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Das Buch erzählt Geschichten einer wundersamen Brille, die übernatürliche Eigenschaften besitzt. Wer diese Brille trägt, erlebt das Leben unweigerlich in einer völlig neuen Dimension. Zum einen findet er sich immer wieder in ungeahnten, schwierigen, spannenden und bisweilen auch schockierenden Situationen, zum anderen sieht er sich konfrontiert mit mancherlei persönlichen Herausforderungen: Misstrauen, Fixierung, Einsamkeit, Verzweiflung, Selbstmitleid und Versuchung von Macht. Nicht zuletzt geht es in diesem Buch um das Werden eines jungen Menschen, der versucht, die Menschen und sich selbst zu begreifen. Die Themen Wahrheit und Lüge und die Relativität dieser beiden sind, gerade für junge Menschen, ebenso wichtige Themen wie auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Unsicherheit, Selbstzweifeln, Freundschaft, Liebe und der Sinnhaftigkeit.
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Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2023
Dagmar Stimpfig
Die blaue Brille
Erzählung
Das ist der Weg in die Freiheit Die Dinge so zu sehen wie sie wirklich sind
Mögen alle Wesen glücklich sein!
© 2022 Dagmar Stimpfig
ISBN Softcover: 978-3-347-46863-4
ISBN Hardcover: 978-3-347-46864-1
ISBN E-Book: 978-3-347-46866-5
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich.
Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.
Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
Einleitung
1. Spezzini und die blaue Brille
Die Entdeckung
Lügengeschichten
Gute Vorsätze
Mehr Lügengeschichten
Die letzte offene Frage
Verrat und Vertrauen
2. Emil und die blaue Brille
Der Status Quo
Neue Wege
Aller Anfang
Opa Georgs Unfall
Weitere Geschichten
Der Gipfel
Pause
Entwicklungen
Freundschaften
Emil der Detektiv
Ent-Täuschung
Der Abstieg
Die Krise
Gefangen in der Schattenwelt
Eine rettende Idee
Eine Reise
Trotz allem
Chronologie
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Vorwort
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Vorwort
Während der Kindheit meiner beiden Kinder stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich Kinderfilme (später auch Jugendfilme!) so manches Mal unterhaltsamer finde als die für Erwachsene. Die Geschichten sind oft erstaunlich einfallsreich und mit viel Phantasie und wenig Grenzen zum „Unwirklichen“ erzählt. Man taucht ein in Welten voller Mystik, Geheimnisse, Magie und Abenteuer.
Eigentlich wurde ich durch diese Filme nur daran erinnert, was für eine Faszination Geschichten dieser Art schon seit jeher auf mich ausgeübt haben und fand mit ihnen wieder Zugang zu Welten, die ich in der „realen“ Welt des Alltags ein wenig aus den Augen verloren hatte.
Kurzum, als ich ein Thema für ein Buch überlegte, bekam ich Lust, selbst eine halb-wirkliche, geheimnisvolle und spannende Geschichte für junge Leser zu schreiben.
Daraus ist ein Buch geworden, das Geschichten einer wundersamen Brille mit übernatürlichen Eigenschaften erzählt.
Wer diese Brille trägt, erlebt das Leben unweigerlich in einer völlig neuen Dimension. Zum einen findet er sich immer wieder in ungeahnten, schwierigen, spannenden und bisweilen auch schockierenden Situationen, zum anderen sieht er sich konfrontiert mit mancherlei persönlichen Herausforderungen: Misstrauen, Fixierung, Einsamkeit, Verzweiflung, Selbstmitleid und Versuchung von Macht.
Nicht zuletzt geht es in diesem Buch um das Werden eines jungen Menschen, der versucht, die Menschen und sich selbst zu begreifen. Die Themen Wahrheit und Lüge und die Relativität dieser beiden sind, gerade für junge Menschen, ebenso wichtige Themen wie auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Unsicherheit, Selbstzweifeln, Freundschaft, Liebe und der Sinnhaftigkeit.
Einleitung
Durch Zufall entdeckt Emil im Laden seines Freundes Signore Spezzini eine wunderschöne und ungewöhnliche blaue Brille.
Emils Neugier ist geweckt und er bemerkt, dass diese Brille zauberhafte Eigenschaften besitzt.
Zuerst erzählt der Antiquitätenhändler und ehemalige Lehrling der Brille von seinen Abenteuern mit der wundersamen Brille und was er durch sie gelernt hat.
Der alte Mann wartet zunächst drei Jahre, bis er seinem Schützling die Brille anvertraut.
Danach entwickelt sich die Geschichte vom neuen Besitzer Emil mit der blauen Brille. Er macht ungeahnte und abenteuerliche Erfahrungen und erlebt bedeutende Herausforderungen. Schließlich lernt auch er seine ganz persönliche Lektion.
Einerseits erzählt das Buch die Geschichten von Herrn Spezzini und von Emil und die Geschichten, die sich aus den ungewöhnlichen Eigenschaften der Brille ergeben.
Zum anderen berichtet das Buch von den Schwierigkeiten und Prüfungen, denen sich jeder von beiden auf seinem Weg stellen muss, bevor das Leben ihn letzten Endes beschenkt.
1. Spezzini und die blaue Brille
Die Entdeckung
Die Sonne war gerade untergegangen und hatte das Licht des Tages mit sich genommen. Das tagsüber so quirlige Treiben in der Stadt war längst abgeklungen und einer abendlichen Atmosphäre von Dämmerung und Stille gewichen.
Nur noch wenige Menschen eilten durch die Straßen und Gassen.
Anscheinend wollten sie nach Hause kommen, bevor es endgültig dunkel wurde.
Ein Junge von etwa vierzehn Jahren war auch in einer der Gassen unterwegs. Allerdings eilte er nicht, vielmehr sah es so aus, als ob er recht konzentriert etwas suchte. Es wirkte, als würde der schlanke, dunkelhaarige Bursche die Gasse einer richtiggehenden Prüfung unterziehen. Manchmal bückte er sich, hob etwas auf, ließ es aber im nächsten Moment gleich wieder fallen. Die anderen Menschen waren so mit sich selbst beschäftigt, dass ihnen gar nicht auffiel, dass der Vierzehnjährige um diese Uhrzeit noch unterwegs war.
Wieder bückte er sich nach etwas. Diesmal untersuchte er genauer, was er aufgehoben hatte. Dann steckte er es in eine Hosentasche. Er schien gefunden zu haben, was er gesucht hatte, denn er beendete die Suche jetzt und eilte davon.
Als er ein paar Straßen entfernt in eine Gasse einbog, war sein Zuhause nicht mehr weit. Gleich in dem hellgelben Fachwerkhaus mit der großen Holztüre und dem spitzen Giebel, da wohnte er.
Er klopfte an die Haustüre, die seine Mutter schon verschlossen hatte. Gleich kam die Mutter an die Türe.
Leicht verärgert begrüßte sie ihn: „Na endlich kommst Du nach Hause! Wo warst Du denn schon wieder so lange, Emil?“
Emil betrat das Haus und meinte: „Es ist noch Sommer, Mutter, da ist es doch viel länger hell!“
„Aber ich mache mir Sorgen, wenn Du um diese Uhrzeit noch unterwegs bist“, erwiderte die Mutter. „Hast Du Hunger?“
„Oh ja, was gibt es denn Leckeres?“, wollte Emil wissen.
„Kartoffeln mit Spinat und Spiegelei. Ist natürlich kalt inzwischen“, murrte die Mutter.
„Das macht mir nichts, ich esse das so und so gerne“, sagte Emil unbekümmert. Dann fügte er hinzu: „Weißt Du denn überhaupt schon, was ich gefunden habe?“
Seine Mutter schüttelte den Kopf. Sie war schon nicht mehr sauer; sie konnte Emil sowieso nicht wirklich böse sein.
„Zeig mal, was Du da hast!“, rief seine Schwester Klara, die gerade in die Küche gekommen war. Klara war etwa zwei Jahre älter als Emil. Sie war schon ziemlich erwachsen – nicht zuletzt deshalb, weil sie schon in jungen Jahren viel Verantwortung hatte übernehmen müssen. Doch wenn sie mit Emil zusammen war, ließ sie sich von seiner Unbeschwertheit anstecken und es machte ihr viel Spaß, mit ihm herumzualbern.
Flink versteckte Emil den kleinen Gegenstand hinter seinem Rücken.
„Ich habe erst Mama gefragt“, sagte er mit gespielt kindlichem Ton.
„Also gut“, meinte die Mutter, „sagen wir mal… es ist… ein fünfzig Pfennig Stück?“
„Nnnein, viel besser“, frohlockte Emil. „Rate nochmal!“, forderte er seine Mutter auf.
„Ein… eine Mark Stück?“, fragte die Mutter erneut.
Klara wollte auch mitraten: „Oder etwa ein zwei Mark Stück?!“
„Nein, nein, nein!!“ Emil genoss diesen Moment der Spannung. Gleich würde er den anderen seinen Fund zeigen.
Er platze triumphierend heraus: „Es ist eine… Taschenuhr! Und zwar sogar eine aus echtem Silber!“
Die Mutter erschrak ein wenig und sagte sogleich: „Aber die müssen wir doch zurückgeben!“
Klara rief neugierig: „Lass sie mich mal sehen!“
Stolz zeigte Emil der Mutter und der Schwester die Uhr.
„Ich wüsste nur nicht, wem ich sie zurück geben sollte“, sagte Emil verteidigend. „Wenn ich sie nicht gefunden hätte, würden sie morgen früh eh die Straßenkehrer mitnehmen. Da wette ich!“
Da hatte er freilich recht.
Emil hatte sich eine Art Spiel daraus gemacht, abends die Gehsteige und Gassen abzusuchen. Er war absolut überzeugt, dass es sich lohnte. Meist waren es nur ein paar Pfennige, aber hin und wieder war tatsächlich auch ein Markstück dabei. In jener Zeit war das nicht wenig Geld für einen Jungen in Emils Alter. Die Leute verloren alles Mögliche, und nur selten kam Emil ganz ohne Beute nach Hause. Er fand auch immer wieder kleine Anhänger, Broschen oder Schmucksteine. Diese Funde liebte er besonders. Er brachte sie zur Ansicht zu Herrn Spezzini, dessen Laden er nur allzu gerne aufsuchte. Die Leute nannten Armando Spezzini auch den „Italiener“ oder den „Signore“. Sein Antiquitäten- und Pfandladen war ganz in der Nähe der Nürnberger Burg. Herr Spezzinis Laden war vor allem aber kein gewöhnlicher Laden. Es waren dort unendlich viele Dinge zu sehen und viele Schätze zu entdecken. Es gab bizarre Leuchter und Lampen, ausgestopfte Vögel, antiken Silberschmuck, uraltes Spielzeug und vieles mehr. Was allerdings den Laden so besonders machte war, dass Herr Spezzini zu fast allen Dingen in seinem Ladens eine Geschichte kannte. Der Vogelkäfig zum Beispiel hatte einer alten Dame gehört, die ihr Leben lang einen Papagei besessen hatte. Als die alte Dame starb, war der Papagei sehr einsam und kurze Zeit danach starb auch er.
Oder die schöne, rotbraun glänzende Violine, der man ansehen konnte, dass sie aus edelstem Holz gefertigt war. Sie hatte einst einem Mann gehört, der eine vielversprechende Zukunft als Geigenspieler gehabt hätte, ein wahres Talent. Aber er war unglücklich verliebt und begann zu trinken; so musste er seine wunderbare Geige versetzen, um sich eine billigere zu kaufen. Er fing nach einer Zeit wieder ernsthaft zu spielen an, hörte das Trinken auf und wurde ein ausgezeichneter Musiker. Aber er kaufte seine edle Violine nie zurück, die ihm in seinen Augen Unglück gebracht hatte.
Der Signore hatte so viele und so spannende Geschichten, dass Emil oft vorbei kam, um sich bei ihm aufzuhalten, seine vielen Besitztümer zu bestaunen und um ihm zuzuhören.
Am nächsten Tag also ging Emil voller Vorfreude in Spezzinis Laden. Die Glöckchen über der Eingangstüre klingelten, als er eintrat, und das matt- dunkle Licht des Innenraumes hallte ihm entgegen. Emil versuchte, durch die vielen herumstehenden und herumhängenden Dinge hindurch zu erhaschen, ob der Signore hinter seinem Tisch saß. Er tat es. „Aaah, Emilio! Komm herein, mein Freund!“, rief ihm Herr Spezzini sogleich zu.
Der Signore war ein freundlicher, älterer Herr mit langen, lockigen Haaren, deren schwarze Farbe inzwischen weitgehend allerlei Grautönen gewichen war.
Aufgeregt zeigte Emil ihm seinen neuen Fund.
„Oh, das ist aber ein hübsches Stück“, meinte Spezzini und pfiff leise durch die Zähne. Er fragte: „Wo hast Du denn die gefunden?“
„Vorne in der Nähe vom Burgbrunnen“, antwortete Emil und begann nebenbei, seine Brille ein wenig mit einem Hemdsärmel zu säubern. Er war sehr gespannt, was sein Freund noch dazu sagen würde. Der Signore hielt eine spezielle Lupe vor sein rechtes Brillenglas und betrachtete die Uhr genauer, dann sagte er anerkennend: „Weißt Du, das war ein ziemlicher Glücksgriff, mein Sohn.“
Er nannte Emil meist „Mein Freund“, „Amico mio“ oder „Emilio“, manchmal aber sagte er auch „Mein Sohn“.
Emil mochte jede dieser Anreden, in seinen Ohren klangen sie alle wie
Kosenamen. Das lag wohl vor allem an der Art, wie der alte Herr diese Worte aussprach.
Herr Spezzini hegte fürsorgliche, väterliche Gefühle für Emil, der Halbwaise war. Er selbst hatte seinen eigenen Sohn verloren, als der im Alter von dreiundzwanzig Jahren im Krieg gefallen war.
Somit verband die beiden zum einen Zuneigung, zum anderen auch eine Verwandtschaft im Schicksal.
Der Signore zwirbelte an seinem Schnurrbart, was er sehr gerne tat, und sagte dann: „Die ist gut und gerne ihre fünfundzwanzig Mark wert, amico mio. So viel habe ich noch gar nicht im Laden… Wenn Du willst, machen wir es einfach so: Du lässt mir die Uhr da, und wenn sie verkauft ist, bekommst Du Dein Geld. Einverstanden?“
Fünfundzwanzig Mark, was für eine Überraschung! Emil nickte erfreut. Das war sehr viel Geld, mit so viel hatte er bei weitem nicht gerechnet. Aber was würde er damit anstellen? Ohne langes Zögern entschied er sich, seiner Mutter fünfzehn Mark zu geben, die konnte das Geld gut für den Haushalt brauchen. Die anderen zehn waren nach wie vor ein üppiges Taschengeld für ihn selbst. Davon könnte er zum Beispiel an seinem fünfzehnten Geburtstag seine zwei Freunde Kurt und Paul zu einem großen Eisbecher einladen. Danach wäre sogar immer noch etwas übrig.
Herr Spezzini bot Emil an, Platz zu nehmen. Emil hatte keine Eile und er setzte sich behaglich auf den Drehstuhl, der neben dem riesigen, Sesselähnlichen Stuhl vom Signore stand.
Die Sommerferien waren noch nicht zu Ende, und zu Hause gab es weder Hausaufgaben zu erledigen noch für eine Prüfung zu lernen. Emil liebte diese Zeit, in der er frei von jenen Verpflichtungen war, insbesondere, da er die Schule nicht sonderlich gerne besuchte.
Er blieb bis kurz vor dem Mittagessen im Laden, der „Oase“, wie Signore
Armando sein kleines Reich nannte. Dann brach er auf, denn er wollte nicht zu oft zu spät kommen.
Glücklich hüpfend lief Emil an diesem Mittag nach Hause und war schon in Vorfreude, seiner Mutter von den fünfundzwanzig Mark zu berichten. Im letzten Moment jedoch überlegte er es sich anders: noch besser gefiel ihm eigentlich die Idee, die Mutter zu gegebener Zeit mit dem Geld zu überraschen. Diesen Einfall fand er definitiv reizvoller, so wollte er es machen. Wie sie dann wohl erst staunen würde!
An der Haustüre angekommen, zog er ein kleines Tuch aus der Hosentasche und putzte damit seine Brille, die vom Hüpfen und Schwitzen beschlagen war. Er öffnete die Türe und ging hinein. Im großen Hausflur traf er auf seine Großmutter.
„Hallo, Oma Ursl!“, rief er.
Die Großmutter war gerade dabei, den Flur zu kehren.
„Komm rein, mein Bub“, sagte sie gefällig und ließ Emil vorbei.
Das Mittagessen hatte Klara gekocht. In den Ferien war sie zuständig für diese Arbeit, sodass sich ihre Mutter tagsüber ab und zu ein wenig ausruhen konnte. Die Mutter betrieb in einem Raum im vorderen Teil des Hauses ein kleines Wasch- und Bügelgeschäft. Das Geschäft ging recht gut, aber den Haushalt und das Kochen zusätzlich und meistens ganz alleine zu bewerkstelligen, bedeutete für sie oft einen Arbeitstag von zehn bis vierzehn Stunden.
So weit es ihr möglich war, ging ihr ihre eigene Mutter ein bisschen zur Hand. Leider allerdings hatte Oma Ursl, wie diese genannt wurde, große Probleme mit ihren Beinen und mit schmerzhafter Steifheit in den Fingern, und war daher nicht wirklich einsatzfähig.
Klara kam gerade aus der Küche und fragte Emil ohne Gruß: „Und, wie viel hast Du für die Uhr bekommen?“
„Ach, die war kaputt und ist nichts mehr wert“, antwortete dieser möglichst belanglos. Er drückte sich an Klara vorbei und ging die Treppe hinauf in sein Zimmer.
Oben waren die drei Schlafzimmer von Emil, Klara und ihrer Mutter. Oma Ursl schlief unten hinter der Wohnküche im ehemaligen Wohnzimmer, denn obwohl sie erst Mitte sechzig war, konnte sie keine Treppen mehr steigen.
Emil suchte in seinem Zimmer die Murmeln zusammen. Nach dem Essen wollte er sie mit zum Spielen mit seinen Freunden nehmen. Im Sommer trafen sie sich an den Nachmittagen immer auf einem großen Platz, der von hohen, uralten Bäumen beschattet wurde.
Der Platz wurde von den verschiedensten Leuten genutzt und geliebt: von älteren Damen oder Herren, die auf den Bänken saßen und den Sommer im Schatten genossen, von jungen Müttern, die ihr Kleines im Kinderwagen spazieren fuhren und zum Beispiel auch von Jugendlichen, die hierher kamen, um sich zu treffen, Fahrrad zu fahren, Murmeln zu spielen oder zu kicken. So wie Emil, Kurt und Paul. Ab und zu war auch ein Pärchen dabei, das miteinander tuschelte und ganz eng zusammen saß.
Paul und Kurt waren noch gar nicht da, so setzte sich Emil auf eine Bank und schaute den anderen Leuten ein wenig zu.
Es dauerte glücklicherweise nicht lange bis die beiden auch eintrafen.
Der lange Paul war etwas schneller, während Kurt schon von weitem rief: „Eigentlich war ich der Erste, Paul hat mich nur ausgetrickst!“ Dann setzten sie sich zu Emil auf die Bank und beratschlagten ausführlich, was sie heute noch alles machen könnten. Aber letztendlich entschieden sie sich doch wieder fürs Murmeln, denn das machte ihnen zur Zeit am meisten Spaß.
Sie beschlossen ihre Mütter zu fragen, ob sie morgen ins Freibad gehen durften. Es war noch einmal richtig sommerlich warm geworden in den letzten Tagen, das wollten sie unbedingt ausnutzen, denn die Tage im Freibad waren herrlich. In zwei Wochen war schon wieder Schule und dann würde es nur allzu schnell Herbst werden.
Auf dem Weg nach Hause suchte Emil, wie immer, die Gehsteige ab. Er hatte Glück und fand bald zwei Münzen, zwei Pfennige und fünfzig Pfennige. „Was für ein schönes Taschengeld“, dachte er, „es ist wirklich erstaunlich, dass die Leute ständig etwas verlieren!“
Den nächsten Tag verbrachten die drei Freunde vom frühen Vormittag an im Freibad. Keiner der Jungen wurde zuhause gebraucht, und die Mütter hatten ihnen Brote und Trinkflaschen mit Wasser und Waldmeister-Limonade mitgegeben. Sie blieben bis zum späten Nachmittag, bis die Sonne nicht mehr kräftig genug schien, um sie nach dem Baden zu trocknen.
Tags drauf war es allerdings höchste Zeit, wieder bei Signore Spezzini vorbei zu schauen. Vielleicht hatte er ja die Uhr bereits verkauft? Emil öffnete die Türe und lugte zum Tisch. Wo war denn sein Freund heute? Da die Türe unverschlossen war, würde er sicher gleich zurück kommen. Emil trat schon mal ein, der Signore hatte ihm oft genug gesagt, er solle sich ganz wie Zuhause fühlen. Er freute sich darauf, den Signore zu sehen und wollte auf ihn warten. In fröhlicher Stimmung setzte er sich derweil auf dessen großen Sessel-Stuhl, drehte sich damit hin und her und schaute zufrieden in den Laden hinein. Emil liebte diesen Laden einfach! Die gemütliche Oase seines Freundes fühlte sich wirklich wie ein zweites Zuhause an.
Da fiel sein Blick auf die geöffnete Schublade des Schreibtisches. Es war mehr als merkwürdig, wenn eine Schublade dieses Tisches auch nur noch so leicht herausgezogen war und offen stand.
Aber was lugte denn da aus dieser Schublade in so außergewöhnlichem Blau heraus? Es war eine Brille, die in einem halb geöffneten Etui lag und ihm in unglaublich schöner Farbe entgegen glänzte. Sie war so schön, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, sie heraus zu holen. Sie war von einem Blau, das unbeschreiblich war. Eine Mischung aus königsblau und saphirblau, dazu das Klare vom Meer. Eine nahezu unwirkliche, übernatürliche Farbe.
Im nächsten Moment schon hatte Emil seine Brille heruntergenommen und die wunderschöne blaue aufgesetzt. Aber – wie unerwartet! Diese Brille war genau wie für ihn geschaffen, sie hatte exakt seine Brillenstärke! Erstaunlich! Wie war das denn überhaupt möglich? Er sah sogar noch viel schärfer und klarer als mit seiner eigenen, und seine war sogar vom Optiker gefertigt worden. Es war, als würde er das, was er sah, viel deutlicher in seiner dritten Dimension wahrnehmen.
Emil lief mit der Brille auf der Nase durch den Laden und begutachtete all die Dinge ganz erstaunt, die er sich schon so viele Male angesehen hatte. Diesmal lag aber ein besonderer Reiz darin, nämlich die alt bekannten Dinge mit der neuen Dimension von Sehkraft zu betrachten. Es war einfach phantastisch!
Emil hatte sich nahezu verloren in der Betrachtung eines Kristall Leuchters, als endlich Herr Spezzini zurückkam.
„Aah, Emilo, Du bist ja da!“, freute sich der Signore und ging auf Emil zu, der sich links neben dem Schreibtisch bei jenem Kristall Leuchter befand. Emil stand mit dem Rücken zu ihm und drehte sich sogleich um, um seinen Freund zu begrüßen.
Als der allerdings bemerkte, dass Emil die blaue Brille trug, erschrak er sichtlich und fragte in ungewohnt strengem Tonfall: „Emilio, wie kommst Du zu dieser Brille?“
Emil erklärte etwas verlegen, dass die Schublade bereits ein wenig offen stand, als er ankam, und die Brille ihm so unwiderstehlich entgegen geleuchtet hatte.
„Du kannst diese Brille nicht tragen!“, sagte Spezzini. Seine Stimme klang sehr bestimmt.
„Aber warum denn nicht?“, fragte Emil irritiert. „Sie brauchen keine Sorge haben, dass ich sie kaputt mache - ich würde doch immer auf Ihre Sachen aufpassen!“
„Nein, das ist es nicht. Ich will nur nicht, dass sie irgendjemand aufsetzt“, erwiderte der Signore ruppig.
„Nur ein bisschen, es ist so fantastisch, wie klar ich damit sehe! Es ist genau meine Brillenstärke, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, noch viel mehr zu sehen!“, bat Emil noch einmal.
„Nein habe ich gesagt, Emilio, respektiere das!“, forderte Spezzini nun ungehalten. Es war ihm ernst.
Gerade wegen Spezzinis ungewohnter Strenge aber wollte Emil es genauer wissen.
„Warum denn nicht?“ fragte er in drängelndem Ton.
„Ich kann Dir das jetzt nicht erklären“, sagte der alte Herr verärgert. Das war er sonst so gut wie nie. Schnell biss er sich auf die Lippen. Zu spät! Im nächsten Moment passierten zwei Dinge:
Schlagartig wusste Emil, dass der Signore gelogen hatte. Er wusste es mit einer Gewissheit, wie man sie nur hat, wenn man sich einer Sache ganz sicher ist.
Und zweitens hörte er, und das war unglaublich und spektakulär obendrein, in seinem Kopf Spezzinis Stimme sprechen: „Weil es eine Brille mit besonderen Fähigkeiten ist und ich nicht will, dass Du schon davon weißt!“
Emil war völlig überwältigt. Wie war das möglich? Wie hatte er die Antwort in seinem Kopf hören können, dazu mit der Stimme von Signore Spezzini? „Was war denn das gerade?“, fragte er und sah den Signore verunsichert an. Ehrfurchtsvoll nahm er die blaue Brille ab und reichte sie ihrem Besitzer. Spezzini nahm sie rasch entgegen, als wäre sie nun endlich wieder in Sicherheit. Dann betrachtete er die Brille gedankenversunken in seinen Händen.
„Wie soll ich Dir das jetzt bloß erklären…“, sagte er nachdenklich und schüttelte den Kopf. Erst einmal legte er die Brille in ihr Etui zurück und wandte sich dann erneut Emil zu.
„Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee?“, fragte er zunächst. Der Signore hatte immer eine Riesen-Thermoskanne voll starkem Milchkaffee bei sich stehen, den er den ganzen Tag über in kleinen Tässchen trank.
Sie setzten sich in die Sofaecke hinter dem Schreibtisch und machten es sich bequem.
Signore Spezzini hatte den etwas schmaleren Bereich des Ladens, der hinter dem Schreibtisch lag, zu einer wohnlichen Nische gestaltet. Er konnte seinen Riesen-Sesselstuhl und ebenso den danebenstehenden Stuhl um hundertachtzig Grad drehen, wodurch die beiden diesem Bereich zugewandt waren. Auf dem Boden lag ein großer orientalischer Teppich, auf dem Schwäne am Teich mit Blumen und Bäumen abgebildet waren. Zur rechten Seite seines Stuhls begrenzte den Teppich ein großes, antikes Sofa, und zwischen den beiden stand ein kleines Serviertischchen. Darauf stand immer die riesige Thermoskanne, seine Tasse und ein paar andere kleine Tassen für Gäste.
Wenn man also die Stühle vom Tisch weg drehte, befand man sich im
Handumdrehen inmitten einer Art Privatzimmer und konnte in gemütlicher Runde zusammen sitzen.
„Es ist mir eigentlich gar nicht recht, dass Du jetzt schon von der Brille weißt“, begann der Signore. „Weißt Du, ich wollte Dir davon erzählen …aber noch nicht jetzt. Erst, wenn Du älter bist. Es war mir natürlich klar, dass Du sonst neugierig werden würdest und ich Dir dann alles erzählen müsste. Das wollte ich eben vermeiden.“
Herr Spezzini machte eine Pause. Emil verharrte schweigend.
„So ein Zufall aber auch, dass ich diese Brille genau heute in den Händen hielt… Ich bin ins Träumen geraten und auf einmal fiel mir ein, dass ich doch zur Bank muss und war plötzlich in Eile. Da habe ich sie wohl so schlampig in die Schublade zurückgelegt, ohne überhaupt das Etui ordentlich zu schließen. Das ist eigentlich so gar nicht meine Art.“ Der alte Mann schüttelte erneut den Kopf über sich selbst, aber er schien sich so langsam damit abzufinden.
Er sagte: „Aber, ich bin ja selbst Schuld, weil ich diese Schublade offen gelassen habe. Eine geschlossene Schublade hättest Du nicht geöffnet. Aber da sie nun mal offen war… Und dass Dich die Brille bei ihrem Anblick reizte, kann ich Dir wahrlich nicht verdenken.
Nun, es soll wohl so sein. Aber Du musst mir versprechen, dass Du keiner Menschenseele davon erzählst. Kannst Du das versprechen?“ Emil nickte nur und sah dem Signore fest in die Augen. Spezzini nahm einen Schluck Milchkaffee und fuhr fort: „Weißt Du, die Brille wird Dir gehören, aber noch nicht jetzt. Ich werde sie Dir an Deinem achtzehnten Geburtstag übergeben, dann wirst Du wohl so weit sein. Jetzt bist Du noch zu jung, das musst Du verstehen, d'accordo? Nun, Emilio, nimm doch ein wenig von dem Kaffee.“
Emil nippte kurz, aber er war so gespannt, dass er nur wissen wollte, was sein Freund ihm noch von der Brille erzählen würde.
„Weißt Du… es ist jetzt viele Jahre her, da kam einmal eine alte Dame zu mir in den Laden. Sie hatte lange Zeit als Hausmädchen in einem reichen Haus russischer Staatsbediensteter in Dresden gearbeitet.
Als der Hausbesitzer starb, verkaufte die Witwe das Haus und zog in eine
Wohnung. Dem treuen Hausmädchen, meiner alten Dame, schenkte sie zum Andenken ein antikes Schmuckkästchen. Es war ungewöhnlich groß und hatte herrliche Verzierungen.
Tja, die alte Dame zog nach dem Krieg nach Erlangen hier in Franken. Und eines Tages, es war im Winter des Jahres neunzehnhundertsiebenundvierzig, kam sie zu mir in meinen Laden. Sie sagte, dass sie dieses Kästchen liebte, aber dass sie keine Verwendung mehr dafür hätte. Sie war auf einem Besuch in Nürnberg gewesen, und bei einem Stadtbummel hatte sie zufällig meinen Laden gesehen und war spontan hereingekommen. Ihr gefiel der Laden so gut, dass sie sich dazu entschied, mir ihr Schmuckkästchen zu überlassen. Sie freute sich darauf, es bei mir in den Laden zu stellen, wo sie es von so viel anderem Kleinod umgeben wusste und wo es sicher von einem Liebhaber gefunden werden würde.
Zwei Wochen später brachte sie mir also das Kästchen vorbei.
Du weißt Emilio, dass ich alle Dinge, die sich in diesem Laden befinden,
ganz genau kenne. Um sie kennenzulernen, säubere und pflege ich sie und lerne sie dabei kennen. Daher bemerkte ich einen doppelten Boden in diesem Kästchen. Er war sehr geschickt eingearbeitet und gar nicht so leicht zu entdecken. Ich bin mir sicher, dass weder die Russin, für die die alte Dame gearbeitet hatte, noch die alte Dame selbst je von der Existenz dieses doppelten Bodens gewusst haben. Noch viel weniger hatten sie eine Ahnung von der blauen Brille, die sich darunter befand.
Als ich sie entdeckte, fiel auch mir sofort dieses sagenhafte, fast übernatürliche Blau auf. Unwillkürlich setzte ich sie auf.
Und mir erging es wie Dir: die Brillenstärke war exakt die meine! Ich dachte, dass das ein glücklicher Zufall sei und freute mich darüber. Begeistert zeigte ich das schöne Stück einem Freund, der auch gleich angetan von der ungewöhnlichen Farbe war und sie instinktiv gleich einmal aufprobierte. Weißt Du, was er sagte?“
Emil schüttelte den Kopf.
„Er sagte: `So ein Zufall, das ist ja genau meine Stärke, das gibt es doch nicht!´ Ja, das rief er! Dazu muss ich Dir sagen, dass dieser Freund so dicke Brillengläser brauchte wie einer, der fast blind ist. Außerdem hatten sein rechtes und sein linkes Auge völlig unterschiedliche Stärken. Du weißt, was das bedeutet? Die Brille hat die unglaubliche Fähigkeit, sich der Sehstärke ihres Benutzers anzupassen! Nun, ich war natürlich völlig verblüfft und nahm die Brille wieder an mich. Ich versuchte als Nächstes, meinen Freund etwas abzulenken, denn ich war nicht wirklich bereit, dieses Geheimnis mit jemandem zu teilen. So sagte ich ein bisschen verharmlosend, dass das ja komisch sei, `aber na ja´, und packte die Brille möglichst unauffällig wieder weg.
Tjaaa… ich war also völlig fasziniert von dieser meiner neuen Brille und wollte auf jeden Fall ihr Geheimnis hüten, da mir klar war, dass ihre zauberhafte Eigenschaft sie natürlich auch für andere begehrenswerter machte. Das wollte ich mir ersparen.“
Signore Spezzinis Augen waren in ein Nirgends gerichtet, und die
Vergangenheit schien für ihn darin sehr lebendig geworden zu sein.
Er fuhr fort: „Du wirst Dir kaum vorstellen können, was mir als Nächstes passierte. Ich konnte es ja selbst kaum glauben. Die Brille enthüllte mir ein weiteres Geheimnis, das das erste um Welten überragte. Es passierte ohne jede Vorankündigung.
Und zwar kam gleich am nächsten Tag eine Frau zu mir in den Laden. Sie bot mir zwei bezaubernde Porzellan-Figürchen zum Ankauf. Der Preis allerdings schien mir maßlos überteuert. Ich fragte sie, wieso sie einen so hohen Preis verlangte. Da erwiderte sie, dass diese Figürchen schon sehr alt waren und von besonderem Wert seien, da sie aus dem Nachlass einer Adelsfamilie stammten.
Im allernächsten Moment wusste ich mit messerscharfer Klarheit, dass diese Frau gelogen hatte. Und dann hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf. Die Stimme eben dieser Frau!
Sie sagte: `Die Figuren habe ich während des Krieges meinen jüdischen Nachbarn gestohlen, kurz nachdem die Familie ins Konzentrationslager gebracht worden war.´
Ich glaubte, nicht richtig zu hören - das war ja kaum zu fassen! Aber obwohl ich total perplex zwar, war ich doch forsch genug, der Frau auf den Kopf zuzusagen, dass die Porzellanfiguren auf unehrenhafte Weise in ihre Hände gelangt waren, dass sie sie gestohlen hatte. Sie wurde vollkommen blass, riss die Figürchen an sich und stürmte aus dem Laden.
Ja, mein Sohn, die zweite Eigenschaft der blauen Brille ist, dass sie die
Wahrheit kennt. Sie enttarnt den Lügner auf der Stelle und lässt Dich durch seine Stimme in Deinem Kopf die Wahrheit erfahren. Es ist unerhört! Ich habe daraufhin recherchiert - und es war wahrlich nicht leicht, das herauszufinden - diese Brille ist eine geniale Erfindung des russischen Geheimdienstes! Sie wurde speziell für Spionagezwecke entwickelt, wofür sie natürlich perfekt geeignet ist.
Die Fähigkeit, die Wahrheit zu kennen, kann durch Drehen am rechten Brillenglas auch deaktiviert werden, dann hat sie nur noch die Eigenschaft einer wundersamen und genialen, anpassungsfähigen Brille. Obendrein ist sie aus nahezu unzerstörbarem Material hergestellt, sie wurde nämlich ursprünglich für gewisse Sondereinsätze entwickelt.
Ich glaube, jeder wäre so überwältigt und so begeistert von dieser Brille gewesen, wie ich es war.
Bald musste ich allerdings auch lernen, dass es zugleich eine enorme
Aufgabe ist, die blaue Brille zu besitzen und sie zu tragen. Ja, sie wurde eine große Herausforderung und darüber hinaus eine große Lehrmeisterin für mich!“
Signore Spezzini machte eine Pause in seinem Redefluss. Er schien sich tief hinein, zurück in diese Zeit zu denken.
Dann sagte er: „Irgendwann kam sogar der Zeitpunkt, es waren ziemlich genau zwei Jahre später, an dem ich wusste – ich wusste es mit absoluter Gewissheit – dass meine Zeit mit der blauen Brille zu Ende war. Von da an benutzte ich sie nie mehr. Ich legte sie in diese Schublade. Und als ich sie hinein legte, fühlte ich, dass sie eines Tages und zur rechten Zeit wieder einen neuen Besitzer finden würde.“ Signore Armando sah Emil freundschaftlich an und machte eine kleine Pause.
„Als Du am Anfang des Jahres neunzehnhundertvierundfünfzig zum ersten Mal in diesen Laden kamst, da wusste ich sofort, dass wir zwei Freunde werden. Und schon bald danach war mir ebenso klar, dass Du derjenige bist, für den die Brille bestimmt ist, dass Du sie eines Tages tragen wirst. Seit ich die blaue Brille mehr als vier Jahre zuvor in die Schublade legte, hatte ich kaum mehr an sie gedacht – und dann war sie auf einmal wieder in meinem Bewusstsein. Aber so ist das im Leben, es ist wie bei einem großen Puzzle…“
Herr Spezzini war recht nachdenklich geworden.
Nach einer langen Pause, die auch Emil respektvoll nicht unterbrach, fuhr er fort: „Beim nächsten Mal erzähle ich Dir davon, wie sie mich begleitete, wie und was sie mich lehrte und warum ich sie ablegte. Für heute lass uns hier Schluss machen.
Ach, übrigens, Deine Uhr habe ich schon verkauft, Du kannst Dein Geld gleich mitnehmen!“
Herr Spezzini drehte seinen Stuhl herum und kramte fünfundzwanzig Mark aus der Geldschublade zusammen. Emil war so beeindruckt von dem Gehörten, dass er kaum mehr Platz hatte für diese eigentlich so erfreuliche Nachricht.
Der Signore bemerkte, wie überwältigt Emil noch war.
Er gab Emil das Geld in die Hand und sagte: „Nimm Dir erst einmal eine Pause, amico mio, geh nach Hause. Ich werde Dir Stück für Stück alles erzählen, aber mit Zeit und in Ruhe. Es ist gleich Mittag, und etwas zu Essen wird Dir jetzt bestimmt gut tun.“
„Ja, das mache ich“, erwiderte Emil. „Danke für die Geschichten. Und versprochen, ich werde niemandem davon erzählen. Auch danke für das Geld!“
„Hast Du schon etwas vor damit?“, fragte der Signore noch.
„Ich behalte zehn Mark und das andere gebe ich meiner Mutter“, antwortete Emil.
„Das ist sehr vernünftig, mein Sohn“, stimmte der Signore zu. Dann verabschiedeten sich die beiden und Emil machte sich auf den Weg nach Hause. Er ging sehr langsam. Er versuchte, ein wenig zu verarbeiten, was Signore Armando ihm heute anvertraut hatte.
Was für eine nahezu unglaubliche und zugleich so geniale Brille!
Was würde der Signore ihm nächstes Mal noch alles darüber erzählen? Und warum er wohl die Brille irgendwann wieder abgelegt hatte? Emil konnte es kaum erwarten, all diese Dinge zu erfahren.
Dann dachte er wieder an das Geld. Es war eine ganz schöne Summe, die Mutter würde staunen! Er freute sich ungemein darauf, seine Mutter gleich damit zu überraschen.
Und schon war er in der Minnegasse angelangt. Emil ging ins Haus und öffnete vorsichtig die Türe zum Laden. Er spitzte hinein und sah, dass nur die Mutter darin war.
Sie bügelte gerade ein Hemd, und ohne aufzusehen sagte sie: „Komm nur herein, Emil!“
„Wie hast Du das wieder gewusst, Du hast nicht einmal Deinen Kopf bewegt?!“, wunderte sich Emil.
„Ich kenne Dich halt schon ganz schön lange“, sagte die Mutter lächelnd. „Mama, ich habe etwas für Dich“, sagte Emil scheinbar beiläufig, aber doch ein bisschen geheimnisvoll.
„So? Was denn?“, fragte seine Mutter. Sie sah ihn interessiert an. Was konnte er meinen?
Feierlich legte Emil fünfzehn Mark vor seine Mutter auf den Tisch. Die Mutter staunte: „Wo hast Du denn so viel Geld her?“
„Wegen der silbernen Taschenuhr, der Signore hat sie verkauft!“, antwortete Emil stolz.
„Aber wieso gibst Du dann mir das Geld?“, fragte die Mutter. „Ich habe doch noch zehn Mark behalten, der Signore hat mir fünfundzwanzig gegeben. Ich hoffe, das ist gerecht.“
Seine Mutter sah ihn liebevoll an. „Das ist sogar sehr großzügig von Dir“, sagte sie gerührt. „Eine schöne Unterstützung für das Haushaltsgeld. Ah! Weißt Du was? An Deinem Geburtstag mache ich heuer Deine Schokoladentorte mit echter Schokolade anstatt mit Kakao – das kann ich mir ja mit dem Zuschuss jetzt leisten!“
Eine Torte mit echter Schokolade war eine buchstäblich köstliche Aussicht. Emil würde auf jeden Fall dem Signore ein großes Stück vorbei bringen, der die Kuchen aus dem Hause Wittmann grundsätzlich liebte. Emils fünfzehnter Geburtstag war bereits in der kommenden Woche. Darüber freute er sich natürlich – aber irgendwie auch wieder nicht, denn sein Geburtstag zeigte leider auch immer an, dass die Sommerferien fast schon zu Ende waren.
Die Mutter hatte das Bügeleisen auf die Seite gestellt. Sie war fertig für heute Vormittag. Sie umarmte ihren Sohn und bedankte sich noch einmal bei ihm. Zusammen gingen sie zur Küche, wo Oma Ursl bereits am Essenstisch saß. Klara verteilte Nudeln auf die Teller.
„Mmmhhh, das Essen riecht lecker!“, schwärmte Emil.
Die Ereignisse des Morgens hatten ihm ordentlich Appetit gemacht.
Nach dem Mittagessen ging er heute nicht hinaus. Anstatt dessen ging er hinauf in sein Zimmer und legte sich auf das Bett. Das war der beste Ort, um alleine zu sein und über den heutigen Morgen in Ruhe nachzudenken. Was die blaue Brille nur für eine tolle und zauberhafte Brille war!
Zuerst einmal war sie wunder-schön. Er hatte noch nie eine so schöne Brille gesehen. Aber dann - was für Fähigkeiten sie hatte! Mit ihr konnte man ganz bestimmt viel Spaß haben! Und wenn man erst einmal darüber nachdachte, waren damit eigentlich unbegrenzt viele, nahezu unvorstellbare Dinge möglich!
Angefangen allein mit diversen kleinen Sachen… Er könnte zum Beispiel seine Schwester fragen, wo sie dieses oder jenes versteckt hatte. Durch die Brille wüsste er nicht nur, ob sie log, sondern auch, wo das wirkliche Versteck war. Das war genial!
Oder, eine eher nicht so kleine Sache, er könnte Paul fragen, wie der wirklich zu ihm stand. Immer wieder im letzten Schuljahr hatte Emil sich gefragt, ob Paul ein echter Freund war. Manchmal schien ihm, dass Paul sich für ihn und Kurt genierte und bei Gelegenheit mit anderen über sie lachte. Paul leugnete natürlich so einen Verrat. Mit der Brille aber würde Emil es wirklich wissen.
Oder, zu gerne würde er die Großmutter fragen, wie der Opa tatsächlich gestorben war. Oma Ursl sagte immer nur, dass er ein Unglück gehabt hätte. Und wenn er genauer fragte, wich sie jedes Mal aus. Er wusste nur, dass seine Oma noch immer sehr unglücklich über den Tod ihres Mannes war.
Emil hatte ihn nie kennen gelernt, denn er war schon gestorben, als seine Mutter noch ein Kind gewesen war.
Warum sollte er wohl noch bis zu seinem achtzehnten Geburtstag warten, bis der Signore ihm die Brille geben wollte? Was mochte da nur dahinter stecken?
Emil war völlig fasziniert von der Existenz der blauen Brille und in seinem Kopf tauchten immer neue Fragen auf.
Was für eine unglaubliche Geschichte!
Was für eine magische Brille!
Lügengeschichten
In der nächsten Woche war Emils Geburtstag. Er freute sich riesig über die wunderschöne Torte, die seine Mutter und seine Schwester für ihn gebacken hatten. Sie stand auf dem Esstisch, als er am Morgen in die Küche kam, und oben drauf hatte die Mutter fünfzehn Kerzen gesteckt und angezündet. Mit dunkler Buttercreme hatte sie in Schreibschrift „Emil“ darauf geschrieben. Gleich zum Frühstück gab es ein großes Stück Torte, außerdem packte die Mutter ein schönes Stück für den Signore ein.
Emil war klar: den Vormittag würde er im Laden bei seinem Freund verbringen.
Seit neulich hatte Herr Spezzini kein Wort mehr über die Brille verloren. Emil hatte nur einmal versucht ihn darauf anzusprechen, aber er spürte, dass das dem Signore nicht gefiel. So wartete er lieber, bis der Freund von sich aus wieder davon reden wollte.
Als Emil den Laden betrat prüfte sein Blick, wie immer, ob der Signore im Laden war und ob er hinter dem Schreibtisch saß.
Er war da. Und er hatte auch schon auf Emil gewartet. Mitten auf seinem Tisch lag ein kleines, in Seidenpapier eingewickeltes Päckchen. Emil wusste, dass dieses Päckchen für ihn gedacht war.
Gut gelaunt ging er auf den Signore zu und überreichte ihm das Tortenstück.
„Oh, das schaut ja lecker aus!“, rief dieser hocherfreut.
Er war hinter seinem Schreibtisch hervorgekommen und schloss Emil herzlich in seine Arme.
Dabei sagte er: „Mein lieber, lieber Emilio, ich wünsche Dir alles Gute zu
Deinem Ehrentag. Ich habe Dich von Herzen gerne und ich werde für immer Dein Freund sein.“ Diese Worte klangen so väterlich liebevoll, so fürsorglich und vertrauensvoll in Emils Ohren, dass er sich gar nicht vorstellen konnte, den Signore jemals nicht gekannt zu haben.
„Komm, setz Dich mein Sohn. Schau Dir zuerst mal Dein Geschenk in Ruhe an und trinke eine Tasse Kaffee mit mir.“
Emil nahm das Geschenk entgegen und betrachtete es. Es könnte ein Buch sein oder ein Kästchen, dachte er. Er wickelte es aus dem Papier und hielt eine Art Schatulle in den Händen. Es war ein wunderschönes Holzkästchen mit einem herausnehmbaren Einsatz. Es wäre nicht vom Signore gewesen, wenn es nicht ungewöhnlich und wie aus einer anderen Zeit ausgesehen hätte. Es hatte einen mit kleinen, geschnitzten Ornamenten verzierten
Deckel, und der Einsatz war mit Kerben an beiden Seiten versehen, sodass man ihn leicht herausnehmen konnte.
„Es ist wunderschön“, sagte Emil. „Vielen, vielen Dank!“
„Freut mich, dass es Dir gefällt“, erwiderte der Signore, „vielleicht ist es ja ganz gut geeignet, um darin Deine Murmeln aufzubewahren?“ „Oh ja, das ist eine sehr gute Idee!“, rief Emil erfreut. „Gerade heute habe ich mir gedacht, dass ich keinen rechten Ort für die Murmeln habe.“ Emil besah und bestaunte die Schatulle noch eine Weile, bevor er sie sorgfältig wieder mit dem Seidenpapier umwickelte.
Herr Spezzini lächelte Emil an.