Das Geheimnis von Seynford Hall - Tanja Bern - E-Book
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Das Geheimnis von Seynford Hall E-Book

Tanja Bern

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Beschreibung

Als Samantha einen förmlichen Brief erhält, der sie in den Süden Englands zitiert, denkt sie zuerst an einen Scherz. Was will eine adlige Familie aus Cornwall von ihr? Doch die Neugierde siegt. Auf dem Weg nach Seynford Hall begegnet Samantha Dave, aber das Treffen läuft mehr als unglücklich, und sie setzt ihre Reise schnell wieder fort. Wenig später steht sie dann endlich Adalind Seynford gegenüber. Die ältere Dame scheint nichts von dem ominösen Anwaltsbrief zu wissen und verweist den ungebetenen Gast unfreundlich des Hauses.

Es scheint sich alles gegen sie verschworen zu haben. Bis Mrs Seynford plötzlich in ihrer Pension auftaucht und ihr ein Geheimnis anvertraut, das Samantha zutiefst erschüttert. Doch was ist damals wirklich geschehen? Bei der Suche nach Antworten trifft Samantha Dave wieder, der mehr damit zu tun hat, als sie ahnt ...

Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Teil 1 – Samantha

1

2

3

4

5

6

7

Teil 2 – Adalind

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

Teil 3 – Evelyn

19

20

21

22

23

Teil 4 – Toby

24

25

26

27

28

29

Epilog

Weitere Titel der Autorin

Die Töchter von Tarlington Manor

Das Geheimnis der schwedischen Briefe

Über dieses Buch

Als Samantha einen förmlichen Brief erhält, der sie in den Süden Englands zitiert, denkt sie zuerst an einen Scherz. Was will eine adlige Familie aus Cornwall von ihr? Doch die Neugierde siegt. Auf dem Weg nach Seynford Hall begegnet Samantha Dave, aber das Treffen läuft mehr als unglücklich, und sie setzt ihre Reise schnell wieder fort. Wenig später steht sie dann endlich Adalind Seynford gegenüber. Die ältere Dame scheint nichts von dem ominösen Anwaltsbrief zu wissen und verweist den ungebetenen Gast unfreundlich des Hauses.

Es scheint sich alles gegen sie verschworen zu haben. Bis Mrs Seynford plötzlich in ihrer Pension auftaucht und ihr ein Geheimnis anvertraut, das Samantha zutiefst erschüttert. Doch was ist damals wirklich geschehen? Bei der Suche nach Antworten trifft Samantha Dave wieder, der mehr damit zu tun hat, als sie ahnt …

Über die Autorin

Tanja Bern ist in Herten geboren und lebt heute mit ihrer Familie und drei Katzen in einem kleinen Stadtteil von Gelsenkirchen. Sie ist dem Ruhrgebiet immer treu geblieben, obwohl sie eine Vorliebe für die nordischen Länder hegt. Wenn sie in der Natur sein und schreiben kann, ist sie glücklich. Und wenn ihre Helden sich dann noch verlieben, schlägt ihr Herz höher …

TANJA BERN

Das Geheimnis vonSeynford Hall

beHEARTBEAT

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Unter Verwendung von Motiven von © upslim / Adobe Stock; © mick blakey / Adobe Stock; © asb63 / Adobe Stock; © gip311 / iStock / Getty Images Plus; © Tom Meaker / Getty Images

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-7907-5

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Teil 1~Samantha

1

Der Regen prasselte an die schmutzige Scheibe der Werkstatt. Samantha konnte die Häuser auf der gegenüberliegenden Straße nur schemenhaft erkennen. Es fiel ihr schwer, den Blick abzuwenden. Diese verschwommene Sicht glich so sehr ihrem Gefühlszustand, dass ihr ein Schauder über den Rücken lief.

Etwas klirrte und schreckte sie auf. Ein Fluch hallte durch den großen Raum.

Sie blinzelte und schüttelte rasch ihre trüben Gedanken ab. »Du sollst das Werkzeug benutzen und nicht durch die Gegend werfen«, rief sie Greg zu.

Der ältere Mann zog eine Grimasse und steckte seinen Kopf wieder in den offenen Motorraum des verbeulten Pick-up. Samantha grinste und zog sich die Werkzeugkiste heran, um sich den Radmutternschlüssel zu holen, damit sie die Bolzen an dem alten Ford festziehen konnte. Als sie sich dem ersten Rad widmete, spürte sie, dass jemand hinter sie trat.

»Ganz schön frech für ’ne kleine Kellnerin«, raunte Ricardo.

Sie würde sich nicht wieder von ihm provozieren lassen. »Lass mich arbeiten. Stell lieber schon mal das Bier kalt.«

Gekonnt zog sie einen der Bolzen fest und würdigte den jungen Mann keines Blickes.

Ohne Vorwarnung rempelte er sie an, zog ihr gleichzeitig das Basecap herunter. Samantha stieß unsanft mit dem Kopf gegen den Radkasten. Sie atmete tief durch, richtete sich auf und funkelte ihn an. Er wedelte mit ihrer Kappe herum, als käme er geradewegs aus dem Kindergarten.

»Na, Sam? Jetzt guckst du aber, was?«

Er war attraktiv, keine Frage. Breite Schultern, muskulöse Arme und dichte dunkle Locken – ein Erbe seiner süditalienischen Vorfahren. Aber Samantha fand ihn einfach nur albern. Sein Machogehabe und seine plumpe Anmache gingen ihr auf die Nerven. Greg kam näher, doch sie hielt ihn mit einer Geste zurück. Sie richtete sich auf und lächelte Ricardo verführerisch an. »Du möchtest es sehen, oder? Mein Haar …«

Er lachte, und seine dunklen Augen blitzten.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Greg in der Nähe blieb. Sie warf ihm einen Blick zu, er runzelte die Stirn. Mit einem Handgriff löste sie das Gummi, das ihre langen hellblonden Haare in einen unordentlichen Dutt zwang. Sie fühlte, wie die zerzausten Strähnen ihr bis auf den halben Rücken fielen.

»Gefalle ich dir so besser, Ricardo?«, gurrte sie.

Er wich zurück und musterte sie misstrauisch. »Was hast du vor?«

Mit zwei schnellen Schritten stand sie vor ihm. Er war einen halben Kopf größer als sie. Ohne zu zögern, fasste sie ihm in den Schritt und kniff zu. Ricardo starrte sie wortlos an.

»Mein Lieber, wenn du deine Eier noch ein bisschen behalten willst, dann lass künftig solche Spielchen bei mir, okay?« Samanthas Stimme klang zuckersüß, sie lächelte noch immer.

Ricardo fiel ihr Basecap aus der Hand. Er nickte rasch und keuchte auf, als sie noch ein wenig fester zupackte.

»Okay?«, wiederholte sie.

»Klar, okay!«, presste er hervor.

Sie ließ ihn los. Er taumelte drei Schritte zurück und legte die Hand schützend auf seine Körpermitte. Greg lachte so sehr, dass er sich an die Werkbank lehnen musste.

»Und jetzt stell das verdammte Bier kalt«, sagte Samantha.

Ricardo schnaubte und schlich in Richtung Aufenthaltsraum.

Samantha nahm ihr Haar wieder zusammen und schlang es mit dem Gummi zu einem Dutt. Sie langte nach ihrer Kappe, setzte sie auf und griff nach dem Werkzeug.

Greg betrachtete sie nachdenklich.

»Er wird trotzdem nicht aufhören«, sagte sie mit einem Seufzen.

»Er will halt bei dir landen.«

»Er hat ’ne komische Art, das zu zeigen. Man könnte meinen, er ist noch voll in der Pubertät.«

»Tja, es gibt so Spätzünder.«

Samantha prustete belustigt und fuhr mit ihrer Arbeit fort.

Etwas später, in der Pause, schaute Samantha wieder aus dem Fenster. Hier im Aufenthaltsraum waren die Scheiben nicht so verschmiert wie in der Werkstatt. Das Regenwasser floss in Bächen durch die Straßen von Birmingham. Nur sehr wenige Leute trotzten hier in der Seitengasse dem Wetter. Samantha beobachtete, wie einem Mann von einer Bö fast der Schirm aus der Hand gerissen wurde.

Die Bierflasche fühlte sich eiskalt an, als sie danach griff. Samantha fröstelte leicht. Die dumme Anmache von Ricardo beschäftigte sie mehr, als sie zugeben wollte. Warum konnte sie nicht mal einen vernünftigen Mann kennenlernen? Gab es in ihrem Alter tatsächlich nur Idioten?

Sie warf Greg einen Blick zu. Er lächelte sie väterlich an und fuhr sich durch das schüttere Haar, als sei es ihm unangenehm, dass sie ihn ansah, deshalb wandte sie sich ab.

Als Ricardo hereinkam und zum Kühlschrank ging, trank sie rasch ihr Bier aus und stand auf. Auf noch so eine Begegnung mit ihm konnte sie gut verzichten. Er ließ sich nicht leicht abwimmeln, und er hatte wirklich eine ziemlich nervige Art, sich an Frauen heranzumachen.

Samantha stellte die leere Flasche zurück in den Getränkekasten und ging zurück in die Werkstatt. Eigentlich mochte sie Bier nicht besonders, lieber trank sie Mixgetränke, aber in dieser Männerwelt musste sie versuchen dazuzugehören.

Bei der weiteren Inspektion des alten Wagens ließ Ricardo sie in Ruhe. Sie prüfte noch einige Roststellen und füllte das Kühlwasser auf. Dann klappte sie die Motorhaube zu. Eigentlich war sie keine Automechanikerin. Mr Rowan, der Besitzer der Werkstatt, hatte sie nur als Gehilfin eingestellt, weil sie sich mit älteren Autos auskannte. Vor allem Greg hatte schnell bemerkt, dass sie ein Händchen für Reparaturen hatte, und setzte sie seitdem nicht nur zum Kaffee kochen und Putzen ein, wofür sie sehr dankbar war.

»Bist du fertig, Mädchen?« Mr Rowan gesellte sich zu ihr.

»Ja, ich hab alles gecheckt. Ist auch so weit in Ordnung, bis auf ein paar Roststellen.«

»Wo denn?«

Samantha ging mit ihm um den Wagen herum und zeigte ihm den abgeplatzten Lack.

»Ricardo! Ruf mal den alten Johnson an und sag ihm, der Lack seiner Rostlaube macht am Kühler Probleme. Wir müssen das ausbessern.«

Der junge Mann nickte. »Okay.«

»Kannst für heute Schluss machen, Sam.« Mr Rowan, ein hochgewachsener Mann mit strohblondem Haar und einer markanten Adlernase, warf ihr ein Lächeln zu.

»Danke, Chef.« Sie wischte sich kurz die Hände an einem Tuch ab, rückte ihr Basecap zurecht und verabschiedete sich.

Als Samantha die Werkstatt verließ, knurrte ihr der Magen. Sie steuerte eine der Fast-Food-Ketten an und holte sich einen Burger. Das Wechselgeld stopfte sie in die Tasche ihrer Cargo-Hose. Unter einem Vordach verspeiste sie hastig ihr Abendessen und stellte dabei fest, dass ihre schmutzigen Hände nach Motoröl rochen. Sie sah den Menschen zu, die auf der Hauptstraße geschäftig ihren Erledigungen nachgingen. Einige kämpften sich mit schweren Einkaufstüten durch das immer noch unwirtliche Wetter, das zurzeit fast überall in England Probleme bereitete. Für September war es zudem ungewöhnlich kühl.

Samantha schaute auf die Uhr. Es blieb noch genug Zeit für eine ausgiebige Dusche, und so eilte sie durch den Regen zu ihrem Zuhause – falls man ihre Wohnung in dem baufälligen Hochhaus so nennen konnte. Sie lief durch die Häuserschluchten, bis das aus rotem Backstein gemauerte Gebäude auftauchte. Der Fahrstuhl hatte hier noch nie funktioniert, und sie musste jeden Tag bis in den achten Stock hochlaufen. Samantha nahm die unzähligen Treppen in Angriff, übersprang immer eine Stufe und joggte hinauf, bis sie schwer atmend vor ihrer Wohnungstür stand. Diesen Flur durchquerte man besser so schnell wie möglich. Sie wusste nie, was sie in diesem Haus erwartete. In der Nähe ertönte Geschrei und Gepolter. Samantha schlüpfte rasch in ihre Wohnung, schloss von innen ab und stellte das Radio an, um die Streitgeräusche, die gedämpft immer noch bis zu ihr drangen, nicht mehr zu hören.

Sie sah sich um. Es war ihr von Anfang an schwergefallen, dies hier als ihr Zuhause anzunehmen, aber seit dem Tod ihrer Mutter verstärkte sich das Gefühl immer mehr. Alles war sauber, die alte Couch hatte sie mit bunten Decken aufgepeppt, und kürzlich hatte sie sich sogar einen neuen Lattenrost für ihr Bett kaufen können, weil der alte furchtbar geknarrt hatte. Wenn sie jetzt noch die neuen Risse in den Wänden zuspachtelte, wäre die Wohnung fast hübsch.

Aber eben nur fast …

Samantha ging zu einem Regal im Wohnzimmer, strich sacht über die dunkelgraue Urne, die dort stand.

»Hallo, Mum«, flüsterte sie. »Ich bin wieder zu Hause.«

Bevor sich ihr Blick vor Tränen verschleierte, wandte sie sich ab und ging ins Bad. Die heiße Dusche würde hoffentlich für den Moment alle Sorgen fortspülen.

Schließlich betrachtete sie sich skeptisch im Spiegel. Etwas in ihr sträubte sich, das übliche Make-up aufzutragen. Ihr war heute nicht danach, die freche, verführerische Kellnerin in Mountain’s Bar zu mimen. Aber sie hatte keine andere Wahl. Von dem Geld aus der Werkstatt konnte sie so gerade die Miete bezahlen.

Sie atmete tief durch, setzte ein Lächeln auf und begann, sich zu schminken. Schwarzer Lidstrich, Wimperntusche, dunkelroter Lippenstift … Samantha versank in dem Gefühl, jemand anderes zu sein.

Sie zog das kurze schwarze Kleid für die Bar an, ihre vorgeschriebene Arbeitskleidung, steckte sich das Haar so auf, dass einige kürzere Strähnen hervorlugten, und warf der Urne ihrer Mutter einen Handkuss zu.

»Ich bin in ein paar Stunden wieder da, Mum.«

Die Tür fiel ins Schloss, und Samantha bereute sofort, dass sie nicht zuerst vorsichtig geprüft hatte, ob die Luft rein war.

Denn dort stand Xavier und rauchte einen Joint, sie erkannte sofort den eklig süßen Geruch des Qualms. Der Mann verstellte ihr den Weg ins Treppenhaus.

»Hola, du siehst ja richtig heiß aus, Süße.«

»Ich muss zur Arbeit.«

Er blies provozierend langsam den Rauch aus.

»Vielleicht gehst du lieber nach draußen.« Samantha hielt einen sicheren Abstand zu ihm und zeigte nach oben zum Rauchmelder. »Sonst geht der Alarm wieder los.«

Er lächelte nur süffisant, zog an dem Joint und blies den Qualm in ihre Richtung, sodass Samantha ein Husten unterdrücken musste. Er kam näher, Samantha wich noch nicht zurück. Er gehörte zu der Sorte Mann, die es anstachelte, wenn man Angst zeigte.

»Das Outfit gefällt mir viel besser als die Arbeitshose, die du sonst anhast.«

Xavier hatte schon mehrmals versucht, sich ihr zu nähern, auf sehr unschöne Weise. Einmal war seine Freundin Libby aufgetaucht und hatte ein Riesentheater gemacht … Samantha wollte gar nicht darüber nachdenken. Die meisten Menschen, die hier wohnten, schauten lieber weg, als zu helfen.

Er stand nun nah vor ihr, hob die Hand, strich ihr über Hals und Dekolleté. Ihr Herz raste. Gegen ihn hätte sie nicht die geringste Chance, er war trainiert und überragte sie um einen Kopf.

»Lass mich auch mal ziehen«, sagte sie betont locker, um ihn hinzuhalten.

Er ging sofort darauf ein, hoffte wohl, der Rausch mache sie gefügig. Samantha zog an dem Joint, inhalierte aber nicht, sondern trat einen Schritt zurück und blies den Qualm direkt auf den Rauchmelder an der Decke. Es dauerte nur Sekunden, dann schrillte der Alarm.

Xavier zuckte erschrocken zusammen, riss ihr den Joint aus der Hand. »Scheiße! Du Schlampe!« Rasch trat er die Zigarette aus.

Samantha nutzte seine Unaufmerksamkeit und entwischte ins Treppenhaus. Sie flog fast die Stufen herunter, ließ ihm keine Möglichkeit, sie einzuholen. Er würde jetzt auch genug mit der Feuerwehr zu tun haben, denn das Brandsystem des alten Hochhauses war direkt mit der Wache verbunden.

Draußen schöpfte sie Luft, versuchte, sich wieder zu beruhigen, was ihr nur schwer gelang. Die Angst saß ihr noch im Nacken, ließ ihren Körper beben. Xavier hatte etwas Gefährliches an sich.

Die Worte ihrer Mutter hallten in ihr wider. Dieses Leben hier ist furchtbar, Sam. Versprich mir, dass du versuchst, irgendwie auszubrechen.

»Ich versuch es ja, Mum«, flüsterte sie.

Als Samantha die Sirene der Feuerwehr hörte, zog sie sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und eilte durch den Regen zur Bushaltestelle.

*

Die Barbesitzerin Susann Mountain erwartete sie schon. »Du kommst zu spät, Sam! Alle anderen bedienen schon.«

»Entschuldigen Sie, ich wurde wegen eines Feueralarms im Haus aufgehalten.«

Mit ihren stark geschminkten Augen und dem pechschwarzen Haar ähnelte ihre Chefin Morticia aus der Fernsehserie The Adam’s Family. Sie hatte kein Verständnis für jegliche Art von Fehltritten, so unbedeutend sie auch sein mochten. Samantha war gerade mal drei Minuten zu spät, doch Ms Mountains Blick bohrte sich in den ihren, und sie fürchtete schon, den Job zu verlieren.

»Mach heute eine Stunde länger, dann vergess ich das.«

»Ja, klar, gern, Ms Mountain. Vielen Dank.«

Wie sehr Samantha diese Unterwürfigkeit hasste. Doch ohne diese Arbeit könnte sie kaum überleben. Außerdem respektierte sie die strenge Frau, denn sie beschützte ihre Mädchen. Die Kunden durften gucken und flirten. Anfassen war verboten.

Hastig hängte Samantha ihre feuchte Jacke an den Haken im Aufenthaltsraum, eilte an die Bar und schnappte sich ein Tablett. Sie zog die Blicke auf sich. Ihr außergewöhnlich helles Haar und das hübsche Gesicht kamen gut bei der Kundschaft an.

»Hier, bring das zu Tisch siebzehn.« Darou stellte ihr die Getränke auf das Tablett, lächelte sie mit blitzweißen Zähnen an. Seine dunkle Haut schimmerte im Dämmerlicht der Theke.

Der weitere Abend verlief wie üblich. Samantha brachte Getränke und Snacks zu den Gästen, wusste sich geschickt durch die Menschenmenge der beliebten Bar zu schlängeln. Sie flirtete, lächelte aufreizend, zwinkerte den Männern zu. Es brachte ihr verstohlene Blicke und eine Menge Trinkgeld ein. Trotz allem fühlte sie sich hier wohl, sobald sie in die Rolle der verführerischen Sam geschlüpft war.

Erst als die letzten Gäste das Lokal verließen, kam wieder die wahre Samantha in ihr hervor. Sie seufzte leise und streifte ihre gedankliche Verkleidung ab wie eine alte Haut.

Alle Kellnerinnen zogen sich um und winkten zum Abschied. Darou stand hinter der Theke und spülte Unmengen von Gläsern.

»Gibst du mir bitte mal einen Lappen?«, fragte Samantha.

Darou reichte ihr ein feuchtes Spültuch und sah zu einem älteren Mann, der stur sitzen geblieben war, obwohl die Bar schloss.

»Soll ich ihm sagen, dass er gehen soll?«, fragte sie Darou, doch der schüttelte den Kopf.

»Lass ihn noch austrinken.«

Samantha wischte die Tische ab, schob die Stühle darunter und beobachtete heimlich den Fremden. Er verfolgte sie mit einem seltsamen Blick. Jemand tippte ihr auf die Schulter, und sie drehte sich erschrocken herum.

»Geh nach Hause, Sam«, sagte Elli, die ältere Frau, die noch die halbe Nacht lang in der Bar putzen würde, nachdem sie zugemacht hatten.

»Ich bin heute zu spät gekommen, ich soll dir helfen.«

»Die Chefin ist schon weg. Muss doch keiner wissen.«

Samantha sah zu Darou.

»Elli hat recht, geh nach Hause.« Er wandte sich an den Mann, der immer noch am Tisch ausharrte. »Und Sie gehen bitte auch. Die Bar ist bereits geschlossen.«

Der Fremde nickte und richtete sich auf. Anstatt zum Ausgang steuerte er direkt auf Samantha zu. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Darou alarmiert hinter der Theke hervorkam.

Der Mann machte eine beschwichtigende Geste und holte einen Ausweis hervor. War er von der Polizei? Nein, auf der Karte stand: Timothy Smith.Privatdetektiv.

»Ich gehe sofort. Bitte nur eine Frage. Sind Sie die Tochter von Evelyn Green?«

»Wer will das wissen?«, fragte Samantha misstrauisch.

»Ich möchte nur einen Brief aushändigen.«

»An mich?«

»Sind Sie es?«

»Ja.«

»Der Brief war ursprünglich für Ihre Mutter bestimmt, aber ich weiß, dass sie letztes Jahr verstorben ist. Es war wirklich nicht leicht, Sie ausfindig zu machen.«

»Was für ein Brief?«

Der Mann holte aus der Innentasche seiner Lederjacke einen Umschlag hervor, reichte ihn Samantha. Irritiert betrachtete sie das aufgedruckte Logo des Absenders.

»Was ist das für eine Firma?«

»Mein Auftraggeber, eine Anwaltskanzlei.«

Der Privatdetektiv nickte zum Abschied und verließ ohne weitere Erklärungen die Bar.

Samantha starrte den Brief in ihrer Hand an.

»Hast du Probleme, Sam?«, fragte Darou besorgt.

»Keine, von denen ich wüsste.«

»Mach ihn auf!«, verlangte Elli energisch.

Mit einem tiefen Atemzug riss Samantha den Umschlag auf und überflog das formelle Schreiben.

»Was steht denn drin?«, fragte Elli und beugte sich näher.

Samantha sah verwirrt auf. »Eine Familie Seynford zitiert mich nach Cornwall, in ein Dorf namens Rockdove.«

»Und du kennst die Familie nicht?« Darou zog skeptisch die Augenbrauen zusammen.

»Nie von ihnen gehört.«

»Und was machst du jetzt?« Elli sprühte vor Neugierde.

Samantha zuckte mit den Schultern. »Ich habe noch keine Ahnung.«

Darou legte eine Hand auf ihren Arm. »Was immer du tust, sei vorsichtig.«

Sie nickte und schob den Brief in ihren Ausschnitt. Als sie ihre Jacke holen ging, dachte sie über diese seltsame Nachricht nach.

Wer zur Hölle sind die Seynfords?

2

Draußen regnete es noch immer. Samantha zog sich ihre Kapuze tief in die Stirn, um der gröbsten Nässe zu entgehen. Der ominöse Brief kratzte an ihrem Dekolleté, und sie wand sich unbehaglich. Es war mitten in der Nacht, auf dem Bürgersteig glänzten große Pfützen im Licht der Straßenlaternen, und sie spürte, wie das Wasser ihre Knöchel bespritzte. Sie trug zu ihren Pumps eine Feinstrumpfhose. Das Klackern ihrer Absätze kam Samantha viel zu laut vor. Um diese Uhrzeit blieb sie lieber unauffällig. Sie kam unbehelligt an der Bushaltestelle an, musste jedoch noch warten.

Die Feuchtigkeit des Regens drang durch ihre Kleidung, und sie schlang fröstelnd die Arme um sich. Eine Gruppe von jungen Männern kam in ihre Richtung. Samantha wich zurück, bis sie im Rücken die gläserne Wand der Haltestelle fühlte. Sie verschwand im Schatten des Laternenlichts, die Männer gingen an ihr vorbei, schienen sie nicht bemerkt zu haben.

Als der Bus vorfuhr, atmete sie erleichtert auf, stieg ein und bezahlte ihr Ticket. Sie setzte sich auf einen freien Platz und sah kurz auf die anderen Mitfahrer – ein Jugendlicher, der den Blick nicht von seinem Smartphone nahm, eine Frau mit weißgrauem Haar, die nun ihrem Blick begegnete, und ein alter Mann, der scheinbar döste.

Sie hasste es, um diese Zeit allein im Minikleid auf der Straße herumzulaufen. Normalerweise zog sie sich nach Feierabend in der Bar um, so wie die anderen Mädchen, aber sie hatte wegen des Zeitdrucks vergessen, Wechselsachen mitzunehmen.

In der Nähe ihrer Siedlung stieg sie aus dem Bus und lief in der Dunkelheit nach Hause. Das hohe Gebäude ragte wie ein bedrohlicher Schatten vor ihr auf. So schnell, wie es mit den Pumps möglich war, hastete sie nach oben. Samantha wollte nur noch ins Bett, und um diese Zeit war der Flur für gewöhnlich menschenleer.

Heute nicht.

Xavier lehnte an ihrer Wohnungstür und versperrte ihr den Zugang.

»Sam … du hast mir heute ganz schön Ärger eingebrockt.«

»Den hast du dir ganz allein eingebrockt. Geh von der Tür weg, ich will endlich schlafen gehen.«

Er verschränkte die Arme und lächelte herablassend. »Du bist mir einen Gefallen schuldig, ich hab nicht gesagt, wer den Rauchmelder aktiviert hat.«

Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Willst du mich verarschen?«

»Nein, will ich nicht.« Xavier stieß sich ab, schnellte nach vorn, und Samantha konnte nicht mehr ausweichen. Sein plötzlicher Griff an ihrem Oberarm schmerzte. Er drückte sie mit dem Rücken an die Wand. Oder war es eine Tür? Sie konnte seinen nach Zwiebeln riechenden Atem auf ihrem Gesicht spüren. Er presste seinen Unterleib an ihren. Deutlich spürte sie seine Erregung.

»Ernsthaft? Das hier macht dich an?«

»Oh ja.«

Er lachte leise, und der Laut ließ sie schaudern. Wie weit würde er gehen? Sie wollte es nicht darauf ankommen lassen. Er ließ ihr keinen Freiraum. Mittlerweile war sie regelrecht eingezwängt, und er schob ihr Kleid weiter hoch.

»Nur ein kleiner Fick. Geht auch ganz schnell«, raunte er ihr ins Ohr.

»Okay, aber lass mich kurz an meine Tasche, ja?«

Er lachte heiser. »Um dein Pfefferspray rauszuholen, oder was?«

»Nein, du Idiot, ein Kondom. Du willst mir doch nicht ein Balg anhängen, oder? Das würde deiner Freundin gar nicht gefallen.«

Er grunzte unwillig. Ohne sie loszulassen, griff er nach ihrer Tasche und versuchte umständlich, mit einer Hand selbst darin nach einem Kondom herumzuwühlen. Er fand ihr Pfefferspray und warf es durch den Flur.

»Komm schon, lass mich gucken, ich weiß, wo die Dinger sind«, keuchte Samantha.

Er knurrte unwirsch, reichte ihr aber die Tasche, in deren Tiefen sich wirklich so einiges verbergen ließ. Leider besaß sie nur dieses eine Pfefferspray. Aber das Zeug hatte sie ohnehin längst abgehakt. So dumm war Xavier nicht. Ihr ging es um etwas anderes.

Während sie so tat, als suche sie in ihrer Tasche nach einem Kondom, fingerte er bereits am Bund ihrer Strumpfhose herum. Sie biss sich auf die Lippen.

»Jetzt geh mal einen Schritt zurück, du zwängst mich so ein, dass ich kaum Luft kriege. Außerdem stehst du mir im Licht, ich kann nichts sehen.«

»Du willst nur Zeit schinden«, grollte er.

Samantha lauschte angestrengt. Da! Das leise Surren im Stromkasten veränderte sich leicht, so wie es immer war, wenn das automatische Flurlicht bald erlosch. Sie zählte die Sekunden, Xavier beobachtete sie misstrauisch. Dann versank alles in Finsternis.

»Was …? Verdammt!«, zischte er.

Sie spürte, wie er sich kurz umwandte, und sie bekam ein wenig Freiraum. Es genügte. Sie konnte kaum etwas sehen, aber das war bei der Körpernähe unwichtig. Ihr Stoß mit dem Knie traf ins Schwarze. Er keuchte auf. Schemenhaft konnte Samantha seine Gestalt erkennen, die nun einen Schritt zurückwich und sich vor Schmerz nach vorn krümmte, also wiederholte sie ihr Tun und traf ihn irgendwo im Gesicht. Xavier schrie auf. Sie hörte, wie er zurücktaumelte, oder vielleicht sogar zu Boden stürzte. Sie hielt ihre Tasche noch immer fest umklammert. Fahrig kramte sie ihren Schlüsselbund hervor, an dem eine kleine Lampe befestigt war. Der Lichtschein zeigte ihr die Richtung und das Türschloss. Aus dem Augenwinkel nahm sie Xaviers gekrümmte Gestalt wahr.

»Du verfluchte Schlampe!«, stieß er hervor.

Sie schloss auf und schlüpfte in ihre Wohnung, zog die Tür hinter sich zu und legte mit zittrigen Händen die Kette vor.

Keuchend ließ sie sich im Flur an der Wand zu Boden gleiten. Etwas rumste gegen ihre Wohnungstür. Xavier schien dagegen zu treten.

»Das wirst du mir büßen!«, schrie er.

Im Flur wurden Stimmen laut, Gebrüll ertönte. Samantha hielt sich die Ohren zu. Sie wollte nicht weinen, konnte aber kaum atmen.

Jemand klopfte energisch. »Sam, alles okay?«

Das war ihre Freundin, die nebenan wohnte. Lisa war der Mensch, der Samantha nach dem Tod ihrer Mum so nahestand wie kein anderer. Sie kannten sich seit Jahren, und Samantha liebte Lisa wie eine Schwester. Trotzdem konnte sie sich in diesem Augenblick nicht dazu aufraffen, ihr die Tür zu öffnen.

»Komm schon, sag was!«

Doch sie blieb stumm hocken, die Hände um ihre Tasche gekrallt, und fühlte sich wie erstarrt. Die Geräusche verebbten nicht, es brach ein regelrechter Tumult aus. Mehrere Male klopfte es.

Samantha verbarg ihr Gesicht in den verschränkten Armen. Ihre Tasche rutschte zu Boden.

Sie hörte wieder Lisas Stimme.

»Ich weiß nicht, was mit ihr ist. Bitte machen Sie die Tür auf. Vielleicht ist sie verletzt.«

Hatte Lisa den Hausverwalter geholt? Jemand steckte einen Schlüssel in ihr Schloss. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, bis die Kette sie aufhielt.

»Sam?!«

Samantha rappelte sich auf. »Ich bin hier.« Sie ging zu dem Türspalt und schaute direkt in Lisas sorgenvolles Gesicht.

»Geht’s dir gut?«

»Ja.«

»Red keinen Quatsch! Guck dich mal an!«

Verwirrt schaute Samantha an sich herunter, sah Blutflecken. Ihr Kleid war bis zu ihrem Slip hochgerutscht. Rasch zog sie es über ihre Schenkel. »Das ist nicht mein Blut«, sagte sie leise.

»Das weiß ich. Du hast dem Arschloch wohl die Nase gebrochen. Lass mich rein, komm schon.«

Sie zögerte, doch der alte Mr Milton, der das Haus verwaltete, stand immer noch neben Lisa und fixierte sie mit einem seltsamen Blick. Mit zitternden Fingern löste sie die Kette, zog Lisa in ihre Wohnung und schloss wieder die Tür.

»Was ist passiert?«

Samantha sah auf ihre Handtasche, die auf dem kleinen Teppich im Korridor lag. Erinnerungsfetzen jagten ihr durch Kopf. »Verdammt, mein Spray liegt noch im Flur.«

»Was?« Lisa schien verwirrt. »Was denn für ein Spray?«

Samantha antwortete ihr nicht, sondern musterte Lisa. Das dunkelblonde Haar fiel ihr zerzaust bis auf die Schultern, sie trug eine ausgeleierte Jogginghose und ein T-Shirt, das eine Spur zu eng war. »Hast du schon geschlafen? Du hast ja gar keinen BH an.«

Lisa entgleisten die Gesichtszüge, und sie schüttelte entgeistert den Kopf. »Schätzchen, es ist fast zwei Uhr. Klar hab ich schon geschlafen. Aber ihr habt direkt vor meiner Tür ordentlich Krawall gemacht.«

Samantha hob ihre Handtasche auf und spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Sie schleuderte ihre Tasche auf die kleine Kommode. »Krawall gemacht? Der Scheißkerl hat versucht, mich zu …«

Sie stockte. Hätte er das wirklich gewagt? Im Hausflur? Oder war es ihm nur darum gegangen, ihr Angst einzujagen?

»Willst du die Polizei rufen?«

»Damit die mir sagen, ich dürfte um diese Uhrzeit nicht im Minikleid draußen rumlaufen? Nein, danke.«

»Aber einer muss diese Übergriffe mal melden.«

Samantha wurde hellhörig. »Du meinst, er macht sich auch an andere ran?«

Lisa schnaubte. »Sam, du bist hübsch wie ’ne Barbie, aber Xavier guckt den Weibern nicht nur ins Gesicht.«

»So hab ich das nicht gemeint«, grummelte sie und schauderte bei dem Wort Barbie. Früher hatte sie gern mit diesen Puppen gespielt, aber wie eine aussehen wollte sie nicht.

Der Brief des ominösen Absenders piekte sie im Ausschnitt. Sie zog den Umschlag hervor, ging in die kleine Küche und legte ihn auf den Tisch. Lisa trat hinter sie, und schob sie zu einem Stuhl.

»Setz dich, ich mach dir einen Kakao, du bist ja noch ganz zittrig.«

Samantha starrte aus dem Fenster und beobachtete, wie der Regen gegen das Glas peitschte. Die Mikrowelle gab ihr vertrautes Pling von sich, und sie beobachtete, wie Lisa Kakaopulver in die Milch gab. Als Samantha den heißen Becher umfasste, atmete sie erleichtert auf.

»Weißt du, dass du die beste Nachbarin in ganz Birmingham bist?«

Lisa setzte sich zu ihr. »Die beste Nachbarin Englands, bitte.«

Sie sahen sich an und lachten verhalten. Samantha verlor ihre neu gewonnene Heiterkeit rasch wieder. Lisa war viel mehr als eine Nachbarin. Sie war ihre Freundin, und es war ihr zu verdanken, dass sie es immer noch hier aushielt. Aber welche Wahl hatte sie schon? Mit dem Geld, das sie verdiente, könnte sie sich nur etwas Ähnliches in einer vergleichbaren Gegend leisten. Hier wusste sie wenigstens über alle Tücken Bescheid, und ihre Wohnung war einigermaßen gut in Schuss, weil sie sich um alles kümmerte.

»Was ist das denn hier?« Lisa nahm den Brief und wedelte damit herum.

»So ein komisches Schreiben von einer Familie Seynford. Sie zitieren mich quasi zu sich nach Cornwall.«

»Warum?«

»Keine Ahnung.«

»Und was sind das für Leute?«

»Ich kenne sie nicht.«

Lisa drehte den Brief um und las den Absender. »Aber anscheinend kennen sie dich.«

»Wie man’s nimmt. In der Bar war ein Privatdetektiv, der mir den Brief gegeben hat. Eigentlich war er für Mum.«

»Oh …« Lisas Blick huschte in Richtung Wohnzimmer, wo sich die Urne von Samanthas Mutter befand. »Und was willst du jetzt tun?«

Samantha zuckte mit den Schultern. »Was soll ich schon machen?«

»Na, nach Cornwall fahren!«

»Das kostet sicher fünfzig Pfund! Das Geld hab ich nicht, Lisa. Ich bin froh, wenn ich am Monatsende die Miete zahlen kann.«

»Mit dem Bus und wenn du über Bristol fährst wahrscheinlich eher dreißig Pfund. Aber das meine ich gar nicht.« Lisa breitete die Arme aus und grinste sie an.

Samantha sah sie verwirrt an. Was sollte das?

»Sam! Wozu hast du Lisa Courtenay als Freundin? Ich fahr dich hin.«

»Aber du musst doch arbeiten!«

Mit einem Seufzen sackte ihre Freundin in sich zusammen. »Du kannst einem echt alles vermiesen«, murmelte sie.

»Lisa, was ist passiert?«

»Die haben mich rausgeworfen … dabei bin ich nur ein paarmal zu spät gekommen.«

Samantha wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Lisas Job war furchtbar gewesen. Sie hatte in einer der Fabriken am Fließband gearbeitet und war bei dem Schichtdienst fast depressiv geworden.

»Ich hab mich schon gewundert, warum du in letzter Zeit … so gut drauf bist.«

»Na, danke.«

»Ist doch wahr.«

Lisa schüttelte sich, als wolle sie sich von den Gedanken an ihren verlorenen Job befreien. »Darf ich ihn lesen?«

»Klar.«

Lisa zog den Brief aus dem Kuvert und überflog den formellen Text. Langsam ließ sie das Blatt sinken. »Sam, das bedeutet was. Du musst dem nachgehen.«

»Und wenn meine Mum … Schwierigkeiten hatte oder denen was schuldet oder so?«

»Deine Mum war doch nie in Cornwall.«

Plötzlich musste Samantha an ein Gespräch mit ihrer Mutter denken – eine Erinnerung, die ihr nun eine Gänsehaut bescherte. »Doch. Mum hat mir mal erzählt, dass sie in einem Waisenhaus aufgewachsen ist, an der Grenze zu … Cornwall.«

Lisa starrte sie mit geweiteten Augen an. »Sam, was immer da auf dich wartet, wir werden hinfahren und diese Seynfords aufsuchen.«

Samantha presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick.

Spontan griff Lisa nach ihrer Hand. »Du hast deiner Mum versprochen, dass du es aus diesem Loch schaffst.«

Sie wollte sich zusammenreißen, schon lange verweigerte sie sich den Tränen, weil sie fürchtete, sie könne nie wieder aufhören zu weinen. Sie vermisste ihre Mutter so sehr! Ein Gefühl stieg in ihr auf, das ihr den Atem nahm.

»Ganz ruhig, Liebes, deine Mum ist doch irgendwie immer bei dir, das hast du selbst gesagt.«

Samantha nickte, riss sich zusammen, schluckte schwer und wischte sich unwirsch über die Augen. Sie holte tief Atem und zwang sich zur Ruhe. »Wir fahren«, presste sie hervor. »Aber erst am Wochenende, wenn ich frei hab.«

»Abgemacht.«

3

Zwei Tage später stand Samantha mit einem Rucksack in ihrem Wohnzimmer und konnte kaum fassen, dass sie sich darauf eingelassen hatte. Sie hatte ein geruhsames Wochenende genießen wollen, etwas lesen, ein bisschen Fernsehen, ein Schaumbad nehmen … Und jetzt klopfte Lisa morgens um acht energisch an ihre Tür.

»Ich komme!«

Sie sah auf die Urne ihrer Mutter. »Ich hab keine Ahnung, was mich dort erwartet … und ich wünschte, du könntest mitkommen.« Sie beugte sich vor, hauchte einen Kuss auf die Keramik. »Ich vermisse dich, Mum«, flüsterte sie.

Mit einem Seufzer richtete sie die Schultergurte ihrer Tasche und öffnete Lisa die Tür.

»Bist du fertig?«

»Ja.«

»Hast du auch den Brief mit?«

»Ja.«

Lisa stemmte die Hände in die Hüften. »Wow, geht’s noch enthusiastischer?«

Samantha funkelte sie an. »Nein.«

Für etwa zwei Sekunden konnte sie sich zusammenreißen, dann prustete sie belustigt auf, weil Lisas Gesichtsausdruck einfach zu komisch war.

»Sehr witzig, Barbie.«

»Hmpf, nenn mich nicht so.« Demonstrativ setzte sie wieder ihr Basecap auf, um ihr helles Haar zu verbergen.

»Jetzt komm, auf uns wartet ein Abenteuer.«

Noch immer hatte sie ein flaues Gefühl im Magen, wenn sie durch den Hausflur ging, aber Xavier hatte sich seit der Nacht, in der er sie zuletzt bedrängt hatte, nicht mehr gezeigt. Wahrscheinlich pflegte er seine gebrochene Nase.

Zusammen mit Lisa sprang Samantha die Stufen hinunter. Draußen steuerten sie einen MINI an. Den Wagen hatte Lisa vor zwei Jahren für wenig Geld bekommen, da einiges daran kaputt gewesen war. Samantha hatte den kleinen Rover wieder auf Vordermann gebracht. Sie selbst hatte zu ihrem Bedauern nicht mal einen Führerschein, weil der für sie einfach nicht finanzierbar war. Aber sie konnte Autofahren, Greg hatte es ihr innerhalb kürzester Zeit nach Feierabend beigebracht, damit sie die Wagen vom Parkplatz in die Werkstatt bringen konnte. Als sie nun auf den Beifahrersitz glitt, wünschte sie sich insgeheim, dass sie auch auf den öffentlichen Straßen fahren dürfte. Sie liebte Lisas dunkelblauen MINI.

Plötzlich kam ihr Nigel in den Sinn, der einige Jahre der Lebensgefährte ihrer Mutter gewesen war. Ob er überhaupt wusste, dass sie tot war? Ihre Wege hatten sich schon lange vor ihrer Krankheit getrennt. Manchmal vermisste sie seine freche und unkomplizierte Art. Er war ihr mehr ein Vater gewesen als jeder andere, hatte ihr alles über Autoreparaturen beigebracht. Trotzdem war der Kontakt damals komplett abgebrochen.

»Worüber grübelst du nach?«, fragte Lisa beiläufig, als sie den Motor anließ und den Wagen auf die Straße lenkte.

»Über gar nichts.«

»Du machst dieses ganz bestimmte Gesicht, also grübelst du.«

»Ich musste nur gerade an Nigel denken.«

»Wie kommst du denn auf einmal auf den?«

»Ach, ich dachte an Autos.«

Lisa lachte leise. »Wie so oft.«

Samantha lehnte sich zurück, schaute aus dem Fenster und beobachtete die Landschaft, die an ihr vorbeirauschte. Sie würden über vier Stunden bis hinunter nach Cornwall brauchen, also versuchte sie, sich zu entspannen. Lisas Geplapper, die leise Radiomusik und das monotone Fahrgeräusch ließen Samantha nach einer Weile schläfrig werden. Sie nickte immer wieder ein und schreckte zwischendurch hoch.

»Alles gut, schlaf ruhig. Du hattest ’ne anstrengende Woche.«

Irgendwann setzte sich Samantha auf, legte den Kopf auf die Seite und verzog das Gesicht. Ihr Nacken hatte sich wegen der unbequemen Lage verspannt.

»Wo sind wir?«, fragte sie und gähnte verhalten.

»Schon fast bei Bristol.«

»Was?! Wie lange habe ich denn geschlafen?«

»Och, bestimmt anderthalb Stunden.«

»Du verarschst mich.«

»Nö, guck, da kommt ein Schild.«

Ungläubig starrte Samantha auf das Autobahnschild, das anzeigte, dass sie gleich an Bristol vorbeifahren würden. »Wow, tut mir leid, ich wollte dich doch eigentlich während der Fahrt unterhalten.«

»Kein Problem. Ich hab zwischendurch mein Hörbuch weitergehört.«

»Okay«, sagte Samantha, fühlte sich aber trotzdem nicht wohl dabei, dass sie die halbe Fahrt verschlafen hatte.

Hinter Bristol wurde die Gegend ländlicher, und sie genoss die Aussicht.

»Hast du in den letzten Jahren überhaupt mal was anderes als Birmingham gesehen?«, fragte Lisa, während sie einen Radiosender suchte.

»Nicht, lass mich, guck nach vorn.« Samantha stellte einen Sender mit Popmusik ein. »Um deine Frage zu beantworten. Nein, hab ich nicht. Mit Mum war ich mal in Drayton Manor Park.«

»Jetzt im Ernst?«

»Wenn ich es dir sage.«

»Das ist vielleicht fünfundzwanzig Kilometer von Birmingham entfernt.«

Samantha hob nur kurz die Schultern. »Der Tag war damals echt toll.«

»Da wird mir wieder bewusst, wie gut ich es früher hatte«, murmelte Lisa.

»Das nutzt dir jetzt auch nichts mehr«, raunte Samantha.

Lisa hatte sich mit ihren Eltern derart überworfen, dass sie lieber ein bescheidenes Leben führte, als zurückzukehren und den Ansprüchen ihrer betuchten Familie zu genügen. Samantha hätte gern in Erfahrung gebracht, was Lisa bewogen hatte, sich so entschieden abzuwenden, aber ihre Freundin redete nicht darüber.

Eine Weile schwiegen sie, dann entspann sich ein Gespräch über belanglose Dinge. Sie lachten, plauderten, und Samanthas leise Furcht nach dem Ungewissen, das sie erwartete, ließ allmählich nach.

Nach etwa weiteren hundertdreißig Kilometern, als sie kurz vor Cornwall waren, horchte Samantha alarmiert auf. Sie stellte abrupt das Radio ab.

»Was ist denn?«

»Ich weiß nicht, der Motor hört sich komisch an. Fahr bitte bei der nächsten Ausfahrt raus.«

Nun spitzte auch Lisa die Ohren. »Ich hör nichts.«

»Glaub mir, da ist was.« Samantha schaute auf Lisas Smartphone, das diese zur Navigation benutzte. »Sind noch ungefähr sechzehn Kilometer.«

Samantha spürte, dass Lisas Stimmung kippte, sie konnte ihre Anspannung fast fühlen.

»Ich glaub, jetzt höre ich auch was. Es klingt …« Sie schnappte erschrocken nach Luft, als der MINI begann, merklich zu stottern. »Scheiße!«

Sie kamen gerade noch bis zur Ausfahrt, und Lisa lenkte den Wagen vorsichtig an den Straßenrand.

»Fahr noch ein Stück weiter, laut deiner Navi-App ist dahinten eine Tankstelle«, sagte Samantha.

Lisa klopfte ihrem Auto sachte auf das Armaturenbrett. »Komm schon, Kleiner, das schaffst du noch.«

Der MINI stotterte, brachte sie aber noch bis zu dem Parkplatz vor der Raststätte.

»Wow, das war mehr Glück als Verstand«, sagte Lisa und atmete tief durch.

Samantha stieg aus und öffnete die Motorhaube. »Das muss erst mal abkühlen«, murmelte sie. Sie sah zu Lisa, die neben ihr stand und argwöhnisch auf den Motor schaute. »Wann warst du das letzte Mal bei einer Wartung?«

Ihre Freundin sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sam, du bist meine Wartung.«

»Hm, also gar nicht«, grummelte sie.

»Lass uns ’nen Kaffee trinken. Dann kannst du mal gucken, ja?«

»Okay. Hast du zufällig Werkzeug dabei?«

»Das alte Zeug, das du damals benutzt hast, als du den MINI repariert hast, ist noch hinten drin.«

»Stimmt, weil ich das Auto eigentlich nach hundert Kilometern noch mal kontrollieren wollte. Ich hab’s vergessen.« Samantha schnaubte. »Du hättest ja mal was sagen können.«

»Ach, Sam, du rackerst dich doch eh schon ab. Da soll ich auch noch ankommen und dich mit so was behelligen?«

»Aber jetzt stehen wir hier.«

»Das kriegst du bestimmt wieder hin.« Lisa schloss den MINI ab und klopfte dem Auto liebevoll aufs Dach. Sie zog Samantha in Richtung Tankstelle, in der sich auch ein Shop und ein Subway befanden. Sie steuerten das Schnellrestaurant an, bestellten Kaffee und eine Kleinigkeit zum Frühstück. Zumindest Samantha hatte am Morgen noch nichts herunterbekommen, und jetzt knurrte ihr der Magen. Sie setzten sich ans Fenster und schauten auf die Zapfsäulen der Tankstelle. Die Umgebung erschien Samantha überraschend grün. Junge Bäume umrahmten den Platz, und in der Ferne konnte sie Felder und Wiesen erkennen.

»Wo sind wir hier überhaupt?«

Lisa zückte ihr Smartphone und schaute nach. »Das Kaff in der Nähe heißt Whiddon Down, ein Stück weiter ist wohl der Dartmoore Nationalpark.«

Wenig später steckte Samantha mit dem Kopf in der Motorhaube des Wagens und versuchte herauszufinden, wo das Problem lag. Es dauerte eine Weile, denn es war nichts Offensichtliches. Kalter Wind pfiff ihnen um die Ohren, und Lisa hüpfte auf und ab, weil sie anscheinend fror.

»Setz dich ruhig rein.«

»Nee, ich bleib mit dir draußen.«

Samantha konzentrierte sich auf das Auto, fühlte sich in ihrem Element. Greg aus der Werkstatt hatte sie mal gefragt, warum sie keine Ausbildung zur Kfz-Mechatronikerin machte. Sie hatte es versucht, aber die Betriebe, bei denen sie angefragt hatte, bildeten nicht aus oder wollten keine Frau für diesen Job. So war sie bei Rowan’s Garage gestrandet, und sie fühlte sich wohl dort. Denn die Werkstatt hatte sich auf ältere Autos spezialisiert, mit denen sie sich auskannte.

Samantha richtete sich mit einem Seufzen auf. »Ich denke, ich weiß, was es ist. Der …«

»Moment«, unterbrach Lisa sie. »Bitte erklär’s mir nicht in diesem Fachjargon. Dann verstehe ich wieder rein gar nichts.«

»Also, es kann vorkommen, dass sich in den Benzintanks von alten Autos Rost ansammelt. Der kann in die Benzinleitung geraten und was verstopfen. Auf jeden Fall bekommt dann der Motor zu wenig Benzin.«

»Und jetzt?«

»Ich muss das reinigen.«

»Und das geht hier auf dem Platz?«

»Nicht wirklich. Komm, wir fragen mal in der Tankstelle nach.«

Doch der junge Mann an der Kasse zuckte mit den Schultern. »Da muss ich den Chef fragen.«

Er verschwand kurz nach hinten und brachte einen Hünen mit, der Samantha an einen Highlander erinnerte, es fehlte nur das Schwert.

»Ihr habt ’ne Panne?«

»So kann man sagen«, antwortete Samantha.

Sie erklärte ihm das Problem und was sie für die Reparatur benötigte. Der Mann sah skeptisch auf sie hinunter. »Und du kannst das reparieren?«

»Sie sieht zwar aus wie ’ne Barbie, aber sie kann das wirklich«, mischte sich Lisa mit einem breiten Grinsen ein.

Samantha stieß sie unsanft in die Rippen. »Jetzt hör auf, mich so zu nennen!«

»Ich mag Barbies, meine Tochter spielt auch gern mit diesen Puppen«, sagte der Hüne lächelnd und winkte sie zu sich. Rasch folgten sie ihm in ein Büro.

Er strich sich das zottelige Haar zurück, griff nach dem Telefon und wählte einen Kontakt aus. »Hey, Theo, hast du kurz Zeit, ’nen MINI abzuschleppen? – Ja, die sind hier in der Tankstelle. Die Kleine sagt, sie kann das selbst reparieren.« Nach einem Moment des Zuhörens wandte er sich Samantha und Lisa zu. »Theo sagt, er würde euch helfen.«

»Und was heißt das?«, fragte Lisa skeptisch.

»Er schleppt euch ab, und ihr dürft seine Werkstatt in Spreyton gegen einen kleinen Obolus nutzen.«

»Und wie viel wäre das?«, hakte Samantha nach.

»Das fragt Theo selbst, er kommt gleich. Aber viel Auswahl gibt es hier nicht, glaubt mir.«

Samantha hatte sich auf Anhieb gut mit dem etwa fünfzigjährigen Theo verstanden, und bei der Frage nach der Bezahlung für die Nutzung der Werkstatt winkte er vorerst ab. Sie schleppten den MINI ab, und Theo brachte sie zu einem modernen Betrieb namens Highfield Garage.

»Wir haben heute nicht so viel zu tun, du kannst den Platz da vorn benutzen.«

»Und das ist wirklich in Ordnung?«

»Es ist eine Ausnahme, klar. Aber ihr braucht Hilfe.« Er zuckte mit den Schultern.

Dankbar fuhr Samantha den stotternden MINI in die Halle. Sie wusste, dass Theo den Wagen lieber selbst in Ordnung gebracht hätte, aber ihnen fehlte das Geld dafür, und das hatte sie ihm klargemacht.

Sie begann mit der Reparatur. Zwischendurch beobachtete Theo sie und machte anerkennende Bemerkungen.

»Bist ’ne richtige Bastlerin, was?«

»Oh ja.«

»Find ich gut. So was gibt es heute nur noch selten, bei all der Elektronik in den neuen Autos.«

Sie plauderten noch ein wenig, dann verzog er sich zu seinem Arbeitsplatz. Theo, sie und noch ein anderer Angestellter arbeiteten an ihren Autos, und Samantha merkte kaum, wie die Zeit verging. Der Nachmittag brach an. Sie befestigte das letzte Teil, kontrollierte noch Verschiedenes und atmete auf. Probeweise startete sie den Wagen, der nun ohne Probleme ansprang. Erleichtert ging sie zu dem großen Metallbecken, um ihre Hände zu waschen. Ihr langes Haar hatte sich teilweise aus dem Dutt gelöst, und sie pustete sich die wirren Strähnen aus dem Gesicht. Sie fühlte sich völlig verschwitzt und wünschte sich inständig eine Dusche. Aber vor allem knurrte ihr Magen.

»Sag mal, Theo, gibt es hier einen Imbiss oder so?«

Der Mann sah auf. Sein graues Haar stand wild ab, und er setzte sich sein Basecap auf, als er näher kam. »Hier in Spreyton gibt es nur den Pub Tom Cobley Tavern. Da kann man aber gut essen. Ihr fahrt einfach die Straße runter, bis ins Dorf rein und biegt rechts ab. Ein Stück weiter runter ist der Pub dann auf der linken Seite.«

Er reichte ihr ein Handtuch.

»Vielen Dank.«

Sie trocknete ihre Hände ab und ging in den Nebenraum, wo Lisa auf sie wartete. Ihre Freundin hatte einige alte Zeitschriften durchgeblättert, als sie das letzte Mal nach ihr gesehen hatte. Jetzt lag sie mit dem Oberkörper auf der Couch des Aufenthaltsraumes für die Mitarbeiter, den Kopf auf der Lehne und schlief. Sanft berührte Samantha sie an der Schulter. Lisa blinzelte sie an.

»Ich bin fertig. Sollen wir was essen gehen?«

Lisa richtete sich auf, gähnte ausgiebig und streckte sich. »Das ist eine verdammt gute Idee.«

»Prima, dann komm. Hier gibt’s wohl einen Pub.«

Samantha ging hinüber zu Theo, um sich zu verabschieden. »Noch mal vielen Dank, dass ich die Werkstatt benutzen durfte. Bist du sicher, dass du für die Zeit keine Miete oder so willst?«

Theo winkte ab. »Schon gut, lass mal. Ich wünsche euch eine gute Weiterfahrt.«

Mit einer Geste grüßte er auch Lisa, die sich nun näherte, und widmete sich wieder der Inspektion eines Ford Mustang mit dunkelgrauem Metallic-Lack. Dem anderen jungen Mann, der mit Theo arbeitete, winkte Samantha kurz zu, und sie stiegen in den MINI. Das große Tor fuhr automatisch hoch. Lisa lenkte ihren kleinen Wagen auf die schmale asphaltierte Straße.

Mittlerweile schien die Sonne und brachte die dörfliche Umgebung regelrecht zum Strahlen, weil die Feuchtigkeit des Regens überall reflektierte. Den Pub fanden sie recht schnell weiter unten im Dorf. Sie parkten und gingen plaudernd zum Eingang. Samantha öffnete die Tür und trat ein. Um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, brauchte sie einen Moment. Trotzdem strebte sie Richtung Tresen. Plötzlich stolperte sie über einen Gegenstand, den sie im Halbdunkeln nicht wahrgenommen hatte. Sie versuchte, sich aufzufangen, landete aber auf den Knien. Hinter ihr polterte etwas zu Boden und gab einen seltsamen Klang von sich, den sie zuerst nicht einordnen konnte.

»Was zum …?« Sie rappelte sich auf und rieb sich verstohlen das rechte Knie.

»Scheiße!«, zischte jemand und hob den schwarzen Kasten auf, über den sie gestolpert war. »Mann, kannst du nicht aufpassen?«

Samantha glaubte, sich verhört zu haben. »Wie bitte? Du stellst deine Sachen mitten in den Eingang, und ich soll aufpassen?!«, fauchte Samantha und funkelte den jungen Mann an.

»Das sind keine Sachen, da ist meine Gitarre drin!«

»Und deshalb darf sie mitten im Weg liegen?«

»Es ist ein großer Kasten. Wie kann man den bitte übersehen?«

»Du bist echt ein Idiot! Sei froh, dass ich mich nicht verletzt habe.«

Lisa legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm. »Hast du dich wirklich nicht verletzt?«

Samantha winkte ab, sie wollte jetzt nicht über ihr schmerzendes Knie reden.

An der Bar warf ihr der Wirt einen entschuldigenden Blick zu. »Kann ich euch auf den Schreck was ausgeben?«

»Ja, gern, das ist sehr nett«, sagte Lisa, bevor Samantha ablehnen konnte. »Eine Cola bitte.«

»Die nehme ich auch.«

Samantha sah sich um und beobachtete, wie der Typ seine Gitarre so behutsam aus dem Kasten holte, als sei sie seine geheime Freundin. Er fluchte leise, und Samantha sah, dass eine Saite gerissen war. Er strich über das Holz, schien zu prüfen, ob das Instrument heil geblieben war.

Wieder fasste sich Samantha ans Knie, das noch immer wehtat.

»Ich weiß, es ist eine blöde Zeit, aber kriegt man bei euch schon was zu essen?«, fragte Lisa den Wirt.

»Tut mir leid, die Küche macht erst um sieben auf.«

»Ach, Scheiße«, murmelte Samantha.

Der Mann legte den Kopf schief und betrachtete sie. »Seid ihr auf der Durchreise?«

»Ja, wir wollen runter nach Cornwall, hatten aber eine Autopanne.«

»Mhm, ich könnte euch höchstens ein paar Pommes machen.«

»Das wäre fantastisch!«

Er stellte die zwei Cokes auf die Theke und zeigte an, dass er kurz nach hinten gehen würde.

Jemand räusperte sich hinter ihnen, und Samantha wandte sich um. »Wenn du jetzt auch noch deine scheiß Saite ersetzt …«

Mit einer Geste hielt er sie auf, und sie verstummte. »Ich wollte mich entschuldigen.«

»Oha, das sind ja ganz neue Töne«, murmelte Lisa.

»Anscheinend ist mein Gitarrenkoffer wohl … keine Ahnung … runtergerutscht. Ich hoffe, du hast dir nichts getan.«

Samantha sagte nichts, zuckte nur mit den Schultern.

Er stellte sein Glas auf den Tresen. »Heute ist … na ja … nicht mein Tag. Tut mir leid, dass ich dich so angemotzt habe.«

»Schon gut.«

Der Wirt kam kurz zurück, sah nach dem Rechten und ging dann wieder nach hinten, um die Pommes zu holen. Er stellte einen großen Teller vor sie und gab noch ein wenig Malzessig darauf. Mit einem Lächeln stellte er eine große Ketchupflasche dazu.

»Eigentlich haben wir ja richtig gutes Essen«, sagte er und kratzte sich fast ein wenig verlegen am Kopf.

»Glaub mir, das hier ist nahezu perfekt«, sagte Lisa und nahm sich eine Pommes.

Samantha drückte einen Klecks Ketchup auf den Teller und griff dann selbst zu.

»Willst du auch?«, fragte Lisa den Musiker.

Samantha sah sie konsterniert an. Ihr Blick sagte deutlich: Ernsthaft? Warum bietest du dem Typen unsere Pommes an?!

Ihre Freundin zog die Augenbrauen hoch und antwortete mit einer Mimik, die wohl nur Samantha verstand: Guck ihn dir an. Er ist doch süß!

Samantha verdrehte die Augen und schüttelte ganz leicht den Kopf.

Der Gitarrist lachte leise. Samantha sah ihn skeptisch an.

»Ich weiß nicht, in was für einer Geheimsprache ihr euch gerade unterhaltet, aber ich denke, ich hab’s verstanden. Danke nein. Ich muss jetzt auch gehen, damit ich den Bus nicht verpasse.«

»Der Bus runter nach Dartmoore? Der fährt erst am Donnerstag wieder«, warf der Wirt ein, der dabei war, Gläser zu spülen.

»Aber es ist … Samstag!« Der junge Mann schaute entsetzt.

»Joa«, sagte der Wirt. »Sind nur ein bisschen mehr als sechs Kilometer bis zur Haltestelle in Dartmoore.«

»Und gerade scheint die Sonne, ist schön zum Spazierengehen«, sagte Lisa mit einem ziemlich spöttischen Lächeln, das Samantha schmunzeln ließ.

Der Musiker verdrehte die Augen, ließ sich aber nichts weiter anmerken und nahm seinen Gitarrenkoffer. Mit einem Gruß verließ er den Pub.

4

Samantha und Lisa aßen die Pommes frites, lauschten der leisen Countrymusik und hingen ihren Gedanken nach. Mittlerweile waren sie die einzigen Gäste in dem Lokal, und die leisen Geräusche des Pubs lullten Samantha ein.

»Was wirst du den Seynfords eigentlich sagen, wenn wir vor ihrer Tür stehen?«, unterbrach Lisa ihre Träumereien und schob den leeren Teller in Richtung Wirt.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich zeige ich ihnen erst mal den Brief. Dann werden sie mir hoffentlich sagen, was Sache ist.«

»Guter Plan.« Lisa nahm ihr Smartphone, und Samantha sah, dass sie die Navigationsapp öffnete. »Sind noch fast hundertfünfzig Kilometer, da brauchen wir bestimmt noch an die zwei Stunden. Ab hier fahren wir ja nur Landstraße, und wer weiß, was da noch für Strecken kommen.«

»Dann sollten wir aufbrechen.«

Sie bezahlten die Pommes, bedankten sich bei dem Wirt und gingen zu ihrem Auto. Der Himmel hatte sich verdunkelt, nur vereinzelt warfen Sonnenstrahlen wie Scheinwerfer ihr Licht auf die Umgebung. Es fing leicht an zu regnen.

»Oh, oh, das wird unserem Gitarrenboy nicht gefallen.«

Samantha befürchtete einen Wolkenbruch und schob Lisa entschieden zum MINI. Beim Einsteigen verzog sie vor Schmerz das Gesicht, weil die Bewegung ihrem verletzten Knie gar nicht guttat.

»Du hast dir ja doch wehgetan!«

»Ist nicht so schlimm, ich bin nur blöd aufs Knie gefallen.«

Als sie aus Spreyton herausfuhren, gebärdete sich das Wetter wie ein schlecht gelauntes Ungeheuer. Heftige Böen kamen auf, ließen den Kleinwagen sachte wackeln, der Regen peitschte gegen die Frontscheibe.

»Das ist dann wohl Karma«, sagte Samantha und dachte dabei an den jungen Mann.

»Ziemlich fieses Karma, wenn du mich fragst. Zumindest hat er sich entschuldigt. Guck, da ist er. Sieht schon aus wie ein begossener Pudel.«

Samantha wollte ihm gerade frech zuwinken, als Lisa unerwartet neben ihm anhielt.

»Was hast du denn jetzt wieder vor?«

»Komm, sei nicht so gemein, Sam. Wir können ihn doch ein Stück mitnehmen.«

Der junge Mann sah sie verwirrt an, weil sie die Tür nicht öffnete.

»Eigentlich hab ich von Kerlen erst mal die Nase gestrichen voll!«, schimpfte Samantha, stieg aber aus und klappte ihren Sitz vor. In Rekordgeschwindigkeit kletterte er samt Gitarrenkoffer in den Wagen. Eilig glitt sie wieder auf ihren Platz und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Von ihrem Haar tropfte es, obwohl sie nur wenige Sekunden draußen gewesen war. Sie funkelte Lisa böse an. Die lachte nur und drehte sich zu dem jungen Mann um.

»So, Gitarrenboy, das Glück ist dir heute doch hold. Wohin können wir dich mitnehmen?«

Samantha lugte zu ihm nach hinten. Er war sicher fast einen Kopf größer als sie und sah auf dem Rücksitz etwas eingezwängt aus. Das halb lange Haar hing ihm tropfnass bis auf die Schultern, seine Kleidung war völlig durchnässt. Sein Gesichtsausdruck hingegen wirkte überaus erleichtert.

»Wow, vielen Dank. Wenn man bedenkt, wie unser Einstieg war …« Er sah Samantha an und grinste verlegen. Sie antwortete mit einem Blick, der ihm sagen sollte: Das war nicht meine Idee!

Er beugte sich nach vorne. »Gitarrenboy ist zwar auch okay, aber ihr könnt mich auch Dave nennen. In welche Richtung wollt ihr denn?«

»Cornwall«, erwiderte Samantha kurz angebunden.

»Gut, ich muss erst mal nach Bodmin, das dürfte auf eurem Weg liegen.«

Aus dem Augenwinkel beobachtete Samantha, wie er prüfte, ob seine Gitarre trocken geblieben war. Er atmete hörbar auf.

»Warum hattest du heute einen schlechten Tag?«, fragte Lisa und stellte das Radio leiser.

»Ich war in Bristol, weil ich mich dort mit einem Musikagenten getroffen habe.«

»Und?«, hakte Lisa nach.

»Er fand meine Musik scheiße.«

Nun drehte sich Samantha zu ihm um. »Welche Richtung?«

»Folk«, antwortete er.

»Also, ich mag Folk«, sagte Lisa, wandte sich kurz um und schenkte ihm ein Lächeln.

Samantha wusste, dass sie eigentlich viel lieber Popmusik hörte, sagte aber nichts dazu. Sie hatte das Gefühl, dass hinter Daves Geschichte noch mehr steckte, und sah ihn abwartend an.