ist ihm das Vorhandensein dieses gefährlichen Holpersteines entfallen.
Beim Fahrzeug handelt es sich um einen Toyota Corolla, älteren Jahrgangs. Bevor Studer die Heckklappe öffnet, sieht er sich nochmals kurz um. Aber alles ist ruhig und keine Menschenseele ist zu sehen. Gleich darauf verschafft er sich Einblick in die Kartonschachtel und muss aufgrund des vorgefundenen Inhaltes ein Pfeifen unterdrücken. Drei verschiedenartige Haushaltsgeräte, die noch in der Originalverpackung stecken. Der Wert dieser Geräte dürfte sich zwischen dreihundert und achthundert Franken bewegen. Schnell macht er mehrere Fotoaufnahmen und drückt danach die Heckklappe wieder leise zu. Ein wenig ausser Atem, sein Adrenalinspiegel ist verständlicherweise etwas angestiegen, gelangt er, der kleinen Eisplatte dieses Mal ebenfalls ausweichend, zu seinem eigenen Auto zurück und setzt sich wieder hinter das Lenkrad. Selbstverständlich achtet er immer darauf, dass die Innenbeleuchtung seines Autos bei Überwachungen ausgeschaltet ist. Diese ist bei Observationen eigentlich niemals aktiviert. Keine Sekunde zu früh ist er zurückgekehrt, denn in diesem Augenblick erscheint die Zielperson schon wieder. Auch sie trägt nun eine warme Jacke und sie schliesst die Zugangstüre von aussen ab. Etwa eine Minute später lenkt der Mann seinen Toyota vom Parkplatz weg.