Das Geheimnis des Rabenhofs - Christine Lehmann - E-Book
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Das Geheimnis des Rabenhofs E-Book

Christine Lehmann

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Beschreibung

Eine mutige Frau – eine dunkle Wahrheit: Der fesselnde Roman »Das Geheimnis des Rabenhofs« von Christine Lehmann jetzt als eBook bei dotbooks. Voller Hoffnung zieht die junge Lehrerin Miriam auf die Schwäbische Alb, um dort einen Neuanfang zu wagen. Bald kommt es jedoch zu einer schicksalshaften Begegnung: Als einer ihrer Schüler in der Mondscheinhöhle verunglückt, muss sie mit dem berühmten Höhlenforscher Leif Grote eine gefährliche Rettungsaktion wagen. Vom ersten Moment an fühlt sie sich wie magisch von Leif angezogen – aber um seine tragische Familiengeschichte und seinen alten Hof im Wald ranken sich dunkle Gerüchte. Je mehr Miriam versucht, sich von Leif fernzuhalten, desto größer wird gleichzeitig ihr Wunsch, ihm aus der Trauer zu helfen, in der er gefangen scheint. Oder gibt es da tatsächlich etwas, was Leif ihr verschweigt und eine gemeinsame Zukunft unmöglich macht? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der mitreißende Familiengeheimnisroman »Das Geheimnis des Rabenhofs« von Bestseller-Autorin Christine Lehmann – auch bekannt unter dem Titel »Das Rabenhaus«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 515

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Über dieses Buch:

Voller Hoffnung zieht die junge Lehrerin Miriam auf die Schwäbische Alb, um dort einen Neuanfang zu wagen. Bald kommt es jedoch zu einer schicksalshaften Begegnung: Als einer ihrer Schüler in der Mondscheinhöhle verunglückt, muss sie mit dem berühmten Höhlenforscher Leif Grote eine gefährliche Rettungsaktion wagen. Vom ersten Moment an fühlt sie sich wie magisch von Leif angezogen – aber um seine tragische Familiengeschichte und seinen alten Hof im Wald ranken sich dunkle Gerüchte. Je mehr Miriam versucht, sich von Leif fernzuhalten, desto größer wird gleichzeitig ihr Wunsch, ihm aus der Trauer zu helfen, in der er gefangen scheint. Oder gibt es da tatsächlich etwas, was Leif ihr verschweigt und eine gemeinsame Zukunft unmöglich macht?

Über die Autorin:

Christine Lehmann, geboren 1958 in Genf, wuchs in Stuttgart auf. Heute pendelt sie zwischen ihrer Heimatstadt und Wangen im Allgäu. Christine Lehmann ist Nachrichtenredakteurin beim SWR und schreibt seit vielen Jahren erfolgreich in den verschiedensten Genres – von Krimis und historischen Romanen über Jugendbücher bis zu romantischen Liebesgeschichten. Außerdem arbeitet Sie an verschiedenen Sachbüchern und Hörspielen.

Von Christine Lehmann erschienen bei dotbooks bereits die Romane »Die Inselträumerin, »Das Grand Hotel an der Ostsee«, »Der Zauber einer Inselnacht«, »Der Winterwanderer«, »Die Liebesträumerin« und »Die Strandträumerin« sowie der Hundekrimi »Eiskalte Fährte«.

Unter Madeleine Harstall erscheinen bei dotbooks ihre Familiengeheimnisromane »Die Töchter der Heidevilla« und »Die Frauen von Usedom«.

Mehr Informationen über Christine Lehmann finden sich auf ihrer Website: www.christine-lehmann.blogspot.de

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Originalausgabe Februar 2022

Dieses Buch erschien bereits 2018 unter dem Titel »Das Rabenhaus« bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2018, 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / ArtSyslik / Ekaterina Filatova / fotogeng / Natalia Bostan / S.N.Ph / stocker1970 / New Africa

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-318-1

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Christine Lehmann

Das Geheimnis des Rabenhofs

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Das Handy klingelte. Miriam legte den Rotstift in das offene Diktatheft, ihr Blick fiel aus dem Fenster auf das Städtchen im Tal zwischen bewaldeten Hängen, dessen weiße Fachwerkhäuser sich um den runden Wehrturm und den Treppengiebel des Rathauses scharten. Ein paar Buchen zwischen den dunklen Fichten waren bereits gelb. Hier oben auf der Alb war es immer – wie man so sagte – einen Kittel kälter als im Neckartal.

Sie schaltete das Handy frei. »Kerner.«

»Entschuldigen Sie die Störung. Ich bin die Mutter von Volker …«

Miriam ging im Kopf die Namen durch, die auf den Diktatheften standen. »Ja, Frau Baumann?«

»Ich glaub’, da isch ebbes passiert. Heiko müsste längst bei uns zum Essen sein. Freitagabend kommt er immer zu uns, weil da arbeitet seine Mutter doch bis acht. Und jetzt sagt mir Volker gerade, Tido und Heiko hätten sich heute früh in der Schule verabredet, zur Mondscheinhöhle zu gehen.«

Miriam blickte auf die Uhr. In zwei Stunden würde es stockfinster sein. »Haben Sie die Polizei verständigt?«

»So ein Rettungseinsatz kostet doch immer ein Heidengeld, und nachher ist nix. Weshalb ich Sie anrufe … Sie haben doch sicher die Telefonnummer von Tido. Wenn Heiko bei ihm wäre und nur die Zeit vergessen hätte, dann wäre ja alles in Ordnung.«

Unwillkürlich fiel Miriams Blick in das aufgeschlagene Diktatheft auf dem Tisch am Fenster. Es wimmelte nur so von Rot. Das war schon keine glatte Sechs mehr, sondern eine Sechs minus oder Sieben. In den wenigen Wochen, die sie die Klasse 4b der Grund- und Hauptschule Trochtelfingen jetzt unterrichtete, hatte sie bereits festgestellt, dass Tido überall schlecht war, außer in Turnen, Zeichnen oder wenn es um Tiere ging. Er war ein stiller, schmaler Junge mit dunklem Haarschopf und in sich gekehrtem Blick, immer ernst. »Sie haben Tido Grote in der Klasse«, hatte Rektorin Obermann ihr zwischen Tür und Angel erklärt. »Über den müssen wir uns mal unterhalten. Ich hoffe einstweilen, Sie fühlen sich wohl an unserer Schule. Mit Stuttgart ist Trochtelfingen natürlich nicht zu vergleichen. Aber es ist ja auch nur für ein Jahr.«

»Ich habe die Nummer der Grotes nicht hier«, antwortete Miriam Frau Baumann.

Das Schulsekretariat war um diese Zeit wohl auch nicht mehr besetzt. Sie hätte sich gleich ein privates Telefonbüchlein mit den Nummern ihrer Schülerinnen und Schüler anlegen sollen, aber es war ihre erste eigene Klasse und sie hatte noch so viel anderes zu bedenken und zu organisieren gehabt. Eine Bleibe finden zum Beispiel. Die kleine Dachgeschosswohnung in der Neubausiedlung am Hang über Trochtelfingen war noch nicht mal richtig eingerichtet. Unter die schrägen Wände passten keine konventionellen Bücherregale. Ihr Unterrichtsmaterial musste sie sich aus den Bücherkartons zusammensuchen.

»Aber Sie wissen doch, wo Grote wohnt«, insistierte Frau Baumann. »Ach nein, das können Sie ja nicht wissen. Sie sind ja neu hier. Da fahren Sie Richtung Steinhilben. Das wissen Sie doch, wo das ist, gell? Es ist das Haus links am Waldrand. Können Sie gar nicht übersehen.«

Miriam fragte sich stumm, warum Volkers Mutter nicht selbst dorthin fuhr. Doch die Antwort kam prompt: »Ich kann jetzt leider nicht weg. Das Essen steht auf dem Herd, und mein Mann kommt gleich. Aber wenn dem Heiko was passiert wär’, dann könnte ich mir nie verzeihen, wenn wir nicht nachgeschaut hätten.«

Miriam bedankte sich etwas verwirrt und versprach, sich um die Angelegenheit zu kümmern.

Nur wie? Sollte sie wirklich bei den Grotes aufkreuzen, um sich zu erkundigen, ob ihr Schüler Heiko Eichele dort war? Und wenn nicht? Sie hatte keine Ahnung, wo sich die Mondscheinhöhle befand. Sie wusste zwar, dass im Prinzip die ganze Schwäbische Alb unterhöhlt war, aber dass sich so eine Höhle hier in der Gegend befand, hatte sie in keinem der Reiseführer gelesen, die sie hastig studiert hatte, als sie zwei Wochen vor Schulbeginn erfuhr, dass sie für ein Jahr eine Schwangerschaftsvertretung in Trochtelfingen machen würde. Miriam seufzte. So ein Job als Grundschullehrerin in einem Dorf auf der Alb hatte seine Tücken, das hatte sie schon geahnt, aber dass sie gleich nach einem Kind würde suchen müssen, ohne von der Örtlichkeit mehr zu kennen als den Dorfkern, das Rathaus, den Hohen Turm und die Schule, das hatte sie nicht erwartet. Oliver hatte sich bislang geweigert, sie am Wochenende zu besuchen, also war sie stets nach Stuttgart gefahren, statt die Gegend zu erkunden.

Sie schlüpfte in Sneakers und Wetterjacke, brachte Geldbeutel und Handy in den Jackentaschen unter, nahm den Autoschlüssel und eilte das Treppenhaus hinunter. Es war ein neues Haus am Hang nördlich über Trochtelfingen, in dem sie unterm Dach ihre Einzimmerwohnung mit Küchenzeile und Bad gefunden hatte. Wenigstens mit dem Parken hatte man hier kein Problem. Ihr blauer Lupo stand direkt vorm Haus am Rinnstein. Sie fuhr den Hang hinunter auf den weiß im Sonnenlicht strahlenden Ortskern zu, passierte die Schulgebäude und bog nach links gen Osten ab. Die Bundesstraße führte durch das Tal direkt an Trochtelfingen vorbei. Auf der anderen Seite erhoben sich bewaldete Hügel, aus denen hin und wieder dunkelgraue, bemooste Kalkfelsen ragten, brüchiger Muschelkalk aus der Zeit, da die Jurameere die Schwäbische Alb bedeckten. Trockene Wiesen und steinige Äcker drängten die düsteren Fichtenforste und gelblichen Buchenwälder auf die Hügelkuppen zurück. In Schründen, die kein Traktor befahren konnte, standen Buschinseln. So steinig waren die Äcker hier, dass man das Land »des Teufels Schädeldecke« nannte. Schneeberg, Drachenstein, Lippertshorn oder Degelbuch hießen die Hügel.

Nach anderthalb Kilometern auf der schmalen Landstraße fiel Miriam links jenseits einer freien Talsenke am Waldrand ein Anwesen auf, dessen Dächer rot im Abendlicht leuchteten. Das musste es sein. Sie bog auf einen Feldweg ab. Die gelbweißen Jurakalksteine klackten unter den Reifen. Der Gebäudekomplex, auf den sie zuhielt, musste einst ein Aussiedlerhof gewesen sein, besaß aber nicht mehr die typischen Silotürme solcher Höfe. Und das Land drum herum war nicht bewirtschaftet. Ein großer, langgestreckter ehemaliger Stall, über dessen gemauertem Untergeschoss sich eine Scheune aus fast schwarzem Holz erhob, sperrte das Anwesen gegen den Fichtenwald ab. Links stand ein gemauerter Schuppen, und auf der anderen Seite der Scheune ragte ein altes schmuckloses Bauernhaus steil in den blauen Himmel, dessen Wetterseite mit weiß gestrichenen Schindeln verkleidet war. Davor trotzte ein Nussbaum dem rauhen Klima.

»Palläntologe«, hatte der neunjährige Tido geantwortet, als Miriam ihre Schülerinnen und Schüler nach dem Beruf des Vaters gefragt hatte. Alle hatten gelacht.

»Ah, Paläontologe«, hatte Miriam vorsichtig korrigiert. »Weiß jemand, was das ist?«

»Er baut Dinosaurier«, hatte Tido erklärt. Und wieder hatten alle gelacht. Dinosaurier baute man doch nicht. Die machte man mit dem Computer. »Doch«, meinte Tido. Die seines Vaters stünden im Naturkundemuseum in Stuttgart und überall auf der Welt.

»Dann könnten wir doch alle einmal nach Stuttgart fahren und deinen Vater im Museum besuchen«, hatte Miriam vorgeschlagen.

Daraufhin hatte Tido nur kurz, aber bestimmt den Kopf geschüttelt. »Er hat seine Werkstatt daheim.«

Sie stellte ihren Wagen neben einem roten Mini ab, der vor den geschlossenen Schuppentoren stand, und stieg aus. Wie still es hier war! So still, dass kleine Geräusche ganz groß wurden: das Summen des Windes im Wald, das Knirschen von Steinchen unter den Schuhsohlen. Ihr kam es so vor, als könnte man das Knistern der Abendsonne auf dem Scheunenholz hören oder das Vorbeiziehen der Wölkchen am Himmel. Der alte Stall hatte neue Fenster, von denen zahlreiche offen standen. Übers Dach rieselten die gelben Blättchen einer Birke, die am Waldsaum hinter dem Gebäude stand. Miriam wandte sich dem Haus zu. Die Schindeln waren von Westwind und Regen gezeichnet. Neben der Tür lehnte ein Kinderfahrrad an der Wand.

Doch kaum hatte sie zwei Schritte über den Hof gemacht, da gellte ein Schrei durch die Stille. Miriam duckte sich unwillkürlich. Keine Sekunde zu früh, denn von irgendwoher schoss ein großer schwarzer Vogel knapp über ihren Kopf hinweg, erhob sich mit ein paar Flügelschlägen in die Höhe, überschlug sich in der Luft und stürzte wie ein Stein erneut auf sie herab. Miriam riss einen Arm hoch und sprang beiseite. Noch nie war ihr ein Rabe so nahe gekommen. Hackten sie nicht ihren Opfern die Augen aus? Oder gehörte das ins Reich der Ammenmärchen?

Jetzt kam der Rabe im Tiefflug auf sie zu. Doch mitten im zweiten Angriff schwenkte er ab und flog aufs Dach. Miriam sah genau unter dem Raben, der auf dem First landete, einen Mann in der halb offenen Haustür stehen. Ihr war auch, als habe sie eben einen Pfiff gehört.

Der Mann war vielleicht Mitte 30, mittelgroß und schlank, trug abgewetzte und mit weißlichem Kitt befleckte Jeans und ein Sweatshirt von undefinierbarem Graubraungrün, das unter eingetrocknetem Leim oder Gips litt. Er hatte die Ärmel hochgeschoben und eine Hand auf die Klinke gelegt. Die waagerecht einfallende Abendsonne verwandelte die Härchen auf seinem kräftigen Arm in Goldflitter. Sein stoppelkurzes Haupthaar leuchtete wie auf dem Feld geknicktes Stroh, unter das sich bereits dunklere Töne mischten. Eine sonderbare Stille lag in der Haltung des Mannes, in seinem schmalen Gesicht mit dem kräftigen Kinn und den fest geschlossenen Lippen und in den Augen von der Farbe von Regenwolken.

Miriam wagte einen weiteren Schritt auf die Haustür zu und wollte eben den Mund aufmachen, um sich vorzustellen, als der Rabe lautstark krächzend auf die Dachrinne herabflatterte.

»Ist das Ihr Vogel?«, fragte Miriam ungewollt entrüstet.

Ein winziges Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. »Das könnte man so sagen, ja.«

»Er hat mich angegriffen.«

»Aber nein, er will nur spielen. Kolkraben sind ziemlich verspielt.«

Miriam hatte das fatale Gefühl, dass der Mann mit der ruhigen und leisen Stimme sich über sie lustig machte, und antwortete ungehaltener, als es eigentlich ihre Art war: »Wenn Sie sich einen Raben als Wachhund halten, sollte Ihr Sohn aber wissen, dass man Rabe nicht mit zwei a schreibt.«

Der Mann zog die Brauen hoch.

»Sie sind doch Herr Grote, nicht wahr?«

»Dann sind Sie wohl Tidos neue Klassenlehrerin. Frau … äh …«

»Kerner.«

Wenn er zum Schulanfangselternabend gekommen wäre, hätte er es gewusst. Aber diese Bemerkung verkniff Miriam sich. Offenbar hatte es auch Tido bislang nicht für nötig gehalten, ihren Namen daheim zu erwähnen. Sie kämpfte gegen den Wind, der ihr von hinten die langen kastanienbraunen Haare ins Gesicht wehte, und gegen ihre eigene Unsicherheit im Umgang mit den Eingeborenen auf der Alb.

»Angenehm«, sagte Grote. Es klang, als würde ihr Name bald wieder dem Vergessen anheimfallen. »Aber jetzt habe ich keine Zeit. Wenn Sie mit mir über Tidos schulische Leistungen sprechen wollen, dann komme ich besser zu Ihnen in die Sprechstunde.«

»Oh nein, deshalb bin ich nicht hier. Es geht um etwas anderes. Die Mutter eines Mitschülers von Tido hat mich eben angerufen. Die Mutter von Volker …«

Grote nickte.

»Heiko kommt freitagabends anscheinend immer zu den Baumanns zum Abendessen, weil seine Mutter bis 20 Uhr arbeitet.«

»Bei Mode Hipp, ja«, sagte er.

»Aber heute ist Heiko nicht gekommen. Und nun hat Frau Baumann Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Er soll zusammen mit Tido zur Mondscheinhöhle gegangen sein.«

»Das kann nicht sein«, antwortete Grote schnell. Im immer noch verschwenderisch strahlenden Abendlicht konnte Miriam deutlich die Veränderung sehen, die mit dem Mann vor sich ging. Seine fast herausfordernde Ruhe verschwand, ein gespannter Zug trat in sein Gesicht, und die Knöchel seiner Hand auf der Klinke wurden weiß. »Tido war den ganzen Nachmittag hier. Zumindest die letzten zwei Stunden.«

»Könnte ich mal mit ihm sprechen?«

»Wozu?«

Miriam schluckte ihr Befremden herunter. »Nun, eigentlich wollte ich nur fragen, ob Heiko hier ist. Aus Ihrer Reaktion schließe ich, dass er es nicht ist. Aber vielleicht weiß Tido, wo er sein könnte. Ich möchte einfach nur ausschließen, dass Heiko …«

Sie unterbrach sich, denn in diesem Augenblick erschien Tido neben seinem Vater in der Tür. Grote legte wie schützend – oder wie warnend – die Hand auf die Schulter des Jungen. Gegensätzlicher konnten Vater und Sohn kaum sein: So blond, grauäugig und athletisch der eine, so schwarzhaarig, kohleäugig und zierlich der andere. Beide allerdings gleich ernst und reserviert, eigentlich abweisend.

»Ich habe Heiko und Volker gesagt, dass man nicht reinkann in die Mondscheinhöhle«, sagte Tido mehr zu seinem Vater hinauf als zu Miriam. »Dazu braucht man das ganze Schachtgeraffel.«

»Was?«

»Ausrüstung und Seile«, sagte Grote knapp.

»Wart ihr denn bei der Höhle?«, erkundigte sich Miriam an Tido gewandt.

Der Junge schüttelte heftig den Kopf. »Aber es könnte schon sein, dass Volker und Heiko hingegangen sind.«

»Und wo ist diese Höhle?«

»Am Lippertshorn«, antwortete Tido.

»Eine Dreiviertelstunde zu Fuß von hier«, ergänzte Grote widerstrebend und deutete mit einer kurzen Kopfbewegung zum Wald.

»Könnten wir dann nicht mal schnell …? Ich meine, sollte man nicht mal nachschauen gehen? Falls da doch etwas passiert ist?«

Miriam sah, dass Tido neben seinem Vater betreten zu Boden starrte. In den Tiefen des Hauses begann ein Telefon zu klingeln.

»Rufen Sie die Höhlenrettung in Göppingen an«, sagte Grote. »Die Nummer ist auf jeder Polizeidienststelle bekannt.«

Im Haus klingelte immer noch das Telefon. Allerdings hörte Miriam jetzt eilige Schritte eine Treppe hinabpoltern.

»Aber … aber Sie kennen sich doch hier aus«, sagte Miriam erregt. »Es wird bald dunkel. Und Heiko braucht vielleicht schnell Hilfe.«

»Haben Sie nicht gehört, was Tido gesagt hat? In die Mondscheinhöhle kann man nicht einfach reinspazieren. Man muss sich abseilen. Ich … ich kann Heiko nicht helfen. Gehen Sie zur Polizei.«

In diesem Augenblick ging die Sonne hinter einer bewaldeten Anhöhe im Westen unter. Auf einmal lag der eben noch heitere und helle Hof in kaltem Schatten. Und Grote schien einfach in der Tür verschwinden zu wollen.

»Feigling!«, entfuhr es Miriam.

Der Mann erstarrte. Tido drehte sich auf dem Absatz um und tauchte in den dunklen Flur ab.

»Entschuldigung«, stammelte Miriam, selbst zu Tode erschrocken über ihren ungerechtfertigten Ausbruch.

»Leif!«, rief da eine Frau aus dem Haus. »Telefon für dich.«

Leif Grote warf Miriam einen kurzen, schwer definierbaren Blick zu, ließ die Klinke los, drehte sich um und verschwand. An seiner Stelle erschien eine junge Frau und streckte Miriam freundlich lächelnd die Hand hin. »Hallo, ich bin die Diana.«

»Miriam Kerner, die Klassenlehrerin von Tido. Guten Abend.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen. Mit Tidos Rechtschreibung steht es ja nicht zum Besten.«

»Es hält sich gerade noch so im Rahmen für einen, der gerade die dritte Klasse hinter sich hat. Aber im Lauf dieses Jahres muss das besser werden.«

»Ich übe ja auch schon mit ihm Diktat.«

Ein offenes Lächeln lag auf Dianas hellem Gesicht, in dem ein Paar blauer Augen glitzerte. Ihr kräftiges schulterlanges Haar hatte die weißgelbe Farbe von Kalkstein bei Regen. Und eines schien Miriam absolut sicher: Tido konnte nicht der Sohn dieser beiden blonden Menschen sein. Entweder war Leif Grote nicht sein Vater oder Diana nicht seine Mutter.

»Wollen Sie nicht reinkommen?«, sagte Diana. »Ich habe gerade Kaffee gemacht.«

»Vielen Dank, aber ich habe keine Zeit. Ich bin auf der Suche nach einem meiner Schüler. Er wird vermisst.«

»Wer denn?«

»Heiko Eichele.« Miriam zog ihr Handy aus der Jackentasche. »Aber vielleicht ist er ja inzwischen wieder aufgetaucht. Ich hatte nur fragen wollen, ob Heiko bei Tido ist.«

»Nein, ist er nicht. Aber vielleicht war er heute Nachmittag hier. Ich bin auch erst vor einer Stunde aus dem Büro gekommen.« Sie wandte sich in den Flur um. »Leif, war Heiko …?«

Aber sie kam nicht dazu, die Frage zu stellen, denn auf einmal erschien Leif Grote neben ihr in der Tür und sagte, ohne auf Diana zu achten: »Frau Kerner, fahren Sie nicht weg! Ich komme gleich wieder. Warten Sie hier!«

Und schon war er wieder verschwunden. Miriam hörte ihn eine Treppe hinaufstürmen.

»Du meine Güte!«, rief Diana. »Es wird doch nicht um Heiko gehen. Das war nämlich eben die Rettungsleitstelle in Göppingen am Telefon. Und wenn die Leif anrufen, dann … dann muss schon alles zu spät sein. Er kann das nämlich eigentlich nicht mehr machen, wegen seines Knies, wissen Sie. Es ist immer noch nicht wieder ganz in Ordnung nach dem Unfall.«

»Was kann er nicht mehr machen?«

»Diese Höhlenrettungseinsätze.«

Miriam konnte sich nicht erinnern, jemals so perplex gewesen zu sein. Auf einmal tat ihr der »Feigling« gar nicht mehr leid. Was für eine Unverfrorenheit, sie zur Polizei zu schicken, wenn er selbst auf der Telefonliste der Höhlenrettung stand. Brauchte dieser arrogante Bursche erst den Anruf seiner Leitstelle, um dem Mädel aus der Stadt zu glauben, dass da wirklich in seinem Revier ein Kind in Not war?

»Dann werde ich jetzt mal schnell Frau Eichele anrufen«, sagte Diana. »Die weiß womöglich noch gar nichts.«

Auf einmal war auch sie im Flur verschwunden. Der Rabe ließ sich von der Dachrinne plumpsen, breitete die Flügel aus und segelte durch die offene Tür ins Haus.

Kapitel 2

Miriam wanderte langsam über den Hof auf ihr Auto zu und öffnete die Zentralverriegelung. Kurz darauf stürzte Grote aus der Haustür und kam in großen Schritten über den Hof. Über dem Arm trug er einen blauroten wasserdichten Overall, über der Schulter eine Sporttasche und in der Hand ein Paar leichter Bergstiefel.

»Sie müssen mich chauffieren«, sagte er. Dabei blickte er ihr so unverfroren direkt in die Augen, als habe er nicht vor fünf Minuten noch behauptet, er könne Heiko nicht helfen, denn für die Mondscheinhöhle brauche man eine Ausrüstung. »Der Vorstoßtrupp der Höhlenrettung Engstingen sitzt im Bus auf dem Weg zu einer Wochenendfortbildung im Nordschwarzwald«, fuhr er fort, während sie sich hinters Lenkrad setzte und er auf der anderen Seite einstieg, die Beifahrertür zuzog, den Knopf für den elektrischen Fensterheber suchte und das Fenster runterließ. »Und ehe man den Trupp zurückruft, will die Leitstelle Klarheit, ob der Junge wirklich in der Mondscheinhöhle steckt.«

Nichts anderes hatte sie vorhin auch gewollt.

»Wir fahren von Nordosten an die Höhle heran. Das geht am schnellsten. Ich sage Ihnen, wie Sie fahren müssen.«

Miriam verkniff sich alle Fragen, die ihr auf der Zunge lagen, und fuhr über den Feldweg auf die Straße und von dort südöstlich um das ausgedehnte Waldgebiet herum. Immerhin wurde ihr schnell klar, warum Leif Grote wollte, dass sie fuhr. Er hatte offensichtlich noch einiges zu tun. Zunächst einmal stattete er die LED-Lampe am Helm und eine Handlampe mit frischen Batterien aus. Dasselbe tat er mit zwei Funkgeräten. Dann überprüfte er, immer wieder hochblickend und ihr den Weg weisend, Seile, Leinen, Longen, Gurte, Steigklemmen und Schraubkarabiner, die wohlgeordnet in seiner Tasche untergebracht waren. Und schließlich begann er, sich den Schlaz, den rot-blauen Overall, über die Jeans und den Sweater zu ziehen, was im Auto ziemlich unbequem war.

Seinen knappen Anweisungen folgend, bog Miriam irgendwann nach links in den Wald ein. Zwischen den Bäumen war es bereits dunkel. Sie schaltete die Scheinwerfer ein und fragte sich, wann sie mit ihrem Kleinwagen auf den immer enger werdenden Waldwegen stecken bleiben würde. Graue Kalkfelsen sprangen in den Scheinwerfer. Die Fichten standen undurchdringlich. In mancher Biegung hatte sich dick Laub angesammelt. Mit klammen Fingern – des offenen Seitenfensters wegen – versuchte Miriam, den Lupo in der Spur zu halten. Sie schaukelte einen Hohlweg hinauf, schlitterte in eine Biegung und kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Vor ihnen leuchteten die Rücklichter eines stehenden Geländewagens der Polizei.

In seinem Standlicht sah Miriam Gestalten den Waldweg hinaufziehen. Sie erkannte die Lederjacken eines älteren und eines jüngeren Polizisten und eine Frau in Rock und Strickjacke. Leif Grote war mit seiner Tasche schon halb am Polizeiwagen vorbei, ehe sie den Wagen abgeschlossen hatte. Sie hetzte hinterher und kam an, als der ältere Polizist sich gerade umwandte und Grote auf die Schulter klopfte.

»So, Leif, hat’s dich auch wieder mal erwischt?«

»Abend, Heinz«, antwortete Grote.

»Und Sie«, sagte der Polizeihauptmeister, »Sie sind dann wohl die neue Lehrerin. Mein Sohn geht auch zu Ihnen, der Jörg.«

»Ah, der Jörg«, sagte Miriam. »Jörg Rehle.«

»Und Sie kennen sich?«, wandte sich Polizeihauptmeister Rehle an die junge Frau in Rock und Strickjacke. »Das ist Heikos Mutter.«

»Hallo, Frau Eichele.« Miriam schüttelte eine schmale eiskalte Hand.

»Na, dann schau’mer mal«, sagte Heinz Rehle.

Inzwischen waren sie auf einer kleinen Lichtung angekommen. Ein schwerer Fels, in dessen Schründen Gebüsch wucherte, ragte in den noch lichten rotblauen Himmel hinauf. Doch an seinem Fuß herrschte Nacht. Im Schein zweier starker Taschenlampen leuchtete der Kalkfels weißlich auf. Die Lichtkreise blieben an einem blauen Kinderfahrrad hängen, das unter einem Baum lag.

»Heikos Fahrrad«, rief die Mutter. »O Gott, Heiko! Heiko, wo bist du? Sag doch was!« Sie rutschte mit ihren Pumps auf einem Stein aus, und Miriam griff ihr rasch unter den Arm. Sie hätte gern etwas Tröstliches gesagt, aber sie wusste nicht, ob hier Beruhigungsfloskeln angebracht waren. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Heiko noch lebte?

Der jüngere der beiden Polizisten teilte unterdessen mit den Händen ein Gebüsch am Fuß des Felsbrockens, hinter und über dem ein Wald ins Dunkel stieg. »Hier ist es«, meldete er und ging auf die Knie, leuchtete in ein Loch, das Miriam gar nicht erkennen konnte, so klein war es, und sagte: »Zu sehen isch nix.« Dann beugte er sich vor und schrie: »Heiko! Bist du da unten?«

»Lassen Sie mich«, drängelte Frau Eichele. »Heiko!«

»Scht!«, machte Miriam. Im Augenwinkel sah sie, dass Leif Grote seine Tasche am Fuß einer Buche abstellte, sie öffnete und anfing, sich Ellbogen- und Knieschützer über den Schlaz zu streifen. Dann legte er die Handlampe auf die Tasche und begann, sich ein kompliziertes Gewirr von Gurten, Leinen und Apparaten anzulegen.

»Hörst du was?«, erkundigte sich Heinz inzwischen bei seinem Kollegen.

»Heiko!«, schrie die Mutter.

»So hör i nix«, sagte der Polizist.

»Mein Gott, stehen Sie nicht so dumm rum. Tun Sie doch was! Steigen Sie runter.«

»Nur ruhig, junge Frau«, sagte Heinz. »Hektik bringt auch nix. Der Leif isch der Beste, den wo es gibt. Des wird scho’.«

Währenddessen hatte sich der jüngere Polizist noch einmal in den Höhlenmund gebeugt, gerufen und gelauscht. Er stand kopfschüttelnd auf.

Leif Grote war mittlerweile dabei, im schattenreichen Licht seiner Handlampe mit einem Achterknoten eine Schlaufe ins Seilende zu knüpfen. Die Konzentration, mit der er daraufhin das ganze Seil durch die Hand zog – um auszuschließen, dass es verdreht war – und in Schlaufen auf die Tasche legte, musste für Außenstehende aufreizend langsam wirken. Fast so, als trödle er.

Miriam trat zu ihm unter den Baum … und erschrak. Es mochte ja sein, dass das gespenstische Licht der Lampe einen Menschen leichenblass machte, aber Leif Grote war nicht nur blass. Sein Gesicht war schweißbedeckt, er atmete schwer, seine Hand zitterte, und er wankte.

»Kann ich was helfen?«, sprach Miriam ihn an.

Er fuhr zusammen, blickte erschrocken auf und schüttelte den Kopf.

»Was ist los mit Ihnen?«

Leif stützte sich mit einer Hand am Baum ab. »Ich … ich kann nicht runter. Ich dachte, es ginge vielleicht. Aber es geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich … ich kriege Platzangst. Ich bin klaustrophobisch.«

Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Miriam wohl Mühe gehabt, sich das Lachen zu verbeißen. Ein Höhlenretter, der unter Klaustrophobie litt, der in engen Räumen Panik bekam. Aber weil die Lage so ernst war, suchte sie sofort nach einer Lösung.

»Soll ich …? Soll ich hinuntersteigen?«, fragte sie.

Er atmete aus. »Können Sie das denn?«

»Ich habe Sport studiert und freies Klettern gemacht. Ich kenne mich zumindest mit Seilen und Karabinern aus. Und ich weiß, wie man sich kontrolliert abseilt.«

Leif schüttelte kaum merklich den Kopf. »Eine Höhle ist etwas anderes als eine Felswand. Die Schächte sind eng. Und Sie müssen am Seil auch wieder hochklettern. Können Sie mit Steigklemmen umgehen?«

»Wenn Sie es mir erklären.«

Er schüttelte wieder den Kopf. Doch sein Atem war mittlerweile deutlich ruhiger. »Das Steigen am Seil muss man üben. Und der Einstiegsschacht der Mondscheinhöhle ist so eng, dass ich Sie nicht aus dem Seil retten könnte. Nein, ich fürchte … ich muss selbst …«

»Aber wenn es nicht geht?«

»Es wird schon gehen. Es muss!«

Der kurze und leise geführte Wortwechsel hatte ihn offensichtlich wieder etwas beruhigt. Er setzte den Helm auf, zog sich die Handschuhe an, zog die Klettverschlüsse am Handgelenk fest, packte das Seil und schritt auf den Felsen zu. Vermutlich bemerkte nur Miriam, wie unsicher sein Schritt war. Die anderen sahen nur den Experten, der Heinz eines der beiden Funkgeräte gab und sich das andere ans Brustgeschirr steckte, dann am Höhlenmund in die Knie ging und die Schlaufe am Seilende mit einem Schraubkarabiner in den Haken einhängte, der in den Fels zementiert war. Dann hakte er sogar noch einen zweiten Karabiner in Schlaufe und Haken. Eine Sicherheitsmaßnahme wie im Lehrbuch, dachte Miriam. Sie schaute zu, wie er das Seil durch ein längliches blaues Gerät führte, das vorn an seinem Sitzgurt hing: der Abseiler. Miriam kannte die sogenannten Abseilachter – Metallösen, um die man das Seil so schlang, dass die Reibung half, die Abfahrt zu bremsen. Zur Not tat es auch ein stabiler Flaschenöffner. Aber Leifs Abseiler war ein ausgeklügeltes mechanisches Gerät mit Hebel und Notbremseinrichtung.

Sie musste sich eingestehen, dass sie nicht gekonnt hätte, was er nun tat. Zumindest hätte es sie enorme Überwindung gekostet, sich mit den Füßen voran in ein dunkles Loch am Fuß eines gewaltigen Felsens zu zwängen, ohne zu wissen, wo ihre Füße wieder Halt finden würden.

Beklommen beobachtete sie, wie Leif sich auf den Waldboden niederließ und sehr langsam die Beine ins Loch schob. Er achtete peinlichst darauf, dass sich keine Erde oder Steine vom Höhlenmund lösten und in die Tiefe fielen. Sie hätten den, der da unten war, verletzen oder irritieren können. Auch daran hätte sie selbst nicht gedacht.

Als er bis zur Hüfte im Höhlenmund steckte, drehte er sich halb um, stützte sich mit der linken Hand ab und schob die Hüfte durch den Spalt. Erst dann drehte er sich auf den Bauch und ließ sich langsam in die Tiefe, wobei er mit der Hand, die im Handschuh steckte, den Abseiler schützte, damit keine Erde und Steinchen hineingerieten. Miriam sah ein, dass ihre Idee, sich an seiner Stelle abzuseilen, naiv gewesen war.

Der Höhlenmund war so eng, dass Leif die Arme über den Kopf heben musste, um mit seinen breiten Schultern durchzupassen. Er warf einen letzten Blick nach oben ins blendende Licht der Lampen und sah die schmale Silhouette der Lehrerin seines Sohnes. Funkelnd geisterte das Licht durch ihre dunkle Mähne und ließ sie an der Peripherie leuchten wie die Schale reifer Kastanien.

Dann schlug der Stein über ihm zusammen. So jedenfalls kam es ihm jedes Mal vor, wenn er unter die Oberfläche tauchte und die feuchte, dunkle und steinerne Unterwelt ihn aufnahm. Von draußen geisterte das Licht der Lampen im Gebüsch und im Steinrand des Einstiegslochs über ihm, das ihm bereits unerreichbar schien. Im Licht der Helmlampe sprangen ihn kantige Steine an. Bis zu diesem Augenblick hatte ihn der komplizierte Einstieg in den extrem engen Schacht ganz und gar in Anspruch genommen und seine untergründige Angst in Schach gehalten.

Leif atmete kontrolliert aus und spürte seine Fußspritzen gegen die Wand stoßen und den kalten Stein im Rücken. Er fasste ans herabhängende Seil und legte die andere Hand an den Abseiler, um die Blockade zu lösen. Zwei Meter weiter unten würde sich der Schacht deutlich verbreitern. Leif kannte zahllose Höhlen auf der ganzen Welt und auf der Schwäbischen Alb alle, die bekannt waren. Einige hatte er selbst erschlossen. Zuweilen hatte er dabei Fossilien gefunden, die in Fachkreisen Aufmerksamkeit erregt hatten. Aber es war drei Jahre her, dass er zuletzt eine Höhle befahren hatte.

Und genau an dieses letzte Mal durfte er auf keinen Fall denken.

Er lauschte seinem eigenen unsteten Atem. Inzwischen war der Schacht weit genug, dass er nach unten blicken konnte. Der Strahler auf seinem Helm irrlichterte über von Wasser und Kalk gerundetes Gestein, das wie glasiert wirkte. Aus einem kleinen Riss im Fels quollen wie Harz aus einem Baum versteinerte Tropfen. Die Mondscheinhöhle hatte eine Besonderheit, nämlich Perlsinter, kleine Tropfsteinkugeln, die an manchen Stellen die Schachtwände bedeckten wie Streusel einen Kuchen.

Eigentlich war der Schacht nicht tief, gerade mal acht Meter bis zum sogenannten Knick. Dort zweigte ein kleiner waagerechter Durchgang in den zweiten Schacht ab, der schließlich in einem Saal endete. Vom Knick ging es aber noch einmal drei Meter bis ins Tote Ende hinab, wo der Schacht sich in Spalten verlor. Eigentlich keine große Sache. Aber vor Leifs Augen verwandelte sich die Schachtröhre auf einmal in einen Schlund, der ihn einsog. Die Luft blieb ihm weg. Die Hand am Seil, mit der er die Fallgeschwindigkeit kontrollierte, konnte die Tonnenlast, die an seinen Beinen zog, nicht mehr halten. Nur der Reflex eines versierten Höhlenfahrers rettete ihn, denn er ließ, statt sich festzuklammern, den Abseiler los und fiel in die automatische Blockade. Keuchend schloss er die Augen.

Wenigstens sah ihn niemand in diesem hilflosen Zustand. Nicht einmal Diana wusste, dass er seit seinem Unfall unter unbezwingbarer Klaustrophobie litt. Auch seine alten Höhlenkameraden hatten zunächst verstanden, dass er – knapp einer Querschnittslähmung entgangen – erst einmal nicht mehr an Höhlentouren dachte. Als ihre Anfragen drängender wurden, hatte er sich mit Knieproblemen rausgeredet. Wie hätte er seinen Kameraden, Vereinskollegen oder auch nur Polizeihauptmeister Rehle auch erklären sollen, dass sich bei ihm das Bewusstsein für die realen Gefahren, die in Höhlen drohten – Steinschlag, plötzlicher Wassereinbruch – in unbeherrschbare Todesangst verwandelt hatte? Ausgerechnet bei ihm, der nie Angst gehabt hatte, der als der kaltblütigste und zugleich umsichtigste Höhlenforscher gegolten hatte. Wie hätte er seinem neunjährigen Sohn erklären sollen, dass ihn schon der Anblick von Höhlenfotos in Panik versetzte? Von der Notrufliste der Rettungsleitstelle hatte er sich streichen lassen, im Höhlenverein war er nur noch als Kassenwart tätig. Nur hatte der Gedanke an Knieprobleme den Dienstleiter in Göppingen heute nicht davon abgehalten, ihn zu bitten, dass er mal nachsehen ging, ehe man den Engstinger Bereitschaftstrupp vom Ausflug zurückrief oder gar die gesamte Bergungsmaschinerie in Gang setzte. Leif war kein Gegenargument eingefallen. So kaputt konnte sein Knie nicht sein, dass es nicht den Aufstieg im kurzen Schacht der Mondscheinhöhle bewältigte, wenn es um ein Menschenleben ging, um ein Kinderleben. Und für das andere Argument, seine Klaustrophobie, hätte der Dienstleiter noch weniger Verständnis gehabt. »Dann reiß dich halt zusammen!«

Leif biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, wieder einen regelmäßigen Rhythmus in seinen Atem zu bekommen. Währenddessen begann das Funksprechgerät am Brustgurt zu husten.

»Leif!«, knarrte die Stimme von Heinz. »Siehst du schon was?«

»Nein«, antwortete er.

»Ich versteh dich nicht. Kannst du mich hören, Leif?«

»Ja.« Er zwang sich, lauter zu sprechen. Täuschte er sich, oder hörte er da auf einmal ein Wimmern aus der Tiefe unter sich, ein gepresstes Ächzen?

»Heiko!«, rief er, ohne in den Schlund hinabzublicken. »Ich höre etwas«, meldete er nach oben.

Er konzentrierte sich auf seine Handgriffe, aufs Seil, und versuchte, die Umgebung nicht wahrzunehmen. Er war ja gesichert, sagte er sich. Das Seil hielt sein Gewicht locker aus. Auch das des Ungeheuers, das an seinen Füßen zog. Und dieses Ungeheuer da unten war auch kein Ungeheuer, sondern ein Kind, das ihn dringend brauchte. Es hatte geklungen, als klammere es sich mit letzter Kraft irgendwo fest.

Doch allein der Gedanke, dass er zu spät kommen oder das Kind unerreichbar in einer der engen Spalten des Toten Schachts stecken könnte, jagte neue namenlose Panik in ihm hoch. Plötzlich drehte sich alles. Die schillernden Sintermuster schlugen Blasen. Er bekam einen Schlag gegen die Schulter und einen zweiten gegen den Oberarm. Aus seinem Hinterkopf kämpfte sich die Erkenntnis bis ins Bewusstsein vor, dass er in unkontrolliertes Pendeln geraten war. Wenn er sich dabei Arm oder Schulter brach, war er selbst ein Fall für die Höhlenrettung. »Nicht bewegen!«, ermahnte er sich. »Augen zu und ausatmen.« Als er erneut gegen die Schachtwand prallte, bekam er einen Felsvorsprung zu fassen. Die Höhle stellte sich wieder auf die Füße, er gewann das Gefühl für oben und unten zurück. Aber es half alles nichts. Er musste sich eingestehen: »Es geht nicht.«

»Was sagst du, Leif?«, bellte das Funksprechgerät. »Ich versteh dich so schlecht. Alles okay? Antworte, Leif!«

Er hätte gern, aber er konnte nicht. Wie durch Watte hindurch hörte er, dass sich eine zweite Stimme des Funksprechgeräts bemächtigte.

»Herr Grote! … Leif, hören Sie mich? Ich bin’s, Miriam Kerner.«

Miriam … Der Name nistete sich in seinem klopfenden Herzen ein.

»Leif, hören Sie mir zu! Passen Sie auf! Zählen Sie von hundert an rückwärts. Haben Sie mich verstanden?«

Er verstand gar nichts.

»Zählen Sie! Los, fangen Sie an! Hundert … neunundneunzig … achtundneunzig … Zählen Sie!«

Leif ächzte und fand seine Stimme wieder. »Hören Sie auf mit diesem Unsinn!« Der Schreck, dass Heinz mithörte, schlug eine Bresche in seine Panik. »Ich … ich bin okay. Ich hatte … nur ein paar Probleme mit dem … mit dem Abseiler.«

»Wie tief sind Sie?«

Leif blickte hinauf zum sternenkleinen Höhlenmund, in dessen ausgefransten Rändern sich das Licht der Lampen draußen verfing. »Etwa fünf Meter.«

»Und wie weit müssen Sie noch?«

»Noch drei Meter bis zum Knick.«

»Und dann?«

»Da gabelt sich der Schacht in eine horizontale Engstelle und ins Tote Ende. Ich glaube, dass Heiko im Toten Ende steckt.«

»Haben Sie die Probleme mit dem Abseiler behoben, oder sollen wir Sie hochziehen?«

Das Funksprechgerät verzerrte zwar Miriams Stimme, aber es konnte ihre Klarheit, die Leif schon auf seinem Hof aufgefallen war, nicht völlig zerstören. Es kam ihm vor, als habe sie ein Rettungsseil kühler Vernunft zu ihm herabgelassen, an das er sich klammern konnte.

»Nein«, sagte er. »Es … es geht wieder. Ich glaube, ich kann die Abfahrt fortsetzen.«

»Was sehen Sie?«

»Wunderschönen Perlsinter.«

Er hörte Miriam im Apparat auf seiner Brust lachen, umfasste erneut den Abseiler und löste die Blockade. Wie ein Anfänger bei der ersten Trockenübung im Steinbruch konzentrierte er sich auf die Handgriffe. Die Stimme im Funksprechgerät ließ ihm keine Zeit, sich erneut in Panik einzupendeln. Sie forderte ununterbrochen Antworten von ihm.

»Wo sind Sie jetzt?«

»Ich bin am Knick.«

»Sehen Sie Heiko schon?«

Leif klinkte das Seil mit einem Karabiner in einen Haken am Einstieg zur horizontalen Engstelle, den andere Höhlenfahrer dort einzementiert hatten, und blickte in den Schacht des Toten Endes hinab, der sich wie eine steile Rutsche in den Stein bohrte.

»Ich sehe ihn! Ich sehe Heiko. Er hängt auf einem kleinen Vorsprung, etwa anderthalb Meter tief. Ich glaube … ja, er schaut mich an. Er lebt!«

»Kommen Sie an ihn ran?«

Sie stellte genau die richtigen Fragen. Das half ihm, sein Grauen zu überwinden und in den Schlund zu schauen. Er konnte nicht erkennen, ob der Junge sich festhielt oder auf einer kleinen Abflachung auflag. Wenn er aber losließ oder aus irgendeinem Grund abrutschte, dann würde der schmale Junge für immer in einer der engen Spalten verschwinden, unerreichbar für einen erwachsenen Mann.

»Antworten Sie, Leif! Kommen Sie an ihn ran?«

»Ja«, knurrte er, hakte ein zweites, kürzeres Seil in den Karabiner am Haken und ließ sich zeitlupenlangsam mit dem Knie auf dem schmalen Knick im Schacht nieder.

»Was haben Sie vor?«

»Ich werde versuchen, mich neben ihn hinabzulassen. Der Schacht ist wie eine Rutschbahn. Außerdem fällt er schräg zu Heiko hin ab. Ich darf … ich darf nicht seitwärts abrutschen.« Panik wollte ihn übermannen, aber er zwang sich weiterzusprechen. »Sonst würde ich ihn in die Tiefe stoßen.«

»Können Sie ihn nicht erst mit einem Seil sichern?«

Im Licht seiner Helmlampe sah er die weit aufgerissenen hellen Augen des Jungen.

»Ich glaube nicht. Er kann nicht nach einem Seil greifen. Er scheint sich festzuhalten.«

Leif ließ sich Zentimeter für Zentimeter über den Absatz des Knicks in die steile Rutsche gleiten. »Nicht bewegen, Heiko! Warte ab, bis ich bei dir bin. Beweg dich nicht, hörst du? Du musst absolut still liegen bleiben. Hab keine Angst. Ich bin gleich bei dir.«

Er gab sich zentimeterweise Leine und hoffte inständig, dass es ihn beim Stoppen nicht seitwärts verriss.

»Nicht rühren, Heiko! Halt dich weiter fest. Beweg dich nicht. Auch wenn ich jetzt die Hand nach dir ausstrecke. Sag nichts und tu gar nichts!«

Leif schlang das lose Ende des Seils um den Abseiler, um ihn bombensicher zu blockieren, und überprüfte, ob sein Handschuh auch fest genug saß, damit er ihm nicht von der Hand rutschte. Dann verankerte er die linke Hand in einem Spalt im Fels und begann, die rechte Hand nach unten auszustrecken. Er hatte den Abstand so abzuschätzen versucht, dass er den Jungen gerade eben so erreichen würde und ihm noch genug Spielraum blieb, ihn einhändig und mit der Kraft seiner Arme hochzuziehen.

»Nicht bewegen«, mahnte er wiederum mit ruhiger Stimme. »Warte, bis ich dich habe und dir sage, dass du loslassen kannst. Warte, bis ich es dir sage!«

Leif streckte sich bis zum Äußersten und griff ohne Hast nach dem Handgelenk des Jungen. »Heiko, warte, bis ich dich wirklich habe ... Ich ... ich hab dich. Jetzt habe ich dich.«

Heiko wimmerte.

»Ich habe ihn«, meldete Leif ins Funksprechgerät.

»Wir haben es gehört«, antwortete Miriam. »Gott sei Dank.«

»Aber er hängt fest«, stellte Leif in diesem Moment fest. »Ich kann ihn nicht hochziehen. Seine Hose oder ein Schuh könnte sich verhakt haben.«

»Heiko! Heiko!«, schrie eine weitere Stimme aus dem Funkgerät. »Ich bin es, deine Mama. Ich bin da. Hab keine Angst! Geht es dir gut?«

»Mama!«, rief der Junge auf einmal. »Mama!«

Leif nutzte den Moment, als Leben in den verkrampften und unterkühlten Jungen kam, um ihn mit einem brutalen Ruck vom Felsvorsprung zu reißen. Irgendein Kleidungsstück riss, und Leif konnte ihn an sich ziehen, mit der zweiten Hand zufassen und eine Longe um ihn schlingen.

»Ich habe ihn«, meldete er.

»Sehr gut!«, antwortete Miriam. »Inzwischen sind hier oben Sanitäter mit einem Krankenwagen eingetroffen. Was tun Sie jetzt?«

»Ich baue einen Behelfssitzgurt und sichere ihn über mir im Seil. Dann kommen wir hoch.«

Die Routine des Höhlenretters bestimmte nun sein ganzes Denken. Jeder Handgriff musste sitzen. Da der Junge unterkühlt war, durfte er so wenig wie möglich bewegt werden. Um mögliche Verletzungen kümmerte Leif sich nicht. Heiko spürte momentan ohnehin nicht viel, und dem äußeren Anschein nach hatte er sich schlimmstenfalls ein Bein gebrochen. Leif baute ihn vor sich in sein Geschirr ein, hängte ihn in den Abseiler und baute seine Bruststeigklemme ins Seil ein. Mit einem Erwachsenen wäre es in dem engen Schacht fast unmöglich gewesen aufzusteigen, zumal mit dem doppelten Gewicht, das er beim Aufstieg am Seil mit der Kraft seiner Arme und Beine zu heben gehabt hätte. Aber mit dem Jungen ging es.

»Wir kommen jetzt«, meldete Leif in den Funkapparat. Er staunte selbst über seine vollkommene innere Ruhe.

Kapitel 3

Miriam versuchte, die unschönen Erinnerungen an das Wochenende in Stuttgart abzuschütteln. Es hatte nicht am Dauerregen gelegen und auch nicht daran, dass Oliver nichts über die Schwäbische Alb hören wollte – als Opfer, wie er behauptete, wanderfreudiger Eltern. Blautopf, Uracher Wasserfall, Burg Hohenzollern …

Der Montag begann sonnig, so, als sei nichts gewesen. Trochtelfingen lag unverändert friedlich im Tal. Aus dem weißen Häuflein Fachwerkhäuser ragte im Morgenlicht der runde Wehrturm mit seinen eigenartigen Mauerwülsten unter den quer liegenden Schießscharten heraus. Miriam beschloss, zu Fuß in die Schule zu gehen. Sonne und Wind würden ihre von sinnlosen Streitereien verklebten Sinne reinigen.

Es war ein Weg von ungefähr 20 Minuten durch die stillen Straßen des Neubaugebiets ins Tal hinab. Hier und da begegnete sie Hausfrauen, die den Hund Gassi führten. Auf dem Lehrerparkplatz stand nur das Auto der Rektorin, als Miriam an dem kleinen steinernen Elefanten aufs Schulgelände einbog. Und wie erwartet saß Bodo Maier bereits oben im Lehrerzimmer.

»Da steht was über Sie in der Zeitung«, empfing er sie.

»So? Was denn?«

Sie hängte ihre Jacke in den Garderobenschrank. Währenddessen platzte Frau Münzer mit einem lauten »Guten Morgen« ins Zimmer, wie immer mit drei Taschen über der Schulter, die sie auf ihren Stuhl plumpsen ließ. Miriam war froh, nicht mehr mit Maier allein zu sein. Er war der dienstälteste Lehrer im Kollegium, groß, weißhaarig und wettergegerbt. Aber ihr bereitete vor allem seine ironische Art Unbehagen.

»Na, Frau Münzer«, sagte Maier. »Haben Sie gelesen, was heute über unsere junge Kollegin in der Zeitung steht? Sie soll maßgeblich daran beteiligt gewesen sein, dass unserem Zögling Heiko Eichele das Leben gerettet wurde. Hier steht es schwarz auf weiß: ›Nur dank dem Einsatz …‹, das muss natürlich heißen: ›Nur dank des Einsatzes …‹, aber …«

»Unsinn«, unterbrach ihn Miriam. »Meinem Einsatz ist es gewiss nicht zu verdanken, dass Heiko geborgen werden konnte. Das war vielmehr Leif Grotes Verdienst.«

»Immer soooo bescheiden, Frau Kerner.«

»Ja, ich hab’s gelesen«, antwortete Frau Münzer und begann am Tisch ihre Tasche auszupacken. »Ein Wunder, dass Heiko sich nur das Bein gebrochen hat. Was bringen die Eltern ihren Kindern heutzutage eigentlich noch bei? Aber klar, sie betrachten die Natur ja selbst nur noch als riesigen Freizeitpark. Wo soll bei den Kindern das Gefahrenbewusstsein herkommen? Mit bloßen Händen an einem Seil in eine Höhle absteigen … verrückt. Am besten, man würde diese Höhlen alle zumauern.«

»Das würde aber den Freizeitsportlern gar nicht gefallen«, bemerkte Maier.

Miriam wandte sich der Kaffeemaschine zu, während sich Maier und Münzer eines ihrer morgendlichen Wortgefechte lieferten. Das lenkte Maier wenigstens von ihr ab. Seit dem ersten Tag erfreute sie sich seiner zweifelhaften Aufmerksamkeit. Wenn er seine kurzen, schnellen Fragen auf sie abschoss, kam sie sich stets vor wie eine Schülerin der achten Klasse Hauptschule, die er der geistig-seelischen Unreife überführte. Selbstverständlich hatte der Veteran Maier auch die schwierigsten Klassen bestens im Griff. Schulausschlüsse hatte er nicht nötig, um die Kids zu disziplinieren. »Alles eine Frage der natürlichen Autorität.« Seine scharfen blauen Augen waren dazu geschaffen, jeden Spickzettel zu entdecken, bevor der Schüler auch nur wusste, dass er einen geschrieben hatte.

»Allerdings wundert mich«, hörte Miriam Frau Münzer hinter sich sagen, »woher Volker und Heiko eigentlich wussten, wo der Eingang zur Mondscheinhöhle liegt. Kennen Sie die Stelle, Herr Maier?«

»Was wollen Sie denn damit andeuten, Frau Münzer?«

»Ach, jetzt blasen Sie sich doch nicht so auf. In der Zeitung steht, dass man den Schacht der Mondscheinhöhle nur deshalb noch nicht verschlossen hat, weil ihn ohnehin nur Eingeweihte finden. Da war doch bestimmt dieser Tido mit von der Partie.«

»Soviel ich weiß, nicht«, antwortete Miriam, während sie die Kaffeemaschine füllte. Komisch eigentlich, dass niemand vom Kollegium morgens auf die Idee kam, Kaffee zu machen. Schon gar nicht Maier, der bestimmt seit sieben Uhr hier saß und Zeitung las.

»Mit Sicherheit war Tido dabei«, insistierte Münzer. »Woher hätten Volker und Heiko sonst wissen sollen, wo der Höhleneingang liegt? Diesem Vater müsste endlich mal einer das Handwerk legen!«

Miriam unterbrach sich beim Kaffeelöffelzählen. »Wie meinen Sie das denn?«

»Na, er schleppt den Jungen mit zu seinen Höhlen, und dann prahlt Tido natürlich damit herum und spielt sich als großer Höhlenexperte auf.«

Miriam nahm die Kaffeekanne und füllte sie unter dem Wasserhahn am Waschbecken.

»Offenbar«, schimpfte Münzer weiter, »will Grote auch noch seinen Sohn umbringen, nachdem er schon seine Frau in einer Höhle verloren hat.«

»Was?« Miriam fuhr herum.

»Ach, wussten Sie das nicht?«, sagte Maier spöttisch. »Die Zeitungen waren doch voll davon. Nun ja, vielleicht nicht gerade die Stuttgarter Zeitungen. Und vielleicht lesen Sie ja auch keine Zeitungen.«

»Doch«, fühlte sich Miriam provoziert zu sagen. Und sofort ärgerte sie sich darüber, dass es Maier immer wieder gelang, sie aus der Reserve zu locken.

»Ich kann Ihnen gern die Zeitungen von damals mitbringen«, legte er nach. »Schließlich haben Sie Tido in der Klasse, und als Pädagoge sollte man den familiären Hintergrund seiner Schützlinge kennen, nicht?«

»Ach, bemühen Sie sich nicht«, sagte Miriam höflich. »Ich ziehe es vor, mir unvoreingenommen ein Bild von meinen Schülerinnen und Schülern zu machen. Wie sehr Zeitungen verfälschen, können wir ja heute wieder sehen. Ich habe definitiv keinerlei Verdienst an Heikos Rettung. Ich war lediglich zufällig dabei.« Sie stieß die Kaffeekanne unter den Filter und knipste die Maschine an, die sofort leidenschaftlich zu gurgeln und rülpsen begann.

»Wer nicht will, der hat schon«, bemerkte Maier süffisant und vertiefte sich wieder ins Reutlinger Tagblatt, das aufgeschlagen vor ihm lag.

Vermutlich war es der reine Geiz, dachte Miriam, der Maier schon morgens um sieben ins Schulgebäude trieb. So sparte er sich die Heizkosten und das Zeitungsabonnement.

»Es heißt ja«, fuhr Münzer fort, »sie starb unter ungeklärten Umständen. Aber wahrscheinlich wollte der Höhlenexperte, der das Gutachten verfasst hat, seinem Vereinskollegen nur nicht an den Karren fahren. Grote ist schließlich ein berühmter Höhlenforscher.«

Maier schnaubte, blickte aber nicht hoch.

»Oder glauben Sie etwa an die Unfall-Geschichte, Herr Maier?«, erkundigte sich Münzer spitz und packte einen Stapel Hefte von einer Tasche in die nächste um.

Aber Maier blätterte nur gemächlich eine Seite weiter.

»Lassen Sie sich von dem nicht ärgern, Frau Kerner«, beruhigte Münzer mehr sich selbst als Miriam. »Das Ganze ist jetzt zwei Jahre her, nein, drei, denn Tido kam zu uns in die zweite Klasse. Grote ist nicht von hier. Er stammt aus Laichingen.«

Für Miriam war es ein und dasselbe, nämliche einfach Schwäbische Alb, aber hier oben, wo man die Leute anhand ihrer Dialektvariante Dörfern zuordnen konnte, hörten sich die Unterschiede wie Weltkreise an.

»Nach dem Tod seiner Mutter«, fuhr Münzer fort, »steckte man Tido erst einmal zu seiner Tante nach Reutlingen. Es war ja nicht sicher, ob der Vater jemals wieder aus dem Koma erwachen würde und ob er überhaupt wieder würde laufen können.«

»Was ist denn genau passiert?«, erkundigte sich Miriam und wandte sich dem Stapel schmutziger Kaffeetassen zu, der sich neben dem Waschbecken türmte. Dabei versuchte sie zu übersehen, dass Maier den Kopf hob und sie spöttisch amüsiert anblickte.

»Ich weiß natürlich auch nur, was in den Zeitungen stand«, antwortete Münzer, wobei sie die Hefte aus der Tasche wieder herausnahm und auf dem Tisch stapelte. »Grote selbst soll sich ja an gar nichts erinnern. Fest steht nur, dass er mit seiner Frau in die … wie hieß die Höhle doch gleich? Ich verwechsle diese Höhlen immer.«

Maier schwieg.

»War es nicht bei Schelklingen? Aber natürlich nicht die Sirgenstein-Höhle am Hohle Fels, wo Grote seinerzeit die ältesten Höhlenmalereien der Menschheit entdeckte …«

»Es war der Todsburger Schacht bei Mühlhausen im Täle«, antwortete Maier nun doch.

»Ach ja, richtig. Der ist über 70 Meter tief.«

»Aber nicht, dass Sie denken, Grote sei 70 Meter abgestürzt, Frau Kerner«, griff Maier wieder ein. »Der Todsburger Schacht bildet ein verwinkeltes Schachtsystem. Grote wurde zwar am tiefsten Punkt gefunden, in der Unteren Halle in 72 Metern Tiefe, gestürzt ist er aber wohl nur ungefähr 20 Meter. Er hat es überlebt. Aber seine Frau Sandra starb im Seil.«

»Im Seil?«

»Das passiert öfter, als Sie denken. Wenn jemand nach Steinschlag zum Beispiel am Seil ohnmächtig wird, dann hängt er regungslos im Sitzgurt, und das Blut staut sich in den Beinen. Wird er nicht binnen zehn Minuten aus dem Seil gerettet, dann stirbt er an Blutmangel im Herzen. Und Grote konnte Sandra nicht retten, denn er lag bewusstlos und schwer verletzt unten in der Halle.«

»Hinterher gab es allerdings eine gerichtliche Untersuchung«, ergänzte Münzer. »Sandras Familie war und ist der Meinung, Grote habe zumindest grob fahrlässig gehandelt.«

»Wieso?«

»Die offizielle Version lautete«, schnitt Maier Münzer das Wort ab, die schon Luft geholt hatte, »Sandra habe sich im Seil verletzt, Grote habe versucht sie zu retten, habe dabei aber einen Fehler gemacht und sei abgestürzt. Die technischen Details kann ich Ihnen leider nicht erklären. Ich bin kein Fachmann.«

Miriam schauderte, wenn sie sich vorstellte, was der kleine Tido bereits durchgemacht hatte. Seine Mutter tot und sein Vater schuld daran. Kein Wunder, dass er sich kaum auf den Unterricht konzentrieren konnte. Rechtschreibung und Kopfrechnen mussten ihm banal vorkommen, verglichen mit den existenziellen Problemen, die er seit seinem sechsten Lebensjahr zu meistern hatte. Miriam wollte nicht fragen, wer Diana war, aber offenbar hatte Grote wieder eine neue Frau oder Freundin. Und dann erschien sie, Tidos Klassenlehrerin, und nannte seinen Vater einen Feigling, weil er sich weigerte, einem von Tidos Klassenkameraden zu helfen. Was musste der Junge sich für seinen Vater geschämt haben!

Inzwischen waren weitere Kolleginnen und Kollegen eingetrudelt. Auch sie hatten das Reutlinger Tagblatt gelesen und bedachten Miriam mit Kommentaren.

»Unsere Lebensretterin spült die Kaffeetassen«, bemerkte die Hauswirtschaftslehrerin Karbacher. »Sehr verdienstvoll.«

»Nein, ich spüle nur eine Tasse für mich«, widersprach Miriam.

Maier lachte.

Peinlich berührt versuchte sie sich auf die Tasse zu konzentrieren. Die Kaffeereste waren übers Wochenende so eingetrocknet, dass es die Bürste kaum schaffte. Hinter ihr herrschte das morgendliche Kramen und Gemurmel. Am Kopierer bildete sich eine Schlange. Münzer verteilte die Hefte neu auf ihre Taschen.

»Die Jungs wären ja nicht die Ersten«, sagte Turnlehrer Häger, »die sich mit bloßen Händen an einem Seil in eine Höhle hinablassen. Dabei hätte Heiko es eigentlich besser wissen können. In der Turnhalle hat er es noch nie das Kletterseil bis ganz nach oben geschafft. Aber wahrscheinlich hatte Volker wieder mal das große Maul, war aber dann zu feige, als Erster einzusteigen.«

»Aber das Seil ist doch ohnehin abgerissen«, sagte Monika Elster, eine ebenfalls sehr junge Kollegin, die aus Ulm kam. »Ein Glück, dass die Höhlenrettung so schnell zur Stelle war. Man stelle sich vor, der Junge hätte die Nacht über in der Höhle gelegen. Wo es doch jetzt schon nachts Frost geben kann.«

»In Höhlen in unseren Breiten herrscht eine konstante Temperatur von acht Grad«, bemerkte Maier trocken.

»Acht Grad reichen für eine Unterkühlung«, verteidigte sich Elster. »Der Junge war doch gar nicht richtig angezogen. Jedenfalls war es ein großes Glück, Frau Kerner, dass Sie so schnell reagiert und gleich die Höhlenrettung alarmiert haben. Ich weiß nicht, ob ich so geistesgegenwärtig gehandelt hätte.«

Miriam öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber sie kam nicht dazu.

»In der Zeitung steht«, sagte Münzer, »dass Volker noch versucht hat, sich mit Hilfe der eigenen Hose hinabzulassen. Auf was für Ideen Kinder so alles kommen. Wahrscheinlich sehen sie so etwas im Fernsehen. Die Kinder sitzen ja heute nur noch vor dem Fernseher und gehen gar nicht mehr raus …« Münzer merkte, dass sie in die falsche Rille geraten war, und unterbrach sich. »Aber Gott sei Dank hat Volker am Ende seiner Mutter doch noch alles gebeichtet.«

Die Kaffeemaschine bekam ihren abschließenden Schluckauf.

»Vielleicht«, sagte Miriam in die Stille, »vielleicht sollten wir nicht nur heute in unseren Klassen über die Sache reden.« Sie sah alle Augen auf sich gerichtet und schluckte. »Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, ob wir nicht einen Unterrichtsschwerpunkt zum Thema Speläologie machen.«

»Zu was bitte?«, fragte Elster.

»Speläologie ist die Wissenschaft, die sich mit der Erforschung von Höhlen befasst. Fossilien, Fauna, Tropfsteine, Wasserhaushalt«, erklärte sie. »Wir könnten doch fachübergreifende Projektwochen machen und am Schluss ein … ein Höhlenlager veranstalten mit praktischen Übungen am Seil in einem Steinbruch, Sicherheitsmaßnahmen, Erste Hilfe und Abstieg in einen Schacht.«

Es war mucksmäuschenstill im Lehrerzimmer.

Miriam verstand das völlig falsch und fuhr begeistert fort: »Nirgendwo in Deutschland gibt es so viele Höhlen wie hier. Und genauso wie die Kinder an der Nord- oder Ostsee schwimmen können sollten, sollten unsere Kinder wissen, wie man eine Höhle begeht. Wir machen Ausflüge in die Bärenhöhle und ins Naturkundemuseum nach Stuttgart. Außerdem gibt es doch sicher einen Höhlenverein, der uns dabei helfen könnte, das abschließende Höhlenlager zu organisieren. Oder wir fragen Herrn Grote.«

Miriam sah, wie sich Maier mit einem spöttischen Lächeln in seinem Stuhl zurücklehnte, und blickte sich um. Auf den Gesichtern der anderen stand Skepsis.

»Da müsste man natürlich vorher die versicherungsrechtlichen Fragen klären«, sagte Häger. »Bevor wir die Kinder an Seilen herumklettern lassen.«

»Außerdem machen wir mit jeder dritten Klasse einen Ausflug zur Bärenhöhle«, bemerkte jemand anders.

»Ich dachte ja nur …« Miriam schluckte den Rest hinunter. Man hatte sich augenblicklich wieder Taschen, Büchern, Heften oder dem Kopierer zugewandt. Eine Viertelstunde vor Unterrichtsbeginn gab es wie immer viel zu tun. Man musste ihnen sicherlich nur Zeit lassen.

Rektorin Obermann steckte den Kopf zur Tür herein, rief ihr »Guten Morgen!« und war schon halb wieder raus, ehe das Kollegium im Chor geantwortet hatte. Miriam kannte die resolute und immer frappierend elegante ältere Dame bislang nur zwischen Tür und Angel und in Eile.

»Na, geben Sie mir auch ein Tässchen ab, Frau Kerner?«

Maier stand plötzlich neben ihr, den eigenen Kaffeebecher in der Hand, den er stets in seiner Aktentasche verwahrte. »Niemand kocht so guten Kaffee wie Sie.«

»Kochen tut die Maschine.« Miriam zog die volle Kanne heraus. Der Kaffee schwappte aus der Tülle und zischte auf der Heizplatte.

»Na, schlecht geschlafen?«, erkundigte sich Maier. »Oder gab es Streit daheim beim Liebsten in Stuttgart?«

Miriam konnte nicht verhindern, dass sie ihm wie ertappt in die blauen Augen schaute. Maier war schlecht rasiert, wie sie aus der Nähe feststellen konnte. Eigentlich war er derjenige, der aussah, als habe er schlecht geschlafen.

»Ja, ja«, redete er vor sich hin, während sie ihm Kaffee einschenkte. »Das ist alles nicht so einfach. Da verschickt das Staatliche Schulamt junge Pädagoginnen aufs Land und trennt das junge Glück. Was macht denn Ihr Freund beruflich?«

»Er studiert noch. Milch?«

»Danke, gern. Und was studiert er?«

»Philosophie.«

»Oh. Darf ich raten? Im vierzehnten Semester, Sohn wohlhabender Eltern, Vater Chefarzt oder Professor?«

Miriam senkte den Blick. »Oliver schreibt gerade seine Magisterarbeit.«

»Worüber? Über die sozio-philosophische Rechtfertigung des puren Egoismus? Und Sie sind das fleißige Lieschen aus bescheidenen Verhältnissen. Wenn Sie Freitagabend heimkommen, dann spülen Sie Berge von Geschirr und saugen die Wohnung. Und Samstagfrüh einkaufen. Aber von Ihren Höhlenabenteuern will er nichts wissen. Stimmt’s oder hab ich recht?«

»Zucker?«, erkundigte sich Miriam betont kühl.

»Nein danke«, sagte er. »Ich muss ein bisschen aufpassen mit dem Zucker. Und ärgern Sie sich nicht so. Unsere neuen jungen Kolleginnen tappen alle in die Kaffeefalle. Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Halten Sie sich mal drei Tage ein bisschen zurück mit dem Kaffeemachen. Dann werden Sie den undankbaren Job vor Schuljahresende auch wieder los. Was Ihnen natürlich schwerfällt, sozial verantwortungsbewusst, wie Sie sind.«

Miriam musste lachen.

Er senkte seine Adlernase in den Kaffeebecher und blickte sie über den Rand hinweg an. »Schade«, sagte er nach dem ersten Schluck, »dass Sie mich nicht recht leiden können.«

Ihr wurde plötzlich klar, warum sie ihn nicht leiden konnte: wegen solcher Sätze wie diesem. Er wurde ihr zu persönlich und brachte sie gezielt in Verlegenheit. Aber das konnte sie ihm nicht einfach so ins Gesicht sagen. Er war mindestens 30 Jahre älter als sie.

»Zugegeben«, fuhr er in seinem immer etwas ironischen Tonfall fort, »ich bin etwas aufdringlich. Aber es ist vielleicht schon bis zu Ihnen durchgedrungen, dass ich seit zehn Jahren Witwer bin. Meine Abendunterhaltung mit dem Fernseher ist etwas einseitig. Wandern Sie gern?«

»Keine Ahnung. Ich bin nie gewandert.«

»Dann wird es aber Zeit! Bad Urach zum Beispiel hätte viel zu bieten. Den Wasserfall, die Falkensteiner Höhle …«

»Ich habe derzeit leider viel zu tun. Es ist meine erste eigene Klasse. Und am Wochenende bin ich natürlich meist in Stuttgart.«

»Natürlich.« Er wollte sich schon abwenden, entschied sich aber anders. »Sagen Sie, Frau Kerner, was muss ich tun, damit Sie auf meine Avancen anspringen und wenigstens einen kleinen Besuch zum Kaffee absolvieren? Und wer weiß, ob Sie wirklich künftig jedes Wochenende nach Stuttgart fahren. So ein Wochenende in einem Dorf auf der Alb kann ganz schön lang werden. So, und jetzt sind Sie perplex und wissen gar nicht mehr, was Sie sagen sollen.«

Miriam war eher gerührt.

»Aber ich will Sie natürlich nicht bedrängen.«

»Ach nein?« Miriam grinste. »Aber Sie haben recht. Und ich würde gerne einmal auf einen Kaffee bei Ihnen vorbeikommen. Sie können mir sicher eine ganze Menge über die Gegend und die Leute hier erzählen.«

Maier erwiderte ihr Lächeln. »Danke. Ich weiß Ihr Opfer sehr zu schätzen. Und ich kann Ihnen hoch und heilig versprechen, dass ich Sie nicht nötigen werde, länger zu bleiben, als Sie wollen. Außerdem bin ich alt genug, um auch gelegentlich ein guter Zuhörer zu sein.«

Miriam lachte. »Dann machen wir doch am besten gleich etwas aus. Unter der Woche habe ich aber wirklich zu viel zu tun. Die ganze Unterrichtsvorbereitung … und Regale für meine Bücher muss ich auch noch suchen. Aber … aber am Wochenende müsste es gehen. Sagen wir, am Samstag um drei?«

»Samstag? Haben Sie sich das auch gut überlegt? Aber gut. Ich bin auch nicht beleidigt, falls Sie kurzfristig umdisponieren müssen.«

»Das muss ich sicherlich nicht.«

Sie hatte den Eindruck, dass er hinter seiner Kaffeetasse ein Grinsen unterdrückte. Immerhin sprach er nicht aus, was beide dachten. Und dafür war Miriam ihm dankbar, denn sie war doch etwas erstaunt darüber, mit welcher Entschlossenheit sie ihr Wochenende verplante. Auf einmal wurde ihr klar, wie sehr sie sich darüber ärgerte, dass Oliver bei ihrem Umzug nach Trochtelfingen keinen Finger gerührt hatte. Sein einziges Interesse an ihrem Beruf bestand darin, mit ihr über die pädagogische Unfähigkeit von Lehrern und verfehlte Schulpolitik zu diskutieren. Sollte er doch sehen, wie er das nächste Wochenende allein klarkam. Sie war weder seine Spülmaschine noch seine Tippse, die seine Magisterarbeit in den Computer eingab.

Mittlerweile waren die meisten Kollegen im Aufbruch begriffen. Münzer hatte sich entschlossen, die Klassenarbeitshefte nicht in der Tasche, sondern auf dem Arm in die Klasse zu tragen. Auch Miriam ging zu ihrem Platz und nahm Diktathefte und Kreideschachtel.

»Übrigens«, sagte Maier währenddessen laut in die Runde. »Ich finde die Idee mit den Höhlenprojekttagen gut. Wir sollten auf der nächsten Konferenz darüber reden. Bis dahin werde ich auch die versicherungsrechtlichen Fragen geklärt haben.«