2,99 €
Als Jeanne vor etwa vier Jahren unverhofft in einen Mordfall verwickelt wurde, entdeckte sie ihr bis dahin unbemerktes detektivisches Talent. Mit dem drängenden Wunsch nach der Wahrheit, einem munteren Geist und intuitivem Gespür konnte sie entscheidend zur Lösung des Falls beitragen. Ihr beharrlicher und tapferer Einsatz beeindruckte sogar den ermittelnden Inspektor Valentin Sacchi, der ihr schließlich vorschlug, seine Assistentin zu werden. Jeanne, die ohnehin schwer enttäuscht von ihren damaligen Arbeitskollegen war, weil sie ihr offensichtlich einen Mord zugetraut hätten, machte einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben und nahm mit großer Freude das Angebot des Inspektors an. Inzwischen sind Jeanne Dahr und Valentin Sacchi längst miteinander verheiratet und Jeanne ist im siebten Monat schwanger. Vor kurzem sind die beiden an den Stadtrand in die Nähe des Waldes gezogen, um als zukünftige Familie umgeben von schöner Natur und frischer Landluft zu leben. Eigentlich hat Jeanne die Arbeit bei der Mordkommission vorerst eingestellt, um sich ganz auf die bevorstehende Geburt einzustimmen, doch als in der Nachbarschaft ein zweifelhafter Unfall geschieht, ist Jeannes Misstrauen geweckt und die leidenschaftliche Detektivin will unbedingt die Wahrheit herausfinden. Jeanne nutzt die Ortsnähe zur Villa des Verstorbenen und seiner Familie, um sich auf ihre Weise an den Recherchen zu beteiligen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 229
Veröffentlichungsjahr: 2023
© 2023 agmar Stimpfig
ISBN Softcover: 978-3-347-90830-7
ISBN E-Book: 978-3-347-90834-5
ISBN Großschrift: 978-3-347-90836-9
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Wahrheit im Schatten 2
Der Tote im Wald
Kriminalroman
Cover
Urheberrechte
Titelblatt
Einleitung
Tod im Wald
Ein Fall
Alle verdächtig
Wahrheit im Schatten
Es verdichtet sich
Es lichtet sich
Keine Chance
Cover
Urheberrechte
Titelblatt
Einleitung
Keine Chance
Cover
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
Einleitung
Als Jeanne vor etwa vier Jahren unverhofft in einen Mordfall verwickelt wurde, entdeckte sie ihr bis dahin unbemerktes detektivisches Talent. Mit dem drängenden Wunsch nach der Wahrheit, einem munteren Geist und intuitivem Gespür konnte sie entscheidend zur Lösung des Falls beitragen. Ihr beharrlicher und tapferer Einsatz beeindruckte sogar den ermittelnden Inspektor Valentin Sacchi, der ihr schließlich vorschlug, seine Assistentin zu werden.
Jeanne, die ohnehin schwer enttäuscht von ihren damaligen Arbeitskollegen war, weil sie ihr offensichtlich einen Mord zugetraut hätten, machte einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben und nahm mit großer Freude das Angebot des Inspektors an.
Inzwischen sind Jeanne Dahr und Valentin Sacchi längst miteinander verheiratet und Jeanne ist im siebten Monat schwanger.
Vor kurzem sind die beiden an den Stadtrand in die Nähe des Waldes gezogen, um als zukünftige Familie umgeben von schöner Natur und frischer Landluft zu leben. Eigentlich hat Jeanne die Arbeit bei der Mordkommission vorerst eingestellt, um sich ganz auf die bevorstehende Geburt einzustimmen, doch als in der Nachbarschaft ein zweifelhafter Unfall geschieht, ist Jeannes Misstrauen geweckt und die leidenschaftliche Detektivin will unbedingt die Wahrheit herausfinden.
Jeanne nutzt die Ortsnähe zur Villa des Verstorbenen und seiner Familie, um sich auf ihre Weise an den Recherchen zu beteiligen.
Tod im Wald
Draußen ballten sich dunkelgraue und fast schwarze Wolken immer dichter zusammen und der Himmel wurde erdrückend düster. In der Ferne waren ein paar Blitze zu sehen. Es regnete zwar schon seit geraumer Zeit in Strömen, aber hier würde das eigentliche Unwetter erst in Kürze richtig beginnen.
Wie jeden Abend schloss Jeanne die Holzfensterläden im Schlafzimmer und zog danach die Vorhänge zu.
In einer halben Stunde würde endlich Valentin nach Hause kommen. Jeanne mochte es nicht, wenn er bei starkem Regen oder Gewitter unterwegs war. Es machte sie unruhig und sie sorgte sich, wenn die Straßen rutschig und gefährlich waren.
Aber Jeanne wollte sich lieber nicht zu viele Gedanken machen, sondern sich im Wohnzimmer, wo es schön warm war, gemütlich auf den Schaukelstuhl in der Nähe des Ofens setzen. Sie streichelte über ihren schon recht groß gewordenen Bauch und lächelte. Es war einfach wunderschön, hier im wohlig Warmen zu schaukeln und ein Kind zu erwarten mit dem Menschen, den sie liebte. Als sie schwanger geworden war, hatten Valentin und sie beschlossen aufs Land ziehen. Für ihr zukünftiges Familienleben bedeutete das viele Vorteile, außerdem liebte Jeanne die Nähe zum Wald. Der einzige Wermutstropfen dabei war, dass Valentin täglich etwa fünfundzwanzig Minuten bis zur Arbeit in die Stadt fahren musste.
Auf der anderen Seite wohnte Jeannes Mutter Anne nicht weit entfernt. Man ging einfach die kleine Straße am Wald entlang, bog an der ersten Bushaltestelle nach rechts ab und lief dann etwa eine viertel Stunde stadteinwärts. Und mit dem Auto waren es nur etwa fünf Minuten. Jeanne hatte ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu ihrer Mutter und war glücklich darüber, sie nun in der Nähe zu haben.
Wie dem auch sei, Jeanne fühlte sich sehr wohl in ihrem neuen Daheim. Das idyllische, alte Haus mit dem herrlichen Garten und den großen Bäumen darin, die Nähe zum Wald und die ländliche Umgebung erfüllten ihr obendrein einen Kindheitstraum.
Das Gewitter war maximal noch fünf Kilometer entfernt. Die Blitze waren grell und manchmal erleuchteten auch mehrere Blitze gleichzeitig den Himmel, gefolgt von umso lauterem und polterndem Donnern.
Manche Menschen ängstigen sich bei Gewitter, dachte Jeanne. Sie nahm sich vor, ihren Kindern beizubringen, dass bei Donner in Wirklichkeit nur zwei Wolkenschichten aneinander krachen und es deshalb keinen Grund zur Besorgnis gibt. Blitze können zwar gefährlich sein, aber nur wenn man draußen ist – und wer geht denn schon gerne während einem Gewitter ins Freie? Oh, da war ja wirklich jemand unterwegs! Jeanne sah, wie eine Frau, nur mit einem Rock und einer Bluse bekleidet, aus dem Wald rannte. Die Kleidung war völlig durchnässt und die Frau schien total verschreckt oder verzweifelt zu sein. Hinter ihr lief ein triefend nasser Cockerspaniel, der trotz dem Regen und dem schnellen Tempo ständig zu der Frau hinauf sah.
Die Frau rannte gerade direkt an Jeannes Haus vorbei und bog danach in die kleine Straße rechts in die Siedlung ein. Jeanne wusste nicht, wer die Frau war, sie hatte sie noch nie gesehen.
Was machte diese junge Frau nur bei so einem Hundewetter da draußen? Nach einem Spaziergang, bei dem sie vergessen hatte rechtzeitig heim zu gehen, sah das nicht aus. Was war da wohl passiert? War die Frau aus der direkten Nachbarschaft?
Tatsächlich kannte Jeanne bisher gerade mal eine handvoll Nachbarn und selbst diese nur flüchtig vom Grüßen. Nun ja, zur Zeit waren Valentin und sie in erster Linie noch damit beschäftigt, sich an ihr neues Heim zu gewöhnen und verbrachten viel Zeit zuhause. Alles Weitere ließen sie auf sich zukommen.
Ob die Frau sich heftig mit ihrem Liebsten gestritten hatte und es ihr deswegen völlig egal war, ob es stürmte, schneite oder hagelte? Oder vielleicht war sie ja eine Patientin aus der psychiatrischen Klinik. Es war davon auszugehen, dass Menschen mit einer schwerkranken Psyche in ihrer Verworrenheit nicht richtig mitbekamen, bei welchem Wetter sie unterwegs waren oder umher rannten. Jeanne hatte eigentlich auch keine Ahnung, ob es in der Gegend überhaupt eine Anstalt gab, aus der die Frau hätte flüchten können.
Jeanne wurde kurzerhand aus diesen Überlegungen gerissen, als sie hörte, wie Valentins Auto bremste und danach einparkte. Sie streichelte noch einmal über ihren Bauch, bevor sie aufstand und an die Haustüre ging, um ihren Mann zu begrüßen.
Valentin war den kurzen Weg vom Auto bis zum Haus gerannt, um möglichst wenig nass zu werden, und musste nun lachen. Es ist ja auch irgendwie lustig, dass man sich so beeilt nicht nass zu werden und dann doch nass geworden ist.
„Was ist das auch wieder für ein Sch-Wort-Wetter!“, rief Valentin und schüttelte das Wasser von seinen Haaren. Dann küsste er Jeanne zur Begrüßung und fragte sie, wie ihr Tag gewesen sei.
Jeannes Tag war, wie meistens in letzter Zeit, recht gemächlich und entspannt verlaufen. Dem kühlen und wenig einladenden Wolkenwetter entsprechend war sie im Haus geblieben und hatte gemütlich vor sich hin gearbeitet. Wenn sie auch schon seit fast zwei Monaten hier außen wohnten, war doch noch immer einiges zu tun, bis das Haus wirklich fertig eingeräumt und eingerichtet sein würde. Jeanne wollte diese Arbeit selbst machen, und in den letzten Monaten der Schwangerschaft passt eine Frau ihren Rhythmus eben ihrem immer voller werdenden Leib an.
Dann erzählte Jeanne Valentin von der Frau im Gewitter. „Das ist doch mehr als ungewöhnlich, oder?“, meinte Jeanne.
Sie sah Valentin so überzeugt und nach Bestätigung suchend an, dass er schmunzeln musste.
„Mir scheint, da braut sich ein neuer Fall für Miss Marple zusammen?!“, sagte er neckend.
„Du brauchst mich gar nicht auf den Arm zu nehmen - Du hättest sie sehen müssen!“, entgegnete Jeanne ernsthaft. „Aber gut, warten wir es ab. Jetzt gibt es erst mal Abendbrot, hast Du Hunger?“
„Und wie!“, erwiderte Valentin. „Ich glaube, die Schwangerschaft lässt mich hungrig für zwei sein!“
Jeanne wollte Valentin jetzt nicht länger damit behelligen, wie sehr sie die Frau im Gewitter beschäftigte, aber für sich wusste sie, dass etwas passiert war. Sie befürchtete, es war etwas Schlimmes.
2
Vor etwa neun Wochen hatte Jeanne ihren Job bei der Polizei auf Eis gelegt. Sie wollte die letzten drei Monate ihrer Schwangerschaft bewusst erleben und sich in Ruhe auf das bevorstehende Dasein als Mutter einstellen. Dem Schwanger-sein mehr Raum zu geben fühlte sich gut an und wurde mehr und mehr zu einem Genuss für sie. Die Zeit, die sie nun hatte, um in die Natur zu gehen, sich mit ihrer Mutter Anne zu treffen oder um in ihrem neuen Zuhause herumzuwerkeln, verhalf ihr zu Ruhe und Ausgeglichenheit.
Heute Morgen war es Jeanne allerdings nicht wirklich nach Ruhe zumute, denn die Frau im Regen beschäftigte sie noch immer. Sie würde zu gerne wissen wie es dieser Frau heute ging und auch wollte sie herausbekommen, ob denn gestern im Wald tatsächlich etwas vorgefallen war. Der Himmel war bewölkt aber doch irgendwie freundlich und Jeanne beschloss, einen Spaziergang durch die Siedlung zu machen. Vielleicht war heute der richtige Tag, um ein paar Nachbarn kennenzulernen und ein paar neue Bekannte zu finden. Insgesamt war es aus verschiedenen Gründen eine wirklich gute Idee, dachte sie, und dass sie viel zu selten diese Richtung einschlug. Vorsichtshalber zog sie einen zweiten Pullover drüber und die Regenjacke an und legte sich noch ihren Wollschal um den Hals, es war weiterhin reichlich frisch draußen. Trotzdem war es einfach herrlich. Die Luft roch frisch und rein, und unermüdlich versuchten die munteren Sonnenstrahlen, sich einen Weg durch die vielen Wolken zu bahnen.
Jeanne stellte sich vor, wie sie in wenigen Wochen hier entlang spazieren gehen und dabei den Kinderwagen vor sich herschieben würde. Sie wusste auf eine unbestimmte Art, dass ihr Leben sich in kurzer Zeit für immer verändern würde. Irgendwie seltsam, irgendwie wunderbar. Und sie wusste auch, dass sie sich dafür keinen anderen als Valentin an ihrer Seite vorstellen konnte – und wünschte!
Jeanne war in dieselbe kleine Straße eingebogen wie die Frau gestern. Die Häuser in dieser Gegend stammten zu Teilen noch vom Beginn des letzten Jahrhunderts, zu Teilen auch aus den fünfziger oder sechziger Jahren, und etwas weiter oben, in einem Bereich links der Straße, war in jüngerer Zeit ein Villenviertel entstanden. Die ganze Ecke hier war ehemals ein Vorort der Stadt gewesen, doch die Stadt war gewachsen und längst waren die Grenzen verschmolzen und die Siedlung bildete eher eine Erweiterung des Stadtrandes.
Entsprechend waren die Bewohner hier von sehr gemischter Natur. Es gab etliche Häuser von Pendlern, die einst wegen den günstigeren Baupreisen in die Vorstadt gezogen waren, dann einige Nachfahren ehemaliger Bauern, betuchte Städter, die die ruhige Lage schätzten und hier eine Villa hatten bauen lassen, oder auch Leute wie Valentin und Jeanne, die den Charme alter Gebäude und Gärten liebten, die Natur und die Nähe zum Wald.
Jeanne lief gerade an einem Jägerzaun entlang. Es war ein großes Grundstück, das bis zur Kreuzung ging. „Ungewöhnlich“, dachte sie, „wer hat denn heutzutage so einen Zaun? Da wohnt sicher ein Großmutter, die keinen Wert darauf legt, mit der Zeit zu gehen - und sie hat ja recht, die Mode kann einem echt egal sein. Oder vielleicht hängt sie an der Zeit, in der diese Zäune modern waren? Oder sie hat nicht das nötige Geld dafür…“
„Guten Morgen!“, grüßte sie ein junger Mann mit freundlicher Stimme von hinter dem Jägerzaun.
„Oh!“, sagte Jeanne überrascht. „Ich hatte Sie gar nicht bemerkt!“
Der junge Mann war wirklich gut getarnt unter den großen Armen der alten Buche, wo er mit einem Laubrechen heruntergefallene Blätter zusammen rechte.
Er trug eine Latzhose mit einem karierten Flanellhemd, hatte halblange Haare und eine Wollmütze auf dem Kopf. „Das ist eigentlich kein Wunder, hier ist ja alles ganz schön zugewachsen!“, erwiderte er lachend und kam zu Jeanne an den Zaun. „Ich habe Sie hier noch nie gesehen, sind Sie erst hergezogen?“
„Wie man´s nimmt“, meinte Jeanne. „Vor ungefähr zwei Monaten. Wenn das Wetter mitmacht, gehe ich zwar gerne spazieren, aber eigentlich fast immer im Wald, wahrscheinlich haben Sie mich deswegen noch nicht gesehen. So gesehen auch kein Wunder!“
„Stimmt auch wieder“, sagte der junge Mann. Er reichte Jeanne die Hand. „Ich bin übrigens Jonathan Steiner. Meine Oma wohnt hier und ich komme öfters und mache ein bisschen was im Garten.“
Jeanne stellte sich auch vor und sie begannen, ein wenig zu plaudern. Jonathans Großmutter hieß Rosemarie Füss und lebte alleine in dem großen Haus. Sie war siebenundachtzig Jahre alt und früher eine Angestellte im Rathaus gewesen, bevor der kleine Ort eingemeindet worden war. Sie wollte ihr Zuhause, in dem sie schon von Kindesbeinen an lebte, auch nicht mehr verlassen, um es für eine Wohnung in der Stadt oder gar für einen Platz im Altenwohnheim einzutauschen.
Jonathan war Student und hatte viel Freizeit. Er besuchte seine Oma gerne und machte für sie die Arbeiten im Garten. Wenn es sich einrichten ließ, blieb er am liebsten ein paar Tage.
Jeanne fand es nett, sich mit ihm zu unterhalten. Zum Abschied schenkte Jonathan ihr noch einen Strauss Melisse und wünschte ihr alles Gute für die Entbindung. „Falls wir uns bis dahin nicht mehr sehen“, meinte er. Jeanne freute sich über Jonathans aufgeschlossene Freundlichkeit und war gespannt, ob sie heute noch weitere Bekanntschaften machen würde.
Sie wechselte spontan die Straßenseite und bog links in das Villenviertel ein, hier entlang war sie bisher noch nicht gekommen. Ein Auto fuhr rückwärts aus der Garage, das Garagentor schloss automatisch. Die Fahrerin fuhr an Jeanne vorbei und ignorierte Jeannes Gruß.
Jeanne überlegte, ob wohl viele Menschen dieser Spezies hier im Viertel wohnten.
Sie staunte über die auffällig andere, unpersönliche und fast kühle Atmosphäre in dieser Straße. Hier war eine Villa tatsächlich pompöser als die andere, die Rasen waren kurz frisiert und die Hecken perfekt gestutzt. Ansonsten wirkten die Gärten leer und nahezu unbelebt. Keine Straße nach Jeannes Geschmack. Ein Mann schob gerade einen Mülleimer auf den Gehsteig. Als er Jeanne erblickte, sah er misstrauisch zu ihr hinüber, aber erwiderte dann immerhin ihren Gruß. Jeanne fragte sich, ob der Mann schlechtgelaunt war oder ob es sein übliches Verhalten gegenüber ihm fremden Menschen war.
Die Straße war eigentlich langweilig, dachte Jeanne, und lief schon bald denselben Weg wieder zurück. Sie beschloss, noch ein wenig in die andere Richtung und danach nach Hause zu gehen, für eine Schwangere im neunten Monat sollte das für heute reichen.
Als sie zurück zum Hauptweg gelangte, überquerte sie diesen erneut und ging direkt in das kleine Sträßchen auf der gegenüberliegenden Seite. Erst ging es wieder ein Stück an jenem Jägerzaun der alten Dame namens Füss entlang.
Auch diese Straße hatte eine ganz eigene, charakteristische Atmosphäre. Es standen hier vorwiegend Häuser, die etwa in den fünfziger Jahren erbaut worden waren. Auch hier waren die Gärten zumeist makellos gepflegt, dennoch strahlten sie mehr Lebendigkeit und Idyll aus als die nackte Perfektion der Anwesen in der vorherigen Straße.
Auf einmal rannte ein Hund rechts neben Jeanne am Zaun entlang. Er bellte und Jeanne schaute in seine Richtung. Es war der Cockerspaniel, den sie gestern zusammen mit der jungen Frau gesehen hatte. Er rannte den ganzen Zaun entlang neben ihr her und bellte und wedelte dabei.
Jeanne sah zu dem Haus. Hier also wohnte die Frau! Aber kein Zufall wollte, dass sie sie jetzt sehen und ansprechen könnte.
Das Haus stach etwas heraus. Es schien die einzige Villa in dieser Straße zu sein, elegant im Stil der siebziger Jahre gebaut, mit großem Garten und elektrischem Hoftor. Jeanne beschloss, nachher auf derselben Straßenseite zurückzugehen, vielleicht hatte sie ja dann Glück.
Sie war keine zwanzig Meter weitergelaufen, als ihr eine ältere Frau entgegen kam. Jeanne grüßte.
Die Frau grüßte freundlich zurück, dann hielt sie unvermittelt an und fragte Jeanne: „Sind sie vielleicht die Frau, die vorne am Waldweg eingezogen ist?“
„Ja, die bin ich, mein Name ist Jeanne Dahr“, stellte Jeanne sich vor.
„Und ich heiße Sabine Metzner“, erwiderte die Frau und bot Jeanne die Hand. Die Augen der Frau waren Jeanne sympathisch. „Das ist ja schön, dass ich Sie mal antreffe. Wissen Sie, die Leute, die in ihrem Haus gewohnt haben, kenne ich seit frühester Kindheit, sie waren schon mit meinen Eltern befreundet, und wir Kinder haben mit den Kindern dort gespielt, als wir klein waren. Deswegen interessiert es mich natürlich, wer jetzt in dem Haus lebt.“ „Es freut mich, dass Sie mich ansprechen“, gab Jeanne zurück. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Sie das interessiert, mir geht es umgekehrt nämlich genauso - zu gerne möchte ich aus der Vergangenheit von unserem neuen Zuhause erfahren, wer da gelebt hat, warum die Leute ausgezogen sind und alles das.“
Jeanne und Sabine Metzner spürten schon jetzt, dass sie einen Draht zueinander hatten und standen bald wie gute Bekannte zusammen und plauderten.
„Wollte denn keines der Kinder in dem Haus wohnen bleiben?“, fragte Jeanne. „Wo sind die denn hin?“
„Also, es waren drei Kinder. Tja, ich weiß leider nur so ungefähr, was aus den dreien geworden ist - wie das halt ist, wenn die Wege sich irgendwann trennen“, seufzte die Nachbarin. „Eins der Mädchen hat im Ausland studiert und dort geheiratet. Die andere ist nach Hamburg gezogen, habe ich gehört, und der Eugen? So weit ich weiß, hat er eine Wohnung in der Stadt. Für die Eltern allein war das Haus jetzt im Alter einfach zu groß, zu viel Arbeit. Aber es waren sehr nette Leute - also sind, meine ich. Sie wohnen jetzt im Altenwohnheim am alten Hafen.“
„Danke, Frau Metzner. Es kommt mir vor, als lernt man ein Haus tatsächlich ein bisschen besser kennen, wenn man solche Dinge erfährt“, meinte Jeanne. „Ach übrigens, kennen Sie die junge Frau aus der Villa gleich da vorne in dieser Straße?“
„Ja, Marlene Fechtner ist das, die kenne ich. Wieso fragen Sie?“, fragte Frau Metzner.
Jeanne erzählte, wie sehr es sie irritiert hatte, die Frau gestern so schutzlos im Gewitter zu sehen, und dass sie das seitdem sehr beschäftigte.
„Sie haben recht, das ist irritierend. Tatsächlich ist der Vater von Frau Metzner gestern nicht von seinem Spaziergang nach Hause gekommen, der Hund kam ohne ihn!“, erwiderte die Nachbarin mit besorgtem Blick. „Die Marlene ist fürchterlich erschrocken, als der Hund alleine zurückkam, und dann ist sie los und hat den Senior gesucht.“
„Und ist ihr Vater inzwischen zurück?“, fragte Jeanne interessiert.
„Nein, nein, das ist es ja! Marlene hat gestern noch in der ganzen Nachbarschaft herumtelefoniert, ob irgendjemand ihren Vater gesehen hat, aber niemand hat ihn gesehen oder wusste etwas. Ich habe heute früh schon bei ihr angerufen, aber nichts, er ist spurlos verschwunden! Jetzt bin ich auf dem Weg zu ihr. Die Arme sitzt zuhause und weiß nicht, was sie tun soll. Das ist schon wirklich merkwürdig, denn der Herr Fechtner ist ein ganz solider Mann“, erklärte Frau Metzner.
„Dann hat sie gestern im Wald nach ihrem Vater gesucht“, wiederholte Jeanne mitfühlend.
„Ja, weil er da ja immer spazieren geht“, bestätigte die Nachbarin.
„Was für ein Schrecken das sein muss!“, sagte Jeanne betroffen.
„Fürchterlich!“, bestätigte Frau Metzner. „Aber bei so einem Gewitter, da bleibt doch niemand im Wald! Dem muss was passiert sein, anders kann man sich das nicht erklären. Aber Marlene hat ihn ja gesucht und ihn nicht gefunden! Ich frage mich bloß, wo er dann sonst sein soll - und das noch ohne seinen kleinen Hund?“
Aus der Entfernung konnten die beiden Frauen sehen, wie ein Polizeiauto direkt vor dem Haus der Fechtners parkte. Zwei Polizisten stiegen aus und klingelten beim Gartentürchen.
„Oh je“, sagte Frau Metzner. „Da ist wirklich was passiert!“
Beunruhigt lief sie in Richtung der Fechtner Villa und Jeanne ging mit ihr.
Die Polizisten standen mit Marlene Fechtner an der Haustüre, als die beiden Frauen das Gartentürchen erreichten. Die Nachbarin öffnete das Türchen, um zum Haus zu gehen.
„Frau Metzner, ich passe jetzt nicht hierher, ich gehe weiter nach Hause“, sagte Jeanne höflich.
„Wenn Sie möchten, besuche ich sie in den nächsten Tagen“, erwiderte Frau Metzner noch.
„Ja, sehr gerne“, sagte Jeanne. „Alles Gute!“
Frau Metzner dankte mit einem Nicken, hob die Hand kurz zum Abschied und hastete Richtung Haustüre.
Als Jeanne sich nach ein paar Schritten noch einmal umdrehte, stand Frau Metzner bereits bei Marlene Fechtner und den Polizisten.
3
Während Jeanne am Nachmittag ein paar schon eingeräumte Dinge noch einmal neu ordnete und Bücher in ein Regal schlichtete, musste sie unentwegt an die Szene mit der Polizei an Marianne Fechtners Haustüre denken. Was wohl passiert war? Es war zu befürchten, dass jemand Herrn Fechtner Senior tot aufgefunden hatte. Warum seine Tochter ihn denn nicht gefunden hatte? Immerhin kannte sie sicher den Weg, den er normalerweise ging – außer er hatte ausgerechnet gestern experimentiert, wer weiß? Ob er denn zu retten gewesen wäre, wenn seine Tochter ihn gefunden hätte? Vielleicht hatte er einen Herzinfarkt erlitten und man hätte ihn noch retten können!
Aber aus welchem Grund sollte jemand im Wald einen Herzinfarkt bekommen? Aus heiterem Himmel? Kaum. Nun, es könnte sein, dass ihn etwas extrem erschreckt hatte. Manche Menschen erleben ja auch Urängste bei Gewittern… und wenn man sich in einem immer dunkler werdenden Wald befindet, da kommen solche Ängste vielleicht schnell mal an die Oberfläche. Ab gesehen davon, vielleicht hatte er ja gar keinen Herzinfarkt gehabt.
Wie lange wohl der Hund bei seinem toten Herrchen geblieben war, bevor er alleine nach Hause lief?
Jeannes Geist war arbeitsam und ideenreich wie eh und je. Im Gegensatz zu früheren Jahren schweiften ihre Fantasien jedoch längst nicht mehr nach Lust und Laune umher, übernahmen ungefragt die Führung oder manövrierten sie gar in sinnlose Bereiche. Durch die Arbeit an Valentins Seite bei der Polizei arbeitete Ihr Verstand vorwiegend lösungsorientiert und zielgerichtet. Morgen jedenfalls würde bestimmt Genaueres über den Tod von Herrn Fechtner in der Zeitung zu finden sein, wie er gestorben war und so weiter – dass er gestorben war, davon war jetzt eigentlich auszugehen.
Inzwischen hatten sich die letzten Wolken verzogen und der Himmel strahlte blau. Als wäre nichts gewesen.
4
Auch Valentin hatte etwas von dem Toten im Wald gehört. Fechtner Senior war heute morgen von einem Waldarbeiter leblos aufgefunden worden. Dieser hatte gleich die Polizei angerufen. Der alte Herr Fechtner hatte einen Unfall gehabt, hieß es. Wahrscheinlich war er auf einem nassen Stein ausgerutscht und dabei unglücklich mit dem Hinterkopf auf einem Felsstück aufgeschlagen. Jeanne schien die ganze Sache zu wunderlich. Warum nur war er nicht rechtzeitig heimgegangen, wenn eindeutig ein Gewitter im Anmarsch war? Ebenso wunderlich war, dass er allem Anschein nach wirklich nicht seine übliche tägliche Route genommen hatte.
Aber eigentlich war noch viel weniger logisch, dass der Mann auf einem nassen Stein ausgerutscht sein sollte, dachte Jeanne. Denn bei genauerer Betrachtung regnete es gerade mal fünfzehn Minuten, als die Tochter des Toten nach vergeblicher Suche aus dem Wald gerannt kam. Theoretisch war der Mann doch dann vor dem Regen gestorben!
„Hm, da scheint sich der Arzt oder der Polizeibeamte vielleicht getäuscht zu haben“, vermutete Valentin. „Aber man kann natürlich auch auf einem trockenen Stein ausrutschen. Er muss nur glatt genug sein.“
„Trotzdem, irgend etwas stimmt da nicht“, erwiderte Jeanne grübelnd. „Es fühlt sich alles irgendwie seltsam an.“ „Übrigens, hast Du eigentlich das Rosen-Badeöl schon gesehen, dass ich für Dich mitgebracht habe?“, fragte Valentin, um seine Frau etwas abzulenken.
„Oh nein! Wo ist es?“, fragte Jeanne gespielt entrüstet zurück.
„Steht die ganze Zeit schon auf dem Küchentisch und wartet darauf, gesehen zu werden“, antwortete Valentin in verlockendem Ton.
„Du meinst, ich habe es gar nicht bemerkt?“, fragte Jeanne und versuchte sich an einem unwiderstehlichen Augenaufschlag.
„Wie schön, dass Du Dich ablenken lässt“, erwiderte Valentin.
„Dir zuliebe“, erwiderte Jeanne schelmisch.
5
Leider ballten sich die Wolken am Himmel schon wieder dicht zusammen. Aber im Monat April darf man natürlich nicht mit dauerhaftem Sonnenschein und einem strahlend blauen Himmel rechnen.
Jeanne hatte den Ofen angeschürt und saß nun mit einer Tasse heißem Kakao am Küchentisch. Gebannt sah sie auf den Bildschirm ihres Laptops und suchte in den lokalen Nachrichten nach einem Bericht über Fechtners Tod. Es dauerte nicht lange, bis sie den Artikel vor Augen hatte. Dem Ableben des Herrn Fechtner Senior war nur ein unscheinbarer Absatz gewidmet. Es wurde das Gleiche berichtet, was Jeanne bereits von Valentin wusste, nämlich dass der alte Herr beim täglichen Spaziergang mit seinem Hund einen Unfall im Wald erlitten hatte und wegen dem Gewitter erst am nächsten Morgen aufgefunden worden war. Es wurde tatsächlich auch erwähnt, dass der Mann auf einem nassen Stein ausgerutscht sein sollte.
Jeanne fragte sich, warum das Geschehen in dieser Weise berichtet wurde. Interessierte denn niemanden, wann er genauer gestorben war? Einfach wegen der Sache selbst? Wurden diese Dinge nur dann ernst genommen, wenn der Verdacht auf ein Verbrechen gegeben war?
Es klingelte an der Türe. Jeanne staunte, denn sie erwartete weder eine Lieferung noch einen Handwerker. Ob unerwarteter Besuch kam? Das wäre eine schöne Überraschung, gerade bei diesem nicht so viel versprechenden Wetter.
An der Tür stand überraschenderweise Frau Metzner, damit hatte Jeanne nicht so schnell gerechnet.