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Lilli ist zurück in Aquatica. Endlich sieht sie ihre neuen Freunde wieder und freut sich auf zwei Wochen voller Abenteuer in einer fremden Welt. Doch etwas ist seltsam. Was bedeuten die Steinkreise, die Sabine und sie am Strand gefunden haben? Und woher kommt der Gesang, den nur sie hören kann? Ist Aquatica erneut in Gefahr?
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Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Lilli Rackmann stand am Rande des Schulhofes und beobachtete das geschäftige Treiben. Sie hörte lautes Lachen oder Zurufe, wenn sich Freunde zum ersten Mal nach den Ferien wieder sahen. Ihre Mitschüler hatten sich in Grüppchen versammelt und unterhielten sich, wahrscheinlich über ihre Erlebnisse der letzten Wochen. Sie selbst würde nichts berichten. Sie würde schweigen oder eine Ausrede erfinden.
Noch hatte die Glocke nicht geschellt und damit den Beginn des Unterrichts verkündet. Die Fenster der Schule waren dunkel, wie leere Augen, die sie beobachteten. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre davon gelaufen, doch etwas hielt sie fest, wie die Ranken der Schlingpflanze Luminesda, vor der sie ihre Freundin Sabine immer gewarnt hatte.
Die Schulferien waren vorbei, doch nach den Erlebnissen der letzten Wochen kamen ihr der Schulhof und das graue Gebäude merkwürdig fremd vor. Als wäre sie eine unbeteiligte Beobachterin, die das Leben eines anderen Mädchen beobachtete.
„Warum stehst du denn hier herum? Hast du plötzlich Angst vor der Schule?“ Ein Arm legte sich um Lillis Schulter. „Oder fürchtest du dich vor Frau Schöler?“
Silkes Blick folgte ihrem, als könnte sie in dem Gebäude den Grund für Lillis Verhalten erkennen.
„Wir haben heute kein Englisch“, erwiderte Lilli. Frau Schöler gehörte nicht zu ihren Lieblingslehrerinnen, doch zum Glück warteten Fragen nach Vokabeln und Grammatik erst morgen auf sie.
Silke runzelte die Stirn. „Und warum schleppe ich dann mein Englischbuch mit? Das Ding wiegt bestimmt ein Kilo.“
„Keine Ahnung“, erwiderte Lilli und lächelte. Das zerstreute Verhalten war typisch für Silke. „Aber hättest du auf den Stundenplan geschaut, dann hättest du gewusst, dass wir heute nur Deutsch und Mathe haben. Der Rest fällt aus.“
„Super, dann können wir ja in die Stadt gehen. Am Marktplatz hat ein neuer Laden aufgemacht. Den muss ich mir unbedingt anschauen.“
„Ja, mal schauen.“
Silke musterte sie und kniff die Augen zusammen, als könnte sie so ihre Gedanken lesen. „Ist irgendetwas passiert? Du bist so komisch.“
„Wieso?“ Was sollte sie nur erwidern, wenn Silke nach ihren Ferien fragte? Sie konnte sie nicht anlügen. „Du weißt doch, dass ich shoppen gehen nicht so gerne mag.“
„Ja, stimmt.“ Silke lehnte sich gegen die Mauer, die den Schulhof von der Straße abschirmte. Dass das Gestein feucht und mit einem grünen Belag überzogen war, schien sie nicht weiter zu kümmern. „Aber ich dachte, du kannst mir dann etwas von deinen super geheimen Ferien erzählen.“
„Super geheim? Wie kommst du denn darauf?“
„Als du nicht auf meine Nachrichten reagiert hast, hab ich mir Sorgen gemacht und bei dir zuhause angerufen. Deine Mutter hat ein riesiges Geheimnis darum gemacht, wo du bist. Sie hat irgendetwas von deiner Tante erzählt und dass du Urlaub am Meer machst. Aber wir sind hier doch schon am Meer. Es klang, als hätte sie sich spontan eine Geschichte ausgedacht.“
„Warum sollte sie das denn tun?“, fragte Lilli ausweichend.
Silke zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber sagst du mir jetzt, wo du warst? Ich dachte, du bleibst die ganzen Ferien zuhause.“
„Ja, so war es auch geplant. Aber dann war ich spontan in einem Ferienlager.“
„In einem Ferienlager? Du? Ich dachte, du magst solche Reisen nicht. Und warum hat deine Mutter das nicht einfach gesagt?“
„Ich mochte solche Reisen früher wirklich nicht“, gab Lilli zu. „Aber ich habe meine Meinung geändert. Vielleicht wollte meine Mutter mich einfach nicht verpetzen.“
„Das muss ja ein tolles Lager gewesen sein“, bemerkte Silke. „War es denn auch am Meer? Oder gab es da wenigstens einen Pool?“
Mit einem Lächeln dachte Lilli an die Welt unter Wasser, die sie in den letzten Wochen kennengelernt hatte. Mitten in der Nacht hatte sie ein seltsamer Junge in ihrem Zimmer besucht und sich als ihr Pate Argos vorgestellt. Er hatte ihr von ihrer Herkunft erzählt und dass alle Halbtritonen in ihrem Alter ihre Ferien an einem Ort namens Camp Aquatica verbringen sollte. Tritonen – so nannten sich die Wesen, die aussahen wie Menschen, statt Beinen aber eine Flosse besaßen. Lilli hatte diese Geschöpfte nur als Meerjungfrauen gekannt und für eine Erfindung gehalten. Im Camp Aquatica sollte sie andere Halbtritonen kennenlernen und etwas über die Welt ihrer Vorfahren erfahren. Das versteckte Land unter Wasser hatte Lilli überwältigt und sie konnte es kaum abwarten, dorthin zurückzukehren. Sie dachte an die dunklen, pferdeähnlichen Hippokampen, die gläsernen Dächer Lophelias und den glitzernden Palast von Aquatica.
„Ja, das könnte man so sagen.“
„Und wo war dieses Ferienlager genau? Jetzt mach nicht so ein großes Geheimnis um die Sache wie deine Mutter. Ich bin doch neugierig.“
„Ach, das war gar nicht weit weg.“
Sollte sie ihrer besten Freundin erzählen, wo sie gewesen war? Silke würde sich sicher nicht von ihren Fragen abbringen lassen. Aber wie würde sie reagieren? Würde sie ihr überhaupt glauben?
„Und wo genau?“ Silke betrachtete sie prüfend. „Ist es dir so peinlich, wo du warst? Hat dich deine Mutter in ein Mathelager geschickt? Oder musstest du Nachhilfe in Physik nehmen?“
„Ach, quatsch. Meine Noten sind in Ordnung.“
„Warum willst du es mir dann trotzdem nicht sagen?“ Silke verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich dachte, wir sind Freunde.“
„Sind wir ja auch.“
„Und warum willst du es mir dann nicht verraten? Ich dachte, wir haben keine Geheimnisse voreinander.“
„Haben wir auch nicht.“
Lilli schaute sich um. Die anderen Mädchen und Jungen ihrer Klasse waren in Gespräche vertieft oder umarmten sich zur Begrüßung. Niemand achtete auf sie.
„Gut, ich sag es dir. Aber du musst mir versprechen, es niemandem zu sagen.“
„Natürlich.“ Silke streckte ihr den kleinen Finger entgegen. Sie hakte sich ein und sie sagten im Chor: „Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen.“
„War es so schlimm? Oder ist es so peinlich? Deine Hände zittert ja.“
Lilli vergrub sie tief in ihren Hosentaschen. „Ich war im Camp Aquatica.“
„Camp Aquatica?“ Silke schüttelte den Kopf. „Davon habe ich noch nie gehört.“
„Camp Aquatica ist ein Ferienlager für Halbtritonen.“
Silkes Gesicht zeigte Verwirrung. „Und was sind Halbtritonen?“
„Das sind Wesen, die einen Tritonen und einen Mensch als Eltern haben. Im Camp Aquatica sollen sie die Welt ihrer Vorfahren kennenlernen.“
„Und was sind Tritonen? Und in welcher besonderen Welt leben sie?“
„Tritonen leben in einer versteckten Welt unter Wasser.“
„Du meinst, wie Meerjungfrauen?“ Sie sah, wie es hinter Silkes Stirn arbeitete. „Die Fabelwesen mit dem Oberkörper eines Menschen und einem Fischschwanz?“
Lilli nickte. „Genau.“
„Nimmst du mich auf den Arm? Heute ist nicht der erste April.“
„Nein, ich meine es völlig ernst.“
„Wenn du mir nicht sagen willst, wo du in Urlaub warst, ist das okay.“ Silkes Augenbrauen zogen sich zusammen und ihre Augen verwandelten sich in Schlitze. „Aber erfinde nicht solche Dinge.“
„Ich habe nichts erfunden.“ Sie hatte doch nur die Wahrheit gesagt. Wie sollte sie ihre beste Freundin nur überzeugen?
„Ach ja? Meerjungfrauen gibt es nicht. Sie sind nur eine Erfindung.“
„Das sind sie nicht. Und sie mögen es nicht, wenn man sie Meerjungfrauen nennt. Sie wollen Tritonen genannt werden.“
„Ist das nicht völlig egal, wie man ein Fabelwesen nennt?“
„Nein, das ist es nicht. Und Tritonen sind keine Fabelwesen.“
„Als nächstes erzählst du mir noch, dass es den Weihnachtsmann gibt. Oder den Osterhasen.“
Lilli atmete stoßweise aus. „Das ist doch etwas völlig anderes.“
„Ist es das?“ Silke drehte sich um. „Ich habe jedenfalls keine Lust, mir solche Geschichten noch länger anzuhören.“
„Jetzt warte. Ich kann es dir beweisen.“
„Ach ja? Und wie?“
„Ich werde dir zeigen, wie ich mich verwandle.“
* * *
Lilli betrachtete die Wanduhr in Form einer Muschel, die sie von ihrer Mutter zu ihrem letzten Geburtstag bekommen hatte. Der Zeiger der Uhr tickte unbarmherzig weiter. Es waren noch wenige Minuten bis zu ihrer Verabredung mit Silke.
In Aquatica hatte sie sich von selbst verwandelt. Ihr Pate Argos hatte ihr erzählt, dass ihr Körper auf das Wasser reagierte und sich anpasste. Doch wie sollte sie das an Land schaffen? Würde es ausreichen, wenn sie sich lange genug in die Badewanne legte? Oder würde sie mit Silke ans Meer fahren müssen?
Das Schrillen der Klingel riss sie aus den Gedanken. Ihr Herz pochte wie wild, als sie die Haustür öffnete. Wie würde ihre Freundin reagieren, wenn es nicht funktionierte? Sie würde ihr doch nicht die Freundschaft kündigen?
„Hallo. Schön, dass du da bist“, sagte sie zur Begrüßung.
Silkes Lächeln wirkte frostig. „Ich bin wirklich gespannt, was du mir jetzt zeigen willst. Aber ich kann dir gleich sagen, Silikonflossen finde ich nicht lustig.“
„Keine Angst, daran habe ich nicht gedacht.“
„Und wie willst du mir zeigen, dass es Meerjungfrauen gibt?“
„Ich lege mich in die Badewanne und warte darauf, dass ich mich verwandle.“
Silke runzelte die Stirn. „Hättest du dich dann nicht jedes Mal in der Badewanne verwandeln müssen? Und hättest du dann nicht früher merken müssen, dass du eine Meerjungfrau bist?“
„Mein Pate Argos meinte, dass sich die Herkunft von Halbtritonen erst in unserem Alter zeigt. Er sagte, mein Körper reagiert auf das Wasser und verwandelt sich, weil ich es so will. Ob es an Land auch funktioniert, weiß ich gar nicht. Seit ich wieder hier bin, habe ich mich noch nicht in die Badewanne gelegt. Ich vermute, beim Duschen reicht das Wasser nicht.“
„Aha.“ Silkes Stimme klang skeptisch. „Und warum bist du unter Wasser nicht ertrunken? Ein Fischschwanz hilft dir schließlich nicht beim Atmen.“
Lilli zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich wollte Argos danach fragen, aber dann habe ich es völlig vergessen.“
„Du hältst also wirklich an dieser bescheuerten Geschichte fest?“
Lilli nickte. „Ja, weil es die Wahrheit ist. Und das werde ich dir beweisen.“
„Gut, dann lass uns anfangen.“
Sie schlüpfte in ihren Bikini und folgte ihrer besten Freundin ins Badezimmer. Silke hatte den Wasserhahn geöffnet und Wasser lief in die Wanne. Der Boden war bereits völlig bedeckt. Lilli streckte die Hand aus und tauchte sie hinein. „Das ist ja eiskalt.“
„So wie das Meer im Winter“, erwiderte Silke. Ihr Lächeln wirkte etwas schadenfroh. „Oder willst du mir noch erzählen, dass sich Halbtritonen nur im Sommer und in warmem Wasser verwandeln können?“
„Nein, natürlich nicht. Aber warmes Wasser wäre mir trotzdem lieber.“
Silke griff nach einer Flasche mit Lavendelschaumbad und wedelte damit vor ihrer Nase herum. „Und wie sieht es mit Schaumbad aus? Meinst du, das hilft?“
„Nein. Und außerdem sehen wir unter dem Schaum nicht, wenn etwas passiert.“
„Wenn etwas passiert.“ Silke stellte die Flasche zurück. „Und wie sieht es mit dem Wasser aus? Muss die Badewanne voll sein?“
Lilli zuckte mit den Schultern. Hoffentlich geschah überhaupt irgendetwas. „Wahrscheinlich. Schließlich muss ich so tun, als wäre ich im Meer.“
„Gut, dann bin ich jetzt gespannt.“
Die Badewanne war etwa zur Hälfte gefüllt.
„Das ist bestimmt nicht genug.“
„Es läuft ja weiter, während du drin sitzt.“
„Stimmt auch wieder.“ Lilli kletterte über den Rand und hockte sich in die Wanne. Sie unterdrückte einen leisen Schrei. Das Wasser war wirklich eiskalt. Langsam streckte sie die Beine aus und rutschte ganz hinein. Die Kälte prickelte wie tausend Nadelstiche auf ihrer Haut.
„Und jetzt?“, fragte Silke. Sie zog die Augenbrauen hoch. „Müsste nicht irgendetwas passieren? Oder hat dein Körper vergessen, dass du eine Halbtritonin bist?“
„Vielleicht funktioniert es nur, wenn ich ganz unter Wasser bin.“
Sie schloss die Augen und tauchte unter. Sie hörte das leise Gluckern des Wassers und spürte sanfte Wellen, die über ihre Haut streichelten. Ein Gefühl von Vertrautheit umgab sie, als würde sie nach Hause zurückkehren. Sie öffnete die Augen und schaute zu ihren Beinen. Sie sahen aus wie immer. Sie bewegte sie einige Male hin und her, doch nichts geschah. Plötzlich griff jemand nach ihrem Arm und zerrte sie in die Höhe.
„Geht es dir gut?“ Silkes Augen waren weit aufgerissen. Noch immer hielt sie ihren Arm fest umklammert.
„Ja, wieso?“
Der Griff lockerte sich. „Du warst über fünf Minuten unter Wasser.“
„Wirklich? Es kam mir gar nicht so lange vor.“
„Seit wann kannst du so lange die Luft anhalten?“
„Wahrscheinlich seit ich eine Halbtritonin bin.“
„Und da musst du keine Luft mehr holen?“ Zum ersten Mal klang Silkes Stimme nicht völlig ungläubig.
„Scheinbar nicht.“ Es war Lilli selbst nicht aufgefallen, aber Silke hatte recht. Im Camp Aquatica war es ihr vollkommen natürlich vorgekommen, nicht an der Oberfläche zu atmen. Doch hier war es etwas anderes. Ob sie jetzt immer unter Wasser Luft holen konnte?
„Das ist wirklich seltsam“, sagte Silke. „Aber was ist mit deiner Flosse?“
„Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es müsste jeden Moment etwas passieren.“
Konnte sie da ein leichtes Schimmern wie von Schuppen sehen? Nein, ihre Beine sahen aus wie immer.
„Wie lange hat es denn beim ersten Mal gedauert?“
Lilli zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut.“
Als sie im Tempel der Stürme in den Strömungskanal gesprungen war, war ihre Flosse innerhalb kürzester Zeit zurückgekommen. Doch da hatte sie sich in Gefahr gefunden und ohne Flosse hätte sie die reißende Strömung nicht überlebt. Hier lag sie geschützt in einer Badewanne, in der ihr nichts passieren konnte. Wenigstens glaubte ihr Silke endlich. Oder sie hielt ihre Geschichte nicht mehr für völlig ausgeschlossen. Es musste etwas geschehen, damit sie ihre Erzählungen beweisen konnte.
„Wie lange hat es ungefähr gedauert? Das wirst du doch wissen.“
„Beim ersten Mal hat es ziemlich lange gedauert. Als ich in Aquatica ankam, hatte ich noch keine Flosse. Aber Argos hat gesagt, dass mein Körper auf das Wasser reagiert. Und beim letzten Mal ging es ziemlich schnell.“
„Heißt das jetzt, dass du nicht mehr ins Freibad gehen kannst?“, fragte Silke. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Die anderen würden ganz schön doof schauen, wenn du dich in eine Meerjungfrau verwandelst. Wobei das bestimmt lustig wäre.“
„In eine Halbtritonin“, korrigierte sie Lilli und plantschte mit den Beinen. Wasser spritzte in winzigen Tropfen über den Badewannenrand, doch ihre Haut sah aus wie immer.
„Gut, dann in eine Halbtritonin.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich passieren könnte. Argos sagte, ich kann die Verwandlung später steuern. Und dass mein Körper nur auf richtiges Wasser reagiert.“
„Und wie soll das funktionieren? Und was ist richtiges Wasser?“
„Wasser aus dem Meer. Das Wasser in Schwimmbädern wird gereinigt und außerdem wird viel Chlor hinein gekippt. Das verhindert wohl die Verbindung zum Meer. Ich habe es nicht genau verstanden.“
Silke schaute auf ihre Beine. Noch immer zeigte sich nicht die kleinste Schuppe. „Vielleicht funktioniert die Verwandlung in der Badewanne einfach nicht. Das ist doch auch kein richtiges Wasser. Unser Wasser aus dem Hahn wird auch gereinigt.“
„Oder wir müssen einfach länger warten.“
„Ich könnte mein Smartphone holen, während wir warten. Dann können wir wenigstens Videos schauen.“
„Gut, mach das.“
Plötzlich meinte sie, etwas zu hören, leise wie ein feines Rascheln von Blättern im Wind. Hatte sie sich getäuscht? Nein, da war ein Geräusch. Das Wasser gluckerte, erst kaum wahrnehmbar und dann immer lauter. Lillis Herz klopfte schneller.
„Warte. Da passiert etwas.“
Das Blubbern steigerte sich zu einem schrillen Heulen, als würde ein strenger Wind über die Oberfläche peitschen. Blasen bildeten sich, als würde das Wasser kochen, doch es war genauso warm wie vorher.
„Ist das richtig so?“, fragte Silke. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Gesicht vor Angst verzerrt.
„Nein!“
Sie sprang in die Höhe. Der Boden war glitschiger als erwartet und beinahe wäre sie ausgerutscht. Im letzten Moment konnte sie nach Silkes Arm greifen. Die Freundin zog sie aus der Badewanne. Tropfen spritzten und zu ihren Füßen bildete sich eine Pfütze, doch sie achtete nicht darauf.
Irgendetwas flog so dicht an ihrem Kopf vorbei, dass sie den Windzug spürte. Es gab ein schmatzendes Geräusch von sich, als es neben dem Regal mit den Handtüchern auf den Boden fiel.
Und dann war der Spuk vorbei. Das Wasser gab ein letztes Gurgeln von sich. Die Oberfläche lag glatt vor ihnen, wie auf einem See an einem windstillen Sommertag.
„Was war das?“, fragte Silke. Lilli sah, dass ihre Beine zitterten. Sie hielt sich an dem Regal fest und schaute sich vorsichtig um. Das Badezimmer sah aus, als hätte ein Sturm gewütet. Handtücher lagen auf dem Boden, Duschgel und Shampooflaschen waren umgekippt und Wasser tropfte von den Wänden.
„Was ist hier los?“ Ihre Mutter stand in der Tür. Sie erfasste die Situation sofort.
„Ich wollte Silke nur zeigen, wie...“, stammelte Lilli. „Und dann war überall Wasser… und wir wussten nicht...“
Ihre Mutter hob zwei Handtücher auf und reichte sie den Mädchen. „Trocknet euch erst einmal ab.“ Ihre Stimme klang ernst. „Dann sollte Silke nach Hause gehen. Und du kommst in die Küche, wenn du dir etwas angezogen hast.“
Als sie das Zimmer verlassen hatte, wechselten die Freundinnen einen Blick.
„Hoffentlich ist deine Mutter nicht sauer.“
Lilli presste die Lippen zusammen. Sauer hatte ihre Mutter nicht gewirkt, eher enttäuscht. Als hätte sie sofort durchschaut, was die Mädchen versucht hatten und als wäre sie damit nicht einverstanden. „Das werde ich gleich sehen.“
„Meinst du, sie sagt dir, warum es nicht geklappt hat?“
„Keine Ahnung. Und ich weiß nicht, ob ich sie jetzt danach fragen sollte.“
„Du hast recht“, erwiderte Silke und umarmte sie. „Erzähl mir später, wie es gelaufen ist.“
„Ja, mache ich.“
Lilli schlüpfte in ihren Bademantel und begleitete Silke zur Haustür. Als sie kurz darauf die Küche betrat, reichte ihr ihre Mutter eine Tasse mit dampfendem Früchtetee. „Setz dich.“
Lilli nahm die Tasse. Die Oberfläche fühlte sich angenehm warm an und sie war froh, etwas in den Händen zu haben.
Ihre Mutter betrachtete sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck. „Du weißt doch, dass du nichts über deine Herkunft verraten sollst.“
Lilli starrte in ihren Tee. Als sie am Teebeutel zog, bildeten sich kleine Wellen. Sollte sie leugnen, was sie versucht hatten? Nein, das hatte keinen Sinn. „Silke ist meine beste Freundin. Und sie wird bestimmt nichts verraten.“
„Das glaube ich dir ja. Aber vielleicht rutscht ihr aus Versehen etwas heraus, ohne dass sie es will. Das könnte uns alle in Gefahr bringen.“
„Aber wieso?“
Ihre Mutter machte eine ausholende Handbewegung. „Weil die Menschen mehr erfahren wollen würden. Sie würden nach unseren Verwandten im Meer suchen und ihr Leben stören. Stell dir nur vor, wie es wäre, wenn U-Boote durch die Städte der Tritonen fahren würden. Oder schlimmer noch, wenn sie Tritonen fangen würden, um an ihnen zu forschen. Ich verstehe ja, dass du mit jemandem reden willst, aber es ist zu gefährlich.“
Lilli unterdrückte ein Seufzen. Ihre Mutter hatte ja recht. Doch Silke war ihre beste Freundin und sie war es gewohnt, alles mit ihr zu teilen. Dieses Geheimnis konnte und wollte sie nicht für sich behalten. Sie hatte in Aquatica so viel erlebt und brannte darauf, Silke einzuweihen.
„Was ist denn mit dem Mädchen aus dem Camp, mit dem du dich so gut verstanden hast?“, fragte ihre Mutter. „Wie hieß sie noch gleich? Sabine? Mit ihr kannst du über alles reden, ohne dass du die Tritonen in Gefahr bringst.“
„Wir wollten uns schreiben. Aber dann haben wir total vergessen, Nummern auszutauschen.“
„Das Wasser wird dich finden“, erwiderte ihre Mutter und lächelte geheimnisvoll. „Du wirst schon sehen.“
„Wie meinst du das?“
„Das Wasser hat seinen eigenen Willen und weiß mehr als du denkst. Es lässt sich nicht so leicht austricksen. Und jetzt erwarte ich von dir, dass du das Badezimmer aufräumst. Und zwar picobello.“
Lilli nahm einen Eimer und ein Wischtuch und trottete zurück ins Bad. Sie sammelte Shampoo- und Duschgelflaschen ein und stellte sie an ihren Platz. Die trockenen Handtücher legte sie wieder zusammen und verteilte die feuchten in den Wasserlachen. Als sie den Boden neben dem Regal wischte, stießen ihre Finger gegen etwas Weiches. Es war ein Umschlag, dessen Papier eine breiartige Konsistenz angenommen hatte. Es zerfiel zu Fetzen, als Lilli ihn öffnete. Der Zettel darin war unversehrt. Wassertropfen perlten an der Oberfläche ab, als würde er das Wasser abstoßen. Ihr Herz klopfte schneller, als sie das Papier auseinanderfaltete. Sie erkannte Sabines Handschrift sofort.
Liebe Lilli,
Wir wollten ja in Kontakt bleiben, aber zuhause habe ich gemerkt, dass wir völlig vergessen haben, Nummern auszutauschen. Meine Mutter meinte, als Kinder des Meeres müssten wir sowieso den Strömungstransit benutzen. Weißt du, was das ist? Ich hatte keine Ahnung. Sie sagte, ich solle dir einen Brief schreiben und in ein bewegtes Gewässer werfen. Dann würde ihn das Wasser zu dir bringen. Ich dachte erst, sie würde sich über mich lustig machen, aber ich werde es trotzdem versuchen. Ich werde ihn in den Bach hinter unserem Haus werfen und hoffe, dass mein Brief den Weg zu dir findet.
Wieder an Land zu sein ist seltsam. Geht es dir auch so? Ich vermisse das Meer jeden Tag. Nicht zu schwimmen, sondern zu gehen, fühlt sich komisch an. Meine Mutter sagte, das Meer würde nach mir rufen. Wenn ich länger an Land bleibe, werde ich es mit der Zeit weniger spüren.
Ich wollte dir noch etwas Seltsames erzählen. Ich war vor zwei Tagen mit Freunden für einen Tag am Meer. Ich bin nicht ins Wasser gegangen, damit ich nicht plötzlich eine Flosse bekomme. Meine Mutter sagte später, ich müsste keine Angst davor haben. Das Wasser würde merken, wenn ich mich verwandeln will. Aber ich vermisse das Leben in Aquatica. Würde es dann nicht denken, dass ich dahin zurückkehren will?
Ich bin am Strand geblieben und während die anderen schwimmen waren, bin ich in die Dünen gegangen. Und da habe ich es gesehen, ein Symbol, das mit Steinen auf den Boden gelegt wurde. Es sah aus wie fünf Kreise, die sich gegenseitig überschneiden. Haben wir etwas in der Art nicht in einem der Bücher in der Bibliothek in Aquatica gesehen? Es erinnerte mich an einen Beschwörungskreis, aber was sollte jemand dort am Strand beschwören wollen? Vielleicht sehe ich Gespenster, nach allem, was wir erlebt haben. Kannst du dich an ein Symbol erinnern, das aus fünf Kreisen besteht? Wohnst du nicht auch in der Nähe vom Meer? Dann könntest du nachschauen, ob du etwas Ähnliches findest.
Es sind nur noch sieben Wochen, bis wir ins Camp zurückkehren können, aber ich zähle schon die Tage.
Deine Sabine
Lilli spürte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sabine hatte sie nicht vergessen. Und das Wasser hatte sie nicht bestrafen wollen, weil sie sich vor Silke verwandeln wollte. Es hatte nur an dem Brief gelegen. Sie würde auf jeden Fall zurückschreiben und beobachten, was passierte. Und sie würde nachfragen, was genau Sabine am Strand entdeckt hatte. Sie konnte sich erinnern, dass sie ein Symbol aus Kreisen schon einmal gesehen hatte. Doch für was hatte es gestanden?
Als ihre Mutter das Bad betrat, war der Boden gewischt und alles stand wieder an seinem Platz. Die nassen Handtücher hatte sie gleich zum Trocknen aufgehangen.
„Du hast Sabines Brief also gefunden?“
„Ja. Aber wie ist das nur möglich?“
Ihre Mutter lächelte geheimnisvoll. „Du solltest aufhören, alles zu hinterfragen. Manche Sachen sind so wie sie sind. Das Verhalten des Meeres lässt sich nicht einfach erklären.“
„Aber wie hat mich der Brief gefunden? Woher wusste das Wasser, wo ich wohne?“
„Du bist ein Kind des Meeres. Ein Teil von dir ist immer mit ihm verbunden.“
„Das klingt einleuchtend.“
„Ich weiß ja, dass es schwierig ist, mit diesem Geheimnis zu leben und nicht darüber zu sprechen“, sagte ihre Mutter. „Aber bis zu den Ferien sind es nur noch sieben Wochen. Dann kannst du deine Freunde wieder sehen, wenn du das willst.“
„Natürlich will ich“, rief Lilli.
„Und bis dahin könnt ihr euch über den Strömungstransit austauschen.“
Später am Abend saß Lilli an ihrem Schreibtisch. Sie blickte auf die Schneckenmuschel in ihrer Hand. Sie hatte die Größe von einem Ei, war mit dunklen Sprenkeln übersät und sah aus wie ein kleines Tritonhorn. Das Tritonhorn war das Zeichen des Herrschers von Aquatica und den fünf Reichen und ein Beweis seiner rechtmäßigen Herrschaft. In den letzten Ferien war es verschwunden, gestohlen von einem Fanatiker, der die Macht über Aquatica hatte an sich reißen wollen. Sabine und sie hatten es gerade noch verhindern können. Ihr Gegner war jedoch entkommen.
Argos hatte ihr diese Miniausgabe des Horns zum Abschied geschenkt. Ihr Herz pochte schneller, als sie ihr letztes Treffen dachte und wie nahe sie sich auf dem Ball gekommen waren.
Ob er sie ebenso vermisste? Oder hatte er sie schon wieder vergessen? Das mochte sie sich gar nicht vorstellen.
Sie zwang sich, ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Was war mit den Symbolen, von denen Sabine gesprochen hatte? Vielleicht gab es wirklich seltsame Ereignisse am Strand, denen sie auf den Grund gehen konnte. Oder sah sie schon Gespenster? Vermutete sie nun hinter allem ein großes Geheimnis? Vielleicht hatte nur jemand ein Bild mit Steinen in den Sand gelegt.
Sie griff nach ihrem Smartphone. Nach was sollte sie suchen? Sabine hatte die Steinformation an einen Beschwörungskreis erinnert, aber darüber würde sie höchstens auf einer Esoterikseite Informationen finden. Wenn sie nur nach dem Meer suchte, würde es bestimmt Zeitungsartikel über auffällige Dinge geben.
Doch sie fand keine Hinweise auf ungewöhnliche Vorkommnisse. Es gab zwar viele Einträge, die sich mit dem Meer befassten. Aber dort war nur von hohen Besucherzahlen, besonderen Veranstaltungen wie einem Sandburgenwettbewerb oder dem schönen Wetter die Rede.
Mit einem Seufzen legte sie ihr Smartphone zur Seite. Wahrscheinlich gab es eine harmlose Erklärung.
* * *
Als Lilli am nächsten Morgen an der Schule ankam, wartete Silke auf sie. „Und wie hat deine Mutter reagiert? Hast du Ärger bekommen?“
„Eigentlich war sie sehr verständnisvoll“, erwiderte Lilli und zog die Freundin zur Seite. Es musste nicht jeder mitbekommen, worüber sie redeten.
„Deine Mutter ist einfach super. Meine hätte mir bestimmt vier Wochen Hausarrest gegeben.“
„Naja, begeistert war sie nicht gerade.“
„Was hat sie denn gesagt?“
„Dass ich nicht über meine Herkunft sprechen soll und dass es gefährlich ist, wenn Menschen davon wissen.“
„Aber wieso?“ Silke runzelte die Stirn. „Ich werde bestimmt mit niemandem darüber reden.“
„Ja, das habe ich ihr auch gesagt. Aber sie meinte, dir könnte aus Versehen etwas herausrutschen.“
„Das wird bestimmt nicht passieren.“ Silkes Stimme hatte einen empörten Tonfall angenommen. „Ich werde niemandem davon erzählen, auch nicht aus Versehen.“
„Ja, das habe ich ihr auch gesagt. Aber sie meinte, es wäre trotzdem zu gefährlich. Wenn Menschen von Aquatica und den Reichen erfahren würden, dann würden sie die Welt sehen wollen.“
„Wäre das denn so schlimm?“
„Ich weiß es nicht. Wenn die Menschen in Taucheranzügen und U-Booten in Aquatica einfallen, könnte das schon schlimm sein. Sie wären wie ein Haufen Touristen.“
Silke nickte. „Stimmt. Ich hätte auch keine Lust, von anderen Menschen angestarrt und fotografiert zu werden, als wäre ich etwas ganz Seltsames.“
„Keine Angst, dich würde niemand freiwillig fotografieren.“ Selena, ein Mädchen aus ihrer Klasse, war neben ihnen stehen geblieben. Ihre Lippen waren zu einem höhnischen Lächeln verzogen. „Wobei die Sache mit dem Anstarren schon passieren könnte. Wo hast du diese Hose nur wieder her?“
Silke schaute an sich herab auf ihre Jeans, die mit aufgemalten Blumen unter den Taschen kunstvoll verziert war. Ihre Wangen färbten sich rot. Lilli wusste, es hatte sie einen ganzen Nachmittag gekostet, jede Blüte einzeln aufzumalen.
„Das geht dich gar nichts an.“
„Ja, das würde ich an deiner Stelle auch sagen. Ich würde es auch nicht zugeben wollen, wenn ich meine Hosen auf dem Flohmarkt gekauft hätte.“
Lilli griff nach Silkes Arm. „Komm, lass uns gehen.“
„Aber diese blöde Kuh hat mich beleidigt.“
„Ignoriere sie einfach.“
„Was würde ich nur dafür geben, wenn ich dich nach Aquatica begleiten könnte“, murmelte Silke. „Da gibt es bestimmt keine so oberflächlichen Kühe wie sie.“
„Ja, das wäre toll. Aber die oberflächlichen Kühe gibt es da leider auch. Susa ist zum Beispiel genauso hochnäsig und herablassend wie Selena.“
„Aber in Aquatica kann man sie bestimmt besser ignorieren. Wir könnten dort zusammen die Ferien verbringen und du könntest mir alles zeigen. Und das Beste wäre, dass wir einfach über alles reden könnten.“
Lilli war hin und her gerissen. Es klang so gut, mit jemandem alles teilen zu können. Gleichzeitig hatten sich die Worte ihrer Mutter tief in ihr Gedächtnis geprägt. Es konnte sicher nicht schaden, ihrer Freundin einige Kleinigkeiten zu berichten. Oder doch? Schließlich wusste Silke nicht, wo Aquatica genau lag und wie man dorthin kam. Und wenn sie ihr etwas herausrutschen sollte, würde ihr bestimmt niemand glauben.
So berichtete Lilli von den blumenbedeckten Häusern im Camp, vom Palast von Aquatica, der sie von weitem an einen glitzernden Diamanten erinnert hatte, und vom Muschelsaal, der als Speisesaal und als Treffpunkt für besondere Veranstaltungen diente. Hier hatte das Abschlussfest stattgefunden, auf dem sie mit Argos getanzt und den sie leider zu früh verlassen hatte. Sie erzählte von ihrer Freundschaft mit Sabine und den anderen Mädchen, mit denen sie sich ein Zimmer geteilt hatte, und von den Hippokampen und der Stute Sternenstaub.
Als Lilli ihre Erzählung beendet hatte, seufzte Silke tief. Ihr Gesicht hatte einen verträumten Ausdruck angenommen. „Das klingt wahnsinnig toll. Ich würde so gerne einmal auf einem Hippokampen reiten und den Palast von Aquatica sehen. Wäre ich nur auch eine Halbtritonin.“
„Das wäre wirklich schön. Zur Zeit darf ich nur mit Sabine reden.“
„Ich dachte, ihr hättet vergessen, Nummern auszutauschen?“
Lilli nickte. „Das stimmt auch. Aber als ich gestern aufgeräumt habe, habe ich einen Brief von ihr im Bad gefunden.“
„Einen Brief von Sabine? Und wie kam der in euer Bad?“
„Das Wasser hat ihn ausgespuckt“, erwiderte Lilli.
Silke runzelte die Stirn. „Ausgespuckt? Wie meinst du das?“
„Der Brief lag im Badezimmer neben dem Regal mit den Handtüchern. Silke hat mir erklärt, wie es funktioniert. Sie hat ihn in ein fließendes Gewässer geworfen und der Brief hat seinen Weg zu mir gefunden.“
„Einfach unglaublich, was es in deiner Welt alles gibt.“
Lilli erzählte Silke nicht von den seltsamen Vorkommnissen, von denen Sabine ihr berichtet hatte. Wahrscheinlich steckte nichts dahinter. Die Worte ihrer Mutter meldeten sich eindringlich in ihrem Kopf. Sie hatte schon genug verraten und würde sie nicht wieder enttäuschen.
Als sie erneut über die Steinsymbole nachdachte, regten sich Zweifel. Ihre Mutter wollte nicht, dass sie alleine im Meer schwimmen ging. Doch am Strand entlang und durch die Dünen zu spazieren, war ja etwas völlig anderes. Sie könnte am Nachmittag ans Meer fahren und nachschauen.
Aber als Silke sie einlud, nach der Schule mit ihr shoppen zu gehen, konnte sie nicht widerstehen, denn mit ihr versprach es, ein lustiger Ausflug zu werden. Außerdem wollte Lilli sie nicht schon wieder vor den Kopf stoßen, jetzt da sie ihr endlich glaubte.
Am nächsten Tag feierte dann Annalena, eine Freundin aus der Schule, ihren Geburtstag und wieder einen Tag später wollte ihre Mutter ihre Großeltern besuchen.
Schließlich dachte Lilli nicht mehr an die seltsamen Steinkreise, von denen Sabine ihr berichtet hatte. Die Mädchen schrieben sich weiterhin Briefe, doch sie sprachen über andere Dinge. Beide vermissten das Meer und Aquatica und gemeinsam erinnerten sie sich daran, was sie dort alles erlebt hatten. Sie unterhielten sich über die anderen Mädchen, mit denen sie sich ein Zimmer geteilt hatten, und über Sternenstaub, eine Hippokampenstute, in die Sabine besonders vernarrt war. Sie erinnerten sich wieder an den prächtigen Palast von Aquatica und an den Abschlussball. Die Zeit verging, ohne dass es zu seltsamen Vorkommnissen am Strand kam.
Es war sechs Wochen her, dass Sabine von den Steinkreisen berichtet hatte, als Lilli den Brief erneut las. Die Mädchen hatten sich regelmäßig geschrieben, doch sie hatten die Steinkreise nie wieder erwähnt. Mit einem Mal brannte Lilli darauf, die Sache zu untersuchen. Sabines Mutter hatte erzählt, dass der Ruf des Meeres schwächer werden würde, je länger sie sich an Land befanden. Doch Lilli spürte ihn plötzlich in einer Intensität, die sie alles andere vergessen ließ. Sie musste irgendetwas unternehmen, was sie an die Welt unter Wasser erinnerte.
Als sie am Nachmittag auf dem Parkplatz hinter den Dünen ankam, schallten ihr Rufe und Gelächter entgegen. Die Sommerferien waren lange vorbei, aber dennoch schien die Sonne heute so warm vom Himmel wie im Hochsommer. Einige wenige Wolken hoben sich wie zerrupfte Zuckerwatte vom strahlenden Blau ab, doch sie reichten nicht aus, um Schatten zu spenden.
Sie spürte ein unbändiges Verlangen über die Dünen ans Meer zu gehen. Sie wollte durch die Wellen waten, fühlen, wie das Wasser auf ihre Arme spritzte und sehen, wie sich die Sonne in den winzigen Tropfen brach.
Konnte es schaden, wenn sie mit den Füßen hineinging? Nur für wenige Minuten? Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie das Verlangen damit abschütteln. Nein, dafür war sie nicht gekommen. Es war zu riskant und sie würde nicht nachgeben. Immer wieder kamen ihr Radfahrer entgegen, die das schöne Wetter genossen. Es herrschte ein reges Treiben und in Lilli stiegen Zweifel auf.
Vielleicht hätte sie herkommen sollen, wenn es dunkler war? Doch wie hätte sie ihrer Mutter das erklären sollen?
Bei der nächsten Abzweigung bog sie in einen schmalen Trampelpfad in Richtung Dünen ab. Man konnte deutlich sehen, dass dieser Weg nicht zurück auf einen Parkplatz führte, und so war sie die einzige Person, die diesen Weg nahm. Zu ihrer linken Seite türmte sich der Sand zu einer hohen Mauer auf, die die Stadt dahinter vor der puren Kraft des Meeres schützen sollte. Schon bald war der Strand aus den Augen. Zu ihrer Rechten webten Büsche, Gräser und vereinzelte Bäume ein dichtes Band. Mit einem Mal wichen die Pflanzen zurück und machten Platz für einen beinahe kreisrunden Bereich. Es fuhr Lilli bis ins Mark, als sie die Steine sah. Sie waren in Kreisen angeordnet, zwei nebeneinander und zwei darüber. Ein Kreis kreuzte die vier anderen in der Mitte. Sie sahen fast aus wie eine Blume. Es war das Zeichen, von dem Sabine gesprochen hatte. Hatte sie es selbst schon einmal gesehen? Es kam ihr bekannt vor, aber in ihren Erinnerungen konnte sie kein klares Bild erkennen.
Doch etwas war ihr sofort klar: Es musste andere Orte geben, an denen die Kreise erschienen waren. Sonst wäre es ein merkwürdiger Zufall, dass Sabine und sie die einzigen Symbole gefunden hatten. Oder hatte jemand die Kreise ausgerechnet für sie hier abgelegt? In den letzten Ferien hatte der Dieb des Tritonhorns, Magister Ikarian, Spuren gelegt, um sie auf seine Fährte zu locken. Diese waren offensichtlich gewesen. Hier war es ein Zufall, dass sie die Steine überhaupt gefunden hatte. Doch welchen Grund konnte es dafür geben? Was steckte dahinter?
Ein Knacken im Gebüsch ließ sie zusammenfahren. Es klang, als wäre jemand auf einen Ast getreten. Etwas in ihr drängte sie dazu, in Deckung zu gehen. Wie das Meer zuvor an ihr gezogen hatte, zog es sie hinter einen Busch, der sie vor den Blicken anderer verbarg. Sie wusste nicht, für was die Kreise standen, doch es konnte nichts Gutes sein. Vielleicht kam die Person, die sie gelegt hatte, gerade zurück.
Vorsichtig schob sie einen Ast zur Seite. Wie beiläufig nahm sie wahr, wie ein Dorn in ihren Finger stach, doch sie kümmerte sich nicht darum. Es raschelte kaum hörbar, aber Lilli kam es laut vor wie ein Paukenschlag. Durch das Loch in den Zweigen konnte sie sehen, dass vier Personen auf das Symbol aus Steinen zukamen. Sie trugen lange, dunkelblaue Roben, die bei jedem Schritt über den Boden schwangen. Ihre Kapuzen verdeckten ihre Gesichter, aber mit ihren breiten Schultern konnten es nur Männer sein. Es war ein merkwürdiges Bild, das sich ihr hier bot. Die Sonne stand hoch am Himmel, doch mit ihren Roben wirkten die Männer wie Mitglieder eines Geheimbundes, der sich nachts heimlich traf.
Die Personen sagten kein Wort. Sie erinnerten Lilli sofort an die Veränderung, die David, ein Junge aus dem Camp, in den letzten Ferien gezeigt hatte. Eine Pflanze hatte seinen Willen völlig gebrochen. Er hatte alles getan, was Magister Ikarian ihm eingeflüstert hatte.
Ob es bei den Robenträgern ähnlich war? Aber hier gab es niemanden, der ihnen Befehle erteilte oder sie kontrollierte. Lilli lief ein Schauer über den Rücken. Schweigend gingen die Männer auf die Steinmarkierungen zu und stellten sich nacheinander in die vier äußeren Kreise. Sie senkten die Köpfe wie zu einem Gebet und begannen, leise Worte zu murmeln.
Lilli konnte nicht verstehen, was die Männer sagten. Sie konnte nicht verstehen, ob sie überhaupt ihre Sprache sprachen.
Doch sie sah etwas anderes. Hinter den Männern kam jemand die Düne entlang. Es war eine Frau, die einen kleinen Jungen an der Hand hielt. Er mochte vielleicht sechs oder sieben Jahre alt sein und hatte einen Schwimmring unter den Arm geklemmt. Wahrscheinlich hatten beide das schöne Wetter genutzt, um ein letztes Mal hierher zu fahren, bevor der nasskalte Herbst kam. Sie wirkten wie normale Besucher des Strandes, doch etwas war seltsam: Sie würdigten die vier Männer mit keinem Blick, als könnten sie sie nicht sehen. Beim Vorbeigehen streifte die Frau mit ihrem Arm den Rücken eines Mannes, aber keiner von beiden reagierte.
„Wenn wir wieder zuhause sind, gibt es Abendessen und dann geht’s ab ins Bett“, sagte die Frau.
„Ich will aber noch nicht“, rief der kleine Junge. Seine Stimme klang weinerlich, doch die Frau blieb hart. „Morgen ist Schule. Da musst du ausgeschlafen sein.“
Waren die Männer für die Frau und ihren Sohn unsichtbar? Lilli konnte es sich anders nicht erklären, warum sie sie mit keinem Blick gewürdigt hatten. Vier Männer, die in den Dünen in einem Steinkreis hockten und komische Worte murmelten, waren schließlich ungewöhnlich.
Aber warum konnte sie selbst sie sehen? Waren es Halbtritonen wie sie? Nein, daran konnte es nicht liegen. Sie selbst war auch nicht unsichtbar für andere.
Die Gruppe hatte sich inzwischen auf den Boden gekniet und beugte sich rhythmisch vor und zurück, als würden sie jemanden unterwürfig anflehen. Ihr kaum hörbares Gemurmel steigerte sich zu einem lauten Singsang. Lillis Herz pochte wie wild in ihrer Brust. Was wollten sie damit nur bezwecken?
Sie glaubte, ihre Beine würden nachgeben, als sich eine Hand vor ihren Mund schob.
„Sag kein Wort“, flüsterte eine Stimme an ihrem Ohr. „Ich lasse jetzt los, okay?“
Sie nickte, doch ihr Körper war wie erstarrt.
„Kein Grund in Panik auszubrechen. Ich bin’s nur.“
Die Stimme klang merkwürdig bekannt. Sie drehte vorsichtig den Kopf zur Seite. Neben ihr stand Argos und grinste sie an. Vor Überraschung hätte sie beinahe aufgeschrien. „Was machst du denn hier?“
„Vermutlich dasselbe wie du. Ich beobachte die Abtrünnigen.“
„Die Abtrünnigen?“
Argos deutete mit dem Kopf in Richtung der Männer. „Das sind Abtrünnige der Gemeinschaft der Untergehenden Sonne.“
„Ich dachte, die gibt es nicht mehr?“ Lilli erinnerte sich an diese Gemeinschaft. Sie hatte vor Jahren in Aquatica gelebt, abgeschirmt von den anderen Bewohnern des Reichs. Es hatte viele Gerüchte um die Macht der Gemeinschaft und ihre geheimen Bauwerke gegeben. Einen alten Tempel hatten Lilli und Sabine tatsächlich entdeckt.
„Bevor die Gemeinschaft zerstört wurde, sollen einige Mitglieder verschwunden sein. Sie waren der Meinung, Aquatica müsse von allen Ungläubigen geläutert werden.“
„Also von allen Halbtritonen.“
Argos nickte. „Und von allen, die sich mit ihnen abgaben.“