Das Geheimnis des Feindes - Achim Mehnert - E-Book

Das Geheimnis des Feindes E-Book

Achim Mehnert

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Beschreibung

Starreporter Bert Stranger legt sich für eine gute Story notfalls auch mit der Regierung an, und die Story über Ex-Diktator Trawisheim könnte die beste seines Lebens werden. Zur gleichen Zeit riskiert Ren Dhark nicht nur seine Freiheit, sondern auch sein Leben. Doch die Belohnung für diesen Einsatz ist Das Geheimnis des Feindes... Jan Gardemann, Uwe Helmut Grave und Achim Mehnert verfaßten einen wendungsreichen SF-Roman nach dem Exposé von Hajo F. Breuer.

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Seitenzahl: 356

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Ren Dhark

Weg ins Weltall

 

Band 41

Das Geheimnis des Feindes

 

von

 

Uwe Helmut Grave

(Kapitel 1 bis 5)

 

Jan Gardemann

(6 bis 9)

 

Achim Mehnert

(Kapitel 10 bis 15)

 

und

 

Hajo F. Breuer

(Exposé)

Inhalt

Titelseite

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

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Impressum

Prolog

Im Herbst des Jahres 2067 scheint sich das Schicksal endlich einmal zugunsten der Menschheit entwickelt zu haben. Deren Hauptwelt heißt längst nicht mehr Terra, sondern Babylon. 36 Milliarden Menschen siedelten auf diese ehemalige Wohnwelt der Worgun um, als die irdische Sonne durch einen heimtückischen Angriff zu erlöschen und die Erde zu vereisen drohte. Mittlerweile konnte die Gefahr beseitigt werden, und das befreundete Weltallvolk der Synties hat den Masseverlust der Sonne durch die Zuführung interstellaren Wasserstoffgases fast wieder ausgeglichen.

Die Erde ist erneut ein lebenswerter Ort, auf dem allerdings nur noch rund 120 Millionen Unbeugsame ausgeharrt haben. Die neue Regierung Terras unter der Führung des »Kurators« Bruder Lambert hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erde nach dem Vorbild Edens in eine Welt mit geringer Bevölkerungsdichte, aber hoher wirtschaftlicher Leistungskraft zu verwandeln und ist deshalb nicht bereit, die nach Babylon Ausgewanderten wieder auf die Erde zurückkehren zu lassen.

Allerdings haben auch die wenigsten der Umsiedler konkrete Pläne für einen neuerlichen Umzug innerhalb so kurzer Zeit. Es kommt die katastrophale Entwicklung hinzu, die Babylon seit dem Umzug der Menschheit nahm: Durch eine geschickt eingefädelte Aktion war es dem höchst menschenähnlichen Fremdvolk der Kalamiten gelungen, den Regierungschef Henner Trawisheim, einen Cyborg auf geistiger Basis, derart zu manipulieren, daß er zu ihrem willenlosen Helfer und Vollstrecker bei der geplanten Übernahme der Macht über die Menschheit wurde. Erst in allerletzter Sekunde gelang die Revolution gegen die zur Diktatur verkommene Regierung von Babylon und damit gegen die heimlichen Herren der Menschheit, die Kalamiten. Während den meisten der Fremden die Flucht gelang, wurde Trawisheim aus dem Amt entfernt und in ein spezielles Sanatorium für Cyborgs gebracht.

Daniel Appeldoorn, der schon zu den Zeiten, als Babylon noch eine Kolonie Terras war, als Präsident dieser Welt fungiert hatte, bildete mit seinen Getreuen eine Übergangsregierung, deren wichtigste Aufgabe es ist, das Unrecht der Diktatur wiedergutzumachen und neue, freie Wahlen vorzubereiten.

Gleichzeitig ist es Ren Dhark und seinen Getreuen gelungen, die geheimnisvolle Schranke um Orn abzuschalten – und mit ihr auch die verhängnisvolle Strahlung, die die Worgun, das bedeutendste Volk dieser Sterneninsel, in Depressionen, Dummheit und Dekadenz trieb.

Nach seiner Rückkehr in die Milchstraße kann Ren Dhark dem Angebot des industriellen Terence Wallis nicht länger ausweichen und läßt seinen Körper mit Nanorobotern behandeln, die ihn und sieben von ihm Auserwählte unsterblich machen sollen. Doch anstatt sich mit seiner nun vollständig veränderten Lebensperspektive beschäftigen zu können, muß sich Ren Dhark einer neuen Herausforderung stellen: Eine unbekannte Macht sorgt dafür, daß der Hyperraum nicht länger zugänglich ist: Transmitter, Hyperfunk und Transitionstriebwerke funktionieren nicht mehr. Zwar gelingt es bald, Transitionstriebwerke und Transmitter wieder ans Laufen zu bringen, aber Ortung und Funk sind weiterhin nicht möglich.

Und dann überschlagen sich die Ereignisse: Auf Babylon stößt der Journalist Bert Stranger auf zahlreiche Ungereimtheiten im Fall Henner Trawisheims, des gestürzten Diktators. Auf Eden altert der angeblich unsterbliche Terence Wallis plötzlich rasant. Tantal, Treenor und JCB werden bei ihrer Flucht vor den Nögk über einem unbekannten Wüstenplaneten abgeschossen. Und Ren Dhark gerät bei einem erneuten Versuch, die Transmitterstraßen wieder nutzbar zu machen, mitsamt seinem Raumschiff POINT OF in eine tödliche Falle…

1.

»Igor, mein schwerhöriger Freund – was soll ich denn mit all den Ästen und Zweigen? Wie soll ich daraus einen Menschen zusammensetzen?«

»Ich habe lediglich Ihre Anweisung befolgt, Doktor Frankenstein: ›Begib dich auf den Friedhof und besorge mir Eichenteile.‹«

Bert Stranger deaktivierte die Wiedergabefunktion seines tragbaren kleinen Diktiergeräts. Mit einem weiteren Handgriff löschte er die letzten beiden Absätze.

Er hatte das Gerät ständig griffbereit, um gewappnet zu sein, falls ihn plötzlich ein literarischer Geistesblitz überkam. Doch die seltsamen Gedanken, die ihn in dieser unheimlichen Gegend befielen, waren alles andere als veröffentlichungsreif. Ein seriöser Journalist kalauerte in seinen Artikeln nicht auf Kosten anderer – auch wenn er Dr. Freukenbiehl liebend gern durch den Kakao gezogen hätte.

Selbiger war Leiter eines Sanatoriums für Geistesgestörte auf Babylon. Das gruselige Umfeld, in dem die Klinikpyramide stand, hatte ihm ziemlich rasch den Spottnamen »Dr. Frankenstein« eingebracht – den er natürlich nicht gern hörte. Freukenbiehl war der Prototyp dessen, was man sich unter dem Oberhaupt einer psychiatrischen Einrichtung vorstellte, er hätte glatt die Reinkarnation Siegmund Freuds sein können.

Stranger konnte ihn nicht ausstehen, was auf Gegenseitigkeit beruhte – wenigstens in diesem Punkt waren sie sich einig.

Obwohl der Arzt dem Journalisten bereits mit Hausverbot gedroht und ihn beim letzten Zusammentreffen mit bösen Blicken geradezu durchbohrt hatte, kamen beide um eine neuerliche Begegnung nicht umhin. Strangers oberster Chef höchstpersönlich hatte Freukenbiehl angeraten, seinem Mitarbeiter bei dessen Recherchen keine Steine in den Weg zu legen und ihn ungehindert zum prominentesten Patienten der Klinik, dem ehemaligen babylonischen Staatschef Henner Trawisheim, vorzulassen.

Mit Sam Patterson, dem Besitzer des Medienkonzerns Terra-Press, legte sich selbst ein »Dr. Frankenstein« nur ungern an, daher hatte er Stranger zähneknirschend einen Termin eingeräumt.

Der rothaarige Reporter war klein, kugelrund, hatte kurze Arme und Segelohren. Ein Frauentyp war er somit zumindest optisch nicht, doch hin und wieder begleitete ihn das eine oder andere weibliche Wesen ein Stück seines Weges. Für Bis-daß-der-Tod-euch-scheidet hatte er allerdings noch nicht die passende Partnerin gefunden.

Veronique de Brun kam ihm in den Sinn. Ihr lockeres Verhältnis war aufregend, aber auch irgendwie unbefriedigend. Beide waren beruflich ziemlich eingespannt. Immer öfter war er zu Recherchezwecken auf anderen Planeten unterwegs, und unter seinem ständigen Hin und Her zwischen den Terra-Press-Redaktionen litt ihre Beziehung. War es überhaupt noch eine?

Freukenbiehls Privatleben hatte Stranger bisher nicht recherchiert, aber rein vom Empfinden her stufte er ihn als eingefleischten Junggesellen ein. Der Mann war vermutlich nur mit seiner Arbeit verheiratet. Stranger konnte und wollte sich »Dr. Frankenstein« jedenfalls nicht im Kreise einer eigenen Familie vorstellen. Der Gedanke, dieser ihm total unsympathische Mann könnte sich vermehrt haben, erschien ihm absurd – und gruselig.

Spontan fiel dem Reporter ein weiterer Frankenstein-Kalauer ein.

»Wenn wir unser Geschöpf unter Strom setzen, Meister, könnte es Schaden nehmen!«

»Kennst du denn eine bessere Methode, um Leben zu erschaffen, Igor?«

»Und ob – die Rechtsprechung hat damit gute Erfahrungen gemacht: Zeugen.«

Diesmal verzichtete Stranger von vornherein darauf, das Diktiergerät einzuschalten. Als Meister seines Fachs wußte er, welche bösen Späße beim Leser gut ankamen und welche man sich besser verkniff.

Wenig später stand er »Dr. Frankenstein« leibhaftig im Eingangsbereich der Pyramide gegenüber. Zu seiner Erleichterung beließ es der Anstaltsleiter bei einer kurzen frostigen Begrüßung. Die wohlproportionierte Schwester Janet, die über eine warmherzige, mütterliche Ausstrahlung verfügte (die also das genaue Gegenteil ihres Vorgesetzten war), übernahm es, den unerwünschten Besucher zu Henner Trawisheim zu führen.

»Ich muß Sie allerdings warnen«, sagte sie auf dem Weg dorthin. »Der Patient ist derzeit kaum ansprechbar.«

Trotz seiner breiten Schultern, auf denen das Leben viel abgeladen hatte, wirkte der 47jährige Ex-Staatschef wie ein Schatten seiner selbst. Seit ihm das teilorganische Memory-Implantat – das ihm zwar einen Intelligenzquotienten von 276 Punkten verliehen, ihn aber auch für die Einflüsterungen der Kalamiten anfällig gemacht hatte – entfernt worden war, verfiel er zusehends. Dazu trugen maßgeblich die Schreckensvisionen bei, die ihn seither in unregelmäßigen Abständen plagten. Und genau darüber wollte Stranger erneut mit ihm reden. Er beabsichtigte, ihm von den Visionen des Balduren zu erzählen, die sich ja mit denen Trawisheims deckten.

Aus dem Gespräch wurde jedoch nichts. Schwester Janet hatte nicht übertrieben: Das frühere Staatsoberhaupt von Babylon stand unverkennbar unter starkem Medikamenteneinfluß und lallte fortwährend unzusammenhängendes Zeug. Eine vernünftige Unterhaltung war somit unmöglich – eine unvernünftige ebenso.

Umgehend wurde Stranger bei Dr. Freukenbiehl vorstellig und verlangte eine Erklärung.

»Ich kann mir nur schwerlich vorstellen, daß eine derart krasse Überdosierung zur Genesung des Patienten beiträgt!« hielt Stranger dem Anstaltsleiter bei einem Vieraugengespräch in dessen Büro vor.

Der Arzt grinste. »Ich mir auch nicht. Aber wer sagt denn, daß ich überhaupt daran interessiert bin, diesen Verbrecher zu heilen?«

Strangers Kinnlade klappte herunter wie der Deckel einer Schuhschachtel. Ihm fehlten die Worte, und das passierte ihm weiß Gott nicht oft.

»Nach allem, was Trawisheim den Bewohnern von Babylon angetan hat, wird er in meiner Klinik noch viel zu gut behandelt«, fuhr der Arzt verbittert fort. »Ja, ich will, daß er leidet! Sollten Sie es wagen, darüber zu schreiben, werde ich Ihre Anschuldigungen vehement dementieren und behaupten, lediglich eine neuartige Behandlungsmethode anzuwenden, die auf medizinisch ungebildete Laien verstörend wirkt.«

»Das… was Sie mit Trawisheim betreiben, kommt einer Folter gleich!« stammelte Stranger fassungslos. »Wie vereinbart sich Ihr Verhalten mit dem hippokratischen Eid?«

»Wie vereinbart sich Trawisheims Schwur, als Regent stets Schaden von der Menschheit abzuwenden und deren Wohl zu mehren, mit seinem Verrat an derselben?« stellte Freukenbiehl die Gegenfrage. »Er hat mit den Kalamiten gemeinsame Sache gemacht!«

»Was, wie Ihnen bekannt ist, mit massiven Manipulationen an seinem Memory-Implantat zusammenhing.«

»Ich bin überzeugt, er verfügte noch über genügend eigenen Willen, um sich gegen die unheilvollen Einflüsse wehren zu können. Im übrigen hätte er den Zugriff auf sein Implantat niemals zulassen dürfen. Sein bodenloser Leichtsinn brachte ihn in diese Lage – und jetzt mimt er den Verrückten, um seiner gerechten Strafe zu entgehen. Nicht mit mir! Ich ziehe ihn zur Rechenschaft, indem ich seinen Körper und seine Seele nach und nach zerstöre. Daran wird mich niemand hindern! Auch Sie nicht, Mister Stranger, denn Sie können mir nichts beweisen! Sam Patterson wird meiner ›fachlichen Analyse‹ mehr Glauben schenken als Ihren ›infamen Verleumdungen‹.«

Als Stranger wenig später frustriert Freukenbiehls Büro verließ, kam ihm ein weiterer Kalauer in den Sinn, der trefflich zu »Dr. Frankensteins« wirren Racheplänen paßte.

»Igor! Wir müssen unser Geschöpf zerstören!«

»Aber warum denn, Meister? Was haben Sie gegen ihn?«

»Nicht, daß er besser aussieht als ich. Nicht, daß er sehr viel leistungsfähiger ist. Nicht, daß er mehr Intelligenz besitzt. Aber alles drei zusammen?«

Angesichts der ernsten Situation konnte Stranger nicht einmal selbst darüber lachen. Zumindest aber verspürte er eine gewisse Schadenfreude. Das praktische kleine Diktiergerät diente nämlich nicht nur dem Zweck, skurrile Späße und sonstige Gedankenblitze aufzuzeichnen – man konnte es auch heimlich einschalten, um ein vertrauliches Zwiegespräch mitzuschneiden.

*

Auf dem Rückweg in die Redaktion wurde Stranger klar, welchen gravierenden Fehler er von vornherein begangen hatte: Er hatte sich zu sehr auf Trawisheims Schicksal konzentriert und es dabei versäumt, dessen aktuelles Umfeld abzuklopfen, also Dr. Freukenbiehl, Schwester Janet und das übrige Klinikpersonal.

Diese journalistische Entgleisung machte er wenig später wieder wett, indem er von seinem Arbeitsplatz aus den leistungsfähigen Hyperkalkulator »anzapfte«, der fast den ganzen Keller des Redaktionsgebäudes einnahm und praktisch nie stillstand.

Stranger wurde verhältnismäßig schnell fündig.

Unter dem inoffiziellen Kalamiten-Regime hatte sich Dr. Freukenbiehl rund um die Uhr beobachtet gefühlt – intelligente Menschen wurden von totalitären Regierungen grundsätzlich als potentielle Feinde eingestuft. Obwohl er bemüht gewesen war, sich den politischen Gegebenheiten anzupassen, hatte er kaum noch freie berufliche Entscheidungen treffen können.

Und dann, kurz vor der Wende, war etwas Schreckliches passiert: In den Wirren des Untergangs der Trawisheim-Regierung waren Freukenbiehls Frau und seine beiden Kinder ums Leben gekommen. Durch Zufall waren sie auf dem Heimweg in eine Schießerei geraten…

Sie hatten keinem etwas getan, waren nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Die Todesschützen hatte man nicht ausfindig gemacht, es hatte wohl auch nie eine ernsthafte Untersuchung gegeben, daher hielt sich Dr. Freukenbiehl nun an den Hauptschuldigen der ganzen Misere.

Stranger verabscheute, was der Anstaltsleiter Trawisheim antat, konnte dessen unbändigen Haß auf den einstigen Staatsführer aber auch ein wenig verstehen. Deshalb verzichtete er zunächst darauf, mit seiner Gesprächsaufzeichnung zu Sam Patterson zu gehen und ihm vorzuschlagen, Freukenbiehl in den Medien plakativ als Folterknecht anzuprangern.

Es mußte eine andere Lösung geben.

Stranger hatte bereits einen Plan, für dessen Durchführung er jedoch Hilfe benötigte – von jemandem, der mutig genug war, sich gegen den amtierenden Regierungschef zu stellen.

Laut Strangers Recherchen gehörte Freukenbiehl zu den ersten Siedlern auf Babylon, und er pflegte ein enges freundschaftliches Verhältnis zu Johan Lüttwitz, dem Privatsekretär von Daniel Appeldoorn. »Dr. Frankenstein« hatte also Beziehungen nach ganz oben.

*

Die Kalamiten waren ein dämonisch böses Volk, das den Menschen zum Verwechseln ähnlich sah. Diesen Umstand hatten sie genutzt, um die Menschheit an mehreren Orten zu unterwandern. Doch die Invasoren, die ihre waagerechten Schlitzpupillen hinter Kontaktlinsen oder durch gewagte Augenoperationen verbargen, waren immer wieder enttarnt und zurückgeschlagen worden.

Auch auf Babylon hatte massiver Widerstand gegen die Kalamiten und ihre Helfershelfer eine Eroberung des gesamten Planeten verhindert. Dies war vor allem einer Gruppe couragierter Menschen zu verdanken, zu denen unter anderem Henk de Groot zählte. Er hatte beherzt gegen Trawisheim interveniert, an der Befreiung Ren Dharks mitgewirkt und durch seine Taten dem früheren Staatschef Daniel Appeldoorn wieder zu Amt und Würden verholfen.

Der 1,80 Meter große hagere Ingenieur, der mit Frau und Tochter in einer geräumigen Wohnung im 86. Stockwerk einer Ringpyramide wohnte, staunte nicht schlecht, als eines Abends Bert Stranger vor seiner Tür stand und ihn um ein vertrauliches Gespräch bat. Beide zogen sich in Henks Arbeitszimmer zurück.

Ohne Wenn und Aber schilderte der Journalist seine Erlebnisse und Erkenntnisse – und weckte damit schlagartig de Groots Unmut.

»Wollen Sie allen Ernstes behaupten, die amtierende Regierung weiß von den Mißhandlungen in der Klinik und unternimmt nichts?« brauste Henk auf. »Das ist eine infame Unterstellung! Seit Trawisheims Absetzung herrschen auf dieser Welt wieder Recht und Ordnung. Appeldoorns Regierung würde es niemals zulassen, daß man einen Staatsbürger gesetzwidrig behandelt – das gilt auch für Trawisheim. Folter gleich welcher Art ist auf Babylon verpönt!«

»Ich respektiere Ihre patriotische Gesinnung«, erwiderte Stranger, »die ich allerdings für gefährlich naiv halte. Im Umgang mit Politikern ist man schließlich einiges gewohnt. Auch nach dem Austausch des Terrorregimes gegen eine neue und zweifelsohne bessere Regierung besteht die Führungsspitze nach wie vor aus Politikern. Und Politiker tun manchmal Dinge, die zwar falsch sind, die sie aber für politisch notwendig halten – um es einmal betont vorsichtig zu umschreiben.«

»Was haben Sie eigentlich vor?« fragte Henk de Groot mißtrauisch. »Wollen Sie in den Medien eine Revolution gegen die Revolutionäre anzetteln?«

Stranger hob abwehrend die Hände. »Mitnichten, mein Freund, mitnichten. Mir ist nicht an einem öffentlichen Skandal gelegen. Ganz im Gegenteil, ich möchte die Medien aus meiner geplanten Aktion völlig heraushalten.«

»Aktion? Was für eine Aktion?«

»Nach allem, was ich bisher in Erfahrung gebracht habe, könnte Henner Trawisheim aufgrund seiner Visionen in naher Zukunft sehr wichtig für das Überleben der Menschheit sein. Tot oder verblödet nutzt er uns gar nichts mehr. Deshalb müssen wir ihn aus dem Sanatorium befreien.«

»Befreien? Wir?« wiederholte sein Gesprächspartner. »Das wäre keine Befreiung, sondern eine Entführung. Und es würde bedeuten, daß ich mich gegen die Regierung stelle.«

»Na und? Als Rebell haben Sie doch bereits einschlägige Erfahrung mit so etwas. Deshalb wende ich mich ja an Sie. Die Befreiung Ren Dharks war ein genialer Handstreich, ebenso meine Rettung aus den Fängen der Staatspolizei – so etwas schreit nach einer Wiederholung.«

»Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage! Vergessen Sie es! Verschwinden Sie, Stranger! Und seien Sie froh, daß ich Sie nicht anzeige!«

*

Obwohl es mitten in der Nacht war, konnte Henner Trawisheim nicht einschlafen. Am liebsten wäre er aufgestanden, um sich etwas zu bewegen, doch selbst das schaffte er nicht, entkräftet wie er war. Sogar der Weg zur Toilette war ihm zu beschwerlich, weshalb ihm Schwester Janet eine Bettpfanne bereitgestellt hatte.

Daß sein Geist ständig vernebelt war, betrachtete er mittlerweile als Segen, weil er dann nicht mitbekam, wie schlecht es um ihn stand. Nur in wenigen klaren Momenten wurde er sich seiner Situation bewußt – und das war schlimmer als jede geistige Verwirrung.

Er ahnte, daß in erster Linie die Medikamente, die man ihm verabreichte, schuld an seinem desolaten Zustand waren. Dennoch fehlte ihm die Kraft, gegen die Einnahme aufzubegehren. Wie ein gehorsames Kind schluckte er, was ihm der Arzt verschrieb, obwohl er befürchtete, daß die Tabletten, Tropfen und Spritzen vor allem dazu dienten, ihn zu quälen.

»Das bilden Sie sich nur ein«, hatte Schwester Janet ihm versichert, als er in einem hellen Augenblick darauf zu sprechen gekommen war. »Der Herr Doktor weiß genau, was er tut.«

Natürlich wußte er das, der Herr Doktor! Aber die Schwester durchschaute das teuflische Spiel des »Dr. Frankenstein« (auch Trawisheim war der Spottname des Arztes bekannt) nicht, so blind vertraute sie ihm.

Vielleicht hat sie ja recht, dachte der Patient, während er vergeblich versuchte, sich aufzurichten. Vielleicht bilde ich mir alles tatsächlich nur ein – so wie ich mir in meinem Wahn gerade einbilde, daß dort drüben die Wand auseinanderklafft und ein vierbeiniges Ungeheuer den Raum betritt.

Bei näherem Hinsehen stellte er fest, daß das Untier nur zwei Beine hatte, die beiden anderen Körperglieder entpuppten sich als Arme. Das gedrungene, gebückt gehende Geschöpf sah einem Menschen nicht unähnlich, wenn man einmal von der verwachsenen Figur und den verzerrten Gesichtszügen absah.

Frankensteins Gehilfe Igor! ging es Trawisheim entsetzt durch den Kopf. Offenbar verliere ich endgültig den Verstand!

Nur zu gern hätte er jetzt die Augen geschlossen, doch wie unter einem inneren Zwang starrte er gebannt auf das Wesen, das sich allmählich aufrichtete und beim Näherkommen ständig sein Aussehen zu verändern schien. Die Form des Untierkörpers wurde zusehends rundlicher, und die Gesichtszüge glätteten sich merklich.

Erst als das Biest ganz nah bei ihm stand, glaubte der Patient, es zu identifizieren.

Bert Stranger?

Anstelle seines gewohnten, perfekt geschneiderten Straßenanzugs trug der Reporter dunkle Trainingskleidung, die ihm offensichtlich zu groß und um die Bauchgegend herum viel zu eng war; also konnte es sich nur um eine Halluzination handeln – allerdings um eine sehr reale, denn als ihn das Stranger-Monstrum bei den Schultern ergriff, verspürte Trawisheim, dessen Körper auf jedwede Berührung derzeit überempfindlich reagierte, einen schmerzhaften Druck.

Er wollte um Hilfe rufen, doch nur ein heiseres Krächzen löste sich aus seiner Kehle.

Seine namenlose Furcht vor dem seltsamen Angreifer setzte ungeahnte Energien in ihm frei. Kurz zuvor hatte er sich kaum noch bewegen können, nun schlug er mit der Kraft eines Wahnsinnigen um sich – so wild und unbändig, daß zwei Mann nötig waren, um ihn zu bändigen.

Zwei Mann? Erst jetzt wurde Trawisheim bewußt, daß ihm das Stranger-Gespenst nicht allein erschienen war. Eine zweite fiktive Person war bei ihm: ein Fremder ohne Gesicht.

Nein, er hatte ein Gesicht, aber er verbarg es unter einer bedrohlichen Maske. Trawisheim wehrte sich nun noch heftiger. Was auch immer die beiden von ihm wollten – sein Leben? –, sie würden es nicht bekommen! Niemals!

Der Mann mit der Maske holte mit der Handkante aus und schlug zu. Bevor es Nacht um ihn wurde, erkannte Trawisheim, daß die Maske in Wahrheit eine Sturmhaube war…

*

»Goldene« war die allgemein gebräuchliche Bezeichnung für die mehrere hundert Meter oder gar einige Kilometer hohen Statuen, die es auf zahlreichen ehemaligen Stützpunktwelten der Worgun gab. Sie ähnelten gesichtslosen Humanoiden und waren zumeist als sichtbarer Bestandteil technischer Großanlagen errichtet worden. Die riesigen Statuen konnten aus ihren Händen und Köpfen verschiedene Strahlenarten abfeuern und sich mitsamt der Steuerungsanlagen in Schutzschirme hüllen.

Der Goldene auf Babylon befand sich in einem mehr als fünfzig Kilometer durchmessenden Areal aus violettblauem Unitall, in dessen exakter Mitte auf einem eintausendzweiundsechzig Meter hohen Sockel die mehr als acht Kilometer hohe Statue mit in den Nacken gelegtem Kopf und zum Himmel ausgestreckten Armen stand. In seinem Inneren hatten die Worgun einst Transmitterstraßen und Antigravlifte angelegt.

Im Untergeschoß des Sockels konnte der Goldene einen Intervallfeldtunnel erzeugen. Dieses Phänomen war von den Wissenschaftlern, die im Inneren des Goldenen unablässig forschten, erst vor einiger Zeit entdeckt worden. Mittels manipulierter Intervallfelder ließen sich dort wurmlochähnliche Durchgänge erschaffen, solange sich das Feld innerhalb fester Materie befand.

Dieses immens energieaufwendige Verfahren hatte gegenüber gewöhnlichen Transmittern zwei Vorteile. Erstens: Ein Intervallfeldtunnel konnte beliebig große Gruppen aufnehmen, weil sich die Größe des Durchgangs variieren und steuern ließ. Zweitens: Der Tunnel war nicht anmeßbar. Allerdings gab es auch Nachteile. Innerhalb des Intervallfeldtunnels durfte keine Strahlenwaffe abgefeuert werden, weil der Gang sonst in sich zusammenbrach. Das gleiche passierte, wenn jemand mit einer Strahlenwaffe hineinfeuerte. Lediglich der Einsatz von Projektilwaffen stellte sicher, daß der Tunnel nicht kollabierte.

Die beiden Männer, die tief unterhalb der goldenen Statue den sich hinter ihnen schließenden Intervallfeldtunnel verließen, hatten auf den Einsatz von Waffen verzichtet, schließlich waren sie nicht ausgezogen, um jemanden zu töten. Der dritte Mann, den sie zwischen sich mitschleiften, war lediglich bewußtlos – dafür hatte einfache »Handkantenarbeit« genügt.

»Ich kann es noch immer nicht fassen, daß ich mich von Ihnen zu dieser verrückten Aktion habe überreden lassen!« schimpfte Henk de Groot und riß sich die Sturmmaske herunter.

»Und ich kann nicht fassen, daß Sie dermaßen hart zugeschlagen haben«, erwiderte Bert Stranger. »Mußte das sein? Trawisheim hätte dabei draufgehen können.«

»Der Mann ist ein typischer Dickschädel und entsprechend hart im Nehmen.«

»Das war vielleicht früher einmal. In seinem augenblicklichen desolaten Zustand sollte man in seiner Gegenwart besser nicht zu heftig niesen.«

Henk de Groot stand nicht der Sinn nach einer ausufernden Diskussion. Er drängte zur Eile. Zu dieser nachtschlafenden Zeit waren zwar nur wenige Wissenschaftler und Techniker im Goldenen aktiv, doch er wollte keinem davon begegnen und sich als Staatsfeind kompromittieren.

»Höchste Zeit, daß Sie sich wieder umziehen«, sagte er zu Stranger, während beide den Ohnmächtigen zum Antigravlift trugen. »In meinem schwarzen Trainingsanzug sehen Sie ziemlich lächerlich aus, das Teil paßt Ihnen hinten und vorne nicht.«

»Ach ja, ich sehe lächerlich aus?« entrüstete sich der Reporter. »Was glauben Sie wohl, wie paranoid Sie mit Ihrer Sturmmaske auf mich gewirkt haben? Wie einer, der unter Verfolgungswahn leidet.«

»Das Überstreifen der Maske geschah zu meinem Schutz«, rechtfertigte sich der Ingenieur, »und zum Schutz meiner Familie, die ich vor Repressalien bewahren möchte, falls man mich erkennt. Hier im Goldenen kann ich jede Überwachungsvorrichtung bei Bedarf deaktivieren, aber über die Standorte eventueller Beobachtungseinrichtungen in Trawisheims Zimmer weiß ich rein gar nichts. Daher hielt ich es für angeraten, mich zu tarnen. Nur Sie kennen die Identität Ihres Komplizen.«

»Keine Sorge, ich verrate Sie nicht. Ich bin für meine notfalls eiserne Verschwiegenheit bekannt.«

Im höhergelegenen Vitrinensaal, in dem tote Fremdwesen und sonstige Artefakte anderer Welten ausgestellt waren, parkte ein Schweber. Stranger hatte ihn in Geheimagentenmanier unter falschem Namen gemietet. Seine Kleidung lag darin. Rasch zog er sich um und gab de Groot den Trainingsanzug zurück, den er sich vor Beginn der Aktion von ihm ausgeliehen hatte, in der Hoffnung, sich damit besser und schneller bewegen zu können; leider war das Gegenteil der Fall gewesen.

Gemeinsam setzten sie Trawisheim, der reglos wie ein Stein war, auf den Beifahrersitz des Schwebers und schnallten ihn fest. Dann verabschiedete sich Stranger von de Groot, nahm an der Schwebersteuerung Platz und verließ ohne großes Aufsehen den Goldenen.

*

Als Henner Trawisheim zu sich kam, fand er sich allein in einer ihm fremden Wohnung wieder. Er lag auf einer Couch.

Verwirrt rieb er sich den schmerzenden Nacken. Die Wirkung der starken Medikamente ließ allmählich nach, und er versuchte, sich an die letzten Stunden zu erinnern.

Die Stranger-Halluzination, der Schlag des Maskierten… so fest hat der Kerl doch gar nicht zugehauen, überlegte er angestrengt.

Trawisheim vermutete zu Recht, daß die Drogen in seinem Körper schuld an seiner Schwächung waren – zu früheren Zeiten hätte er einen solchen »Mädchenschlag« problemlos weggesteckt und zurückgeschlagen.

Trotz seiner Benommenheit bemühte er sich, die Situation zu analysieren. Jemand hatte ihn aus der Klinik nach hierher verschleppt. Wahrscheinlich Stranger – falls dessen Erscheinung keine Sinnestäuschung gewesen war. Anscheinend hatte der Journalist einen Helfer gehabt, der nicht erkannt werden wollte.

Langsam richtete sich Trawisheim auf, wobei er das Gefühl hatte, jeder einzelne Knochen wolle ihm eine Botschaft vermitteln: »Laß das bleiben und leg dich wieder hin!« Er überhörte die ebenso stummen wie schmerzhaften Aufforderungen und stellte sich auf die Füße.

Mit ungelenken Schritten bewegte er sich im Schneckentempo durch die zweckmäßig eingerichtete Wohnung, vom Aufbau her eine typische Pyramidenunterkunft, nicht übermäßig groß, also wohl eher für eine Einzelperson als für eine Familie gedacht. Vermutlich war der Bewohner männlichen Geschlechts, denn es gab nur einen einzigen Schuhschrank.

Dafür frönte der Mann einer anderen, ziemlich ungewöhnlichen Kaufleidenschaft: Er sammelte technische Spielzeuge aus allen Epochen seit der Erfindung des Blechspielzeugs.

Zweifelsohne ein Kindskopf, dachte Henner Trawisheim amüsiert.

Diese Einschätzung wurde durch die Art und Form der wenigen Möbel und den schrillen Anstrich noch verstärkt.

Plötzlich vernahm Trawisheim ein Geräusch aus der Diele. Jemand kam herein.

Hoffentlich kein Feind, sorgte sich der angeschlagene Mann, der noch nicht über genügend Stärke verfügte, um sich gegen einen körperlichen Angriff zur Wehr zu setzen.

Zu seiner Erleichterung stand ihm kurz darauf Bert Stranger gegenüber und fragte mit fröhlich-unbekümmertem Unterton: »Na, Euer Hochwohlgeboren? Endlich aufgewacht?«

»Was ist geschehen?« erkundigte sich Trawisheim – und erschrak selbst ein wenig über seine heisere Stimme.

Stranger schilderte ihm ausführlich die Vorkommnisse und endete: »Soeben habe ich den Schweber zurückgebracht, den ich unter falschem Namen gemietet hatte.«

»Eine löbliche Vorsichtsmaßnahme«, entgegnete Trawisheim, der merklich immer mehr zu Kräften kam und dessen Stimme jetzt etwas besser klang, »aber leider vergebens. Ich schätze, wir bekommen gleich unliebsamen Besuch.«

Stranger winkte ab. »Das wird nicht passieren. Selbst wenn ich bei Ihrer Befreiung von einer Kamera erfaßt wurde, wird hier niemand nach mir suchen. Dies ist ein geheimer Rückzugsort, den ich ebenfalls unter einem Falschnamen gemietet habe. In der Klinik hat wahrscheinlich noch gar keiner gemerkt, daß Sie fehlen, schließlich sind wir sozusagen durch die Wand abmarschiert.«

»Mein Verschwinden wurde mit Sicherheit längst gemeldet«, widersprach Trawisheim. »Sobald die Behörden meine Spur aufnehmen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis man mich wieder einfängt. Die großen Ringpyramiden sind mit einem teuflisch perfekten Kontrollsystem ausgestattet. Babylon Watch entgeht absolut nichts. Zu meinen Regierungszeiten hätte man bereits gewußt, daß sich hier ein Gesuchter aufhält, doch Appeldoorns Leute haben wohl noch so ihre Schwierigkeiten mit der komplizierten Technik – was uns vielleicht genügend Zeit zur Flucht verschafft, vorausgesetzt, wir machen uns sofort auf den Weg.«

»Babylon Watch?« erwiderte Stranger und kräuselte die Stirn. »Klingt nach illegaler Überwachung. Wer hat das denn angeordnet?«

»Ich selbst. Kommen Sie, wir müssen schleunigst weg von hier!«

»Aber wohin denn?«

»Wir gehen in den Untergrund«, antwortete Trawisheim, »und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.«

Obwohl er noch etwas ungelenk war, begab er sich raschen Schrittes zur Wohnungstür. Am Garderobenständer griff er nach einem großen Schlapphut, der dort hing. Trawisheim war froh, daß man ihm in der Klinik wenigstens noch ein bißchen Würde gelassen und ihm keine Anstaltskleidung verpaßt hatte, andernfalls hätte er sich jetzt erst einmal umziehen müssen, um draußen nicht aufzufallen.

Stranger überholte ihn im Außenflur, packte ihn am Arm und zog ihn mit sich. Bei manchen Verfolgungsjagden kam es buchstäblich auf die Sekunde an, und er wollte nicht verhaftet werden, nur weil er im entscheidenden Augenblick zu lange gezögert hatte.

»Treppenhaus?« fragte er knapp.

»In welcher Höhe befinden wir uns?« wollte Trawisheim wissen.

»Fünfhundert Meter über dem Grund.«

»Auch die Treppenhäuser werden überwacht, und es dauert zu lange, die vielen Stufen hinunterzurennen. Ab in den Expreßlift, vielleicht schaffen wir es ja noch rechtzeitig bis in den Keller. Dieses Gebäude ist hoffentlich ans U-Bahnnetz angeschlossen.«

Stranger nickte und bestieg den Lift.

Von nun an waren Henner Trawisheim und Bert Stranger auf der Flucht – wie die legendäre Serien- und Filmfigur Dr. Richard Kimble. Allerdings suchten sie nicht nach einem einarmigen Mörder, sondern begaben sich auf eine weitaus gefährlichere Mission. Und ihre Häscher waren noch sehr viel hartnäckiger als Kimbles ausgefuchster Verfolger Gerard.

2.

Der Ausbau des U-Bahnnetzes auf Babylon war gewissermaßen eine unendliche Geschichte. War man auf der einen Seite fertig, mußten auf der anderen Seite bereits die nächsten Wartungsarbeiten durchgeführt werden, wodurch sich der Weiterbau erheblich verzögerte. Mit heißer Nadel konnte man ein derart gewaltiges Projekt nun einmal nicht stricken, doch im großen und ganzen gingen die Arbeiten zügig voran und standen vor baldiger Vollendung.

Die technische Sicherheit hatte natürlich Vorrang, weshalb die allgemeinen Überwachungssysteme noch nicht perfekt funktionierten. Und für das staatsgeheime Zusatzsystem Babylon Watch fehlten vielerorts Zeit und Kapital – ein Umstand, den sich Trawisheim nun zunutze machte.

Stranger und er bestiegen wahllos den ersten Zug, der in den unterirdischen Bahnhof der Pyramide einfuhr. Sie nahmen im hintersten Wagenteil Platz und beobachteten gerade noch, wie ein paar auffällig unauffällige Gestalten auf den Bahnsteig liefen.

»Das war knapp!« atmete Trawisheim auf. »Zum Glück wurden wir nur von normalen Dorfpolizisten verfolgt, und nicht von der Elite der SSP.«

»Die Elite der… was?« wunderte sich Stranger.

»Davon erzähle ich Ihnen nachher mehr«, erwiderte Trawisheim und begab sich zur Tür. »Wir wechseln in der nächsten Station die Bahn, und in den nachfolgenden Stationen ebenfalls. Dadurch bekommen sie uns nur schwer zu fassen. Außerdem entgehen wir auf diese Weise hoffentlich den Fahrkartenkontrolleuren.«

»Kontrolleure gibt es nicht mehr«, informierte ihn Stranger. »Die Fahrten mit dem Öffentlichen Nahverkehr sind für jeden Bürger dieses Planeten kostenlos.«

»Unmöglich! Ein Jahr vor meiner Absetzung habe ich überall Fahrkarten eingeführt.«

»Und Appeldoorns Regierung hat sie unmittelbar nach der Machtübernahme wieder abgeschafft – quasi als Wahlgeschenk.«

»Das ist auch gut so«, mischte sich ein Fahrgast ein. »Kultur und Personentransport sollten auf jedem zivilisierten Planeten der Galaxis kostenfrei sein. Schließlich zahle ich als Bürger Steuern.«

»Würde man jede Kleinigkeit aus Steuermitteln finanzieren, müßte die Regierung die Abgaben dauernd erhöhen«, brummelte Trawisheim und zog sich den Schlapphut tiefer ins Gesicht, damit man ihn nicht erkannte.

Die U-Bahn hielt. Trawisheim und Stranger stiegen aus – und auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig wieder ein.

»Wieso fahren wir zurück zum Ausgangspunkt?« fragte Stranger erschrocken.

»Weil unsere Verfolger damit nicht rechnen«, antwortete Trawisheim. »Wir steigen allerdings erst ein paar Stationen weiter aus beziehungsweise um, und diesmal wählen wir eine völlig andere Richtung.«

Ohne Medikamente ging es ihm stetig besser. Obwohl sein Vorgehen planlos wirkte, schien er genau zu wissen, was er tat. Stranger, der nach der x-ten Bahn bald nicht mehr wußte, wo er sich eigentlich befand, folgte ihm schweigend, verlor aber zusehends die Geduld.

»Allmählich habe ich die Bahnfahrerei satt!« platzte es schließlich aus ihm heraus – wobei er seine Stimme dämpfte, weil sie nicht allein im Abteil waren. »Sobald wir die nächste Parkstation erreichen, steige ich aus.«

Jede Pyramide war so etwas wie eine eigene Stadt, weshalb das eigentliche Stadtbild weitgehend nur aus Straßen und großen Parks bestand.

In fast jedem Park gab es eine U-Bahnstation.

»Nur zu, lassen Sie sich nicht aufhalten, wenn Ihnen der Sinn nach einem Sonnenspaziergang steht«, ermunterte Trawisheim seinen Begleiter. »Momentan ist die SSP nur hinter mir her – es sei denn, man hat Sie inzwischen ebenfalls ins Visier genommen. In diesem Fall wird man Sie da oben in kürzester Zeit aufspüren. Tagsüber sind wir nur im Untergrund wirklich sicher.«

»Soll das heißen, wir müssen bis zum Einbruch der Dunkelheit in den Tunneln bleiben?«

»So ist es. Beim nächsten Umsteigen suchen wir uns einen ruhigen Platz, und dann erfahren Sie nähere Einzelheiten. Wenn Sie es allerdings vorziehen, an die frische Luft zu gehen…«

»Schon gut, ich bleibe – und wenn auch nur aus journalistischer Wißbegierde.«

*

Stranger und Trawisheim hatten Glück und erwischten einen fast leeren Waggon.

Sie setzten sich so weit wie möglich von den wenigen anderen Fahrgästen weg und konnten nun endlich etwas ungestörter miteinander sprechen.

»Lassen Sie uns Tacheles reden«, verwendete Stranger eine jiddische Formulierung. »Was hat es mit Babylon Watch und der SSP auf sich?«

»Babylon Watch ist ein von den Kalamiten ins Leben gerufenes Regierungsprojekt zur möglichst lückenlosen Beobachtung aller Bürger dieses Planeten«, erklärte ihm Trawisheim. »Die in den Pyramiden eingebauten geheimen Überwachungsanlagen von BW sind nicht nur in der Lage, Menschen mittels Gesichtsanalyse oder anhand sonstiger körperlicher Merkmale zu identifizieren, sondern sie auch an ihrer Art, sich zu bewegen, zu erkennen. Letzteres ist sogar der wichtigste Identifikationspunkt, weil man seine persönliche Fortbewegungsart nicht durch Masken oder Operationen kaschieren kann.«

Stranger war skeptisch. »Die dafür notwendigen zusätzlichen Überwachungsgeräte müßten den Pyramidenbewohnern doch längst aufgefallen sein.«

»In den mächtig großen Gemäuern gibt es zahllose Tarnmöglichkeiten«, entgegnete Trawisheim. »Und falls doch mal jemand zufällig auf eines der verhältnismäßig winzigen Geräte stößt, hält er es für eine der üblichen Sicherheitsmaßnahmen, mit denen er sich beim Einzug schriftlich einverstanden erklärt hat. Nebenbei bemerkt: Bereits vorhandene Beobachtungsanlagen lassen sich mit ein paar technischen Kniffen leicht ergänzen oder vollständig umprogrammieren, so perfekt, daß es nicht einmal die Herstellerfirma merkt.«

»Und wie funktioniert das außerhalb der Pyramiden? Sind die Büsche und Bäume in den Parks ebenfalls verwanzt?«

Trawisheim schüttelte den Kopf. »Nein, dort findet die Beobachtung sozusagen in aller Öffentlichkeit statt. Was glauben Sie wohl, warum so viele ›Wettersatelliten‹ im Weltall herumschwirren? Damit Otto Normalverbraucher rechtzeitig erfährt, an welchem Einkaufswochenende es regnet? Ich staune immer wieder, wie naiv der einfache Mann von der Straße doch ist. Man darf keinem Politiker über den Weg trauen – und den systemgesteuerten Medien schon gar nicht.«

»Was das anbetrifft, hat Appeldoorn die Freiheit und Unabhängigkeit der Presse inzwischen glücklicherweise wiederhergestellt.«

»Sie glauben tatsächlich an die Mär von der Pressefreiheit, Stranger? Ich möchte Ihnen ja nicht Ihre Illusionen rauben, aber Sie erliegen wie alle anderen Schreiberlinge auch einem geschickten Täuschungsmanöver. Ihr Journalisten seid nämlich nicht so schlau wie ihr meint – die amtierenden Politiker sind euch stets um Nasenlängen voraus und nehmen mehr Einfluß auf eure Berichterstattung als ihr ahnt.

Die Art und Weise der Beeinflussung ist allerdings schwer zu durchschauen. Wichtig ist, daß man euch Presseleuten ständig das Gefühl gibt, selbständig zu agieren und etwas zu bewirken. Doch was ihr für eure unabhängige Meinung haltet, ist nicht selten in Wahrheit die Meinung der Regierung, selbst dann, wenn öffentlich gescholtene Abgeordnete so tun, als würden sie sich über die medialen Anfeindungen mächtig ärgern. Der Enthüllungsjournalist freut sich jedesmal diebisch, wenn er ›denen da oben‹ kräftig eins ausgewischt hat, ahnt aber nicht, daß er gerade selbst vorgeführt wurde.«

»So etwas passiert mir nicht!« erwiderte Stranger leicht verärgert. »Wenn ich jemandem eins reinwürge, hat er garantiert keinen Grund zur Freude.«

»Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher«, sagte Trawisheim. »Mit gezielt angewandter Psychologie lassen sich in den Medien sogar bestimmte politische Strömungen erzeugen. Das ist gewissermaßen ein Selbstläufer, weil viele Journalisten aus Bequemlichkeitsgründen voneinander abschreiben, ohne die Fakten vor der Veröffentlichung nochmals gründlich zu recherchieren. Dadurch schwimmen selbst miteinander konkurrierende Medienkonzerne einträchtig im gleichen Gewässer – die Richtung wird ihnen von der Politik vorgegeben, ohne daß sie es merken.«

»Möchten Sie noch länger meinen ehrenwerten Berufsstand beleidigen?« fragte Stranger ungehalten. »Oder erfahre ich endlich mehr über Babylon Watch?«

»Im Grunde genommen habe ich Ihnen bereits alles dazu gesagt: Der Bürger wird sowohl daheim als auch draußen beinahe nahtlos überwacht. Schon vor der Unterwanderung durch die Kalamiten sammelten Regierungsstellen persönliche Informationen, und natürlich gab es auch diverse Überwachungsvorrichtungen – jedoch nicht in diesem Ausmaß. Laytons Terrorregime auf Babylon sollte erst der Auftakt sein. Mit Hilfe von Babylon Watch wollten die Kalamiten ihre Eroberungspläne verwirklichen und die gesamte Menschheit in der ganzen Galaxis versklaven.

Mit Appeldoorn an der Spitze verläuft das Leben auf diesem Planeten sicherlich bald wieder in normalen Bahnen. Er ist ein umsichtiges und vorausschauendes Staatsoberhaupt – und genau deshalb würde er ein perfektes Überwachungssystem wie Babylon Watch niemals abschaffen. Statt dessen macht er garantiert bereits selbst Gebrauch davon; alles andere wäre staatsmännisch unklug.«

Stranger konnte das kaum glauben, es erschien ihm total unwirklich. Existierte Babylon Watch tatsächlich? Oder war das Ganze nur eine phantasievolle Erfindung des noch immer geistig verwirrten Ex-Staatschefs?

»Wollen Sie mir tatsächlich weismachen, daß die Regierung alle 36 Milliarden Bewohner dieser Welt überwacht?« fragte Stranger seinen Gesprächspartner direkt heraus. »Das ist technisch doch überhaupt nicht machbar.«

»Meinen letzten Informationen zufolge müssen noch die Daten von einer Milliarde Personen bei Babylon Watch erfaßt werden«, entgegnete Trawisheim. »Diese Zahl dürfte allerdings längst überholt sein. Angesichts der eingesetzten modernen Hyperkalkulatortechnik schätze ich mal, daß die Erfassung mittlerweile komplett abgeschlossen wurde.

Jeder, der sich in den Pyramiden oder bei Tag auf der Planetenoberfläche aufhält, kann von der Regierung mit einem einfachen Suchbefehl in Minutenschnelle aufgestöbert werden, anhand verschiedener Möglichkeiten, von denen die körperlichen Bewegungsmuster am entscheidendsten sind. Wer unbeweglich auf der Stelle verharrt, hat somit die größten Chancen, gar nicht oder erst sehr viel später entdeckt zu werden.«

»Nach den geltenden Gesetzen ist so etwas illegal.«

»Stimmt. Aber muß ich Sie erst darauf hinweisen, daß sich meine Regierung – oder besser: die Regierung der Kalamiten unter der Führerschaft von Nigel G. Layton – um solche Petitessen nie gekümmert hat?«

»Appeldoorn hält sich an die Gesetze«, erwiderte Stranger beharrlich, glaubte aber selbst nicht so recht daran, denn auch er hatte gehörige Vorbehalte gegenüber Politikern.

»Weshalb der gesetzestreue Daniel direkt nach der Amtsübernahme Babylon Watch sofort eingestellt und die Bevölkerung ausführlich darüber informiert hat«, bemerkte Trawisheim mit bissiger Ironie. »Wachen Sie auf, Stranger! Politiker sind machthungrig, ohne Ausnahme. Solange Appeldoorn überzeugt ist, das richtige zu tun, hat er keine Hemmungen oder gar Gewissensbisse, ein illegales Überwachungssystem zu verwenden. Uns Politikern ist absolut nichts heilig, wenn es ›dem Wohle der Bevölkerung‹ dient, um mal diese abgedroschene Phrase zu verwenden. Wir passen uns wie Chamäleons stets perfekt den jeweiligen Gegebenheiten an, und legen selbst negative Kritik zu unseren Gunsten aus.

Oh, wir treffen gerade an der Endstation ein. Kommen Sie, wir steigen um.«

Stranger hatte in den U-Bahntunneln schon lange die Orientierung verloren. Die Namen der Stationen rauschten nur so an ihm vorbei, ohne daß er sie noch einzuordnen vermochte. Normalerweise war er es gewohnt, die Dinge stets im Griff zu haben, doch das ehemalige Staatsoberhaupt von Babylon hatte in diesem Spiel längst die Führung übernommen.

»Wo war ich stehengeblieben?« erkundigte sich Trawisheim, nachdem er wenig später wieder auf seinen fünf Buchstaben saß.

»Beim Umgang der Politiker mit negativer Kritik«, antwortete Stranger – und schon legte sein Begleiter erneut wortreich los.

»Bei jedem politischen Vorhaben, ja sogar bei harmlosen öffentlichen Äußerungen eines Politikers, finden sich sofort die üblichen Bedenkenträger ein, um medienwirksam ihre Betroffenheit zu bekunden und dagegen zu protestieren. Nicht, weil diejenigen wirklich betroffen sind – sondern weil sie betroffen sein wollen, weshalb der Anlaß meistens nur zweitrangig ist. Ein erfahrener Politiker kämpft grundsätzlich nicht gegen kritische Stimmen an. Statt dessen bekundet er den Demonstrierenden gegenüber stets breit lächelnd sein vollstes Verständnis und sichert ihnen seine Unterstützung zu, wobei man sich natürlich vage halten sollte, um sein Versprechen später nicht einhalten zu müssen.«

Stranger schrieb Trawisheims Redseligkeit dem Medikamenteneinfluß zu. Hatten ihn die Drogen anfangs ruhiggestellt, schienen sie jetzt regelrecht aufputschend zu wirken – anders war seine schonungslose Offenheit nicht zu erklären. Unablässig redete er sich seinen wohl über Jahre hinweg aufgestauten Frust von der Seele.

»Wenn sich der Wind dreht, muß man als Politiker sein Fähnchen halt mitdrehen. Daniel Appeldoorn bildet da keine Ausnahme, Stranger. Ich erkenne seine Leistungen neidlos an, doch man sollte ihn nicht verklären, denn er ist auch nur ein Mensch. Das von meiner Regierung entwickelte ausgefeilte Überwachungssystem bietet ihm ungeahnte Möglichkeiten.«

»Am meisten enttäuscht mich, daß offenbar auch Eylers’ GSO dabei mitmacht«, warf Stranger ein. »Dort hätte man Babylon Watch von vornherein bekämpfen und verhindern müssen.«

»Man kann nur solche Mißstände beseitigen, die einem bekannt sind. Die Galaktische Sicherheitsorganisation weiß nichts von alledem. Bernd Eylers wurde von mir nie über Babylon Watch informiert – und von Layton mit Sicherheit ebenfalls nicht. Eylers zählte nicht zu unseren engsten Vertrauten, dafür ist er viel zu ehrlich.«

»Aber wie kam Ihre Regierung ohne die GSO überhaupt zurecht? Immerhin befand sich Babylon über lange Zeit hinweg in einer Art Ausnahmezustand, der ohne Eylers’ Agenten kaum zu kontrollieren gewesen wäre.«

»Wir verfügten über einen passablen Ersatz in Form einer geheimen Sicherheitspolizei – die Secret Security Police, kurz: SSP. Diese Organisation wurde extra zu dem Zweck erschaffen, die planetenweite Überwachung mittels Babylon Watch zu organisieren und durchzuführen. Da die SSP unmittelbar dem Büro des Regierungschefs unterstellt ist, weiß keine andere Behörde von ihrer Existenz.«

»Vielleicht hat Appeldoorn die GSO inzwischen informiert«, überlegte Stranger laut.

»Geben Sie sich keinen Illusionen hin, Stranger. Daniel Appeldoorn ist klug genug, um zu wissen, daß Eylers sein Vorgehen niemals billigen würde. Weder die GSO noch die Bevölkerung werden je etwas über Babylon Watch oder die SSP erfahren, jedenfalls nicht von den offiziellen Stellen. – Es ist Zeit für den nächsten Umstieg.«

*

Als Trawisheim und Stranger das U-Bahntunnelsystem verließen, herrschte tiefe Nacht. Sie befanden sich in einem abgelegenen Park, dessen breite Wege von Bodenlampen, die dezent die Büsche und Bäume anstrahlten, gesäumt wurden. Obwohl sich hier um diese späte Stunde sonst niemand aufhielt, fühlte sich Stranger – angesichts dessen, was er in den vergangenen Stunden erfahren hatte – von allen Seiten beobachtet.

»Die Satelliten erfassen uns bestimmt auch in der Dunkelheit«, befürchtete er.

»Selbstverständlich verfügen sie über Infrarotkameras«, bestätigte Trawisheim. »Aber deren Bilder sind nicht exakt genug, um ein Alarmsignal auszulösen. Zudem sind sämtliche Systeme, die auf Hypertechnik basieren, derzeit lahmgelegt. Babylon Watch ist also nur eingeschränkt einsetzbar, was vermutlich der Grund dafür ist, daß man mich in Ihrer Zweitwohnung erst so spät ausfindig gemacht hat.«

»Demnach hätten wir bereits tagsüber an die Oberfläche gehen können, ohne entdeckt zu werden.«

»Schon möglich, aber Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. Um jemanden aufzuspüren, ist nicht zwangsläufig Babylon Watch nötig, dafür reichen mitunter auch handelsübliche Überwachungsanlagen aus, wie beispielsweise die Kameras in den Bodenlampen links und rechts vom Weg.«

»Da sind Kameras drin?« entfuhr es Stranger erschrocken.

»Natürlich nicht in jeder, das wäre viel zu kostspielig«, beruhigte Trawisheim ihn. »Aber sporadisch werden wir gefilmt, so wie jeder Parkspaziergänger. Die Aufnahmen werden allerdings an keine zentrale Stelle gesendet, weshalb es ziemlich unwahrscheinlich ist, daß uns die SSP auf diese Weise entdeckt; gänzlich ausschließen kann man das allerdings nicht.«

Seinem Begleiter wurde immer mulmiger.

»Derlei Beobachtungen gehörten bereits vor der Machtübernahme durch die Kalamiten zum normalen Alltag«, machte Trawisheim ihm klar, »schon damals auf Terra. So etwas dient der Verbrechensbekämpfung.«

»Aber sind die Überwachungsfirmen nicht verpflichtet, den Bürger darauf hinzuweisen, wo und wann er gefilmt wird?«

»Im Prinzip ja«, antwortete Trawisheim wie ein Sprecher von Radio Eriwan. »Doch damit würde man beispielsweise feigen Kopftretern aufzeigen, wo sich die toten Winkel befinden. Der Opferschutz würde damit ad absurdum geführt.«

»Das wird der Datenschutz offenbar schon lange«, murrte Stranger. »Gibt es auf Babylon überhaupt noch ein stilles Eckchen, in dem man sich verbergen kann?«

»Das kommt ganz darauf an, inwieweit Appeldoorn Babylon Watch inzwischen weiter ausgebaut hat. Ich erwähnte ja bereits, daß es in den U-Bahntunneln noch ein erhebliches Defizit gibt. Hätte man die Kalamiten nicht vertrieben, hätten sie früher oder später bestimmt jeden Quadratzentimeter auf Babylon erfaßt. Daß sie mit ihrem Projekt nicht vollständig fertig wurden, kommt uns beiden jetzt zugute. Auch die Hyperfunkkatastrophe hilft uns bei unserer Flucht.«

Bei unserer Flucht, wiederholte Stranger in Gedanken. Bisher war er sich noch nicht einmal sicher, ob er überhaupt einen Grund hatte zu fliehen. Vielleicht wußte man ja noch gar nicht, daß er der Inhaber jener Wohnung war, in der man Trawisheim beinahe aufgespürt hätte. Möglicherweise brachte man ihn in keinerlei Zusammenhang mit der Befreiung des ehemaligen Staatschefs aus »Dr. Frankensteins« Klinik.