9,99 €
Eines Nachts auf dem Weg nach Hause begegnet Jeanne einem geheimnisvollen Fremden im Bus. Was ihr Filmriss mit ihm zu tun hat weiß sie nicht, sie weiß nur eines: sie muss die Wahrheit herausfinden. Eine Gedächtnislücke allein wäre schlimm genug, aber hier ist ein Mord im Spiel und Jeanne kann sich absolut nicht erinnern, ob beziehungsweise inwieweit sie in die Sache verstrickt ist. Dazu kommt, dass sie sich nur wenigen anvertrauen kann. Einerseits will sie möglichst niemanden mit in ihr Dilemma hineinziehen, andererseits weiß Jeanne nicht, wem sie wirklich vertrauen kann. Um so brenzliger ist die Situation, da ja nicht nur sie, sondern natürlich auch die Polizei die Wahrheit herausfinden will. Ist es die Wahrheitsliebe ihres Umfeldes, die sie zur Verdächtigen macht oder sind es die Gerüchte und Lügen, die über sie verbreitet werden? Lügen, die alles verschlimmern und die vielleicht sogar eine Absicht verfolgen? Der Blackout macht Jeanne zu schaffen, und ihr bewegtes Innenleben in Verbindung mit ihrem ideenreichen Geist lässt auch sie selbst an ihrer Geschichte und an ihrer Unschuld zweifeln. Ist sie Opfer eines gemeinen Komplotts oder hat sie nur ihre Tat verdrängt? Alles scheint immer undurchsichtiger zu werden. Letztlich ist es Jeannes Mut und ausgerechnet ihr Hang zu Gedankenspielen, die Licht ins Dunkel bringen und schließlich alle Theorien und Gespinste entwirren.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 239
Veröffentlichungsjahr: 2023
© 2023 Dagmar Stimpfig
2. Auflage, Vorgängerausgabe 2019
ISBN Softcover: 978-3-347-89716-8
ISBN E-Book: 978-3-347-89718-2
ISBN Großschrift: 978-3-347-89719-9
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Wahrheit im Schatten 1
Der Tote in der Gasse
Kriminalroman
Cover
Urheberrechte
Titelblatt
Einleitung
Filmriss
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Wahrheit im Schatten
2
3
4
5
6
7
8
9
Spuren
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Drama, Liebe, Wahnsinn
2
3
4
5
6
7
8
Puzzle
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Die Nuss knacken
2
23
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Trick Siebzehn
2
3
4
5
6
7
8
Cover
Urheberrechte
Titelblatt
Einleitung
Trick Siebzehn
Cover
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
Einleitung
Eines Nachts auf dem Weg nach Hause begegnet Jeanne einem geheimnisvollen Fremden im Bus. Was ihr Filmriss mit ihm zu tun hat weiß sie nicht, sie weiß nur eines: sie muss die Wahrheit herausfinden.
Eine Gedächtnislücke allein wäre schlimm genug, aber hier ist ein Mord im Spiel und Jeanne kann sich absolut nicht erinnern, ob beziehungsweise inwieweit sie in die Sache verstrickt ist. Dazu kommt, dass sie sich nur wenigen anvertrauen kann. Einerseits will sie möglichst niemanden mit in ihr Dilemma hineinziehen, andererseits weiß Jeanne nicht, wem sie wirklich vertrauen kann. Um so brenzliger ist die Situation, da ja nicht nur sie, sondern natürlich auch die Polizei die Wahrheit herausfinden will.
Ist es die Wahrheitsliebe ihres Umfeldes, die sie zur Verdächtigen macht oder sind es die Gerüchte und Lügen, die über sie verbreitet werden? Lügen, die alles verschlimmern und die vielleicht sogar eine Absicht verfolgen?
Der Blackout macht Jeanne zu schaffen, und ihr bewegtes Innenleben in Verbindung mit ihrem ideenreichen Geist lässt auch sie selbst an ihrer Geschichte und an ihrer Unschuld zweifeln.
Ist sie Opfer eines gemeinen Komplotts oder hat sie nur ihre Tat verdrängt? Alles scheint immer undurchsichtiger zu werden.
Letztlich ist es Jeannes Mut und ausgerechnet ihr Hang zu Gedankenspielen, die Licht ins Dunkel bringen und schließlich alle Theorien und Gespinste entwirren.
Filmriss
Es waren nicht viele Fahrgäste im Bus. Allerdings war das nicht ungewöhnlich um diese Uhrzeit, eigentlich war Jeanne froh, dass überhaupt noch ein Bus in ihre Richtung fuhr.
Irgendjemand hatte den Halt Knopf gedrückt. Eine ältere, beleibte Frau stand auf, tapste unbeholfen zum Ausgang und stieg dann ziemlich umständlich aus.
Was die wohl um diese Uhrzeit noch vorhatte? Sie war nicht so gekleidet, als wäre sie ausgegangen. Auch war es nicht gerade typisch, dass jemand ihres Alters um diese Zeit noch alleine unterwegs war. Merkwürdig jedenfalls. Jeanne fuhr meist in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ein wenig weil es praktisch für sie war, vor allem aber fand sie es ausgesprochen unterhaltsam. Denn sie studierte währenddessen die Mitfahrenden, ihre Kleidung, Frisuren und Schuhe und ebenso ihr Verhalten. Manche suchten nach Kommunikation, manche waren unbedingt und ganz verbissen nur für sich, andere waren so beschäftigt mit ihrer eigenen Welt, dass sie nichts von dem mitbekamen, was um sie herum stattfand.
Dabei dachte Jeanne sich kleine Geschichten aus, oftmals gab sie den Leuten dazu auch Namen.
Gerade zum Beispiel hatte sie sich ausgemalt, dass die ältere Frau, „Margit Maulwurf“ mit Namen, nach ein paar Überstunden in ihrem Büro einen Bus nach dem anderen versäumt hatte, da sie an der Bushaltestelle immer wieder eingeschlafen war. Nun ja, es war definitiv ein bisschen auffällig, dass diese Frau – sie stand sicher kurz vor der Rente – nach dreiundzwanzig Uhr noch alleine unterwegs war.
Vielleicht hatte sie auch eine schlechte Nachricht erhalten und war den ganzen Abend ziellos mit dem Bus durch die Stadt gefahren, um nicht ganz alleine mit der Nachricht zu sein. Jedenfalls war Margit jetzt ausgestiegen und ein junger, dunkelhaariger Mann in Jogginghose und Hemd stieg ein. Was war denn das für eine eigenartige Kombination? Wohin ging einer mit Jogginghose und blau kariertem Holzfällerhemd? Und der i-Tupfen waren seine schwarzen Herrenschuhe – die unbedingt eher zu einem Anzug passten!
Er bewegte sich ziemlich flott für diese Uhrzeit, fiel Jeanne auf. Er setzte sich in Höhe ihrer Reihe auf den Zweiersitz an der anderen Fensterseite und stellte einen kleinen, schwarzen Rucksack neben sich. Er schien ein wenig nervös zu sein.
„Eine ganz schöne Geschmacksverirrung“, dachte Jeanne. Obwohl er an und für sich eigentlich süß aussah, fand sie. Seine langen, dunklen Locken umspielten wild sein Gesicht und betonten das Geheimnisvolle in seinen
Augen.
Er saß ihr in etwa schräg gegenüber und sah jetzt genau zu ihr hin. Dabei lächelte er sie an. Mit einem Lächeln, das sie umgehend in eine Geschichte aus dem fernen Orient versetzte.
„Er heißt bestimmt `Omar´“, dachte sie schwärmerisch und fing bereits an, eine Geschichte für ihn zu erträumen. Nun ja, als orientalische Prinzessin würde sie nicht wirklich durchgehen, dachte Jeanne. Allein schon ihre halblangen, glatten Haare sprachen gegen diese Rolle. Allerdings war sie im richtigen Alter – nämlich sechsundzwanzig – reichlich verträumt und zudem ziemlich romantisch.
Sie sah sich im Bus um. Inzwischen waren bis auf „Omar“ und sie alle Fahrgäste ausgestiegen, sogar das Pärchen. Die beiden waren so versunken gewesen, dass man hätte wetten können, sie würden ihre Haltestelle verpassen. Jeanne hatte den Abend mit zwei Freundinnen in ihrem Stammlokal verbracht, das praktischerweise genau an der Buslinie lag, die auch fast bis zu ihr nach Hause führte. Die Heimfahrt empfand sie beinahe wie eine Art vertrautes Ritual, nicht so sehr wie eine langweilige oder gar nervige Routine, bei der man sich freut wenn sie zu Ende ist.
Noch zwei Stationen, dann kam ihre Haltestelle, die Endstation. Von dort waren es keine fünf Minuten zu Fuß bis zu ihrer Wohnung.
Omar stand auf, und ging zum Ausgang. Wieder sah er sie mit seinen tiefgründigen, dunklen Augen an und lächelte. Es war so ein Lächeln… Wie konnte man sich davon nicht betört fühlen? Obendrein hatte er eine Magie in seinen Augen …wie dieser berühmte Beduine auf Paulo Coelhos Buch „der Alchimist“, der das Hintergrundbild auf ihrem Desktop im Büro darstellte.
Sie hatte Omar noch nie zuvor in diesem Bus gesehen. Ob er hier wohnte? Oder vielleicht ein Freund?
Wahrscheinlich hatte er neulich seine neue, märchenhafte Freundin kennengelernt und wollte sie jetzt mit einem spontanen Besuch überraschen. Deswegen war er auch nervös: was würde sie von seinem spontanen Aufkreuzen halten?
Der Bus hielt an.
Jeanne seufzte. Natürlich, so einer wie der war sowieso schon vergeben! Sie war so vertieft in ihre Träumereien gewesen, dass sie erst jetzt bemerkte, dass der junge Mann seinen Rucksack vergessen hatte.
Schnell sprang sie auf, denn die Tür war noch nicht wieder geschlossen. Sie schnappte sich den Rucksack, eilte zur Tür und rief ihm hinterher. Er schien sie nicht zu hören.
Ehe sie sich versah, rannte Jeanne, spontan und unverhofft, aus dem Bus und versuchte Omar einzuholen. Doch wo war der auf einmal hin? Sie sah sich um – sie hatte ihn doch eben noch gesehen?! Irgendwo da hinten musste er rechts in eine der Gassen eingebogen sein. So was Blödes!
Jeanne lief schnellen Schrittes in diese Richtung und dann in eine der kleinen Seitenstraßen hinein. Hier musste er eingebogen sein. Sie folgte der kleinen Straße eine Weile, unsicher, ob es überhaupt wirklich dieselbe war, die der junge Mann genommen hatte. Sie lief und lief, als könne sie nicht glauben, dass sie ihn verloren hatte. Bald schon gab es immer mehr Abzweigungen und auf einmal wurde ihr klar, dass es nahezu unmöglich war, den Fremden noch zu finden.
So ein Mist! Was hatte sie sich nur gedacht? Sie wusste inzwischen nicht einmal mehr, wo sie eigentlich war! Auch wenn dieses Viertel und ihre eigene Wohngegend nur durch eine Brücke, die über die Stadtautobahn führte, getrennt war, so war das hier wie eine völlig fremde Welt für sie.
Jeanne fühlte sich ziemlich überfordert. Sie stand da, mit dem Rucksack eines Fremden in der Hand, mitten in der Nacht, ohne Orientierung und ohne Plan. Eines war klar: bis nach Hause waren es mindestens zwanzig Minuten Fußweg. Aber tatsächlich wusste sie gerade nicht einmal mehr die Richtung so genau. Sie brauchte eine Orientierungshilfe, um sich wieder zurechtzufinden. Das einzige, was sie in dieser Gegend kannte, war eine große Sporthalle. Das könnte sie hinbekommen. Erstmal ein wenig zurücklaufen, dann würde sich schon ein Anhaltspunkt finden.
Während sie zurücklief, fragte sie sich, warum sie nicht einfach im Bus sitzen geblieben war. Was hatte sie bloß geritten, war ihr der Wein zu sehr in den Kopf gestiegen? Sie wusste doch, dass jetzt kein Bus mehr in ihre Richtung fuhr!
So etwas Ärgerliches! Was ging sie dieser Märchenfritze überhaupt an?
Wie viel lieber wäre sie jetzt in ihrer Wohnung – da wäre sie inzwischen längst! Vielleicht würde sie noch eine kleine Dusche nehmen und dann in ihr gemütliches Bett… Jeanne wusste, sich ärgern oder gar frustrieren war jetzt auch keine Lösung, also ging sie einfach weiter.
Die Straßen waren wie leergefegt. Einmal fuhr im Schritt-Tempo ein Auto an ihr vorbei und ihr wurde gewahr, dass sie sich eigentlich ziemlich unwohl fühlte so allein, mitten in der Nacht, in einem fremden Viertel.
Ein Betrunkener lief gerade an ihr vorbei. Er lallte irgend etwas von „Diese blöde Nutte“ und “…werde ich ihm schon noch heimzahlen“, aber Jeanne schien ihn glücklicherweise nicht zu interessieren.
Trotz ihrer Ängstlichkeit entstand in ihrem Kopf sofort eine fiktive Geschichte, Jeanne konnte einfach gar nicht anders.
…die Geliebte des Betrunkenen arbeitete in einer Kneipe, woher „Herbert“ sie auch kannte. Aber sie hatte ihn kürzlich betrogen und er hatte es heute herausgefunden. Es war ausgerechnet einer seiner Stammtischfreunde, mit dem sie ihn hintergangen hatte, und das war das Schlimmste…
„Bin ich noch ganz dicht?“, fragte sich Jeanne. „Warum bin ich eigentlich immer am herum fantasieren?“ War sie von da vorne links gekommen? Etwas zögerlich ging sie in Richtung des großen Gebäudes, das sich etwas weiter weg abzeichnete. Das müsste dann die Sporthalle sein.
Da erkannte sie einen Hauseingang wieder, der ihr vorhin durch eine überdimensionale, phosphoreszierende Klingelplatte aufgefallen war: sie war richtig! Und das da vorne war dann die erste Abbiegung. Gott sei Dank! Plötzlich bewegte sich aus einem dunklen Hauseingang heraus eine Hand auf sie zu. Jeanne erschrak, aber es ging so schnell, dass ihr keine Zeit blieb, dieser überraschenden und gezielten Bewegung auszuweichen. Sie spürte ein unangenehmes Stechen links an ihrem Hals, dann wurde ihr schwarz vor den Augen.
2
Jeanne erwachte jäh, wie aus einem Albtraum. Völlig verwirrt rieb sie sich die Augen. Sie fühlte sich unbeschreiblich grauenvoll. Es war noch dunkel. Wo war sie hier nur? Sie wusste nicht, was sie mehr irritierte: dass sie sich nicht in ihrem Bett befand oder dass sie hier, zusammengekrümmt und fröstelnd, hinter einer Mülltonne am Ende einer ihr völlig unbekannten Sackgasse lag. Was war nur geschehen? Was um alles in der Welt war heute Nacht passiert? Ihr Kopf dröhnte. Ein paar Bilder drängten sich ihr auf. Sie sah in die dunklen Augen des Fremden aus dem Bus und dann erinnerte sie sich an seinen Rucksack. Oh, der Rucksack! Im nächsten Moment sah Jeanne, dass der Rucksack direkt neben ihr und ihrer eigenen kleinen Handtasche lag – aha, ausrauben hatte sie anscheinend niemand wollen, schoss es ihr durch den Kopf.
Als sie den Rucksack zu sich her ziehen wollte, bemerkte sie im schwachen Leuchten der nächsten Straßenlaterne, dass Blut an ihren Händen klebte. Sie erschauderte. Um Gottes Willen, was war bloß geschehen?
Wenn ihr Kopf nur nicht so hämmern würde! In nicht allzu großer Ferne war eine Polizeisirene zu hören.
Wie in einem Film setzten sich unverzüglich diverse Ideen zu einer Geschichte zusammen, und ob es nun die Vorstellung war, in diesem Film mitzuspielen oder einfach nur Instinkt – Jeanne hatte gerade nur ein Ziel: möglichst sofort von hier zu verschwinden!
Unbeholfen stand sie auf und taumelte ein paar Schritte. Vielleicht war ja eine Wasserflasche im Rucksack, dann könnte sie sich etwas Wasser über den Kopf schütten? Im Weitergehen versuchte sie, den Rucksack zu öffnen. Sie torkelte an den zwei großen Mülltonnen vorbei und… Oh Gott, was war das? Direkt nach der zweiten Mülltonne lag ein Mensch! Ein Mann lag seitlich gekrümmt in einer Blutlache, das Gesicht war durch seinen Arm verdeckt.
Der Anblick dieses Menschenkörpers hatte eine ausgesprochen ernüchternde Wirkung auf Jeanne. Gleichzeitig fing sie am ganzen Leib an zu zittern. Ob dieser Mensch tot war? Um Gottes Willen, was war hier los? Und was hatte sie damit zu tun? War das hier alles echt oder war sie inmitten eines irrsinnigen Albtraumes? Jeanne wollte nur weg von diesem Wahnsinn, ganz schnell und ganz weit weg! Die Polizeisirenen – es war definitiv nicht nur eine – näherten sich. Sie waren inzwischen so laut, dass die Autos nur noch wenige Straßen entfernt sein konnten.
Während Jeanne sich in ihrer Hilflosigkeit umsah, fiel ihr Blick auf eine unscheinbare, schmale Blechtüre in einem Stück Mauer hinter den Mülltonnen. Vielleicht konnte sie da drüber krabbeln? Immerhin war die Mauer nicht besonders hoch und tatsächlich waren ihre Kräfte durch die drastischen Umstände wie aus dem Nichts beträchtlich mobilisiert worden.
Jeanne ging auf die Blechtüre zu und stellte erstaunt fest, dass diese wie durch ein Wunder nur angelehnt war. Ohne zu zögern öffnete sie die Türe und ging schnell hinein. Sie schloss die Türe und bemerkte, dass man sie von innen verriegeln konnte. Perfekt! Nachdem sie den Riegel vorgeschoben hatte, hatte sie das Gefühl, dass sie mit einem Mal in Sicherheit war.
Im Licht des Mondscheins erkannte sie, dass sie sich in einem Hof zwischen zwei Mietshäusern befand und durch dessen Hinterausgang hereingekommen war.
Vielleicht wurde diese Türe heutzutage nur ab und zu von Jugendlichen benutzt, die hier nachts heimlich rauchten? Immerhin war die Türe nicht verriegelt gewesen, das war sicher nicht im Sinne der Mieter. Wahrscheinlich waren die jungen Leute beinahe erwischt worden und hatten in der Hektik die Türe nicht sorgfältig genug zu gemacht. „Ich werde noch verrückt!“, dachte Jeanne. „Schon wieder eine neue Story! Was bin ich nur für ein komischer Vogel?! Ohne diese unbändige Fantasie hätte ich diesem `Omar´ nicht so hinterher gesponnen, dann wäre das alles doch gar nicht erst passiert!“
Die Sirenen waren jetzt auf der anderen Seite der Mauer zu hören. Es waren mindestens zwei. Die Polizeiautos hatten angehalten, dann schlugen Autotüren zu. Für Jeanne war es, als würde sie das Geschehen dort drüben von einer Parallelwelt aus miterleben.
Sie schlich vorsichtig und leise durch den Hof. Es gab ein paar alte Bäume, einen Fahrradunterstand, vier große Wäschespinnen und unter einem anderen Unterstand war allerlei Sperrmüll untergebracht. Bald entdeckte sie ein altes Waschhaus, das offensichtlich nicht mehr in Betrieb war. Es war aber unverschlossen und innen steckte sogar ein Schlüssel. Jeanne machte die Türe hinter sich zu und sah sich darin um. Es gab ein großes, viereckiges Becken, einen langen Holztisch und einen riesigen, alten Waschkessel, hinter den sie sich kauerte. Dort blieb sie.
3
Jeanne war nicht klar, ob inzwischen viel oder eher wenig Zeit vergangen war, da sie trotz aller Ängstlichkeit und Aufregung irgendwann noch einmal eingeschlafen war. Es war reichlich hart und unbequem gewesen, doch trotz der misslichen Umstände hatte der Schlaf gut getan.
Schnell hatte Jeanne sich an ihre Situation erinnert und blickte unsicher in den Raum. Sie war allein. Angestrengt horchte sie, ob sie draußen irgendwelche Geräusche wahrnehmen konnte, die ihr Aufschluss geben würden über die Tageszeit oder auch darüber, ob inzwischen die Luft wieder rein war und keine Gefahr für sie bestand, wenn sie ihr Versteck verließ.
Nicht daran zu denken was passieren würde, wenn ihr etwa – blutverschmiert wie sie war – im Hof eine alte Mieterin begegnete, die dann hysterisch nach Hilfe oder gleich nach der Polizei schrie!
Es waren keine verdächtigen Geräusche zu hören und Jeanne kroch zaghaft aus ihrem Versteck. Die Knochen schmerzten von dem harten Steinboden, aber immerhin fühlte sie sich wieder besser bei Kräften und ihr war nicht mehr so schummrig.
Sie lugte vorsichtig aus dem kleinen Fenster. Niemand war im Hof zu sehen. Das Tageslicht deutete darauf hin, dass es spät am Vormittag sein musste.
Der Wasserhahn ließ sich etwas schwer bedienen, aber immerhin kam Wasser. Auch ein altes Stück vertrocknete Seife tat nach ein wenig Nassmachen ausreichend seinen Dienst und Jeanne wusch das Blut und den Dreck von ihren Händen. Sie musste kräftig reiben, da das Blut längst fest getrocknet war. Auch wusch sie eine Mischung aus Schweiß und Schmutz vom Gesicht und von den Armen und versuchte, die Haare ein bisschen zu ordnen. „So langsam fühle ich mich wieder wie ein Mensch“, dachte sie. Sie nahm ihre Handtasche und den Rucksack und lauschte noch einmal in den Hof. Dann öffnete sie sachte die Türe. Es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Vorsichtig ging sie hinaus und machte ein paar Schritte.
Wenn ihr jetzt jemand über den Weg laufen würde, überlegte Jeanne, konnte sie einfach sagen, dass sie wegen einem Fotoshooting auf der Suche nach geeigneten alten Innenhöfen war – oder irgendetwas in dieser Art. Eine Katze setzte gerade dazu an, von einem Baum zu einem der Fenster zu gelangen und miaute. Jeanne fragte sich, warum Katzen das wohl taten? Ob sie sich dabei irgendwie selbst Mut machten oder ob sie vielleicht jemandem Bescheid sagen wollten?
Eine ältere Frau sah aus dem Fenster und rief der Katze etwas zu. Aha, anscheinend hatte die Katze genau darauf gewartet und sprang los. Die Frau schien Jeanne nicht zu bemerken.
Schon war Jeanne im Hausgang angelangt. Auch hier war glücklicherweise niemand. Allerdings kostete es sie reichlich Überwindung, das große Haustor zu öffnen und auf die Straße zu treten. Aber es führte kein Weg daran vorbei: sie musste dort hinaus, danach zurück zur Bushaltestelle und dann mit dem Bus heim.
Schon wieder ratterte es in ihrem Kopf: Im Büro hatte man ihre nicht gemeldete Abwesenheit natürlich scharf kritisiert, die Chefsekretärin Münster plante schon, sie deswegen zur Rede zu stellen und abzumahnen… Oder, nachdem man sie telefonisch nicht erreicht hatte, sorgte man sich ernstlich und hatte bereits in sämtlichen Krankenhäusern nach ihr gefragt.
„Was soll das – jetzt??“, fragte Jeanne sich selbst und beschloss, endlich zu handeln.
Im nächsten Moment stand sie bereits draußen. Auf der anderen Straßenseite sah sie ein paar Schüler, die wahrscheinlich eine Freistunde hatten.
„Die haben es gut“, dachte sie für sich, „die haben keine Ahnung, was heute Nacht gleich nebenan los war!“ Während Jeanne sich immer weiter von dem Hauseingang entfernte, hielt sie nebenbei nach irgendwelchen Auffälligkeiten Ausschau. Aber es begegneten ihr weder Polizisten noch Reporter, und auch sonst deutete nichts auf die schrecklichen Geschehnisse der Nacht hin.
Ein älterer Mann kam ihr entgegen und sie fragte ihn nach der nächsten Bushaltestelle. Seiner Wegbeschreibung zufolge war Jeanne nur eine Straße von dem Hauseingang mit der überdimensionalen, phosphoreszierenden Klingelplatte entfernt – der Straße, in der sie gestern Nacht das Bewusstsein verloren hatte.
Etwa fünf Minuten später war Jeanne an derselben Haltestelle, an der sie gestern Nacht ausgestiegen war. Der Busfahrer lächelte sie freundlich an. Oh wie peinlich – wie war das möglich?! Es war derselbe Fahrer wie der von gestern Nacht! Er nahm den Rucksack in ihrer linken Hand wahr, sie spürte es ganz deutlich – was der jetzt wohl dachte? Jeanne nickte ihm kurz zu und setzte sich. Sie wollte nur eines: nach Hause.
Der Bus fuhr nur wenige Minuten bis zur nächsten Station. Der Fahrer sah ab und zu im Spiegel zu ihr nach hinten. Normalerweise hätte sie sich wahrscheinlich längst eine neue Geschichte daraus gestrickt, heute jedoch fühlte sie sich nur schlecht damit und wartete sehnlich auf das Ende der Fahrt.
Und endlich! Die Bustüren schnappten auf und Jeanne ging zur Türe hinaus. Hier jetzt auszusteigen fühlte sich heute fast schon an, wie daheim ankommen, und tatsächlich stiegen ihr ein paar Tränen in die Augen. Nur ein kurzer Fußweg trennte sie von ihrer Wohnung, ihrem Zuhause, und damit auch der ersehnten Geborgenheit.
Als sie die Wohnungstüre aufschloss, beschlich sie jedoch ein ungewisses Gefühl: Was, wenn die Geschichte jetzt noch nicht zu Ende war? Das ungewisse Gefühl weitete sich schnell zu einer sorgenvollen Gewissheit aus - was auch immer in dieser Gasse heute Nacht passiert war – es hatte unleugbar irgendetwas mit ihr zu tun!
Mit beschwertem Herzen trat sie ein. So arglos sah die Wohnung aus! Als wäre nichts geschehen. Aber Jeanne wusste es besser…
Sie ging in die Küche, zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor und setzte sich. Jetzt musste sie erst einmal darüber nachdenken, was als Nächstes zu tun war. Sie bemerkte, dass sie die Tasche und den Rucksack noch immer in den Händen hielt und stellte sie neben sich auf den Boden.
Sie saß eine Weile einfach da, wie ausgeleert. Plötzlich wurde Jeanne klar, dass sie sich vor allem anderen um die Basics kümmern musste: sich gründlich duschen und etwas essen. Dann erst könnte sie sich wirklich mit der ganzen Sache auseinandersetzen.
Duschen tat unsagbar gut. Sie schrubbte sich, wusch zwei Mal gründlich die Haare und genoss es, das heiße Wasser über ihre schmerzhaften Stellen entlang laufen zu spüren und saugte lange die Wärme in sich auf. Irgendwann aber kam der Punkt, an dem es genug war, und sie stellte das Wasser kurzentschlossen auf eiskalt. In gewisser Weise schüttelte es sie, aber ihr Kreislauf jubilierte. Jetzt war sie bereit, sich dem Tag zu stellen.
Während sie noch ihre Haare trocken rubbelte, ging sie in die Küche, um einen Kaffee aufzusetzen. Sie brauchte jetzt ein extra starken Kaffee.
Im Handumdrehen hatte sie noch einen Joghurt mit einer Banane verrührt und ein Brot gestrichen. Dann setzte sie sich mit gutem Appetit an den Tisch und begann zu essen.
Ihr Blick fiel auf den Anrufbeantworter. Dass ihr der nicht längst eingefallen war! Sofort drückte sie die Abruftaste.
„…acht Anrufe erhalten…“, informierte sie der Apparat. „Na, da bin ich aber mal gespannt!“, dachte Jeanne erstaunt.
Die erste Nachricht hatte ihre Mutter darauf gesprochen: „Hallo Jeanne! Schade, dass wir nicht noch ein bisschen plaudern können. Ich wollte Dir ein paar Neuigkeiten erzählen …aber macht nichts… Rufst Du mich morgen nach der Arbeit an, ja? Gute Nacht, träum was Schönes, meine Liebe!“
Sicher hatte ihre Mutter sich gewundert, dass sie gestern Nacht nicht zuhause war. Ihre Mutter wusste, dass Jeanne immer spätestens mit dem letzten Bus nach Hause fuhr. Die nächste Nachricht war von ihrer Freundin Annika, die gestern Nacht noch einmal mit ihr sprechen wollte. „Warum wohl?“, dachte Jeanne. „Immerhin haben wir den ganzen Abend zusammen verbracht…“
Dann kam schon die erste Nachricht aus dem Büro, es war ihre Kollegin Kathrin, mit der sie auch befreundet war: „…sag mal Jeanne, wo steckst Du denn, es ist schon neun? Das Monster hat schon nachgehakt, warum Du nicht da bist und ihr nicht Bescheid gesagt hast. Also ruf mich an, sobald Du das gehört hast!“
Erstaunlich, dass Kathrin sie noch vor Frau Münster angerufen hatte. Aber die vierte Nachricht war natürlich von ihr, der Chefsekretärin und zugleich wichtigsten Station zwischen den Mitarbeitern und den beiden Chefs. Die Nachricht war kurz nach der von Kathrin aufgesprochen worden.
„Guten Tag Frau Dahr, hier spricht Münster. Ich weiß ja nicht, was Sie verhindert hat, aber Sie wissen, dass wir allergrößten Wert darauf legen, dass Sie sich beizeiten abmelden. Daher bitte ich Sie, dieses Versäumnis unverzüglich nachzuholen.“
Diese Art Anruf war natürlich zu erwarten gewesen. Die Agentur für Grafik und Design, in der Jeanne arbeitete, war anspruchsvoll und streng, was Pünktlichkeit und auch unentschuldigtes Fehlen betraf.
Die fünfte Nachricht allerdings war jenseits von erwartet und unerwartet, sie war ein regelrechter Schock. Sie war etwa eine Stunde später auf den AB gesprochen worden. Es war wieder Kathrin, ihre Stimme klang aufgewühlt, fast panisch: „Jeanne, was ist los bei Dir? Ich mache mir Sorgen! Es ist etwas ganz Schreckliches passiert! … Sie haben gestern Nacht den Polmann umgebracht! Die Polizei ist hier und fragt alles Mögliche. Wo steckst Du? Ich hoffe, Dir geht es gut… Ruf´mich bitte an!!“ In Jeannes Kopf herrschte hemmungsloses Chaos. Sie wusste nicht, was sie zuerst denken sollte …und zugleich hatte sie den dringenden Impuls, irgendetwas zu tun. Wobei ihr dieser Drang augenblicklich vollkommen lächerlich schien – es gab doch gar nichts zu tun! Was war hier bloß los?
Sie, die sie heute früh an einem unbekannten Ort mit Blut an den Händen und völlig ohne Erinnerung aufgewacht war, eine Leiche in derselben Gasse und ein Versteck in einem alten Waschhaus… Und dann Polmann, ihr ungeliebter Chef, der heute Nacht anscheinend ermordet worden war?
Jeanne hatte den Anrufbeantworter gestoppt. Ziellos lief sie hin und her durch ihre Wohnung, hielt wieder an, lief wieder weiter …und konnte einfach nicht fassen, was da gerade vor sich ging.
In ihrem Kopf formulierten sich mehrere Geschichten gleichzeitig. Und jede der Geschichten ging ganz selbstverständlich davon aus, dass es sich bei der Leiche neben den Mülltonnen um Polmann handelte.
Es könnte ja sein, dass der Stich, den sie auf einmal empfunden hatte – das war vor ihrem Blackout auch der letzte Moment, an den sie sich erinnern konnte – ein sofort wirkendes k.o.- Mittel war, das Polmann ihr verabreicht hatte. Dann war „Omar“ plötzlich wieder aufgetaucht und wollte ihr zu Hilfe kommen und hatte im Affekt Polmann umgebracht.
Natürlich war das Unsinn, warum war sie denn dann stundenlang verlassen herumgelegen…? …oder es könnte sein, dass jemand ihr aufgelauert hatte und Polmann zufällig in der Gegend war. Er hatte versucht, den Täter zu stellen und der brachte ihn dabei um.