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Jeder von uns möchte gerne glücklich und zufrieden mit sich und seinem Platz im eigenen Leben sein, umgeben von Mitmenschen, die uns wohl gesonnen sind und uns wertschätzen. Das sollte am besten immer so sein und unsere Tage sollten uns ausschließlich positive Erlebnisse bescheren. Natürlich ist das für niemanden möglich. Das Leben ist ein Feld der Erfahrungen und Lernprozesse und wir alle kommen auf unseren Wegen über Höhen und durch Täler. Außerdem sind alle Dinge und alle Projektionen äußerst relativ und die Wirklichkeit muss längst nicht so sein, wie sie zu sein scheint. Ein beschwerlicher Weg mag am Ende eine große Bereicherung werden und selbst der scheinbar glorreichste Weg hält in irgendeiner Weise eine Lektion bereit. Die Eine fühlt sich wie die Looserin der Klasse, während eine Andere sich als strahlende Gewinnerin erfährt. In Wirklichkeit aber, auf einer tieferen Ebene, bedeutet das gar nichts weiter, denn das Leben geht einfach nur seinen ureigensten Weg, folgt seinen ganz eigenen Gesetzen.
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Seitenzahl: 238
Veröffentlichungsjahr: 2022
© 2022
2. Auflage, Vorgängerausgabe 2018
ISBN Softcover: 978-3-347-89394-8
ISBN Hardcover: 978-3-347-89395-5
ISBN E-Book: 978-3-347-89397-9
Druck und Distribution im Auftrag :
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag , zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Das Geheimnis des Paternoster
Erzählung
Cover
Urheberrechte
Titelseite
Zu diesem Buch
Anders ist nicht Looser
Im alten Hotel
Gemein
Alles hat seine Zeit
Die geheimnisvolle Türe
Eine andere Welt
Senta ist der Star
Bedürftig
Switch
Thema Freundschaften
Die Neue
Verleumdungen
Rina versteht
Auf den Spuren des Mysteriums
Der Ball
Eine bittere Lektion
Senta versteht
Am Tor zwischen den Welten
Nachwort
Cover
Urheberrechte
Titelseite
Anders ist nicht Looser
Am Tor zwischen den Welten
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Zu diesem Buch
Jeder von uns möchte gerne glücklich und zufrieden mit sich und seinem Platz im eigenen Leben sein, umgeben von Mitmenschen, die uns wohl gesonnen sind und uns wertschätzen.
Das sollte am besten immer so sein und unsere Tage sollten uns ausschließlich positive Erlebnisse bescheren.
Natürlich ist das für niemanden möglich. Das Leben ist ein Feld der Erfahrungen und Lernprozesse und wir alle kommen auf unseren Wegen über Höhen und durch Täler.
Außerdem sind alle Dinge und alle Projektionen äußerst relativ und die Wirklichkeit muss längst nicht so sein, wie sie zu sein scheint. Ein beschwerlicher Weg mag am Ende eine große Bereicherung werden und selbst der scheinbar glorreichste Weg hält in irgendeiner Weise eine Lektion bereit.
Die Eine fühlt sich wie die Looserin der Klasse, während eine Andere sich als strahlende Gewinnerin erfährt.
In Wirklichkeit aber, auf einer tieferen Ebene, bedeutet das gar nichts weiter, denn das Leben geht einfach nur seinen ureigensten Weg, folgt seinen ganz eigenen Gesetzen.
In dieser Geschichte teilen sich die vermeintliche Verliererin Rina und die vermeintliche Gewinnerin Senta ein mysteriöses Abenteuer. Denn die beiden haben etwas gemeinsam.
Aus gutem Grund erleben beide jungen Frauen völlig verschiedene Welten und stehen dabei zugleich vor derselben Aufgabe… und natürlich dauert es eine ganze Weile, bis sie schließlich ihr persönliches Rätsel verstehen.
Anders ist nicht Looser
Die Kirchturmuhr schlug ein Uhr mittags. Endlich! Jeden Moment würde die Schulsirene losheulen und diesem langweiligen und doch so anstrengenden Schultag ein Ende setzen.
Rina hatte längst, wie die meisten anderen in der Klasse, alle Stifte ins Federmäppchen gesteckt und die Hefte und Bücher auf einen Stapel geräumt, sodass sie nur zwei Handgriffe davon entfernt war, das Klassenzimmer verlassen zu können.
Da ertönte auch schon die Sirene und das „also Morgen in alter Frische“, das der Lehrer in den Raum hineinrief, ging bereits unter im Gewirr und Gewusel des Aufbruchs. Es dauerte nicht einmal drei Minuten, bis alle Schüler aus dem Klassenzimmer verschwunden waren.
Fröhlich plappernd lief ein kleines Grüppchen vor Rina her, und hinter ihr waren Markus und Elias. Rina lief, wie immer, alleine hinaus.
„Schaumal Elias, unsere Rina Looser muss wieder ganz alleine nach Hause gehen,“ sagte Markus spottend zu Elias.
„Lasst mich bloß in Ruhe“, dachte Rina und spürte, wie ihr Körper sich ganz von selbst versteifte, wie um ein Schild der Abwehr gegen gemeine Angriffe zu bilden.
„Oh, guck mal, ich glaube Du hast die aaarme Mona Lisa gekränkt, das wollen wir doch nicht“, fügte Elias hinzu und strich Rina „bedauernd“ über den Arm, während er höhnisch grinste.
Rina kannte diese Gemeinheiten nur zu gut, sodass weder Tränen noch Wut an die Oberfläche gelangten, vielmehr war da inzwischen nur noch eine Art Fühllosigkeit vermischt mit Resignation. Erst zu Hause würde sie ihren wahren Gefühlen freien Lauf lassen.
Am Anfang des Schuljahres hatte der neue Kunstlehrer die Namen der Schüler dem Alphabet nach laut vorgelesen, um die einzelnen Schüler bewusst zu Gesicht zu bekommen.
Als er bei Rina angekommen war und „Rina Lieser“ las, hatte er sie verzückt angesehen und mit einem freundlichen Lächeln gesagt: „Das ist aber ein schöner Name, der reimt sich ja auf `Mona Lisa´!“ Wie hätte der freundliche Lehrer auch ahnen können, was er damit anrichtete!
Die Klasse hatte amüsiert gelacht und sogleich hatte Melissa lauthals gerufen: „Oder wie wäre es mit `Rina Looser´?“ Seither war das einer der Namen, mit dem sie Rina zu ärgern und zu verletzen versuchten.
Rina lief über den Pausenhof zu ihrem Fahrrad. Etwas abwesend sperrte sie das Schloss auf.
„Hallo Rina!“, grüßte Tim aus der Parallelklasse der Elf B.
Er kam auch immer mit dem Rad zur Schule, und wenn sie sich bei den Rädern über den Weg liefen sprach er sie an, um ein paar Worte mit Rina zu wechseln.
„Hallo Tim“, erwiderte Rina kurz.
Rina fand ihn ganz nett, aber irgendwie konnte sie nichts mit ihm anfangen. Genau genommen wusste sie gar nicht, ob sie mit ihm nichts anfangen konnte. Es verunsicherte sie einfach ziemlich, dass er offensichtlich Interesse an ihr hatte. Was er wohl wollte? Wenn schon mal einer auf sie zuging, war das eh immer nur deswegen, weil er etwas wollte. In der Klasse erlebte sie eigentlich nie etwas anderes: kaum war mal jemand freundlich zu ihr, stellte sich kurz danach heraus, dass er einen Radiergummi brauchte oder die Hausaufgaben abschreiben wollte oder es auf einen sonstigen Gefallen abgesehen hatte.
Überhaupt, warum schien dieser Junge aus der Parallelklasse sie eigentlich nicht auch so dämlich oder zu ernst oder looserhaft zu finden? Ob es nur daran lag, dass er sie noch nicht besser kannte? „Und, wie war´s?“, fragte Tim.
„Na ja, ganz okay“, sagte sie möglichst beiläufig und stieg auf ihr Rad. Niemand sollte auch nur ahnen, wie scheußlich sie sichfühlte.
„Und bei Dir?“erkundigte sich Rina, um nicht gar zu abweisend bei ihm anzukommen.
„Eine Fünf in Mathe… und damit programmierten Stress mit meinem Vater - also alles bestens!“, antwortete Tim grinsend.
„Oh… gut, dass Du es mit Humor siehst“, meinte Rina.
„Das nennt man Galgenhumor“, lachte Tim.
„Dann wünsche ich Dir viel Glück“, sagte Rina, und „also ichfahr dann mal!“
Und schonfuhr sie los.
„Bis morgen!“, rief Tim ihr noch hinterher.
„Eigentlich ist Tim schon irgendwie sympathisch. Vielleicht will er mich ja nicht mal ausnutzen und es ist nur meine Angst – ich weiß eigentlich gar nicht, wie er wirklich ist“, überlegte Rina auf dem Heimweg.
Sie beschloss, nicht mehr so kurz angebunden zu ihm zu sein. „Jedenfalls möchte ich nicht in seiner Haut stecken - eine Fünf in Mathe hätte mir gerade noch gefehlt!“
Rinafiel die Schule im allgemeinen nicht sonderlich schwer, nur in Biologie und Chemie musste sie sich ein wenig anstrengen, sich rein arbeiten. Allerdings war sie alles andere als eine motivierte Schülerin, sodass die Lehrer ihren Eltern seit Jahren klagten, dass Rina doch viel mehr aus sich herausholen könne, wenn sie sich nur die Mühe machte. Rina aber hatte ganz andere Sorgen.
In der Schule gute Noten anzustreben war eine Sache. Aber viel wichtiger war es doch – und Rina stand mit dieser Ansicht keineswegs allein – wie man in der Klasse angesehen wurde und was für einen Platz man in dieser so essentiellen Gemeinschaft innehatte. Lehrer kamen und wechselten im nächsten Jahr, Noten waren eine Zahl auf irgendeinem Stück Papier – aber die Mitschüler waren das lebendige Richtmaß des eigenen Selbstwertes! Zumindest schien das so zu sein. In Rinas Klasse zum Beispiel waren Charlotte, Melissa und Anika. Sie waren Freundinnen, sogar beste Freundinnen.
Rina konnte absolut nicht verstehen, warum da kein Platz für sie war. Was würde es denn ausmachen, wenn sie zu viert wären? Sie würde dabei sein, wenn sich die anderen drei trafen, mit ihnen über Musik und über Jungs reden, zusammen mit ihnen auf Partys gehen und einfach bei ihnen dazugehören. Aber da war nichts zu machen. Sie hatte es versucht, sogar mehrmals. Besonders Melissa wollte sie auf keinen Fall in der Gruppe haben. Und sich anbiedern und sich lächerlich machen, das wollte Rina auch nicht.
Was stimmte nicht mit ihr? Ob die anderen sie zu ernst fanden? Es war ja nicht so, dass sie nicht gerne lachte. Nur konnte sie eben nicht immer alles und nicht alles genauso lustig finden wie zum Beispiel Anika.
Oder war sie einfach zu schwierig? Auch ihre Mutter hatte manchmal gefunden, dass sie sehr eigen sei.
Oft hatte Rina in den Spiegel geschaut und dabei versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Sah sie zu „anders“ aus und passte deswegen nicht in die Clique? Konnte man sich mit ihr nicht sehen lassen? Sie sah sicher nicht schlechter aus als Charlotte, Melissa oder Anika, und wie die drei war auch sie am liebsten sportlich lässig gekleidet.
Sie verstand es einfach nicht.
Es gab freilich noch andere Gruppen in Rinas Klasse.
Da waren zum einen die fünf „Tussen“, meilenweit entfernt von der Welt, in der Rina sich sah. Mit deren hochhackigen Schuhen, ihrem affektierten Getue und ihrer „wichtigen“ Art konnte sie grundsätzlich nichts anfangen. Und für jemanden wie sie hatten solche Möchtegernmodels, für die das Leben fast ausschließlich aus der Maximierung ihrer Anziehungskraft und dem zur-Schau-stellen ihrer weiblichen Reize bestand, höchstens ein herablassendes Lächeln übrig. Dann gab es noch Sonja, eine ausgemachte Streberin, und ihre miteifernde Nachbarin Carina. Die beiden hatten eine ganz seltsame Form einer Symbiose. Es war, als würden sie sich mit ihrem Eifer gegenseitig anstacheln und dadurch zu immer besseren Leistungen emporschwingen. Ob die zwei überhaupt ein Privatleben hatten? Auch dort wollte Rina ganz gewiss kein Plätzchen finden.
Als letztes waren da noch die drei Türkinnen Adile, Lale und Merve. Die waren zwar freundlich mit Rina, aber Rina hatte keinen Zugang zu ihnen. Irgendwie waren die drei wie eine kleine geschlossene Gesellschaft. Sie waren immer sehr für sich und sprachen auf dem Pausenhof nur türkisch miteinander.
Ja, also wo sollte Rina denn Anschluss finden?
Es gab ein paar Schülerinnen aus der Parallelklasse, die sie interessieren könnten. Aber zum einen war sie zu schüchtern, um sich im Pausenhof dort einfach mal dazuzustellen – außerdem könnten die sie ja genauso abblitzen lassen, das wäre schrecklich. Zum andren wollte sie natürlich in ihrer eigenen Klasse Akzeptanz finden! Eigentlich hatte Rina das Ganze inzwischen aufgegeben.
In weniger als drei Jahren würde dieses Theater hier überstanden sein und dann würde sowieso jeder seinen eigenen Weg gehen. Ihre Mutter hatte ihr das immer wieder gesagt. Sie hatte keinerlei Kontakte zu jemandem aus der Schulzeit und sie kannte auch niemanden, bei dem es anders war. Obwohl dieser Zuspruch nicht gerade Rinas Problem löste, so gab ihr die Vorstellung, dass nach der Schulzeit die Karten noch einmal neu gemischt werden sollten, immerhin eine gewisse Hoffnung.
Rina bog die Abzweigung in die Lange Reise Straße ein. Die letzten paar Meter zu ihrem Haus legte sie nochmal an Tempo zu. Sie hatte vor lauter Grübeln ganz vergessen, dass Matti und sie gewettet hatten, wer innerhalb eines Monats öfter als erster zu Hause war. Aber eigentlich war ihr die Wette sowieso egal.
Dafür würde Rina gleich dem Einzigen auf der Welt begegnen, der sich immer und jedes Mal über die Maßen freute, wenn er sie sah: ihrem Hund Mogli.
Er saß schon am Gartentürchen und wartete auf sie. Wedelnd und mit aufmerksamem Blick blieb er geduldig, bis Rina das Gartentürchen geöffnet hatte. Dann stürmte er auf sie zu, bellte sein Begrüßungsbellen und forderte sie auf, ihn zu herzen und zu streicheln.
Eigentlich waren das die besten Momente des Tages, fand Rina. Die bedingungslose Liebe ihres treuen Freundes bedeutete für sie mehr als der Schmerz, von den Mädels abgewiesen zu werden, und mehr als all die Niederlagen, die sie in der Klasse hinnehmen musste. Moglis Liebe war so ehrlich und echt! Ihr kleiner Freund bedeutete für sie Trost und Freude und Glück auf einmal.
Nach der ausführlichen Begrüßung sagte Rina: „Komm Mogli, lass uns ins Haus gehen! Ich brauche dringend was zu essen.“
Fröhlich wedelnd kam Mogli mit.
Sie gingen ins Haus und über die Treppen hinauf in den Wohnbereich. Rina hängte ihre Jacke an die Garderobe. Matti war natürlich schon da. Rinas Bruder war zwar zwei Jahre jünger als sie, doch war er körperlich so fit, dass er oft vor ihr zu Hause ankam. Überhaupt konnte er sich in vieler Hinsicht mit ihr messen. „Naaa? Auch schon da?“, warf er Rina triumphierend entgegen. Die Gesamtschule, auf die Matti ging, war in der Stadtmitte. Rinas Schule lag in entgegengesetzter Richtung, war aber etwa ebenso weit entfernt von ihrem Zuhause wie die ihres Bruders. Matti hatte sich zuerst einen Sport daraus gemacht, schneller als Rina daheim zu sein. Nach einer gewissen Zeit hatte sich das Spiel zu einer Wette ausgewachsen.
Doch Rina hatte keine Lust zu antworten. Für heute war sie bereits ausreichend Anlass für die Genugtuung anderer gewesen, sie hatte einfach die Nase voll. Schon in der Pause war wieder einmal alles schief gegangen. Zuerst hatte ausgerechnet Charlotte sie dabei ertappt, wie sie Mauro aus der Zwölften schwärmerisch beobachtete. Das allein wäre wirklich genug an Peinlichkeit gewesen.
Aber dann hatte sich am Ende der Pause Melissa neben sie gestellt und gesagt: „Duu Rinaa… weißt Du eigentlich, dass der Mauro in meiner Straße wohnt? Ich kann ihn doch einfach mal ansprechen und ihm verklickern, dass Du auf ihn stehst. Was meinst Du, wäre das nicht supernett von mir?“
Gespielt unschuldig sah sie Rina an und unterstrich die Geste mit einem demonstrativen Augenaufschlag.
„Unterstehe Dich!“, hatte Rina Melissa angefahren. „Was soll das, Melissa?“
Melissa hatte gegrinst. Genüsslich, gemein. Dann hatte sie sich umgedreht und war mit dem Gefühl einer Siegerin abgezogen. Warum waren die nur so?
Rina wusste nicht, ob sie vor allem genervt oder frustriert war, ob die Wut oder die Traurigkeit größer war.
Im Gegensatz zu der dreier-Clique war Matti definitiv mehr als in Ordnung. Seine kleinen Sticheleien und Provokationen waren nicht bösartig, sie waren nur nervig manchmal. Matti war ein schlagfertiger Typ und selten fehlte es ihm an Widerrede, und er war manchmal ganz schön frech. Aber das könnte man alles unter „zunehmende Pubertät“ einordnen – was wenigstens vergänglich war. Jedenfalls war er nicht gemein. So setzte Rina sich zu ihrem Bruder an den Küchentisch und sah ihn versöhnlich an.
„Sechzehn Jahr, blondes Haar…!“, sang Matti fröhlich und ziepfte seine Schwester scherzend an einer Haarsträhne.
Rina lächelte ihn ein wenig müde an und sie begannen zu essen. Woher hatte er nur diese unaufhörlich gute Laune? Oder war mit vierzehn die Welt einfach noch besser in Ordnung? War denn ihre Welt vor zwei Jahren noch in Ordnung gewesen? Wohl immerhin ein wenig mehr als jetzt.
Damals schienen die Unterschiede zwischen den Mitschülerinnen noch nicht so deutlich, und sie waren vor allem alle zusammen eine Klasse gewesen. Schlimmer war es erst geworden, als sie begonnen hatten, sich mehr für Mode und Jungs zu interessieren, sich stärker voneinander abzugrenzen und ihre Individualität zu betonen. War das so?
Eigentlich war Rina sich nicht einmal wirklich im Klaren, ob sie sich jemals so richtig wohl in ihrer Klasse gefühlt hatte, akzeptiert und gemocht. Na ja, bei etwa dreißig Schülern war es ein Ding der Unmöglichkeit, dass einen alle mochten …
„Was hast Du heute, Rina? Du schaust so…“, erkundigte sich ihr Bruder interessiert.
„Das ist halt mein Gesicht“, wehrte Rina ihn ab.
Matti sah seine Schwester fragend an.
Wenn er auch zu gerne seine Späße machte – sein Leitmotiv war definitiv nicht „Spaß um jeden Preis“, er war sogar ziemlich sensibel gegenüber der Befindlichkeit anderer. Tatsächlich war er bemerkenswert reif für sein Alter.
„Die drei?“, hakte er teilnehmend nach. Sein Ton zeigte deutlich seine Loyalität gegenüber seiner Schwester.
„Du bist lieb“, sagte Rina und lächelte Matti an. „Ja, die können es einfach nicht lassen. Dass mich Melissa raus aus ihrer Gruppe gemobbt hat, bevor ich richtig drin war, war ihnen nicht genug. Sie nutzen jede Gelegenheit, um mich zu ärgern!“
Die Emotionen, die die Geschehnisse des heutigen Morgens bei ihr ausgelöst hatten, kamen in Rina jetzt erneut hoch und Tränen ihr stiegen in die Augen.
„Warum lassen die mich nicht in Ruhe? Ich habe ihnen nichts getan! Aber es scheint ihnen richtig Spaß zu machen, wenn ein anderer k.o. ist nochmal hinterher zu treten.“
Rina fühlte sich unendlich hilflos in dieser Misere. Und dass diese Ablehnung offensichtlich „ansteckend“ war, sodass anscheinend auch die restliche Klasse sie zur Zielscheibe gemacht hatte, setzte dem noch die Krone auf.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass wirklich alle Dich nicht mögen“, meinte Matti. „Vielleicht ist den meisten nur gar nicht klar was da läuft und sie verhalten sich einfach wie die Schafe in der Herde. Wenn ein Teil auf jemanden los geht, gehen die andren auch auf ihn los. Wie dieses Verhalten für Dich ist und dass es Dir weh tut, checken sie nicht einmal.“
„Das Schlimmste ist, es geht dauernd nur auf meine Kosten - als ob ich ein Kainsmal hätte!“, klagte Rina.
„Ich glaube, dass eigentlich alle Angst davor haben genau diese Rolle abzukriegen, und deswegen scheint es ihnen umso besser, wenn schon ein anderer die Rolle bekommen hat – weißt Du, was ich meine?“ Rina nickte. Sie war erstaunt, wie weise sich die Worte ihres Bruders anhörten und in ihrem Inneren ahnte sie, dass er damit wahrscheinlich auch recht hatte.
„Du findest nicht, dass mit mir was nicht stimmt?“, fragte sie zögerlich.
„Wie kommst Du darauf? Natürlich nicht! Du bist halt keine Tussi und vielleicht hat jemandem Deine Nase nicht gepasst… aber anders zu sein bedeutet doch nicht, ein Looser zu sein. Es stimmt alles mit Dir, glaube mir – ich muss es wissen, denn ich bin Dein Bruder.“ Matti zwinkerte seiner Schwester zu.
„Es tut gut, dass Du das sagst“, meinte Rina erleichtert.
„Deswegen spiele ich einfach nur Fußball mit den Jungs“, erläuterte Matti. „Da ist es egal, zu welcher Clique man gehört oder ob man überhaupt zu einer gehört.“
„Ja, das ist unverfänglicher… aber wer weiß… vielleicht kommt das noch, wenn ihr älter werdet,“ überlegte Rina. „Na ja, wahrscheinlich wird es für Dich so oder so ganz anders, weil Du ein lustiger Typ bist, Dir könnte so eine blöde Rolle gar nicht erst zufallen. Man würde Dir Deine Unsicherheit gar nicht erst anmerken, weil Dir in den Momenten, in denen es darauf ankommt, eh ein passender Spaß einfallen würde.“
Die Geschwister waren fertig mit essen und räumten das Geschirr in die Spülmaschine.
Mittags waren die beiden alleine, da ihre Mutter im Erdgeschoss des Hauses in ihrem Bäckerladen arbeitete. Um die Mittagszeit lief das Geschäft auf Hochtouren, denn im Laden wurde frischer Zwiebelkuchen, Quiche Lorraine, vegetarische Pizzen, süße Aufläufe und Buchteln als „Bäckermittagessen“ angeboten, was großen Anklang bei der Kundschaft fand. So wurden alle Hände gebraucht. Da die Bäckerei über Mittag nicht schloss, war anstatt dessen nur bis sechzehn Uhr geöffnet.
Es hatte seine Vorteile, über Mittag alleine zu sein, wie Rina fand. Sie brauchte nicht reden, wenn sie nicht wollte, und wenn sie schlechte Laune hatte würde keiner nochmal und nochmal und nochmal nachfragen bis zum… na ja… und letztlich doch nicht wirklich verstehen. Eigentlich meinte ihre Mutter es natürlich gut, klar… aber mal eben ein paar schnelle tröstende Ratschläge waren nicht wirklich das was Rina brauchte. Rina wollte ihrer Mutter das auch nicht vorwerfen. Wusste sie doch, dass ihre Mutter sehr arbeitsreiche Tage mit viel Stress hatte und dazu ihre eigenen Sorgen. Aber wirklich da für Rina war ihre Mutter leider fast nie.
Es war Rina jedenfalls am liebsten, nach der Schule ihre Ruhe zu haben und in ihrem eigenen Rhythmus wieder zu sich zu kommen. Mogli wollte wieder in den Garten. Matti öffnete ihm die Türe. „Ich gehe jetzt mal rauf“, sagte Rina etwas melancholisch. „Hey!“, versuchte Matti sie aufzumuntern. „Lass den Kopf nicht hängen! Das sind einfach blöde Ziegen und sie wissen nicht einmal, wie blöd sie sind.“
Rina nickte Matti zu, sein Mitgefühl tat ihr gut.
„Danke“, sagte sie noch, dann ging sie die Treppen hinauf.
Die Zimmer von Rina und Matti lagen unter der Mansarde im zweiten Stock des Hauses. Hier gab es außer den zwei Jugendzimmern nur noch ein gemeinsames Bad und einen großen Abstellraum, sodass die beiden das oberste Stockwerk quasi für sich hatten. Im ersten Stock waren die Küche, das Wohnzimmer, ein großes Bad und das Schlafzimmer der Eltern. Im Erdgeschoss befanden sich die Backstube, ein Lagerraum und das Bäckergeschäft.
Bereits die Eltern von Rinas Vater, sowie der Urgroßvater hatten die Bäckerei betrieben. Der Vater hatte sie vor ungefähr zehn Jahren von Grund auf renoviert und in diesem Zug einen Sitzbereich im Laden eingerichtet. Wie sich bald herausstellte, war dies eine kluge Entscheidung gewesen, die dem Geschäft zu einer neuen Blüte verholfen hatte.
Sinnend stand Rina am Fenster im Zwischenstockwerk und sah hinaus und zum Wald hinüber. Später würden sie und Mogli dort spazieren gehen, hoffentlich würde sich das Wetter halten.
Zuerst aber wollte sie noch auf ihr Zimmer, um auszuruhen und dann die Schulpflichten hinter sich zu bringen. Heute gab es kaum Hausaufgaben. Morgen war eine Englisch-Prüfung, und die anderen Lehrer waren so freundlich gewesen, das zu berücksichtigen. „Immerhin eine erfreuliche Begebenheit am Tag“, dachte Rina. Im Zimmer angekommen setzte sie sich direkt auf den großen Ohrensessel, der unter einer Art Baldachin stand. Dies hier war ihr absoluter Lieblingsplatz. Es war Balsam für die Seele hier zu sitzen, Musik zu hören und den Rest der Welt nach draußen zu verbannen. Die Geborgenheit und Harmonie, die ihr Zimmer für sie bedeutete, gaben ihr ein Gefühl von Frieden. Hier war ganz allein ihr Reich und niemand war hier, der sie ablehnte, der sie beurteilte und auch niemand, der sie nervte.
Bis es klopfte.
„Wer stört?“, fragte Rina laut.
„Mann, kannst Du nicht ein bisschen leiser machen? Ich würde gerne meine eigene Musik hören…“, sagte Matti stöhnend.
Rina hatte ihre Musik tatsächlich sehr laut gedreht. Sie fand es einfach zu schön, auf ihrem Sessel zu sitzen und ganz in die Musik einzutauchen und sich dann von ihr davontragen zu lassen, wohin auch immer die Musik sie geleitete.
„Ja ja, ist gut… nur das Lied zu Ende, okay?“, bat Rina. Matti nickte etwas widerwillig und verschwand wieder. Nach dem Lied musste Rina sowieso mit Englisch anfangen, sonst würde die Zeit knapp werden. Und sie wollte möglichst lange mit Mogli raus.
Als Rina mit dem Lernen fertig war beschloss sie, die Hausaufgaben später zu erledigen und ging hinunter in den Garten.
Mogli lief ihr schon entgegen und Rina rief ihm zu: „Lass uns in den Wald spazieren gehen, ja?“
Sie kraulte seine wuscheligen Ohren und kuschelte ihren Kopf an den seinen.
„Was hältst Du davon?“
Mogli schmiegte sich an sie und wedelte fröhlich. Wo auch immer Rina hinging, er würde liebend gerne dabei sein.
Sie gingen aus dem Gartentürchen und die Straße entlang Richtung Grün.
Es war wunderbar, ohne Plan und ohne Pflicht ein wenig zu laufen. Sie liefen und liefen und Rina merkte, wie gut ihr die Bewegung tat. Doch besonders wohltuend war es dann, den weichen und erdigen Waldboden unter den Füßen zu spüren. Sie atmete den Duft des Waldes ein und tankte von der kraftvollen Ausstrahlung der Bäume. Rina erzählte Mogli davon, wie peinlich es ihr gewesen war, dass Charlotte sie dabei erwischt hatte, als sie Mauro beobachtete. Ausgerechnet eine der drei! Und dann natürlich noch Melissas provozierender Kommentar, der hatte die Sache nochmal peinlicher gemacht.
Mogli war, wie Hunde so sind, voller Mitgefühl für sein Frauchen. Er wusste natürlich längst, dass Mauro Rinas Schwarm war und natürlich auch, wie schwer Rina es mit den drei Freundinnen hatte. Mogli hüpfte an Rina hoch, als wollte er ihr bedeuten, dass sie doch dafür ihn und seine treue Freundschaft hatte.
„Hast Ja recht – und wer hat schon so einen treuen Freund!“, sagte Rina zu ihm lachend.
Es war das erste Mal heute, dass ihr nach lachen zumute war und sie fühlte sich wieder etwas leichter.
Der Wald war herrlich, und als sie den Rückweg antraten, fühlte Rina sich gestärkt und wieder bereit, dem Leben zu begegnen.
Im alten Hotel
„Du Mogli, lass uns doch im alten Hotel vorbeigehen und ein wenig Aufzug fahren, okay?“, sagte Rina spontan zu Mogli.
Das Hotel war in der Nähe und nicht wirklich ein Umweg, so waren sie schon bald dort angekommen. Wie immer gingen sie durch den Hintereingang hinein.
Irgendwie fand Rina, dass sie eigentlich zu alt war, Spaß an so etwas „Kindlichem“ zu finden, andererseits handelte es sich ja nicht um einen gewöhnlichen Aufzug, sondern um einen Paternoster.
Schon seit sie etwa sieben Jahre alt gewesen war, hatte dieser Aufzug eine nahezu magische Anziehung auf sie. Sie liebte es seit jener Zeit, ein paar Stockwerke hinaufzufahren und dann wieder ein paar hinunter. Damals war sie öfter nachmittags hergekommen, und manchmal war sie nur dagestanden, um diesen geheimnisvollen, unendlichen Kreislauf zu beobachten.
Auch heute blieb sie erst eine Weile vor dem Aufzug stehen und genoss, diese nicht enden wollende Fortsetzung von Abteilen vorbeifahren zu sehen. Theoretisch konnte jedes dieser Abteile jederzeit bestiegen werden. Das waren sozusagen unzählige Möglichkeiten!
Natürlich wusste sie auch damals schon, dass dies keine unendliche Anzahl von Abteilen war, sondern dass es ganz oben und ganz unten Wendepunkte gab. Dabei war es sehr rätselhaft, wie dieses Umwenden funktionierte.
Daher hatte sie als Kind immer Angst davor gehabt, zu spät auszusteigen und dann am Wendepunkt durch die Drehung des Abteils etwa auf den Kopf zu fallen.
Das Thema hatte sie so sehr beschäftigt, dass sie verschiedene Male von abenteuerlichen und diffusen Erlebnissen im Paternoster geträumt hatte.