Das Geheimnis von Aquatica - Sarah Gaspers - E-Book

Das Geheimnis von Aquatica E-Book

Sarah Gaspers

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Beschreibung

Als die dreizehnjährige Lilli von einem seltsamen Jungen erfährt, dass sie eine halbe Meerjungfrau ist, kann sie es kaum fassen. Erst als Argos sie mit nach Aquatica nimmt und ihr in der Welt unter Wasser eine Flosse wächst, schenkt sie seinen Worten Glauben. Zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen vom Festland lernt Lilli eine völlig andere, vor den Augen der Menschen verborgene Welt kennen. Schon bald merkt sie jedoch, dass ihre neue Heimat in großer Gefahr schwebt. Was hat es mit den vielen Unwettern auf sich und was hat dies alles mit ihrem Vater zu tun, der vor vielen Jahren ebenfalls in Aquatica war? Wird es ihr gelingen, die Welt unter Wasser vor der Vernichtung zu retten?

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Seitenzahl: 314

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Inhaltsverzeichnis

Der Ruf des Meeres

Willkommen in Aquatica

Der Muschelsaal

Camp Aquatica

Sportstunde

Lophelia

Die Gemeinschaft der untergehenden Sonne

Glühkugeln

Das Territorium der Lu

Der Palast von Aquatica

Die Abschlussfeier

Der Tempel der Stürme

Der Ruf des Meeres

Lilli Rackmann war in vielerlei Hinsicht ein ganz normales Mädchen von dreizehn Jahren. Sie ging in die siebte Klasse des Gymnasiums, hasste Mathe, liebte Kunst und traf sich Nachmittags am liebsten mit ihrer besten Freundin Silke. Doch im Gegensatz zu vielen ihrer Klassenkameradinnen hatte sie keine Hobbys wie Reiten, Shopping oder Nägel lackieren. Sie fuhr lieber an den nahen Nordseestrand, setzte sich in die Dünen und malte. Sie liebte den Strand und das Gefühl feinen Sandes unter den Fußsohlen. In den Dünen sank man in ihn ein, und dort, wo ihn das Meer berührte, hinterließ man lustige Spuren in der Oberfläche. Die Wellen umspülten das Ufer sanft und kitzelten an den Füßen, doch bei starkem Wind verwandelten sie sich in eine brodelnde Masse, als hätte jemand das Meer verärgert, dessen Zorn sich nun auf das Festland entlud.

Nie hätte sie geglaubt, dass ihre Liebe zum Meer einen besonderen Grund hatte, bis sie den Ruf des Meeres vernahm.

Es war ein heißer Tag im Juli und sie war mit Silke im Freibad gewesen, da diese keine Lust gehabt hatte, an den Strand zu fahren.

Als Lilli mit dem Rad wieder nach Hause fuhr, hatte sie das Gefühl, den Klang von Wellen zu hören, die auf den Strand liefen oder gegen eine Klippe schlugen. Doch das Meer war zu weit entfernt, als dass sie es hätte hören können. Sie schob es auf ihre Liebe zum Wasser und achtete nicht mehr darauf. In der Nacht träumte sie von einem schneeweißen Sandstrand und von einem Seepferdchen, das sie auf seinem Rücken in eine Welt unter Wasser trug.

Drei Tage später vernahm Lilli den Ruf des Meeres ein zweites Mal. Es war ganz anders, als hätte das Meer bemerkt, dass sie seine Rufe beim ersten Mal nicht erkannt hatte. Dieses Mal war es ein Geruch nach salzigem Wasser, nach Sonne und ein bisschen nach Fisch, der Lilli den ganzen Tag in der Nase hing und sich weder abwaschen noch überdecken ließ. Etwas irritiert fragte sie ihre Mutter, was es zum Mittagessen gab, denn diese wusste, dass sie keinen Fisch mochte. Lächelnd stellte ihre Mutter eine Pizza dick belegt mit Pilzen, Brokkoli, Spinat und Ei auf den Tisch und Lilli aß voller Heißhunger. Doch der Geruch blieb.

Der dritte Ruf des Meeres kam zwei Tage später. Auch Jahre später erinnerte sich Lilli an diesen Tag, als sei es gestern gewesen.

Dem Meer war inzwischen wohl aufgefallen, dass sie auf kleine, subtile Andeutungen nicht reagierte und es schickte eine deutlichere Nachricht. Lilli fand sie, als sie aus dem Garten ins Badezimmer ging, um sich die Hände zu waschen. Die Tür war einen Spalt breit offen und Lilli hörte das Plätschern des Wasserhahns.

„Mama, bist du das?“

Niemand antwortete. Hatte ihre Mutter vergessen, den Wasserhahn zu schließen? Sie öffnete die Tür und blieb wie angewurzelt stehen. Ihre Mutter war nicht der Grund für die Geräusche, soviel war klar. Die Badewanne war bis oben hin gefüllt, sodass das Wasser schon über den Rand auf den Boden lief und dort Lachen bildete. Aus dem Hahn strömte immer weiter Wasser nach. In einem Meer aus Schaum saß ein Junge mit feuerroten Haaren und hunderten von Sommersprossen im Gesicht und hielt ihr Quietscheentchen in der Hand. Er betrachtete es, als hätte er solch ein Gebilde aus gelbem Gummi noch nie zuvor gesehen. Gefährlich schien er nicht zu sein, doch was machte er in ihrem Badezimmer? War das der Sohn der neuen Nachbarn, die erst vor wenigen Tagen einige Häuser weiter eingezogen waren? Sie hatte den Umzugswagen nur von weitem gesehen und einen Mann mit so blonden Haaren, dass sie fast weiß erschienen. Der Junge drückte und knetete die Ente zusammen und betrachtete sie voller Interesse. Er schien sie nicht bemerkt zu haben.

Sie räusperte sich und versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. „Wer bist du?“

Der Junge ließ das Quietscheentchen unter der Schaumdecke verschwinden und wandte sich ihr zu. Warum war er nicht überrascht, sie hier zu sehen? War es für ihn etwa normal, in die Häuser anderer Menschen einzubrechen und dort ein Bad zu nehmen? Was sollte das überhaupt? Hatte er kein eigenes Badezimmer zuhause? Vielleicht war er doch gefährlich. Sie legte die rechte Hand auf den Türrahmen. Er sollte nicht merken, dass sie zitterte.

Er betrachtete sie von oben bis unten. „Ich bin der Bote des Meeres.“ Seine Stimme klang warm und weich. Sie spürte, wie die Anspannung etwas von ihr abfiel, auch wenn die Worte ziemlich verrückt klangen. „Du hast seine Rufe nicht beachtet und deshalb hat es mich geschickt. Es dachte, du wärst vielleicht aufmerksamer, wenn es in einer für dich alltäglichen Gestalt zu dir spricht.“

„Es hat dich geschickt? Wie meinst du das?“

„Genau so, wie ich es sagte. Das Meer schickt mich, um mit dir zu reden.“

Meinte er wirklich ernst, was er da sagte? Er sah nicht aus, als würde er sich über sie lustig machen wollen, im Gegenteil. Er beobachtete sie aufmerksam und schaute ihr direkt in die Augen. „Haha, wirklich sehr witzig.“ Noch immer schaute er sie ernst an, mit diesen strahlend blauen Augen, die sie zu durchdringen schienen. Sie senkte den Lider und blickte auf die Pfützen auf dem Boden. „Ich vermute, du bist mit deinen Eltern hierher gezogen und stellst dich jetzt überall in der Nachbarschaft vor. Aber wenn ich dir einen Tipp geben darf: so halten dich alle direkt für einen Spinner.“

Starrte er sie etwa immer noch an? Scheinbar desinteressiert wandte sie sich ab und zeigte auf die Tür. „Da geht’s nach draußen. Und mach sauber, bevor du verschwindest.“

Der unverschämte Kerl hockte noch immer in der Badewanne, zog nur die Augenbrauen hoch und sagte nichts. „Gut, dann verschwinde, ohne sauber zu machen. Aber verschwinde endlich.“

„Und du willst mir dabei zuschauen, wie ich aus der Badewanne steige?“

Lilli spürte, wie ihre Wangen heiß brannten. Wahrscheinlich hatte sie inzwischen die Farbe einer reifen Tomate angenommen. Sie schaute schnell wieder zu Boden. Vor der Heizung in sicherer Entfernung zu den Pfützen lag ein Haufen Kleidung – vermutlich ein T-Shirt und eine kurze Hose. Mit dem Fuß schob sie den Haufen näher an die Badewanne genau in eine Wasserlache. Nicht ohne Genugtuung betrachtete sie, wie sich der Stoff dunkel färbte und drehte sich wieder um. Es plätscherte hinter ihr und plötzlich spürte sie etwas Feuchtes an ihrem Fuß. Sie fuhr herum.

„Kannst du nicht aufpassen?“, fauchte sie den Jungen an, der gerade seelenruhig sein T-Shirt über den Kopf zog. Er achtete kein bisschen darauf, dass ihm das Wasser aus den Haaren auf den Stoff tropfte. „Du setzt das ganze Bad unter Wasser. Meine Mutter kommt sicher gleich und sie wird nicht begeistert sein.“

„Wasser ist doch ein tolles Element“, erwiderte der Junge und zuckte mit den Schultern. „An heißen Tagen ist es herrlich erfrischend und sorgt für Abkühlung. Es lässt Pflanzen wachsen und gedeihen, nimmt Tieren und Menschen den Durst und wenn sich die Sonne darauf spiegelt, sieht es aus wie pures Gold. Es hat seinen eigenen Kopf, kann sehr unbeherrscht sein und ist im nächsten Moment wieder ganz sanft.“

Sein Gesicht hatte einen schwärmerischen, fast schon verträumten Ausdruck angenommen. Machte er sich über sie lustig? Oder war er einfach nur verrückt? Sie wusste es nicht.

„An dir ist wohl ein kleiner Dichter verloren gegangen, was?“, spottete sie.

Der Junge starrte sie nur an, mit diesem seltsamen Blick, in dem so viel Sehnsucht lag. Nie zuvor hatte sie so strahlend blaue Augen gesehen. Sie leuchteten wie das Meer auf besonders schönen Postkarten und um die Pupille herum hatten sie einen grünen Ring. Lillis Knie wurden weich.

„Wenigstens ignoriere ich es nicht, wenn das Meer mit mir spricht“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Bei dir musste es fast nach einem Megafon greifen, damit du hörst. Wenigstens hat es in mir einen treuen Freund.“

„Ich habe es ja verstanden.“ Wenn er doch nur nicht diese schönen Augen hätte. Sie atmete tief ein. Davon würde sie sich nicht beeindrucken lassen. „Es reicht jetzt.“ Sie schob den Jungen zur Badezimmertür. Sein T-Shirt fühlte sich feucht an und auch an seinen Hosenbeinen zeigten sich inzwischen dunkle Flecken. „Kannst du jetzt bitte verschwinden? Ich kann es nicht leiden, wenn irgendwelche Psychos in meinem Bad auftauchen. Erst recht nicht, wenn sie etwas von einer Stimme des Meeres faseln. Und falls es dir noch nicht aufgefallen ist: das Meer besteht aus Wasser und Wasser hat weder einen Mund noch Stimmbänder. Also kann es nicht sprechen oder nach einem Megafon greifen.“

Der Junge blieb so abrupt stehen, dass sie mit ihrem Gesicht gegen seine Schulterblätter stieß. „Aua!“

Er ging nicht darauf ein. „Um was wollen wir wetten?“

„Wie meinst du das?“ Ihre Nase schmerzte und eigentlich wollte sie nur noch, dass er verschwand.

„Na, ich werde dir beweisen, dass Wasser sprechen kann. Also, um was wollen wir wetten?“

Sie antwortete sofort. „Wenn das Wasser nicht spricht, verschwindest du sofort aus meinem Haus und kommst nie mehr wieder.“

Der Junge nickte. „Ich wollte eh gerade gehen. Vielleicht bist du einfach jemand, der keine Ablenkungen gebrauchen kann, wenn er die Stimme des Meeres hören soll.“

Auch wenn die Worte herablassend klangen, spürte Lilli, dass sie nicht so gemeint waren. „Ich habe einen besseren Vorschlag: wenn das Meer spricht, kommst du mit mir und lässt dir etwas zeigen.“

Lillis Herz machte einen Sprung. „Was denn?“

Der Junge schüttelte den Kopf und lächelte geheimnisvoll. „Das verrate ich dir jetzt nicht. Aber du bist doch sowieso davon überzeugt, dass du gewinnst. Also schlag ein.“

Lilli griff nach seiner Hand. Sie fühlte sich glitschig und schmierig an, als hätte der Junge sie in eine Packung Flüssigseife oder Öl getunkt und ein merkwürdiger Geruch stieg ihr in die Nase. „Dann bis morgen.“

„Was? Morgen?“ Doch der Junge war schon im Flur verschwunden. Nachdenklich schaute sie ihm hinterher. Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Vielleicht hatte er das alles aber auch im übertragenen Sinn gemeint. Schließlich konnte Wasser nicht mit einer echten Stimme sprechen. Das konnte einfach nicht sein. Oder doch?

Doch jetzt musste sie erst einmal das Chaos beseitigen, dass er hinterlassen hatte. Er hatte noch nicht einmal das Wasser abgelassen, als er aus der Badewanne gestiegen war. Die Pfützen bedeckten inzwischen beinahe den gesamten Boden und liefen langsam in den Flur. Die Flaschen mit Schaumbad am Rand der Wanne waren unter einer Wolke Schaum verschwunden. Sie griff in das Wasser und zog den Stopfen. Das Wasser gab ein leises Glucksen von sich, als es langsam im Abfluss verschwand. Es sprach nicht zu ihr, wie sie es gesagt hatte. Vielleicht hatte der Junge Recht, vielleicht musste sie sich mehr konzentrieren oder offener sein. Oder vielleicht musste es frisches Wasser sein? Vielleicht sprach das Wasser in der Wanne nicht mehr, weil es zu lange dort gelegen hatte und die Verbindung zum Meer unterbrochen war? Nein, das war einfach zu dumm. Und doch konnte sie nicht aufhören, an seine Worte zu denken.

Sie öffnete den Hahn. Ein feiner Wasserstrahl lief in die Wanne, doch sie hörte nur das Plätschern des abfließenden Wassers. Sie beugte sich vor und hielt ihr Ohr näher an den Wasserstrahl. Doch da war nichts. Keine Stimme, die zu ihr sprach, kein Flüstern oder Wispern. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie sich vorstellte, wie sie für einen Beobachter aussehen musste, in dieser gebückten Haltung über der Badewanne mit dem Ohr fast unter dem Wasserhahn. Wenn ihre Freundin Silke sie so sehen würde, würde sie sie für vollkommen verrückt halten.

„Warum lächelst du?“, flüsterte plötzlich eine Stimme. Sie klang gurgelnd und gluckernd, als würde die Person mit dem Mund halb unter Wasser stehen und bei jedem Wort einen Wasserschwall ausspucken.

Lilli schreckte zurück und schloss den Hahn. Ihre Hände zitterten und sie griff nach dem Rand der Badewanne und hielt sich fest. Einen Moment blieb sie sitzen und lauschte, doch die Stimme war verschwunden. Was war gerade passiert? Hatte das Wasser mit ihr gesprochen? Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Nein, wahrscheinlich hatte sie der Junge so verwirrt, dass sie nun an Wahnvorstellungen litt. Wahrscheinlich machte er dies öfter, einfach in fremde Häuser einsteigen und dort den Verrückten spielen. Bestimmt lachte er sich jetzt in diesem Moment über sie tot, weil sie so ein leichtgläubiges Opfer war. Sie würde nicht mehr an ihn denken und die ganze Sache einfach vergessen.

Als ihre Mutter eine Stunde später nach Hause kam, war Lilli noch immer damit beschäftigt den Boden im Bad zu wischen. Neben der Tür lag ein Haufen nasser Handtücher, die sie über die Wasserlachen gebreitet hatte, doch viel geholfen hatte es nicht. Sobald sie die Handtücher hoch hob, tropfte Wasser zurück auf den Boden. Sie traute sich kaum den Kopf zu heben und ihrer Mutter in die Augen zu blicken.

„Was ist denn hier passiert?“ Ihre Mutter zog die Luft scharf ein. „Warst du Baden? Mit meinem Rosenschaumbad?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Du weißt doch, dass es ein Geschenk war und ich es nur sehr selten benutze. Außerdem ist es wahnsinnig teuer und man darf nur wenig nehmen.“ Ihr Blick glitt an Lilli vorbei. „Die Flasche ist fast leer.“

„Ich war das nicht“, stammelte Lilli.

„Nein? Wer war es dann?“

Lilli schwieg. Ihre Mutter würde ihr ja doch kein Wort glauben.

„Gut, dann bezahlst du das Schaumbad von deinem Taschengeld.“

„Aber ich war es wirklich nicht“, platze es aus ihr heraus. Bevor sie für den Idioten auch noch zahlte, würde sie alles erzählen, auch wenn es seltsam klang. „Da war ein komischer Junge. Er saß schon in der Badewanne, als ich ins Haus kam. Er hat dein Schaumbad benutzt.“

Es klang wie eine Ausrede, die sie ihrer Mutter erzählte. Sie erwartete, jetzt eine Standpauke zu hören, dass man nicht lügen sollte, doch nichts geschah. Ihre Mutter klammerte sich an den Türrahmen, so fest, dass die Knöchel weiß hervor traten.

„Mama, ist alles in Ordnung?“ Mit einem Satz war Lilli neben ihr und griff nach ihrem Arm.

„Ja, es geht schon.“ Sie straffte die Schultern und schüttelte Lillis Hand ab. Ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengekniffen und sie wich Lillis Blick aus. Lilli kannte diesen Ausdruck von ihrer Mutter, wenn diese mit Frau Lehr, einer Frau aus den Reihenhäusern eine Straße weiter gestritten hatte. „Räum hier auf. Es gibt gleich Essen.“

„Ist gut.“

Der Geruch von frischen Pfannkuchen stieg Lilli in die Nase, als sie zehn Minuten später in die Küche trat. Ihre Mutter stand am Herd und gab gerade eine Kelle Teig in eine Pfanne. Es zischte leise, als die Masse auf heißes Fett traf und auseinander lief. Ihre Mutter starrte auf die Pfanne hinab, als könnte sie Formen, Bilder oder sonst irgendetwas Interessantes auf der Oberfläche erkennen.

Lilli nahm Teller und Besteck aus dem Wandschrank und stellte alles auf den Tisch. Ihre Mutter reagierte noch immer nicht. Langsam wurde sie unruhig. War es wirklich so schlimm, dass der Junge das Schaumbad aufgebraucht hatte? Und gab ihre Mutter ihr die Schuld dafür? Was hätte sie denn tun sollen? Als sie ins Haus gekommen war, war es schon zu spät gewesen. „Also wegen deinem Schaumbad...“, begann sie. „Ich war das wirklich nicht.“

„Das weiß ich doch“, antwortete ihre Mutter und lächelte, doch es wirkte aufgesetzt und nicht ehrlich. „Mach dir deshalb keine Sorgen. Ich mochte es eigentlich gar nicht so gerne.“ Sie legte den Pfannkuchen aus der Pfanne auf einen Teller zu einigen, bereits fertig Gebackenen und stellte alles auf den Tisch. „Jetzt setz dich und iss.“

Lilli griff zu. Pfannkuchen mit Marmelade waren eins ihrer Lieblingsgerichte, doch ihre Mutter hielt Zucker für ungesund und deshalb gab es nur selten süße Gerichte. „Kannst du mir bitte die Marmelade reichen?“

Ihr Mutter schnitt ihren Pfannkuchen in kleine Streifen und reagierte nicht.

„Mama?“

„Ja?“ Ihre Mutter blickte auf.

„Kannst du mir bitte die Marmelade reichen?“ Lilli deutete mit dem Messer auf das Glas.

„Natürlich.“

„Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Ja, ich bin nur etwas in Gedanken. Entschuldige bitte.“ Doch ihre Mutter wirkte weiter abwesend und als Lilli schlafen ging, hörte sie sie im Zimmer nebenan leise weinen.

* * *

Früh morgens wurde Lilli wach. Ihre Nachttischlampe brannte, doch sonst war es dunkel im Zimmer. Sie spürte Druck wie von Händen an ihren Schultern und jemand schüttelte sie. Sie schob die Arme zur Seite und zog sich die Decke über den Kopf. „Ich will weiterschlafen, es sind doch Ferien.“

„Nicht da, wo wir hingehen“, sagte eine Stimme. Sie erkannte sie sofort. Plötzlich war sie hellwach. Es war, als hätte ihr jemand einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Körper geschüttet.

Langsam zog sie die Decke von ihrem Gesicht und schaute in die strahlend blauen Augen ihres gestrigen Besuchers. Er hatte sich über sie gebeugt und musterte sie mit einem verschmitzten Lächeln. Er war so dicht über ihr, dass sie seinen Atem auf ihrer Wange spüren konnte.

Sie schreckte auf und fühlte einen gellenden Schmerz an ihrer Stirn. Um sie herum wurde kurz alles schwarz. „Aua.“

Als sie wieder aufblickte, war der Junge ans Ende des Bettes gerutscht. „Begrüßt du Besucher immer so?“ Er rieb sich den Kopf. „Ich sollte mir nächstes Mal einen Schutzhelm mitbringen.“

„Oder einfach nicht ungebeten auftauchen“, gab sie zurück. „Dann erschreckt man sich auch nicht, wenn man dich sieht.“

„Du findest mich also erschreckend“, bemerkte er und musterte sie. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Wie lange war er eigentlich schon hier? Und wie lange hatte er sie beobachtet? Hoffentlich hatte sie nicht geschnarcht oder im Schlaf gesprochen. Und wenigstens hatte sie nicht den peinlichen Mäuseschlafanzug von ihrer Oma an. Wie war er überhaupt schon wieder herein gekommen? Sie blickte sich um. Er hatte das Licht auf ihrem Nachttisch angeschaltet, wahrscheinlich um sie besser anstarren zu können. Das Fenster zum Garten war nicht mehr angelehnt, sondern stand weit offen, und der süße Geruch von Flieder stieg ihr in die Nase. „Was fällt dir ein, hier aufzutauchen?“, herrschte sie ihn an. „Verschwinde aus meinem Zimmer. Ich will schlafen.“

„Ich habe doch gesagt, dass wir uns heute wiedersehen.“ Er stand auf, als wäre es völlig normal, mitten in der Nacht in fremden Schlafzimmern zu stehen.

„Das heißt nicht, dass du dich einfach so in mein Zimmer schleichen kannst.“ War er nicht ganz bei Trost? Sie konnte es nicht fassen.

„Wieso nicht? Deine Mutter hat mich schon erwartet.“

„Meine Mutter kennt dich überhaupt nicht“, erwiderte sie. „Wobei, wenn man es genau nimmt, kennt sie dich doch. Ich habe ihr von dem Verrückten erzählt, der hier eingebrochen ist, um ein Bad zu nehmen.“

„Und genau deshalb hat sie mich erwartet.“

„Wie kommst du denn darauf?“ Wovon sprach er überhaupt? Wie konnte ihre Mutter ihn erwartet haben?

„Das ist doch nun wirklich offensichtlich“, sagte der Junge und lächelte. Lilli wollte ihn anbrüllen, doch es hätte ihn vermutlich noch gefreut, sie so in Aufruhr zu versetzen.

„Für mich nicht“, erwiderte sie und versuchte ihrer Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben. „Also?“

„Ganz einfach“, sagte der Junge und deutete auf eine große, blaue Reisetasche. Sie war Lilli bis jetzt nicht aufgefallen. „Sie hat für dich gepackt.“

Lilli erkannte die Tasche sofort. Ihre Mutter hatte sie ihr im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt.

„Damit du deine eigene Tasche hast, wenn du wieder auf Klassenfahrt fährst“, hatte sie damals gesagt und Lilli hatte sich sehr darüber gefreut. Die alte, geblümte Tasche ihrer Mutter war ihr auf der Abschlussfahrt der Grundschule schon ein wenig peinlich gewesen und sie war froh gewesen, nun eine coole, neue Tasche zu besitzen. Doch jetzt sah sie alles in einem ganz anderen Licht. Wollte ihre eigene Mutter sie etwa loswerden? Und hatte sie es schon damals geplant?

„Jetzt komm schon, wir haben einen weiten Weg vor uns“, drängte sie der Junge und ging zum Fenster. Er kletterte auf die Fensterbank und schwang die Beine hinaus. Es wirkte ungelenk und vorsichtig, gar nicht so, als wäre er es gewohnt, in anderer Leute Häuser einzubrechen. „Ich warte draußen. Und hab keine Angst, du musst nicht durchs Fenster klettern. Deine Mutter ist nicht da. Du kannst einfach durch die Haustür gehen.“

Lilli beobachtete, wie er sich zur Seite beugte und nach etwas griff. Dann verschwand er aus ihrem Blickfeld. Das Fenster war nur noch eine dunkle Öffnung, die schwach vom Mond erhellt wurde. Die Vorhänge blähten sich leicht auf und noch immer roch sie den Duft von Flieder. Nichts deutete mehr auf den Besuch des Jungen hin. Doch da war immer noch die Tasche, wie ein Mahnmal, das sie daran erinnerte, dass ihre Mutter den Besuch des Jungen erwartet hatte. Gut, wenn sie sie loswerden wollte, würde sie ihr den Gefallen tun.

Wie in Trance putzte sie sich die Zähne und zog sich an. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken und alles von sich schieben, doch die Gedanken kehrten zurück, wie Kletten, die sie nicht abschütteln konnte. Was wollte der seltsame Junge nur von ihr? Und was hatte ihre Mutter damit zu tun? Sie musste den Jungen kennen, denn sonst hätte sie doch nachgefragt, als Lilli von ihm erzählt hatte. Und sie musste auch wissen, was er vorhatte. Aber warum hatte sie nie etwas gesagt? Warum hatte sie nie mit ihr darüber gesprochen, dass sie den Besuch des Jungen erwartete und eine gepackte Reisetasche schon bereit stand? Das machte doch alles keinen Sinn.

Plötzlich spürte sie einen Kloß in ihrem Hals, der immer dicker wurde. Sie schluckte, doch es half nicht. Eine Träne rann ihr über die Wange, aber sie kümmerte sich nicht darum. Wie konnte ihre Mutter ihr das nur antun? Und wie hatte sie selbst nur so blöd sein können? Die Anzeichen waren schließlich da gewesen. Wie hatte sie die nur so ignorieren können? In letzter Zeit hatte es einige seltsame Vorkommnisse gegeben, doch sie hatte sie nie auf sich selbst bezogen.

Ihre Mutter war abends oft lange weggeblieben und hatte am Telefon immer schnell aufgelegt, wenn Lilli das Zimmer betrat. Erst hatte sie gedacht, dass ihre Mutter sich heimlich mit einem Mann traf, denn so war es bei ihrer besten Freundin Silke auch gewesen. Deren Mutter war auch erst sehr komisch und geheimnisvoll gewesen und hatte Silke und ihrer kleinen Schwester schließlich ihren neuen Freund präsentiert. Aber daran glaubte Lilli nicht mehr.

Sie schaute auf die Tasche. Das dunkle Blau hatte ihr früher gut gefallen, denn es erinnerte sie an das Wasser der Bergseen in Österreich, wo sie im letzten Jahr in Urlaub gewesen war. Doch nun wirkte es bedrückend, ja fast schon düster auf sie. Mit einem Mal waren die guten Erinnerungen wie weggeblasen und übrig blieb nur ein Gedanke: mit dieser Tasche sollte sie ihr Zuhause verlassen. Sie trat näher und griff dann nach den Schlaufen. Mit einem Ruck hob sie die Tasche über ihre rechte Schulter. Sie war schwerer als gedacht und im ersten Moment musste sie aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Sie schaute sich ein letztes Mal in ihrem Zimmer um. Sie würde diesen Ort vermissen und all die schönen Dinge, die sie mit ihm verband. Als sie noch kleiner war, hatte ihre Mutter ihr jeden Abend eine Geschichte vorgelesen. Sie hatten zusammen einen Sternenhimmel aus goldener Folie gebastelt und eine Girlande aus Fotos aufgehangen, die noch immer zwischen Schreibtisch und Kleiderschrank gespannt war. Es waren Bilder von Lilli und ihrer Mutter und von ihren Freundinnen. Doch etwas gehörte nicht dazu. Ihr Blick fiel auf einen kleinen, grauen Zettel, der direkt neben einem Foto von ihr und ihrer Mutter an der Girlande hing. Sie erinnerte sich an das Bild. Es war an dem Tag aufgenommen worden, als sie aufs Gymnasium gekommen war. Ihre Mutter musste gewusst haben, dass sie sich dieses Bild noch einmal anschauen würde. Sie löste die Befestigung und las den Text.

„Meine liebe Lilli, ich hoffe, dein nächtlicher Besucher hat dir keine Angst gemacht und du freust dich jetzt auf Überraschungsurlaub. Es ist mir sehr schwer gefallen, dir nichts zu verraten. In drei Wochen sehen wir uns wieder. Deine Mama“

Mit einem Mal war der Kloß in ihrem Hals verschwunden. Sie ließ die Tasche fallen und setzte sich auf den Boden. Sie verstand es einfach nicht. Warum hatte ihre Mutter ihr nichts gesagt? Sicher, es sollte eine Überraschung sein, aber sie hätte wenigstens verraten können, dass sie einen Urlaub geplant hatte. Wie gerne hätte Lilli sich verabschiedet und die Umarmung ihrer Mutter gespürt. Das hätte alles viel erträglicher gemacht.

Ihre Beine zitterten leicht, als sie aufstand, aber wenigstens war das Gefühl, nicht gewollt zu sein, verschwunden. Mit einem Ruck hob sie die Tasche wieder hoch und verließ das Zimmer. Sie musste nicht zurück blicken und sich alles einprägen. Sie würde wiederkommen.

Der Junge saß vor der Haustür auf der roten Bank, die Lillis Mutter so sehr liebte.

„Du musst nicht gleich anfangen zu heulen“, sagte er mit einem Blick auf ihre geröteten, feuchten Augen und stand auf. „Du bist doch nur drei Wochen weg. Warum heulen nur immer alle?“

„Das wusste ich vorher aber nicht“, murmelte Lilli und wandte sich ab. Sie standen alleine auf der Straße. Die Laternen verbreiteten sanftes Licht und am Horizont sah Lilli erste, rötliche Streifen, die bald die Dunkelheit der Nacht verabschieden würden.

„Wie kommen wir hier eigentlich weg? Werden wir abgeholt?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein, für deine Anreise bin nur ich zuständig. Komm mit.“

Er griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich. Lilli zuckte unter der Berührung zusammen. Seine Hände fühlten sich wieder irgendwie glitschig und feucht an, aber dennoch fühlte sich ihre Hand in seiner gut an, irgendwie sicher und gleichzeitig vertraut. Der Junge musterte sie von der Seite, sagte aber nichts. Schweigend öffnete er ein Gartentor und winkte sie weiter.

„Das ist der Garten unserer Nachbarn“, stellte sie fest. „Die haben einen bissigen Hund und außerdem ist das Einbruch. Wir sollten verschwinden, bevor uns jemand sieht und die Polizei ruft.“

„Ach, die schlafen noch“, sagte der Junge und schaute sich um. „Mir macht gerade etwas anderes Sorgen.“

„Was denn? Dass dich ihre Fische anfallen könnten?“ Sie kletterte über die groben Steinplatten zum Teich. Der Schein kleiner Solarlampen hing wie große Glühwürmchen in der Luft und erhellte die Umgebung schwach. Der Teich bildete eine glatte, spiegelnde Oberfläche. Lilli beugte sich hinab und berührte sie. Wellen kräuselten sich um ihre Finger und malten geheimnisvolle Formen. Wenn sie im Keller etwas holen sollte, hatte sie Angst vor der Dunkelheit und vor dem, was dort sein könnte, doch hier war es anders. Hier war sie nicht allein. „Und was wollen wir hier?“

„Pst“, flüsterte der Junge. Er starrte auf die Straße, als wäre er auf der Suche nach etwas.

Mit einem Mal war die Anspannung wieder da. Vom Teich aus konnte sie kaum etwas erkennen. Sie stand auf, vorsichtig und darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, und schlich zu dem Jungen. Ihr Herz pochte wie wild und ihre Beine zitterte leicht. Sie wollte nicht im Garten ihrer Nachbarn erwischt werden, noch dazu zusammen mit einem Jungen, den sie so gut wie gar nicht kannte. „Was ist denn da?“

„Ein Wassermann“, flüsterte der Junge und schob sie weiter hinter die Hecke. „Aber er hat uns nicht gesehen.“

Meinte er das tatsächlich ernst? „Es ist bestimmt nur Stefan, der mit seinem Vater Prospekte austrägt.“

Sie reckte den Kopf in die Höhe und schaute über die Hecke. „Ich sehe niemanden.“

„Natürlich nicht. Er ist ein Meister der Tarnung. Aber ich habe ihn schon vor fünf Minuten gerochen.“

Machte er sich wieder über sie lustig? „Wie riecht er denn, dass du ihn über diese Entfernung wahrnehmen kannst?“

„Nach Fisch natürlich. Und ein bisschen nach Algen.“

„Das ist der Teich, der so seltsam riecht. Meine Mutter beschwert sich auch immer, dass unsere Nachbarn ihn selten sauber machen und er voller Algen ist.“ Sie stand auf. „Komm mit, dann siehst du es selbst.“

Mit einem Sprung war der Junge bei ihr und warf sie zu Boden. Das Gewicht auf ihrem Körper presste ihr die Luft aus der Lunge. „Versteck dich, er darf dich nicht sehen.“

„Bist du bescheuert? Geh von mir runter.“ Sie presste ihre Hände mit aller Kraft gegen seine Brust und das Gewicht verschwand. Sie schnappte nach Luft und richtete sich auf. „Was sollte das denn jetzt?“

„Er sollte uns nicht bemerken, aber dafür ist es zu spät.“

Sie folgte seinem Blick. Ein Schatten schoss von der Straße auf den Garten zu. Das Grollen, das er dabei von sich gab, klang wie das Knurren eines sehr großen, sehr bösen Hundes. Sie meinte, sich nicht bewegen zu können. Starr beobachtete sie, wie eine dunkle Gestalt mit glühenden roten Augen das Tor öffnete und auf sie zukam.

„Willst du warten, bis er dich holt?“ Der Junge riss sie auf die Beine. „Komm mit!“

Ohne die Augen von der Gestalt zu lassen, ließ sie sich mitziehen. Trotz der Lichtverhältnisse konnte sie sie nicht genau erkennen. Ihre Umrisse schienen merkwürdig verschwommen und unscharf, wie bei einem Schatten. Nur die glühenden Augen wirkten klein und stechend und sahen sie boshaft an. Plötzlich spürte sie etwas Kaltes an ihren Beinen. Sie blickte zu Boden. Sie und der Junge standen bis über die Knöchel im Teich der Nachbarn. Die Kälte riss sie abrupt aus der Trance. „Bist du bescheuert geworden? Was soll das?“

„Komm weiter.“ Die Hand des Jungen lag wie ein Schraubstock um ihren Arm.

„Lass mich los“, kreischte sie und zerrte an seiner Hand. „Du bist doch verrückt.“

„Halt die Luft an.“ Sie wehrte sich mit aller Kraft, doch er war stärker. Sie spürte, wie er ihr ein Bein stellte und sie in den Teich schubste. Dann drückte er ihren Kopf unter Wasser. Um sie herum wurde alles dunkel. Eine faulig schmeckende Flüssigkeit drang ihr in den Mund. Sie schlug wild um sich, doch der Junge hatte sie fest gepackt und hielt sie unter Wasser. Sie schnappte nach Luft und schluckte mehr Wasser. Das Blut rauschte in ihren Ohren und ihr Herz schlug so heftig, dass sie meinte, es müsste ihr aus der Brust springen. Und dann war alles vorbei, der Druck auf ihrer Brust, die Dunkelheit und die Panik. Plötzlich fühlte sie sich vollkommen frei. Als hätte er es bemerkt, ließ der Griff des Jungen nach. Sie schüttelte die Arme ab und blickte sich um.

Sie schwebte einige Zentimeter unter der Oberfläche mitten im Wasser. So hatte sie den Teich der Nachbarn noch nie gesehen. Der Schein der Solarlampen spiegelte sich im Wasser und schimmerte wie ein leuchtender Nebel. Die vielen Pflanzen unter der Wasseroberfläche wiegten sich im Takt der Wellen, als würden sie zu einer Musik tanzen, die nur sie alleine hören konnten. Die Algen erinnerten sie an einen feinen, dünnen Vorhang, der im Wind wehte. Es war ein fantastischer Anblick, wunderschön und gleichzeitig so fremdartig, wie in einer völlig anderen Welt, einer Welt, die schon immer dagewesen war und die sie nur nie bemerkt hatte.

Der Junge schwamm nur eine Armlänge von ihr entfernt ebenfalls im Wasser und beobachtete sie. Wie konnte es überhaupt sein, dass um sie herum soviel Platz war? Sie konnte weder unter sich noch zu ihren Seiten Boden sehen. So tief war der Teich doch gar nicht. Oder doch? Und warum musste sie nicht atmen? Warum verspürte sie nicht das Verlangen, Luft in ihre Lungen zu pumpen, so wie es sonst beim Tauchen der Fall war? Es fühlte sich nicht an, als befände sie sich unter Wasser und doch war dies der Fall. Wie seltsam.

Plötzlich bemerkte sie noch etwas anderes. Eine goldene Kugel hüpfte vor ihr auf und ab. Sie versuchte nach ihr zu greifen, doch die Kugel sprang einfach zur Seite. Immer wilder tanzte sie durch das Wasser und drehte sich schließlich im Kreis. Wo sie das Wasser berührte, bildeten sich kleine Strömungen, die sich zu einem Wirbel vereinigten. Immer schneller drehte sich die Kugel um Lilli, sodass ihr fast schwindelig wurde. Das Brüllen des Wirbels wurde immer lauter und dröhnte ihr in den Ohren.

Wie mit vielen Händen zog und zerrte der Wirbel an ihr. Sie kämpfte dagegen an, ruderte heftig mit den Armen, doch es half nicht. Der Sog riss sie mit sich in die Tiefe.

Willkommen in Aquatica

Es herrschte Dämmerlicht, als Lilli wieder die Augen öffnete. Sie lag auf dem Rücken und unter sich spürte sie etwas Weiches. Was war geschehen? Sie erinnerte sich daran, dass der seltsame Junge sie mit in den Garten der Nachbarn genommen hatte. Jemand hatte sie verfolgt und er hatte sie in den Teich gezerrt. Dann war um sie nur Wasser gewesen und eine goldene Kugel hatte sie mit sich in die Tiefe gerissen.

„Wo bin ich?“ Sie versuchte sich aufzurichten.

„Bleib liegen“, sagte eine Stimme und sie wurde sanft zurück gedrückt. „Du musst dich von der Reise erholen.“

Lilli wandte den Kopf zur Seite und sah den Jungen neben sich sitzen.

„Wo bin ich?“, wiederholte sie. „Wie bin ich hierher gekommen?“

„Wir sind in Aquatica“, sagte der Junge und ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Hier wirst du die nächsten drei Wochen verbringen und etwas über deine Herkunft lernen.“

„Aquatica?“, fragte Lilli. Sie hob den Kopf und dieses Mal hielt er sie nicht zurück. Sie blickte auf in Form gebogene Stangen - das Gerüst eines Bettes. Der Raum, in dem sie sich befand, war nicht besonders groß und nur mit dem Nötigsten ausgestattet: Ein Schrank, eine niedrige Kommode – mehr konnte sie nicht erkennen. An der Decke über ihr hing eine Lampe in der Form einer weißen Kugel und verbreitete sanftes Licht. Doch etwas war seltsam. War es die Art, wie das Licht in der Luft schimmerte und reflektierte? Lilli wusste es nicht. Ihr Kopf dröhnte und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wahrscheinlich hatte sie das Bewusstsein verloren und der Junge hatte sie hierher gebracht.

„Aquatica ist eins der fünf Reiche des Meeres“, sagte er und beobachtete sie aufmerksam, als könnte er in ihren Augen Erkennen sehen. Sie musste ihn enttäuschen. Sie hatte nie zuvor von einer Gegend mit diesem Namen gehört. „Ich bin übrigens Argos, dein Pate.“

„Mein Pate?“

„Ja, die Neuen bekommen alle einen Paten. Es sind ältere Schüler, die ihr alles fragen könnt, was ihr wollt. Es ist anfangs nicht einfach, sich hier zurecht zu finden. Tut mir übrigens leid, dass wir den Vortex benutzen mussten. Aber Wassermänner sind nicht gerade freundlich und wir mussten schnell verschwinden.“

„Meinst du damit diesen Wirbel?“, fragte sie. In ihrem Kopf pochte es wie wild. Hatte sie sich gestoßen oder einen Schlag abbekommen? Oder hatte sie zu viel Wasser geschluckt? Träumte sie vielleicht noch? Nein, das konnte nicht sein. Der Junge wirkte viel zu real, als er munter weiter erzählte. „Ja, genau, den meine ich. Eigentlich dürfen wir den Vortex nicht benutzen, denn er ist gefährlich und manchmal lässt er sich nicht kontrollieren. Aber wenn wir die Neuen abholen, dann ist es in Ausnahmefällen erlaubt. Viele sind nicht leicht zu überzeugen. Sie glauben uns nicht oder weigern sich einfach. Und manchmal kommen die Wassermänner dazwischen.“

„Was, das passiert öfter?“

„So oft nun auch wieder nicht“, lenkte er ein. „Aber wie gesagt, die Reise ist nicht immer einfach.“

„Kein Wunder, wenn man mitten in der Nacht einfach verschleppt wird.“

„Ja, daran könnte es auch liegen. Aber so sind die Regeln.“

Sie ging nicht weiter darauf ein. Langsam lichtete sich der Nebel in ihrem Kopf. Sie hatte sich auf Argos konzentriert und die seltsame Anreise und so war es ihr zuvor nicht aufgefallen. Nun trat es in einer Intensität in den Vordergrund, dass sie sich wunderte, wie sie darüber hatte hinweg sehen können. Sie hob ihre Hand. Fassungslos beobachtete sie, dass sie ohne Anstrengung in der Luft schwebte. Sie ließ ihre Muskeln locker und spannte sie nicht an, aber dennoch blieb ihre Hand auf Höhe ihrer Schultern.

„Wir sind unter Wasser“, sagte Argos und deutete auf ihre Hand. „Deshalb fühlst du dich hier fast schwerelos. Die Erdanziehung, wie du sie an der Oberfläche spürst, hat hier kaum eine Bedeutung. Und den Wasserdruck spürst du erst in größerer Tiefe.“

Sein Blick war ernst und zeigte nicht das kleinste Anzeichen, dass er sich über sie lustig machte, als glaubte er tatsächlich, was er sagte.

„Das muss ein Traum sein. Wahrscheinlich bin ich im Teich ertrunken.“

„So ein Quatsch. Du bist nicht ertrunken. Soll ich es dir beweisen?“ Sie spürte seine Finger auf ihrem Arm und dann ein leichtes Zwicken. „Aua!“

„Siehst du, es ist kein Traum. Was du gerade fühlst, ist völlig normal. So geht es allen am Anfang.“ Er machte eine ausholende Handbewegung. „Und wundere dich nicht, dass du hier nicht ertrinkst. Deine Eltern waren Halbtritonen, deshalb kannst du unter Wasser atmen.“

Eine Moment wollte sie ihn anschreien, dass er ihr derart seltsame Dinge erzählte, doch sie verwarf den Gedanken. Wahrscheinlich war dies alles am schnellsten vorbei, wenn sie einfach mitspielte. „Halbtritonen? Was sind denn Halbtritonen?“

„Tritonen sind Nixen, Meerjungfrauen, Seegeister - es gibt viele Namen. Im Grunde genommen sind es Geschöpfe, die unter Wasser leben. Halbtritonen haben einen Mensch und einen Seegeist als Eltern. Viele von uns entscheiden sich für ein Leben an Land und dort lernt man eben nur richtige Menschen kennen. Aber die Kinder dürfen nichts von ihrer Herkunft erfahren, damit sie selbst entscheiden können, welchen Lebensraum sie vorziehen.“