Saskia und Napoleon - Joel Dominique Sante - E-Book

Saskia und Napoleon E-Book

Joel Dominique Sante

0,0

Beschreibung

Saskja ist eine junge Frau, die infolge einer Verschwörung des Mordes im Rauschzustand verurteilt wurde. Aufgrund eines vorsätzlich gefälschten psychiatrischen Gutachtens wurde sie in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, wo sie durch die Verabreichung spezieller Medikamente langsam zum Wahnsinn getrieben werden soll. In der Klinik freundet sie sich mit einem Insassen mit dem Spitznamen "Napoleon" an. Der kleinwüchsige Bruno Tanner soll demnächst entlassen werden. Er ist heimlich in Saskja verliebt und gibt sich als ihr Verbündeter zu erkennen. Die persönlichen Angelegenheiten von Napoleon erledigt ein junger Anwalt namens Christian Bommer. Als dieser wieder einmal seinen Klienten in der Klinik von Professor Herzog besucht, entdeckt er zufällig seine frühere grosse Liebe - Saskja! Christian ist bestürzt über die Situation und er kann es nicht glauben, dass Saskja tatsächlich jemanden umgebracht haben soll. Er stellt auf eigene Faust Ermittlungen an und sticht dabei in ein Wespennest von Lügen und Intrigen. Doch kann er am Ende Saskjas Unschuld beweisen und sie aus ihrem Gefängnis befreien, bevor es zu spät ist?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Saskja und Napoleon

Kriminalroman

von

Joel Dominique Sante

1. Auflage 2002

Printed by: Books on Demand (D-Norderstedt)

ISBN 3-0344-0063-2

© 2002 J. D. Sante

Neuauflage 2010

Umschlaggestaltung: MESAN-VERLAG, Schweiz

Printed by: Bookstation GmbH (D-Sipplingen)

ISBN 978-9523196-2-8

Eine Liste, der im Roman genannten Personen, befindet sich am Ende des Buches. Personen, Handlung und Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

***

Der Inhalt dieses Buches, soweit nicht anders darauf hingewiesen wird, ist urheberrechtlich geschützt. Die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Schritte nach sich ziehen.

1. Kapitel

Wenn ich durch das Fenster blicke, an den weissen, aber dennoch hässlichen Gitterstäben vorbei, so beschleicht mich ein beklemmendes Gefühl. Es schneit in dicken Flocken und eine weisse Daunendecke legt sich still und leise auf das kleine, gefrorene Rasenstück im Innenhof dieses verhassten Gebäudekomplexes.

Es vermittelt mir ein Gefühl, als wenn jede Schneeflocke ein Kilogramm wiegt und sich jede einzelne Flocke mit ihrem Gewicht auf meinen Schultern ablegen würde. Die Sonne wird wohl kaum eine Chance haben, ihre Strahlen bis in die kleinsten Ritzen des gefrorenen Bodens zu senden, würde sie dann vielleicht einmal am wolkenlosen Himmel stehen. Aber der düstere Mantel des Niederschlages verunmöglicht im Moment jegliches Passieren von Wärme und Behaglichkeit.

Ich ziehe deshalb meine braune Wolljacke noch mehr zusammen, denn das bedrückende Wetter flösst mir automatisch Kälte ein. Und, obwohl ich direkt am Heizkörper stehe, fröstelt es mich.

Ein neuer Tag hat begonnen und ich fürchte mich vor dem, was wieder kommen wird. Jeden Tag fürchte ich mich vor dem, was kommt.

Und jeden Tag sehe ich mich der Hilflosigkeit gegenüber. Ich bin gefangen und vergessen. Alle meine Hilferufe versinken genauso in der Einsamkeit wie die kalten Flocken, die in das weisse Meer aus Schnee eintauchen. Es ist wohl seit langer Zeit Gottes Absicht, mich zu prüfen. Doch, wo ist mein Herr? Hat er mich vielleicht vergessen? Erinnert er sich denn nicht mehr daran, dass ich gar nichts Unrechtes getan habe?

Ich bin erst 25 Jahre alt und bereits …? Ja, wie viele Jahre sind es denn nun inzwischen? Zwei oder drei Jahre? Ja, beinahe drei Jahre bin ich nun schon hier. An einem Ort, der keine Hoffnung zulässt und an dem man schnell einmal in Vergessenheit gerät. Auch von Gott?

„Na los, Saskja! Du brauchst wohl wieder einmal eine Extraeinladung?!“

Eine tiefe, quäkende Stimme schreckt Saskja Baumann auf. Sie war fest in ihren Gedanken versunken und hat deshalb überhört, wie der alte Drachen die Türe zu ihrer Zelle aufgeschlossen hat.

Ohne ein Wort zu sagen, nimmt Saskja jetzt raschmöglichst ihre Schürze auf, die sie vorher ordentlich auf ihrem Bett hingelegt hatte. Dann eilt sie beinahe unterwürfig, mit gesenktem Haupt, am alten Drachen vorbei auf den breiten Korridor, der nie zu enden scheint.

Die Aufseherin, die nicht nur von Saskja als alter Drachen bezeichnet wird, heisst Trude Lechner. Eine äusserst resolute Frau, die vielleicht etwa 60 Jahre alt ist. Sie bringt gut und gern ihre hundert Kilogramm auf die Waage und sie ist eine Schreckraube wie aus dem Bilderbuch. Sie ist ebenso ein Raubein wie auch ein unanständiges Weib. Sie spielt jeden Moment ihre Macht gegen die Bewohner dieses Gebäudekomplexes scheinbar mit Freude, ja manchmal sogar mit einem gewissen Hang zum Sadismus aus. Ihre Kompetenzen scheinen beinahe unendlich zu sein und niemand traut sich jemals, ihr zu widersprechen. Nicht einmal die sogenannten Studierten, die sich ab und zu in ihren weissen Mänteln und weissen Hosen in der Abteilung blicken lassen.

Für heute ist Saskja in der Wäscherei eingeteilt und sie kennt natürlich den Weg. Stumm wartet sie deshalb in der Menschenschlange darauf, dass die vergitterte Verbindungstüre zum Treppenhaus aufgeschlossen wird. Keine der Frauen spricht ein Wort. Man hört nur das Geraschel der Kleidung und manchmal ein Schlurfen der Hausschuhe auf dem blank gebohnerten Holzboden.

Dann aber erklingt wieder das Geräusch, das in Saskjas Ohren Schmerz verursacht und das an den langen kahlen Wänden des Korridors entlang hallt. Es ist das alte Schloss an der massiven Holztüre, welches dieses Geräusch verursacht, sobald es aufgeschlossen wird.

Ein kalter Hauch wischt Saskja über das Gesicht, als die Türe aufschwingt und sie das Treppenhaus betritt. Leise, wie jede andere Frau auch, läuft sie dann geschwind über die Treppe ins Erdgeschoss. Dort ist die Türe bereits geöffnet und sie huscht hindurch.

Gleich wird sie wieder bei Gurtner vorbeikommen, denkt sich Saskja. Er ist ein etwa vierzigjähriger Mann, der hauptsächlich seine Arbeit als Hausmeister verrichtet. Er hat aber auch eine Ausbildung als Hilfspfleger absolviert. Der etwa ein Meter achtzig grosse Mann ist ein Schwein, denn es kümmert ihn nicht, dass die Frauen an diesem Ort sozusagen wehrlos sind. Und auch er hat seine Position schon einige Male ausgenützt, wie Saskja von anderen Frauen hinter vorgehaltener Hand bereits erfahren hat. Offensichtlich hat er auch sie bereits schon längere Zeit im Auge. Jedes Mal, wenn Saskja dem Mann begegnet, wirft er ihr ein Augenzwinkern zu und setzt dabei ein hämisches Lächeln auf.

Saskja senkt auch hier ihr Haupt, als sie den Hilfspfleger an der Türe zur Wäscherei erblickt. Ein wenig mehr als sonst versucht sie sich an eine ihrer Leidensgenossinnen zu schmiegen. Sie hofft, dass sie auf diese Weise von Gurtner vielleicht nicht entdeckt wird. Aber er hat sie einmal mehr früh genug erblickt.

„Na Saskja! Siehst ja heute wieder hübsch aus! Wie wär’s mit uns beiden?“ Er kümmert sich überhaupt nicht darum, dass seine Worte auch von den anderen Frauen gehört werden.

Er greift nach ihrem Arm und will sie an sich ziehen. Saskja hingegen reisst den Arm sofort weg und sie eilt so rasch wie möglich durch die geöffnete Türe in einen riesigen, weissgekachelten Raum hinein. Sie vermeidet es dabei, ihrem Verehrer in die Augen zu sehen. Sie bemerkt aber, dass sich Lisa köstlich über die Bemerkungen und das Verhalten von Eugen Gurtner amüsiert. Lisa Weber ist ebenfalls eine Aufseherin und dazu noch die Vertraute des alten Drachens. Die beiden Frauen halten zusammen wie Pech und Schwefel. Aber auch Gurtner kann offensichtlich tun und lassen was er will.

Endlich ist das Spiessrutenlaufen beendet und sie befindet sich in der Wäscherei. Wortlos bindet sie ihre Schürze um und setzt sich nachher an eine der grossen veralteten Bügelmaschinen. Daneben befinden sich bereits zwei überdimensionale Bastkörbe, die mit frisch gewaschenen Bettlaken gefüllt sind.

Ab jetzt würde sie wenigstens bis zur Mittagszeit ihre Ruhe haben und sie kann sich wieder ihren eigenen Gedanken widmen. Denn auch hier sieht man es nicht gern, wenn sich die Frauen unterhalten. Würde man es doch tun und dabei erwischt werden, so wäre jedes Mal eine Strafe fällig. Jede Frau hat damit schon ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Erfahrungen, die in der Regel Furcht einflössen und die keine einer anderen Frau wünscht.

* * *

Um 1145 Uhr erklingt in der Wäscherei eine Glocke. Wie auf Knopfdruck legen die Frauen ihre Arbeit sofort nieder. Wiederum sammeln sie sich vor der verschlossenen Türe zum Treppenhaus. Und erst jetzt getrauen sich die Frauen wieder, einige Worte zu wechseln. Denn ab diesem Zeitpunkt ist es auch wieder erlaubt. Aber grosse Diskussionen kommen keine auf. Man spricht vielleicht kurz über Kleinigkeiten. Zum Beispiel, dass die Hände schmerzen oder dass sich der Rücken vom langen Sitzen zusehends versteift hat. Aber jede der Frauen hat dies schon durchgemacht. Jeden Tag ist es dasselbe.

Saskja möchte sich nicht unterhalten. Zumindest im Moment nicht. Denn mit wem sie hier auch sprach, so konnte sie in der Regel von niemandem eine brauchbare Antwort erwarten. Es ist ihr bewusst, wo sie sich befindet. In einer Psychiatrischen Klinik. Und sie hat sich damit abgefunden, dass hier normalerweise keine intelligenten Gespräche erwartet werden dürfen.

Nach wenigen Gehminuten betritt sie den grossen Essraum. Hier sind nicht nur die Frauen, sondern auch die männlichen Insassen der Klinik anwesend. Alle werden hier gleichzeitig verpflegt.

Saskja hält wie jeden Mittag Ausschau. Sie hält Ausschau nach Napoleon, wie er von den Aufsehern genannt wird. Napoleon ist ein etwa fünfzigjähriger kleiner Mann. Etwas rundlich und hat von Natur aus eine Schmalzlocke auf der Stirne. Und da man sich hier in einer Psychiatrischen Klinik befindet, erachtet man diesen Übernamen für den kleinen Kerl als zutreffend. Saskja kennt seinen richtigen vollständigen Namen nicht. Sie weiss nur, dass er mit Vornamen Bruno heisst. Und wenigstens mit ihm kann sie sich einigermassen normal unterhalten.

Bruno, beziehungsweise Napoleon, hält sich erst seit ungefähr einem Jahr in dieser Klinik auf. Und obwohl man es ihm nicht ansehen kann, hat er vor seinem Eintritt eine Mitarbeiterschaft von beinahe 100 Personen in einem grösseren Warenhauskonzern geleitet. Das Leben hat ihn jedoch mit einigen Schicksalsschlägen ausgestattet, was er in seinem Innersten nicht verkraften konnte. Einige Nervenzusammenbrüche waren die Folge und schliesslich die vorsorgliche Einweisung an diesen Ort.

Saskja braucht nun jemanden, mit dem sie sich unterhalten kann. Denn Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr für Jahr sich nur mit Leuten zu unterhalten, die nicht alle Sinne beisammen haben, hält der stärkste Mensch auf die Dauer nicht aus.

Sie hat Napoleon erblickt und sie freut sich gleichzeitig, als sie den noch freien Sitzplatz gegenüber von ihm feststellt. Sie geht zuerst zu ihm, bevor sie sich in die Schlange bei der Essensausgabe einreiht.

„Hallo Bruno, hältst du mir diesen Platz hier frei?“

Saskja weist gleichzeitig mit der Hand auf den freien Stuhl.

„Oh, Saskja! Ja, natürlich. Ich werde ihn mit meinem Leben verteidigen!“

Bruno ist ebenfalls über Saskjas Zuneigung erfreut und geniesst gleichfalls die Gespräche mit ihr. Zudem hat er nicht alle seine Sinne verloren. Im Gegenteil, er ist sogar auf dem Weg der Besserung und sieht in Saskja eine äusserst sympathische Frau, die trotz ihres langjährigen Aufenthaltes in der Anstalt nichts von ihrer Attraktivität verloren hat. Ja, vielleicht ist ab und zu bei Bruno etwas mehr vorhanden, als nur das Gefühl einer Freundschaft. Er hat selbst nämlich nie eine Familie gehabt. Das heisst, er war niemals verheiratet gewesen oder pflegte längere Beziehungen zu einer Frau.

Einige Augenblicke später schiebt Saskja das Tablett mit ihrem Mittagessen vor Bruno auf den Tisch und setzt sich ihm gegenüber auf einen hölzernen Stuhl. Die Mahlzeit besteht aus irgendetwas an einer braunen Sauce. Weiter liegen auf dem Teller Teigwaren, die gleich zu zerfallen drohen sowie verkochte Karotten. Wohl kein Menü, bei dem einem das Wasser im Mund zusammenläuft!

Saskja stochert aber nicht nur wegen des einladenden Menus ein wenig lustlos im Essen herum.

„Was ist los, Saskja? Schmeckt es dir nicht?“, erkundigt sich Bruno.

Sie blickt von ihrem Teller auf.

„Schmeckt es dir denn?“, antwortet sie mit einer Gegenfrage.

Mit einem breiten Lachen auf dem Gesicht sieht Bruno sein Gegenüber wortlos an. Beide wissen natürlich, dass sie sich hier nicht im Ritz befinden und dass die Küche bei der Vergabe von Sternen vermutlich noch solche hätte bringen müssen.

„Weisst du, Saskja. Du solltest schon etwas essen. Wie es dir auch schmeckt. Gift wird ja wohl keines drin sein. Oder doch?“

Bruno fängt gleichzeitig an, mit der Gabel das Essen auf dem Teller zu untersuchen. Dann hält er den Teller vor seine Nase und riecht daran. Dabei sieht er Saskja über den Tellerrand hinweg mit einem verschmitzten Lächeln an.

Bruno gelingt es immer wieder, Saskja aufzuheitern und ihr damit zu einem kleinen Lächeln zu verhelfen. Und es ist ihm auch bewusst, dass die junge Frau dies benötigt. Er kennt ihre Lebensgeschichte und hat von Herzen Mitleid mit ihr. Aber selbstverständlich sind auch ihm die Hände gebunden.

„Gurtner hat mich heute wieder angemacht“, murmelt Saskja leise.

Augenblicklich versteinert sich Brunos Gesicht und man merkt es ihm an, dass er wütend wird.

„Dieser Scheisskerl. Ich werde ihm den Hals umdrehen!“

Er hält Messer und Gabel nun derart fest in seinen Händen, dass sogar die Knöchel seiner kleinen Faust weiss hervortreten.

Saskja bemerkt dies natürlich und bedauert sofort, dass sie das Verhalten von Eugen Gurtner gegenüber ihrem Vertrauten erwähnt hat. Sie will nämlich nicht, dass Bruno plötzlich noch auf dumme Gedanken kommt. Und das konnte ja an diesem Ort hier schnell einmal der Fall sein. Zudem hat Bruno beim Hilfspfleger überhaupt keine Chance, wenn man dem so sagen darf. Denn der ist immerhin nicht nur um einen, sondern um etwa zwei Köpfe grösser als er.

Sie beschwichtigt deshalb Bruno sofort wieder und legt dabei ihre Hand beruhigend auf seine immer noch geballte Faust.

„Lass es gut sein, Bruno. Ich werde mit ihm schon fertig.“

Bruno sieht in die traurigen aber dennoch wunderschönen blauen Augen von Saskja und entspannt sich wieder.

„Du glaubst mir nicht? Nicht wahr Saskja?“

Bruno liegt sehr viel daran, dass sie ihm glaubt und dass sie fühlt, wie er zu ihr steht. Ja, er würde sogar über sich hinauswachsen, wäre es erforderlich.

„Doch, doch Bruno. Ich weiss, du hältst zu mir. Aber es hat ja sowieso keinen Sinn. Hier drin läufst du gegen eine Wand. Immer und immer wieder.“

Resigniert senkt sie ihren Kopf und nimmt dabei ihre Hand wieder zurück.

Auch Bruno verspürt in der Zwischenzeit keinen Hunger mehr und schiebt den Teller etwas von sich weg. Einmal mehr hat er das Gefühl, dass er Saskja wieder etwas aufheitern müsste.

„Hey..!“, sagt er plötzlich zu ihr, „ich erwarte heute Besuch.“

„So? Das freut mich aber für dich.“

Saskja weiss, dass Bruno ebenfalls den Kontakt mit der Aussenwelt vermisst. Und da er ja keine Angehörigen hat, die ihn besuchen könnten, freut er sich über jeden, der bei ihm anklopft.

Saskja will zeigen, dass sie sich für seine Angelegenheiten interessiert.

„Wer kommt dich denn heute besuchen?“

„Mein Anwalt“, antwortet er knapp.

„Dein Anwalt? Wieso denn das?“

„Ich habe wohl meine Miete hier in diesem Etablissement nicht bezahlt und jetzt wollen sie mich verklagen.“

Bruno lächelt auf eine Art, dass Saskja sofort merkt, wenn er sich einen Spass erlaubt. Und wieder hat er es geschafft, dass auch sie lachen muss.

„Nein, natürlich nicht“, klärt er die junge Frau dann auf. „Aber es hat schon indirekt etwas damit zu tun. Ich bin ja schliesslich nicht unvermögend, kann aber die irdischen Güter hier nicht gebrauchen. Mein Anwalt kümmert sich um meine Angelegenheiten und meine Finanzen, solange ich in diesem feudalen Hotel untergebracht bin.“

Bruno weist gleichzeitig mit dem Kopf auf die Umgebung.

„Ach so“, erwidert Saskja.

Ihr ist bekannt, dass man den ehemaligen Personalchef nach der Einweisung in die Psychiatrische Klinik bevormundet hat. Tatsächlich verfügt Bruno angeblich über ein grösseres Vermögen und das muss schliesslich - wie er sagt - durch vertrauliche Hände verwaltet werden.

Saskja erhält niemals Besuch. Aber nachdem, was sie alles durchgemacht hat, will sie eigentlich auch gar keinen. Die angeblichen Freunde, die früher einmal bei ihr ein- und ausgegangen sind, haben ihr alle den Rücken zugekehrt. Ja, und ihren Ehemann will sie erst recht im Leben niemals wieder sehen.

Dass jedoch der Besuch, den Bruno erwartet, auch für sie noch Folgen haben würde, kann sie in diesem Moment natürlich nicht ahnen …

* * *

„Also, Herr Tanner. Es ist soweit alles erledigt, wie wir es das letzte Mal besprochen haben.“

Brunos Anwalt ist ungefähr dreissig Jahre alt, schlank und weist ein sicheres Auftreten auf. Nun entnimmt er seiner Ledermappe einen kleinen Stapel an Dokumenten und legt ihn auf den Tisch.

„Was die Aufhebung der Bevormundung angeht, so kann ich Ihnen jedoch im Augenblick noch keine guten Nachrichten überbringen.“

„Na ja“, antwortet Bruno. „Das habe ich auch nicht anders erwartet. Aber zumindest sieht es doch wohl so aus, als dass ich mich von hier bald wieder verabschieden kann. Oder etwa nicht?“

Christian Bommer beginnt zu lächeln.

„Ja, Herr Tanner. Die Aussichten dafür sind nicht schlecht. Natürlich haben wir jedoch noch einige Hürden zu nehmen. Aber ansonsten ist eigentlich alles soweit vorbereitet.“

Die beiden Männer sitzen in einem kleinen Zimmer der Psychiatrie. Im Raum befindet sich nichts weiter als ein Tisch, vier Stühle und seltsamerweise auch ein Telefon. Seltsamerweise deshalb, weil es am Netz gar nicht angeschlossen ist. Der Raum hat keine Fenster, durch die man hätte ins Freie blicken können. Nur eine bruchsichere Glasscheibe ermöglicht die Durchsicht auf den Korridor.

Bruno sitzt mit dem Rücken zu dieser Glasscheibe und der Anwalt sitzt ihm gegenüber. So sieht Christian während des Gespräches mit seinem Klienten immer wieder die ulkigsten Gestalten vorübergehen.

„Ich habe mich in der Zwischenzeit mit Ihrem Vertrauensarzt unterhalten. Doktor Brechbühl ist bereit, Ihren Verbleib in der Psychiatrie zu überdenken. Ich denke, dass ich bis morgen einen entsprechenden Bescheid erhalten werde. Wir müssen nur noch …“

Der junge Rechtsanwalt stockt plötzlich in seinen Ausführungen und starrt gleichzeitig durch die Glasscheibe hindurch. Keine Sekunde später springt er von seinem Stuhl auf.

„Das gibt’s doch nicht!“, spricht er laut zu sich selber und eilt zur Türe. In diesem Augenblick besinnt er sich darauf, dass sich sein Klient auf sein Handeln wohl keinen Reim machen kann. Er wendet sich deshalb schnell zu ihm um.

„Einen Augenblick bitte, Herr Tanner.“

Nachdem Christian auf den Korridor getreten ist, sieht er eine weibliche Gestalt, die soeben die Toilette aufsuchen will.

„Saskja?!“, ruft er laut. „Saskja? Bist du das?“

Der Anwalt hält inne und sieht zu der Frau, die nun stehen bleibt und sich langsam umdreht und zu ihm hinüberblickt.

Mit grossen fragenden Augen blickt Saskja zu dem Mann, der im Korridor steht. Es ist kein Mann mit einem weissen Kittel und einer weissen Hose.

Sie kneift die Augen zusammen und überprüft ihr Gedächtnis.

„Christian?“, sagt sie dann halblaut.

Noch einmal nennt der Mann ihren Namen.

„Saskja Baumann?“

Er hätte nicht mehr zu fragen brauchen, denn er ist sich nun sicher, dass er den richtigen Namen genannt hat.

Langsam kommt die Frau dann auf den Anwalt zu. Dabei blickt sie sich jedoch ängstlich um.

In der Zwischenzeit hat sich auch Napoleon von seinem Stuhl erhoben und ist auf den Korridor hinausgetreten. Er hat nämlich ebenfalls Saskjas Namen gehört, den sein Anwalt gerufen hat. Und um nichts in der Welt will er etwas versäumen, was mit Saskja Baumann zu tun hat.

Die junge Frau steht nun unmittelbar vor Christian. Dem Mann, den sie vor vielen Jahren einmal an einem Waldfest kennen gelernt hatte.

Der Anwalt ist immer noch irritiert und überrascht, dass er seine Jugendliebe hier antrifft. Und natürlich hat er erkannt, dass sie offensichtlich nicht zum Personal gehört, weil sie die typische Kleidung der übrigen Insassinnen trägt.

„Saskja? Du bist es wirklich? Aber..?“

Christian weiss das erste Mal seit langer Zeit nicht, was er sagen soll. Aber wie von einer inneren Kraft getrieben, streckt er seine Arme nach ihr aus. Er sieht nämlich, wie sich dicke Tränen ihren Weg über Saskjas Wangen suchen.

„Christian!“, schluchzt sie nun laut und nimmt seine einladende Geste der Umarmung an.

„Oh, Christian …“, schluchzt sie nochmals und hält den jungen Mann fest, wie sie noch niemals im Leben einen Menschen festgehalten hat.

Gleichzeitig wird sie von Weinkrämpfen geschüttelt. Weinkrämpfe infolge der Freude, aber auch infolge von Erschöpfung.

Im Korridor, wo mittlerweile mehrere Insassen Zeugen der zärtlichen Begegnung geworden sind, taucht plötzlich auch Lisa Weber auf.

„Was ist denn hier für ein Tumult?!“, ruft sie laut.

Sie weiss natürlich nicht, dass sich die beiden Menschen kennen, welche sich in diesem Moment innigst umarmen. Vermutlich hätte sie sich dann etwas anders verhalten. So fällt ihr nichts anderes ein, als nach ihrer Vorgesetzten Trude Lechner zu rufen, die sich zu dieser Zeit zufällig im nahen Stationsbüro aufhält.

Beide eilen nun zu dem Paar, das sich immer noch wortlos umklammert.

„Komm Saskja“, sagt Trude Lechner nun täuschend liebevoll und zerrt die junge Frau von Christian regelrecht weg. „Komm, dir geht es nicht gut“, entscheidet sie.

Auch Lisa Weber zerrt nun an Saskja, die in ihrem jetzigen Zustand tatsächlich keine grosse Gegenwehr leisten kann. Ihre Beine zittern und die Arme sind kraftlos.

„Entschuldigen Sie bitte, aber Sie sehen ja …“

Der alte Drachen versucht nun heimtückisch, Napoleons Anwalt etwas vorzuspielen. „Das macht sie leider immer wieder.„“

Saskja hingegen ist nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu sagen. Sie lässt sich, immer noch von Weinkrämpfen geschüttelt, von den beiden Frauen wegführen.

Christian ist sprachlos. Entsetzt schaut er Saskja nach, die gestützt vom Pflegepersonal zum Ende des Korridors gebracht wird und schliesslich hinter der dicken Holztüre verschwindet.

Ungläubig schaut er nun Napoleon an, der in der Zwischenzeit näher getreten ist.

„Sie kennen sie?“, erkundigt sich Bruno Tanner bei seinem verwirrt aussehenden Anwalt.

„Saskja Baumann“, erklärt er nochmals. „Ja, natürlich kenne ich sie.“

Christian erinnert sich nachher nicht mehr daran, wie lange er noch auf dem Korridor gestanden hat. Hingegen weiss er mit Bestimmtheit, dass er Saskja bald wiedersehen musste.

* * *

„Verdammt noch mal, du kleines Luder! Das machst du nicht noch einmal.“ Trude Lechner ist ausser sich.

Der alte Drachen und Lisa Weber werfen Saskja brutal auf ihr Bett. Es genügt ein gegenseitiger Blick der beiden Frauen und beide wissen, was zu tun ist. Schnell fassen beide die Arme der von Weinkrämpfen geschüttelten Frau und legen ihr Ledergurte um die Handgelenke. Anschliessend sind die Beine dran. Saskja kann sich nicht mehr regen, geschweige denn aufstehen. Alles was sie im Moment kann und auch darf ist wimmern und weinen.

Die junge Frau hört nicht mehr, wie sich der verhasste Schlüssel im verhassten Schloss dreht. Sie ist nun wieder mit ihrem Schmerz allein …

* * *

Christian ist noch immer verwirrt. Unkonzentriert hat er sich noch weiter mit seinem Klienten betreffend seiner Angelegenheiten abgesprochen. Etwa eine dreiviertel Stunde später befindet er sich auf dem Weg zu seinem Wagen, den er auf dem grossen Besucherparkplatz der Psychiatrischen Klinik abgestellt hatte.

Er kann es immer noch nicht glauben, dass Saskja, die er früher wirklich einmal geliebt hat, hier an diesem Ort ihr Leben verbringen muss. Er weiss auch nicht, was dazu geführt hat, dass die junge Frau hinter diesen Mauern eingesperrt ist. Er hat sich nur noch kurz mit seinem Klienten unterhalten und hat dabei in Erfahrung bringen können, dass Saskja vermutlich gar nicht hierher gehört. Gemäss Napoleons Aussagen verhält sich Saskja absolut normal.

Bei seinem Wagen angekommen, legt er seine Schriftenmappe auf das schneebedeckte Wagendach und kramt in Gedanken versunken in seinen Taschen nach dem Autoschlüssel.

„Nein!“, sagt er plötzlich zu sich selber und erteilt sich damit unbewusst einen Befehl. Kurzerhand nimmt er seine Mappe wieder vom Auto herunter und geht eilig zurück zur Klinik.

Beim Empfang meldet er sich nochmals an und wünscht, mit Saskja Baumann zu sprechen. Nach einer kurzen telefonischen Rückfrage des Portiers wird ihm jedoch dieser Besuch verweigert.

„Und, wieso?“, erkundigt er sich nach dem Grund der Verweigerung. Der Pförtner jedoch hebt nur die Arme und signalisiert damit, dass er darüber keine Kenntnis habe.

„Kann ich wenigstens mit dem zuständigen Arzt reden oder mit dem Pflegepersonal?“

Christian lässt im Augenblick noch nicht locker. Er will wissen, weshalb Saskja hier in dieser Klinik untergebracht ist und wie ihr Gesundheitszustand beurteilt wird.

Abermals nimmt der Pförtner das Telefon in die Hand und spricht offensichtlich mit jemandem des Pflegepersonals. Gehorsam und wortlos nickt er auf die Anweisungen hin, welche ihm der Gesprächsteilnehmer am anderen Ende des Telefons zu erteilen scheint. Dann legt er wieder auf.

„Es tut mit Leid, Herr Bommer. Aber im Moment kann die Patientin überhaupt keinen Besuch empfangen. Das Pflegepersonal ist sehr beschäftigt und der zuständige Arzt ist gar nicht im Hause. Sie werden gebeten, nach Möglichkeit einen telefonischen Termin zu vereinbaren. Das wäre das Beste.“

Der junge Anwalt muss sich nun wohl oder übel mit dieser Antwort zufrieden geben.

„Ich danke Ihnen. Ich werde mich um einen solchen Termin bemühen.“

Daraufhin macht er kehrt und geht nun wieder zu seinem Wagen zurück. Und auf dem Weg dorthin schwört er sich, dass er sich das nächste Mal nicht mehr abweisen lassen würde. Komme was wolle.

Kaum hat der Anwalt dem Pförtner den Rücken zugewandt, nimmt dieser ein weiteres Mal den Telefonhörer in die Hand und wählt die gleiche interne Nummer wie vorhin.

„Ich bin’s noch mal. Er ist jetzt gegangen. Aber er wird wieder kommen, nehme ich an … ja, ich habe es ihm so gesagt … dein Wort in Gottes Ohr … auf alle Fälle kümmerst du dich das nächste Mal selber um ihn. Ich möchte damit nichts zu tun haben. Hast du das verstanden?“

Etwas verärgert legt der Pförtner schliesslich den Telefonhörer wieder auf die Gabel zurück und wendet sich wieder seiner Zeitung zu. Gleichzeitig murmelt er noch blöde Kuh, womit er offensichtlich seine Meinung über die Teilnehmerin am anderen Ende des Telefons kund tut.

Auf dem Weg zu seinem Auto wird der junge Anwalt durch ein Fenster im zweiten Obergeschoss der Klinik von einem Augenpaar verfolgt. Es ist jedoch kein verweintes Augenpaar, sondern die Augen eines alten Drachens.

Unwillkürlich wendet sich Christian Bommer nochmals zum Gebäude um, denn er meint, einen seltsamen Druck im Nacken zu verspüren. Als er sich schliesslich umdreht und zufällig zur Fensterreihe im zweiten Obergeschoss blickt, kann er gerade noch beobachten, wie ein Vorhang schnell zugezogen wird.

* * *

Saskja weiss nicht, wie lange sie nun schon da gelegen hat. Sie ist aber immer noch an ihr Bett gefesselt. Das Gefühl für die Zeit hat sie vollends verloren. Ihre Gedanken kreisen nur noch um Christian. Die Begegnung mit ihm, hier an diesem Ort, war für sie ein Schock gewesen. Denn im Innersten schämt sie sich, dass er sie nach so vielen Jahren unter diesen Umständen wiedersehen musste.

Nun hat sie sich wieder etwas gefangen und lebt für einen kurzen Moment in einer Traumwelt. Sie blickt auf ihr Leben zurück und bedauert, dass sie sich damals von einem anderen Typen blenden liess und dadurch Christian verloren hat.

Sie denkt an die Zeit zurück, als sie kurz nach ihrer erfolgreichen Lehrabschlussprüfung ein Waldfest besuchte. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Sie begleitete damals zwei Freundinnen, die jedoch bald einmal nur noch Augen für diverse Verehrer hatten und pausenlos tanzten. Auch Saskja schwang das Tanzbein. Sie mied aber wie sonst auch den Alkohol und hielt sich auch ihre Verehrer auf Distanz.

Einfach war das nicht immer. Im Gegenteil. Denn zu vorgerückter Stunde hatten natürlich vor allem die männlichen Besucher schon einiges an Alkohol intus und wurden immer frecher und anzüglicher. Kurz nach Mitternacht verspürte Saskja ein menschliches Bedürfnis, weshalb sie sich auf den Weg zu den Toilettenwagen machte. Diese befanden sich etwas entfernt vom Festplatz im Wald und der Weg dorthin war nur mässig ausgeleuchtet. Man musste also aufpassen, wohin man trat. So bemerkte sie denn auch nicht, dass ihr auf dem Weg zu den Toilettenwagen jemand folgte. Zu diesem Zeitpunkt war sie ganz allein. Nur das Dröhnen der Musik hallte zwischen den Bäumen hindurch.

Im gleichen Moment, als sie die Stufen zum Toilettenwagen hinaufsteigen wollte, wurde sie mit einem harten Griff von hinten gepackt und eine riesige Hand hielt ihr den Mund zu. Sofort versuchte Saskja sich loszureissen und zu schreien, aber alle Mühe war vergebens. Der unbekannte Mann war stark genug, sie von hinten hochzuheben und noch weiter in den Wald hinein zu tragen. Sie strampelte wie wild mit den Füssen und versuchte mit ihren Händen ihren Peiniger an den Haaren zu fassen. Aber dies hatte alles keinen Sinn. Der Mann atmete laut und Saskja ekelte sich vor seinem Mundgeruch.

Kurze Zeit später, die Saskja wie Stunden vorkamen, warnte sie der Mann, dass er sie umbringen würde, wenn sie jetzt nicht still sei. Brutal warf er sie dann auf den Waldboden und drückte ihren Oberkörper mit einem Arm hinunter. Mit der anderen Hand griff er ihr gleichzeitig zwischen die Beine und schob ihren Rock hoch. Saskja wurde mit einem Mal bewusst, was nun geschehen sollte. Sie war ausserstande, etwas zu sagen. Sie dachte sich nur noch, warum ich?

Sie versuchte nicht zu schreien; sie konnte nur noch wimmern. Sie wehrte sich auch nicht, denn sie hatte viel zu viel Angst davor, wonach der unbekannte Mann seine vorangegangene Drohung wahrmachen würde.

Im gleichen Augenblick, als ihr der unbekannte Mann auch noch ihr Höschen herunterstreifen wollte, wurde er jedoch von ihr weggerissen.

Ein anderer Mann war wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte den Unbekannten von seinem Opfer getrennt. Es begann daraufhin eine wüste Keilerei, wobei schliesslich ihr Retter die Oberhand gewinnen konnte. Der Mann, der sie brutal zu vergewaltigen versucht hatte, floh plötzlich wortlos in den Wald hinein.

Sofort beugte sich der zweite Unbekannte zu Saskja hinunter und hob ihren Kopf hoch. Sie wimmerte immer noch und war geschockt. Sie nahm jedoch wahr, wie ihr der Mann den Rock wieder über die Beine zog. Mit warmer und freundlicher Stimme redete er auf sie ein, wonach nun alles vorbei sei und alles wieder gut werden würde.

Ihr Retter war Christian Bommer gewesen. Er hatte sie davor bewahrt, einem schrecklichen Monster willig sein zu müssen. Und das war die erste Begegnung mit ihm, die im Nachhinein noch einige Male ihr Leben bestimmen sollte.

Christian hatte sich wenige Sekunden, nachdem Saskja vom brutalen Täter überfallen worden ist, ebenfalls auf den Weg zur Toilette gemacht und hatte in der Nähe der Toilettenwagen das Wimmern einer Frau vernommen.

Die Geräusche kamen aus der dem Waldfest entgegengesetzten Richtung, worüber er sich wunderte. Er begab sich deshalb ebenfalls in das Waldstück hinein, aus dem die sonderbaren Laute zu hören waren. Er kam keinen Augenblick zu spät. Denn als er eine kleine Lichtung erreichte, bemerkte er, wie sich ein Mann auf brutale Weise an einem Mädchen zu schaffen machte.

Er erkannte die Situation sofort. Uneigennützig und ohne weiteres Überlegen stürmte er sofort auf den Unbekannten zu, packte ihn von hinten am Hemdkragen und riss ihn vom Opfer weg. Aufgrund des Überraschungseffektes gelang es ihm schliesslich, den Übeltäter in die Flucht zu schlagen.

Christian hat Saskja anschliessend nach Hause gebracht. Bereits am nächsten Tag hat er sich wieder nach ihrem Befinden erkundigt. Es blieb jedoch nicht bei diesem einen Kontakt, sondern es folgten schliesslich mehrere Verabredungen. Dabei hat sich Christian immer zurückhaltend und liebevoll verhalten. Es entstand eine Liebschaft zwischen den beiden, wobei aber seltsamerweise nicht der Sex im Vordergrund stand. Nein, sie hatten sich gegenseitig einfach nur lieb und mehr als Küssen lag eigentlich nicht drin.

Dann, einige Monate später, lernte sie Alex kennen.

Alex arbeitete als Hilfsmonteur in der gleichen Elektrofirma, wo Saskja gleichzeitig als Büroangestellte tätig war. Alex sah gut aus und machte ihr den Hof. Immer und immer wieder bat er sie darum, mit ihr einmal ausgehen zu dürfen. Zu dieser Zeit verhielt er sich immer anständig und hinterliess deshalb einen guten Eindruck.

Irgendwann war es dann einmal so weit und Saskja kam der Einladung nach. Sie hatte sich ja gegenüber Christian keine Gewissensbisse zu machen, da sie eigentlich mehr eine platonische Liebe verband. So meinte sie damals zumindest. Erst einige Monate später erkannte sie jedoch, dass Christian sie innigst liebte. Und sie ihn.

Heute weiss sie, dass ihn sein Anstand daran hinderte, sich gegen ihre Verbindung mit Alex aufzubäumen.

Bei Alex blieb es nicht nur bei der Umarmung und Küsserei. Nein, irgendeinmal lagen sie zusammen im Bett und es kam, wie es kommen musste. Saskja wurde schwanger und erwartete von Alex ein Kind.

Saskja wollte nun nicht, dass ihr Kind unehelich zur Welt kam und besprach dies auch mit Alex. Aber dieser wollte nichts von einer Heirat wissen. Erst als ihr Arbeitgeber davon erfahren und er Alex deshalb ernsthaft ins Gewissen geredet hatte, willigte er zur Heirat ein. Und die Vermählung mit Alex war der grösste Fehler, den Saskja in ihrem Leben je begangen hatte.

Drei Monate nach der Vermählung sollte der Geburtstermin ihres gemeinsamen Kindes sein. Es kam aber alles ganz anders. Ungefähr zwei Monate vor der geplanten Niederkunft verspürte Saskja heftige Unterleibsschmerzen. Sie wurde sofort in das Krankenhaus eingeliefert und ein Kaiserschnitt durchgeführt.

Gott musste an diesem Tag wohl einmal mehr am anderen Ende der Welt seine Hand über die Menschheit gehalten haben. Was bedeutete dies für ein Schlag für sie, als ihr Bübchen tot auf die Welt kam. Eine lange, eine sehr lange Zeit kam sie nicht darüber hinweg.

Alex entfernte sich nach der Totgeburt immer mehr von ihr. Er fühlte sich angebunden und durch die Heirat betrogen. Mit der Zeit vernachlässigte er nicht nur seine Frau, sondern auch die Arbeit. Er machte Schulden und trieb sich in zwielichten Kreisen herum. Immer wieder brachte er Besuch mit nach Hause. Es handelte sich dabei um arbeitsscheues Gesindel und um Drogenabhängige.

Sie selbst geriet immer mehr in die Abhängigkeit des Alkohols, da sie meinte, im Hochprozentigen vielleicht ihre Ängste und Sorgen vergessen zu können. Aber das waren natürlich alles nur Illusionen gewesen.

Saskja hielt diese Zustände nicht mehr länger aus. Sie hatte sich dazu entschlossen, sich scheiden zu lassen. Bereits hatte sie sich auch über die dafür notwendige Vorgehensweise erkundigt. Aber wieder schlug das Schicksal unbarmherzig zu. Ja, wenn nicht das Unfassbare geschehen wäre und das Unglück nicht seinen Lauf genommen hätte, dann …

Sie wird aus ihren Gedanken gerissen, denn sie hört, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wird. Als die Türe aufschwingt, steht der alte Drachen unter der Türe. Einen Augenblick lang bleibt sie dort stehen und sagt kein Wort. Sie lächelt nur ein wenig und das hat in der Regel nichts Gutes zu bedeuten. Erst als auch ihr Schatten Lisa Weber ebenfalls unter dem Türrahmen erscheint, meldet sich Trude Lechner zu Wort.

„Na, mein Liebchen? Hast du ausgeflennt?“

Lisa Weber muss über die Äusserungen ihrer Freundin kichern.

„Hier drin ist es ja mächtig warm, mein Liebes“, spricht der alte Drachen weiter. „Ich glaube, dir wird eine kleine Abkühlung gut tun.“

Saskja erschrickt, denn sie ist überzeugt zu wissen, was ihr jetzt bevorstehen wird. Eine Bestrafung dafür, dass sie sich Christian an den Hals geworfen hat. Und vor einer speziellen Bestrafung durch Trude Lechner haben alle Insassinnen Angst.

Der alte Drachen und Lisa Weber treten an Saskjas Bett und beginnen damit, die Lederriemen zu lösen.

„Bitte, bitte nicht!“, fleht Saskja. „Bitte tun Sie das nicht.“

„Na los, komm schon. Wir werden dir deine Flausen schon noch aus dem Kopf treiben.“

Lisa Weber muss ein weiteres Mal leise kichern.

Saskja weiss, dass alles Flehen keinen Sinn hat und sich Trude Lechner niemals von ihrem Vorhaben abbringen lassen würde. Die junge Frau hat überhaupt keine Chance, der bevorstehenden Bestrafung zu entgehen. Für einen kurzen Moment erscheint wieder das Bild von Christian vor ihren Augen und eigenartigerweise stärkt sie das. Widerstandslos lässt sie sich dann von den beiden Hexen auf den Korridor treiben.

Sie wird in den grossen Duschraum geführt, der durch die weissen Kacheln beinahe steril wirkt. Ohne jegliche Regung lässt sie dann gewähren, dass man ihr die Kleider vom Leib reisst. Sie zittert am ganzen Körper. Dann wird sie von Lisa Weber in die Duschnische gestossen. Splitternackt steht Saskja nun verloren und frierend auf den kühlen, weissen Kacheln.

„Dreh auf!“, befiehlt Trude Lechner ihrer Kumpanin und hält dabei einen dicken, schwarzen Schlauch in ihren Händen.

Lisa Weber hat genüsslich auf diesen Befehl gewartet und gehorcht deshalb sofort. Mit einem begleitenden Lachen dreht sie den Wasserhahn auf.

Der Strahl des kalten Wassers trifft Saskja zuerst am Rücken und sie glaubt, sie würde mit einem Schwert durchbohrt. Der Atem bleibt ihr einen Moment lang weg und sie muss nach Luft ringen.

So sieht eine spezielle Art der Bestrafung bei Trude Lechner aus. Und sie versteht es damit, unter den Patientinnen Angst und Schrecken zu verbreiten. Auf diese Weise hat sie alle unter ihrer Fuchtel.

Saskja kann sich nicht mehr auf den Beinen halten, sondern kauert nun in einer Ecke der Duschnische. Immer noch knallt der kalte Wasserstrahl auf ihren Körper und hinterlässt teilweise sogar blaue Flecken.

Trude Lechner achtet jedoch immer sehr darauf, dass sich allenfalls entstehende blaue Flecken schliesslich immer unter der Kleidung befinden, damit diese nicht sofort entdeckt werden können.

Endlich! Nach endlos scheinenden Minuten wird der Wasserstrahl abgestellt und es ist nur noch das stetige Tropfen zu hören. Wassertropfen, die von Saskjas Körper auf den Kachelboden fallen.

Aus weiter Entfernung nimmt sie die Stimme des alten Drachens wahr.