Das Geheimnis eines guten Lebens - Carl Achleitner - E-Book

Das Geheimnis eines guten Lebens E-Book

Carl Achleitner

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Beschreibung

Mehr als zweieinhalbtausend Trauerreden hat Carl Achleitner bereits gehalten. Er hat sich dafür mit dem Lebensweg der Verstorbenen befasst und mit ihren Angehörigen gesprochen. In diesem Buch nähert sich der Mann mit der sanften Stimme und dem schwarzen Anzug mit Leichtigkeit und Heiterkeit dem einen großen Geheimnis an: Was es ist, das am Ende zählt und uns unvergesslich macht.

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Seitenzahl: 232

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Carl Achleitner:Das Geheimnis eines guten LebensAlle Rechte vorbehalten

© 2020 edition a, Wienwww.edition-a.at

Mitarbeit und Lektorat: Andreas GörgCover und Satz: Isabella StarowiczCoverfoto: Stefan Knittel

ISBN Druckversion 978-3-99001-437-0ISBN E-Book 978-3-99001-438-7

E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Alle Geschichten in diesem Buch haben so oder so ähnlich stattgefunden. Um niemandes Privatsphäre zu verletzen, habe ich allerdings sämtliche Namen verändert und die geschilderten Begräbnisse nicht 1:1 erzählt, sondern aus den über 2.500 Abschieden, die ich bisher begleiten durfte, verwoben. Wenn Klarnamen vorkommen, dann nur solche von Personen des öffentlichen Lebens, oder mit ausdrücklicher Erlaubnis der jeweiligen Familie.

Für ABVM

Du musst dir alles geben,Dämmern und Morgenrot.Unendlich lass dich leben,oder bleib ewig tot.

Konstantin Wecker

Inhalt

Edi hat ein Rendezvous

Berufung finden

Liebe ist …

Freundschaft

Schmerz und Trost

Humor

Sterben, gut und schön

Versöhnung

Verzeihen

Edi legt den Hobel hin

Zum guten Ende …

Danksagung

Edi hat ein Rendezvous

Grau in Grau. Feuchte, windige Kälte kriecht einem durch die Thermo-Unterwäsche bis in die Knochen. »Ich freu’ mich, wenn’s regnet, denn wenn ich mich nicht freu’, regnet es auch«, flüstert mir Karl Valentin zu. Aber der hat leicht reden, der ist tot. Sauwetter, denke ich, als ich die Bäckerei betrete.

»Begräbniswetter«, höre ich jemanden vor mir sagen. Klar, das assoziieren wir. Für die meisten ist das so leicht dahingesagt. Für mich ist jeden Tag Begräbniswetter. Würden Sie mich nach meinem Beruf fragen, dann würde ich am liebsten sagen: über das Leben reden. Sie würden dann wahrscheinlich den Kopf schütteln, wenn Sie erfahren, was ich tatsächlich mache. Ich bin Trauerredner. Vor ein paar Jahren hätte ich selbst noch meinen Kopf darüber geschüttelt.

Während für die meisten Menschen der Gang zum Friedhof etwas Außergewöhnliches ist, ist es für mich Alltag. Für viele mag der Friedhof ein Ort des Schmerzes und des Schreckens sein. Für mich ist er der schönste Arbeitsplatz der Welt. Ich halte meine Reden in der Sommerhitze am Grab oder bei Minusgraden in zugigen Kapellen. Oder wie heute in der prachtvollen Aufbahrungshalle in Brunn am Gebirge, südlich von Wien. Ich bestelle meine Melange. Die Bäckereiangestellte trödelt. Ich schaue auf die Uhr. Pünktlichkeit ist wichtig in meinem Beruf. Zu spät kommen wäre eine Katastrophe. Deshalb bin ich prinzipiell immer eine Stunde vor Beginn vor Ort. Das gibt mir Zeit, in Ruhe anzukommen und in die jeweilige Lebensgeschichte einzutauchen. Für die mir anvertrauten Menschen ist der Tag des Abschieds etwas Einzigartiges, nicht Wiederholbares. Wenn der Tod auf Besuch kommt, bleibt die Welt kurz stehen.

Ich parke mein Auto an der Mauer mit den kahlen Weinreben, die jetzt im Winter wie tot aussehen und doch im Frühjahr die ganze Wand mit üppigem Grün überwuchern werden. Mit meiner Mappe in der Hand gehe ich den schmalen Weg entlang zur Aufbahrungshalle, die von manchen Menschen fälschlicherweise als Aufbewahrungshalle bezeichnet wird. Ich weiß nicht, das wievielte Mal ich schon hier bin. Es ist einer der Friedhöfe, die ich ganz besonders mag. Die Halle ist an der Decke hell verkleidet, Malerei von Herwig Zens an den Wänden, ein bunter Totentanz, viel Tageslicht fällt in den Raum.

Der Arrangeur ist auch schon da. Wir kennen uns lange. Ich mag ihn und verzeihe ihm, dass er sagt: »Nichts Besonderes, kleiner Kreis.« Sobald die Leute da sind, ist er Profi, der sich in über zwanzig Jahren Berufserfahrung Pietät und Menschlichkeit bewahrt hat. »Nur ein Gesteck und acht Rosen … Schauen wir mal, wie wir das verteilen, damit es gut ausschaut.«

Ich nicke. Das Arrangieren der Blumen und Kränze ist namengebender Teil des Anforderungsprofils eines Arrangeurs. Wir gehen gemeinsam unsere Listen durch.

»Zwei Lieder.« Er tippt auf seinen Zettel. »Schlusslied ›Sag beim Abschied leise Servus‹ in der Version von Peter Alexander; und zum Einzug des Dings, des Er vom Beethoven.«

»Air von Bach meinst du?«, frage ich.

»Air oder Sie, is’ eh des Gleiche«, meint er und macht einen Soundcheck.

Fünfzig Minuten bis zum Beginn. Noch niemand da. Ich hatte im Vorfeld Kontakt mit Gabi, der Tochter der im 87. Lebensjahr Verstorbenen Maria Binder und weiß, dass sie für Ihren Mann Eduard nicht die »Maria« war, sondern die »Mitzi«. So werde ich sie auch in meiner Rede ansprechen. Ich bin gut vorbereitet. Zeit, die Eckpunkte noch mal durchzugehen. Ich schlage meine Mappe auf, krame in meinen Unterlagen, suche nach dem Manuskript. Ich finde alles Mögliche. Mein ganzes Repertoire an Texten und Zitaten, von Jean Paul über Marie Curie bis Heinz Rickal, von Goethe, Seneca, Eli Wiesel, Annette von Droste-Hülshoff, Astrid Lindgren, Thomas Bernhard, Barbara Pachl-Eberhart, Herman Hesse, Bazon Brock, Grönemeyer, Reinhard Mey, Ambros und Wecker zu Henry Scott Holland, Marc Aurel, Marie von Ebner-Eschenbach, Mascha Kaléko, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Antoine de Saint-Exupery, Woody Allen, Dietrich Bonhoeffer, Bertha von Suttner, Janis Joplin, Albert Schweitzer bis zu meinem Vater. In acht Jahren Dienst als Trauerredner sammelt sich so einiges an, gewisse Bausteine, beliebte Gedichte, die ich immer wieder in meine Reden einfließen lasse. Ich finde alles. Nur kein Manuskript. Mir wird heiß. Ich blättere noch einmal alles durch, dann ist es sicher: Ich habe meine Notizen zu Hause vergessen. Das ist mir noch nie passiert. Bei 2.500 Begräbnissen ist schon alles Mögliche vorgekommen. Ich habe Namen falsch ausgesprochen, war statt in Sievering in Simmering zur falschen Zeit am falschen Ort, habe auch schon eine Rede ohne einen einzigen Trauergast gehalten, habe mich über feindselige Arrangeure geärgert, am Sarg von Kindern oder Jugendlichen mit Gott gezürnt, habe während einer Rede die Stimme verloren, bin sogar einmal zu spät gekommen. Aber noch nie, nie habe ich mein Manuskript vergessen.

»Ich muss noch mal los«, rufe ich dem Arrangeur zu, der bereits die Kerzen, die in Edelstahlstelen um den Sarg herum stecken, anzündet.

Ein Sprint zum Auto, ein Blick auf die Uhr. Das kann sich niemals ausgehen. Auf dem Weg zurück zur Aufbahrungshalle schwöre ich mir, meine Smartphone-Verweigerung endlich aufzugeben. In meinen E-Mails würde ich die wichtigsten Informationen finden, aber mit meinem zwölf Jahre alten Nokia kann ich nur telefonieren, sonst nichts. Ich frage den Arrangeur, ob er ein Handy mit Internet hat.

»Du nicht?«, schmunzelt er und zieht seines aus der Hosentasche. Ich bedanke mich, atme tief ein und aus, gebe nur zweimal das Passwort für meinen E-Mail-Account falsch ein. Der Arrangeur wirft mir einen mitleidigen Blick zu. Es ist ein ehrliches Mitleid. Vor einem Monat hat er vergessen, die CD mit der gewünschten Musik mitzunehmen. Fehler passieren. Auch hier am Friedhof, gerade hier, wo wir unter Druck in einer Extremsituation arbeiten, wo nichts schiefgehen darf.

Ein Blick auf die Uhr beruhigt mich. Es ist noch etwas Zeit. Genug Zeit, um meine Stichworte aus dem Handy abzuschreiben. Die wichtigsten Punkte habe ich ohnehin im Kopf. Wenn ich etwas in den letzten acht Jahren als Redner gelernt habe, dann ist es, den Dingen die richtige Wertung zu geben. Täglich mit dem Tod beschäftigt zu sein, lässt alles, was passiert, in einem anderen Licht erscheinen. Als der Friedhof in mein Leben gekommen ist, ist, so komisch das klingen mag, auch Leichtigkeit mit eingezogen. Aber erst mal zurück zur Rede.

Maria Binder, Jahrgang 1931, vor einer Woche nach langer Krankheit gestorben. Mitzi, die natürlich, obwohl 86-jährig, nicht nur Großmutter, alte Frau und eine der ersten Direktorinnen einer Wiener Ganztagsschule war, sondern auch mal Baby, Kind, Jugendliche, junge Frau, Geliebte, und die bis zuletzt immer noch Ehefrau und Mutter war. Mutter von Gabi. Die sitzt mir wenig später in der kleinen Kammer neben der Aufbahrungshalle gegenüber. Obwohl Gabi schon Anfang sechzig ist, mit schwarzem Kostüm und knappem Hut, wird sie vor meinen Augen wieder zur kleinen Tochter, mit Blick nach unten und ineinander geknoteten Fingern. Währenddessen sitzt der Witwer Eduard, neunzig, ehemaliger Polizist und in seiner Jugend in Ottakring nur »der fesche Edi« genannt, mit dem Rest der Familie bereits vor dem Sarg. Schweigend. Auf der einen Seite sein Rollator, auf der anderen seine zwölfjährige Urenkeltochter Lena, die seine Hand hält.

»Machen Sie es schlicht, es gibt nicht viel zu sagen«, meint Gabi.

»War sie eine gute Mutter für Sie?« frage ich die heikelste aller Fragen.

»Die Beste«, antwortet Gabi ohne das geringste Zögern.

Das ist schon viel, denke ich. »Also hinterlässt sie Spuren der Liebe?«

»Spuren? Canyons!« Gabi erzählt, was für ein schönes Liebespaar ihre Eltern waren. »Er hat sie auf Händen getragen, seit 71 Jahren, sie war damals 16. Er hat sie die letzten vier Jahre gepflegt, gefüttert, gewaschen, gewickelt und bespaßt, bis er selber nicht mehr konnte.«

Das ist sehr viel, denke ich. Ich frage, ob ich mich bei ihrem Vater vorstellen darf. Gabi stimmt zu, gemeinsam gehen wir zu ihm. Da sitzt er, der Binder Edi, in einem eleganten Dreiteiler, mit akkurat gestutztem David-Niven-Bärtchen, dezent nach Lavendel duftend. Ich stelle mich vor und kann mir ein »Wow, Sie haben sich aber fesch gemacht« nicht verkneifen.

»Das ist unser letztes Rendezvous«, antwortet er mit brüchiger Stimme und blickt traurig lächelnd zum Sarg. In diesem Moment würde ich ihn am liebsten einfach nur in den Arm nehmen. Eine stumme Umarmung, habe ich irgendwo gelesen, sei die wirksamste Art zu trösten. Aber das geht für mich als Trauerredner natürlich nicht. Meine Aufgabe ist es, Worte zu finden, wo Worte eigentlich zu klein sind, um dem Geschehenen gerecht zu werden.

Wenn ich meinen Dienst tue, dann tue ich das in dem Wissen, dass ich nichts ändern kann. Ich kann dem Edi seine Mitzi nicht zurückgeben. Ich kann auch den Schmerz nicht von ihm und all den anderen Trauernden nehmen. Aber ich kann versuchen, den Abschied so zu begleiten, dass Edi und seine Familie ein klein wenig getröstet nach Hause gehen. Das ist immer mein Ziel. Dass sie nach einiger Zeit nicht mit Schrecken, sondern mit guten Gefühlen an diesen Tag zurückdenken.

Der Arrangeur fragt: »Bist du bereit? Es geht gleich los.«

Ich muss daran denken, dass er es war, der mir in meiner Anfangszeit sein Motto durch eine einfache Geste veranschaulicht hat: »So klein …«, zwei Zentimeter zeigt er mit Daumen und Zeigefinger als Größe an, »… kommen die Leute hier herein. In die Aufbahrungshalle, wo sie den Sarg erstmals sehen. Und so groß …«, er erweitert den Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger auf fünf Zentimeter, »… sollen sie wieder hinausgehen.«

Das hat mir imponiert. Es geht nicht darum, mit den Trauernden, die mir täglich gegenübersitzen, mitzutrauern. Ich kann nicht um jemanden trauern, den ich nicht kannte. Aber ich kann, ich muss, nein ich darf mich von den Gefühlen der Trauernden berühren lassen, mich in sie einfühlen und erspüren, was sie brauchen. Was tröstlich sein kann.

Es ist heute wirklich eine kleine Trauergemeinde. Das Lampenfieber ist trotzdem da. Es ist immer das Gleiche, egal ob ich vor einer Handvoll oder vor hundert Leuten spreche. Einen Unterschied macht es für mich nur, wenn ich den Verstorbenen gut kannte und selbst in Trauer bin, aber dazu später mehr. Ich stehe an meinem Platz im Hintergrund und warte auf meinen Einsatz, lutsche die Reste eines Halsbonbons, wippe mit meinen Füßen auf und ab, balle meine Hände zusammen. Das Adrenalin schießt ein. Etwa dreißig Sekunden vor Ende des »Air oder Sie« bekomme ich ein Zeichen vom Arrangeur. Langsam gehe ich los, trete vor den Sarg, lege meine rechte Hand auf mein Herz, verneige mich vor der toten Mitzi und verspreche ihr, mein Bestes zu geben. Niemand von uns weiß, was nach dem Tod wirklich ist. Ob alles aus ist, es uns einfach nicht mehr gibt? Oder ob wir doch weiterleben? Auf der anderen Seite des Weges? Ob die Mitzi vielleicht alles mitkriegt aus ihrer jenseitigen Perspektive? Wenn ich selbst in hoffentlich erst vielen, vielen Jahren sterbe, dann möchte ich nicht, dass sie im Jenseits auf mich zukommt und sagt: »Was hast du denn da für einen Schmarren geredet bei meinem Begräbnis?«

Im Ernst: Jede Rede richtet sich vor allem an die Hinterbliebenen, an Menschen in einer Ausnahmesituation, die trostbedürftig sind. Aber ich möchte schon auch vor den Verstorbenen bestehen, an deren Sarg ich letzte Worte sprechen darf. Die Vorstellung, Mitzi wäre anwesend, hilft mir. Ich drehe mich um. Ein Blick in Edis Augen sagt mir: Mitzi ist anwesend.

Vier Generationen sitzen um ihn herum. Mitzis Schwester Martha in der zweiten Reihe dürfte über neunzig sein. Sie hält ein Taschentuch vor ihre Augen. Neben ihr ist Pepi, ihr Mann, mit gesenktem Kopf. Ebenfalls in der zweiten Reihe Gabis Mann Albert, der sich nach vorn beugt und Gabi die Hand auf die Schulter legt. Gabi wiederum hält Edi am Oberarm. Mitzis Enkelin Michaela, selbst schon Mutter, und ihr Lebensgefährte Stefan schauen besorgt zu ihrer zwölfjährigen Tochter, der Urenkelin Lena. Die musste schon im Vorfeld viel um ihre Uroma weinen. Jetzt hält sie tapfer Edis Hand. Gabi schenkt mir ein ermutigendes Lächeln. Edi hat nasse Augen. Die Trauer ist so groß in diesem Moment, so spürbar.

Ich muss mich räuspern. »Man sieht die Sonne langsam untergehen und erschrickt doch, wenn es plötzlich dunkel wird«, beginne ich die Rede. Ein Satz, der Franz Kafka zugeschrieben wird. Edi blickt auf, nickt. Wer könnte in diesem Moment die ganze Tiefe dieser Metapher besser nachfühlen als er?

Auf den eigenen Tod können wir uns einigermaßen vorbereiten. Auf den eines geliebten Menschen nicht. Wir Menschen sprechen zwei Sprachen. Die eine, die Ratio, sagt uns: Okay, Mitzi war 86 Jahre alt, hatte ein reiches, erfülltes Leben. Die letzten vier Jahre war sie krank, pflegebedürftig, musste einen Leidensweg gehen. Der Tod war eine Erlösung für sie. Das stimmt auch alles. Aber da ist eben auch die andere Sprache, jene des Herzens, die Sprache der Gefühle. Und da tut es einfach furchtbar weh. »Traurig wäre, wenn es nicht traurig wäre«, sage ich. Edi nickt, auch Gabi.

Ich sehe in tieftraurige Gesichter. Alle halten einander. Michaela hat den Arm um Gabi gelegt, Martha reicht eine Taschentuchpackung in die vordere Reihe.

Ich spreche davon, dass jede Träne, die fließt, jeder empfundene Schmerz, eine Entsprechung der Liebe zu Mitzi ist. Dass für Edi der Schmerz beim letzten Rendezvous der Preis für 71 Jahre Liebe ist. Und davon, dass es der Abschied von Mitzis sterblicher Hülle ist, aber niemals von den Spuren, die ihre Liebe in seinem Leben hinterlässt. Ich spreche vor allem Edi an, gemeint sind damit aber alle. »67 Jahre waren Sie verheiratet, ohne einen einzigen Ehestreit«, sage ich, als ob ich’s glauben würde.

Da muss der Edi erstmals schmunzeln. »Naja, ab und zu waren wir schon auch per Sie«, erwidert er.

Das sind die Momente, die ich ganz besonders liebe. Wenn aus der Rede plötzlich ein Miteinander-Reden wird. Das geht nicht immer. Heute schon. »67 Jahre verheiratet, 71 Jahre zusammen, und, Sie wissen doch, Edi: niemand kann Ihnen einen einzigen Augenblick aus diesen 71 Jahren wegnehmen. Denken Sie nur daran, wie sie sich kennengelernt haben …« sage ich und erzähle die Geschichte, die Gabi im Vorfeld erwähnt hat. Im eisigen Jänner 1947, Wien lag in Trümmern, es herrschten Mangel und auch Hunger. Da ist Edi wie viele andere aufs Land zum Hamstern, also um irgendwo Lebensmittel aufzutreiben. Dabei hat er einmal bei einem Bauern nahe Rappoltenkirchen übernachtet, im Heustadel. Am nächsten Morgen hat Mitzis Schwester Martha ihm ein Frühstück gebracht, ein Butterbrot.

Edi nickt. »Das war etwas Besonderes in einer Zeit, wo wir Wurzeln gefressen haben, und Ratten.«

Edi war von Martha so angetan, dass er am nächsten Abend zu ihr »Fensterln« gegangen ist. Aber er hat sich im Fenster geirrt und versehentlich bei Mitzi geklopft.

Edi lächelt, Martha und Pepi ebenso.

»Damals hätten Sie sich wohl nicht träumen lassen, dass daraus 73 gemeinsame Jahre werden, oder?

Sie und die Mitzi haben in einander das gefunden, was wohl jeder Mensch sucht, was aber nur die Wenigsten finden: die große Liebe fürs ganze Leben.«

Edi nickt.

»Uropa, was ist Fensterln?«, fragt die kleine Lena.

Alle schmunzeln.

»Frag die Mama«, antwortet Edi.

Ich spreche Lena direkt an. Meistens frage ich vorab die Eltern, ob ich die Kinder ansprechen darf. Heute riskiere ich es ungefragt und verspreche Lena, dass die Traurigkeit irgendwann weggehen wird, aber die Uroma nicht. »Die bleibt bei dir, so lange du selbst auf dieser Welt bist.«

Das ist meine Erfahrung mit meinem Opa, auch dazu später. Gabi ist stark. Mit ihr wechsle ich Blicke, das genügt. Ich wende mich wieder an Edi. »Sie haben 1952 geheiratet. Damals, beim Heiraten, haben Sie der Mitzi ein großes Versprechen gegeben. Sie haben ihr versprochen, sie zu lieben und zu achten, in den guten, und auch in den schlechten Zeiten. Sie haben die guten Zeiten erlebt, haben der Gabi das Leben geschenkt, die Mitzi war nicht nur eine gute, sondern, Zitat Gabi: ›Die beste Mama‹. Glückliche Jahre, schöne Zeiten. Und dann verschweigen Sie, dass Sie auch in den schlechten Zeiten an ihrer Seite waren? Sie gepflegt haben, vier Jahre lang. Wenn ich einen Hut hätte, ich würde ihn vor Ihnen ziehen. Wenn man jung und verliebt ist, Fensterln geht, wenn die Sonne scheint und man vor Lebenskraft nur so strotzt, ist es nicht so schwer, sich zu lieben. Aber wenn irgendwann Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Demenz daherkommen, dann beweist sich doch erst die echte Qualität einer Liebe, eines Versprechens. Sie und Mitzi haben Ihrer Familie vorgelebt, dass es möglich ist: dass es die große Liebe fürs ganze Leben tatsächlich gibt.«

Gabi wendet sich um zu ihrem Mann Albert. Der senkt den Blick.

»Niemand, den wir wirklich lieben, ist jemals tot«, fahre ich fort. Worte, die an normalen Tagen vielleicht platt klingen oder kitschig, werden im Angesicht des Todes auf ihre Gültigkeit überprüfbar. Was im Alltag vielleicht wie ein Klischee klingt, bekommt in diesem Moment eine tröstliche Kraft und Wahrhaftigkeit. Warum das so ist? Vielleicht, weil wir uns, so unterschiedlich wir unsere Leben auch leben mögen, in unserer Trauer doch ähnlich sind.

»Leuchtende Tage! Nicht weinen, dass sie vorüber sind. Lächeln, dass sie gewesen«, zitiere ich Konfuzius.

Edi sieht mich an und nickt wieder. Auch für ihn sind es in diesem Moment des Abschieds keine platten Worte.

Ich nicke ebenfalls, mache eine kurze Pause und beschließe meine Rede mit einem Satz von Antoine de Saint-Exupery: »Wenn ihr mich sucht, dann sucht mich in eurem Herzen. Habe ich dort einen Platz gefunden, dann bin ich immer bei euch.«

Ich gehe ab. Der Arrangeur kommt und verabschiedet sich mit einer Verneigung von der Toten. Die Träger stehen bereit, in ihren schwarzen Umhängen, mit Dragonerhut, einer Spezialität dieses Bestattungsunternehmens. Die Trauergäste sind noch etwas versunken. Als erstes steht die kleine Lena auf, streicht ihrer Mutter über die Wangen und zieht sich ihre Jacke an. Gabi und Michaela nehmen sie in die Mitte. Edi deutet: ›Ich komm schon alleine zurecht.‹ Der Arrangeur gibt den vier Sargträgern ein leises Kommando. Sie gehen in Zweierreihe im Gleichschritt los, vom Eingang in Richtung Sarg. Da schneidet ihnen Edi mitsamt seinem Rollator den Weg ab. Die Träger geraten aus dem Gleichschritt, einer stolpert, seine Kollegen können ihn und seinen Dragonerhut gerade noch fangen.

Edi schlurft schnurstracks auf den Sarg zu, bis er ganz nahe davorsteht. »Mitzimausi, ich danke dir«, ruft er, und das aus tiefster Seele. »Ich habe mit dir das beste Leben gehabt, das ich mir vorstellen kann. Danke, dass du immer da warst. Danke, dass du mich so lange ausgehalten hast. Danke für alles.« In die darauffolgende Stille hinein flüstert er ein letztes »Ich liebe dich!«, gibt dem Sarg ein Busserl und zieht sich zurück.

Der Arrangeur spielt das Schlusslied an. Jetzt dürfen die etwas konsternierten Träger ihres Amtes walten. Zu den letzten Klängen von »Sag beim Abschied leise Servus« wird der Sarg auf den Bahrwagen gehievt und mit der großen, schwarzen Samtdecke abgedeckt. Das Sarggesteck kommt an seinen Platz, die Sterbeglocke beginnt zu läuten, wir machen uns auf den Weg zum Grab. Es nieselt, kalt weht der Wind. Trotzdem merke ich, dass ich lächeln muss.

Berufung finden

Einige Jahre davor. »Das wäre doch was für dich.« Meine Frau Ann-Birgit schiebt mir die Zeitung über den Frühstückstisch, deutet auf das Inserat, nimmt einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und sieht mich erwartungsvoll an.

»Trauerredner? … Sicher nicht«, sage ich. »Ganz sicher nicht.« Es ist Winter. Unser Sohn Vitus ist wenige Monate alt. Magdalena, meine Tochter aus erster Ehe, hat ihren 15. Geburtstag vor sich. Damals bin ich schon Ende vierzig, aber immer noch von so manchen Ängsten geplagt, tief in mir drin viel unsicherer, als ich das nach außen scheinen lassen will. Das Leben eines durchschnittlichen Schauspielers hat wenig mit Glamour zu tun. Die Schauspieler, die gut von ihrer Arbeit leben können, sind jene wenigen, die das Publikum namentlich kennt. Für die allermeisten von uns ist dieser Beruf ein ständiges Auf und Ab in einer Zirkuskuppel ohne Netz, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Mal gibt es eine Vielzahl an Drehtagen, Projekte überschneiden sich, sodass man nicht weiß, wo einem der Kopf steht. Dann wieder wochen- oder monatelang nichts, kein Job, als ob die Welt einen vergessen hätte. Dieses Dasein nährte über Jahrzehnte meine Angst, nicht gut genug zu sein. Als Schauspieler, als Ehemann, Vater und überhaupt. Angst vor dem Leben. Angst vor dem Tod. Und Angst vor dem nächsten Banktermin.

Ich bin in einem kleinen Dorf in Oberösterreich aufgewachsen. Meine Kinder- und Jugendzeit war nicht ungetrübt. Nach einer glänzenden Karriere als Schulversager habe ich 1979 eine Koch- und Kellnerlehre im damaligen »Theater Restaurant Casino« (heute »Promenadenhof«) in Linz begonnen. Dort habe ich die Schauspieler des Landestheaters zuerst als Gäste erlebt. Mit 17 habe ich erstmals eine Vorstellung im Theater gesehen. Da hat mich das Theaterfieber befallen. Dementsprechend habe ich den Großteil meiner freien Abende am Stehplatz verbracht.

Als die Lehrzeit zu Ende ging, war klar: Ich will Schauspieler werden. Ich wollte Schauspieler sein, mit allem was dazugehört. Was wirklich alles dazugehört, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt, mit Anfang zwanzig, natürlich noch nicht. Ich wusste nicht um die finanzielle Ungewissheit, um die dicke Haut, die ich mir noch würde zulegen müssen, die trotzdem manchmal Risse bekommen sollte. Aber selbst wenn mir all das damals so klar gewesen wäre: Ich hätte mich immer wieder so entschieden, das weiß ich.

Nun aber, nach mehr als dreißig Jahren Berufserfahrung als Schauspieler, in denen ich neben Erfolgen auch schlimme Phasen der Existenzangst erlebt habe, bin ich ein nicht mehr ganz junger Jungvater. Ich weiß, dass ich etwas tun muss, das mehr Stabilität bringt, etwas Fixes. Einige Tage zuvor habe ich mich im Schweizerhaus – dem schönsten Biergarten Wiens – als Kellner beworben. Dazu inspiriert hat mich der ehemalige Bürgermeister Helmut Zilk, der einmal meinte, dass die Wiener Philharmoniker und die Schweizerhaus-Kellner einiges gemeinsam hätten. Beide seien sie Botschafter Wiens und sie verdienten auch etwa gleich viel. Beides reizt mich, den Job kann ich mir vorstellen. Hingegen täglich auf den Friedhof gehen? Täglich trauernde Menschen um mich haben? Mich täglich mit dem Tod befassen, wo das Leben doch so schön ist?

»Ganz sicher nicht!« wiederhole ich und sehe Ann-Birgit fest in die Augen. Die überhört gekonnt meinen Einwand und liest mir die Stellenanzeige einer gewissen Agentur Stockmeier vor: Ich betreue eine Gruppe von zehn Trauerrednern, die auf Honorarbasis für Bestattungsinstitute in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland Reden bei Begräbnissen halten und nun Verstärkung suchen. Unsere Rednerinnen und Redner sind traditionell bei Trauerfeiern tätig, wenn die Verstorbenen nicht konfessionell gebunden waren. Eine schöne und interessante Aufgabe, bietet sie doch die Möglichkeit, Menschenleben kennenzulernen, sie zu kommentieren und das lebendig zu erhalten, was an einem Dasein wertvoll war.

Gelangweilt täusche ich vor zuzuhören. Aber es bleibt bei meinem Nein.

Zwei Tage später, es ist ein Mittwochnachmittag, sitzen wir wieder am Esstisch beisammen und sichten die Stellenanzeigen, als mein Handy klingelt. Mein Neffe Florian aus Oberösterreich ruft an. Ich hebe ab, höre, was er zu sagen hat, lege auf und schaue in die Leere, die mich in diesem Moment innerlich erfüllt. Als Antwort auf Ann-Birgits fragenden Blick bringe ich nur einen kurzen Satz heraus: »Mein Vater ist tot.«

Es ist tatsächlich, wie manche es beschreiben: Wenn uns eine solche Nachricht ereilt, verschwinden Zeit und Raum für einen kurzen Moment. Mein Vater war im neunzigsten Lebensjahr. Seit Jahren habe ich mich immer wieder gefragt, wie es sein würde, wenn er einmal stirbt. Jetzt ist es passiert.

Ann-Birgit rückt ihren Sessel heran und nimmt mich in den Arm. Schweigend sitzen wir da.

Vor zwei Tagen noch habe ich mit ihm telefoniert. Er war alt, aber nicht krank. Sein Tod kommt plötzlich und überraschend. Er war als Trauergast am Begräbnis einer Jugendfreundin, hat sich beim Leichenschmaus am letzten Bissen verschluckt und ist in den Armen meiner Schwester erstickt.

Im Grunde war er ein sehr weicher Mensch. Was ich besonders an ihm geliebt habe und bis heute liebe, ist seine Großzügigkeit. Er hat mir, als ich schon erwachsen war, mehr als einmal in Notsituationen beigestanden, auch finanziell, obwohl er nicht vermögend war. Mit 19 habe ich einmal nachts heimlich sein Auto »ausgeborgt« und zu Schrott gefahren. Als er das auf dem Dach liegende Wrack gesehen hat, dem ich wie durch ein Wunder fast unverletzt entstiegen bin, hat er mich umarmt und Freudentränen geweint. Der materielle Schaden war ihm egal. Sein Credo war: Keine Bitte bleibt ohne Antwort, kein Spenden-Erlagschein landet im Papierkorb. Er hat viel für soziale Zwecke gespendet. Er hat aber auch ganz konkret in seinem Umfeld geholfen, wenn Menschen in Not waren. Eines Tages stand der Bauernhof eines Freundes in Brand. Ich sehe ihn heute noch, wie er unter Einsatz seiner Gesundheit versucht hat zu retten, was zu retten war. Zu Weihnachten hat er jedes Jahr einen besonderen Fall recherchiert, eine Familie, die einen Schicksalsschlag erleiden musste, und hat diskret und anonym Christkind gespielt. Ganze Kartons voller Lebensmittel und Kleidung hat er vor die Tür gestellt, geklingelt und ist davon. Als ich schon Schauspieler war, war ich selten bei ihm zu Besuch. Wenn er mich am Ende zum Zug nach Zürich oder München gebracht hat, hat er meistens aus Abschiedsschmerz geweint. Auch wenn er in seiner Welt geblieben ist und ich mir meine eigene gebaut habe, so haben wir uns im Erwachsenenalter doch gefunden und viele schöne, tiefgehende Gespräche miteinander geführt.

Trotzdem fühle ich angesichts solcher Erinnerungen nichts. Keine Trauer. Allenfalls einen kleinen Schock. In den Tagen bis zu seinem Begräbnis kommt alles wieder hoch, mit einer Wucht, die ich nicht aufhalten kann.

1968. Ich bin fünf Jahre alt und stehe im oberen Treppenhaus des elterlichen Gasthofes vor einem alten Bauernkasten. Es ist der Waffenschrank meines Vaters, unversperrt. Ich öffne die Kastentür und entdecke neben den Jagdgewehren unter allerlei Krimskrams einen alten Geigenkasten. Neugierig klappe ich ihn auf, nehme die Geige in die Hände, zupfe an den Saiten und entdecke weiter hinten im Schrank ein großes Jagdmesser. Es ist märchenhaft scharf. Dieser Bubentraum schreit nach etwas zum Schnitzen. Das nächstgelegene Holzteil ist die alte Geige. Also vollführe ich oberflächliche Schnitzarbeiten am Instrument, zerschneide auch die Rosshaare des Bogens, einfach, weil die Klinge so scharf ist, dass allein das Gewicht des Messers ohne den geringsten Druck das Rosshaar teilt. Was für eine Klinge! Da kommt mein Vater die Treppen herauf und ertappt mich in flagranti. Er sieht die zerstörte Geige, bekommt einen Tobsuchtsanfall, reißt mich hoch, zieht mir die Hose aus und drischt auf meinen nackten Kinderarsch ein. Es dauert ewig. Ich schreie. Ich flehe, er möge aufhören. Er drischt und drischt. Als er fertig ist, sagt er: »Wer seinen Sohn liebt, züchtigt ihn.« Es sei zu meinem Besten und tue ihm viel mehr weh als mir.

Am nächsten Tag im Kindergarten beim Umziehen zum Turnen in der Garderobe machen mich andere Kinder auf die Blutergüsse an Hintern und Rücken aufmerksam. Ich blicke hinter mich in den Spiegel und kann sie sehen.