Das Genie Wolfgang Amadé Mozart in literarischen Bildern romantischer Tradition der Kunstreligion und Musikästhetik - Gerhard vom Hofe - E-Book

Das Genie Wolfgang Amadé Mozart in literarischen Bildern romantischer Tradition der Kunstreligion und Musikästhetik E-Book

Gerhard vom Hofe

0,0

Beschreibung

Die hier versammelten Beiträge zum Genieproblem bei Mozart berühren erneut die Frage nach der Identität dieses Ausnahme-Musikers. Sie konzentrieren sich dabei auf die zeitbedingten, besonderen Qualitäten und Ausdrucksformen dieses Genies im Spiegel literarischer Darstellungen. Mozarts historisch vermitteltes Selbstverständnis seines Genies und die Genieanschauungen der Mozartfamilie finden angemessen Berücksichtigung. Dann aber kommen die Genie-Bilder der Zeitgenossen Mozarts zur Sprache und Bilder von Autoren, die typisch sind für die frühe Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Mozarts. Repräsentative Texte der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts, die das singuläre Genie Mozarts unter kunstreligiösen und musikästhetischen Aspekten beleuchten, begründen eine kontinuierlich fortlebende Tradition der Genieauffassungen Mozarts noch bis ins 20. Jahrhundert. Poetische Anschauungen von Mozarts genialer Künstlerexistenz und ihrer Objektivation im Werk Mozarts, besonders in der Oper Don Giovanni, gewinnen ihr Profil in diesem Licht. Vorwiegend dichterische Texte des 19. Jahrhunderts werden in diesem Zusammenhang interpretiert, von denen Mörikes Imagination des Genies in seiner brillanten Novelle fraglos den ästhetischen Höhepunkt bildet. Dies scheint nicht nur für Musik- und Literaturexperten (Germanisten und Musikwissenschaftler) von Interesse. Alle Mozartliebhaber dürften auch auf ihre Kosten kommen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 188

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Dr. Gerhard vom Hofe, Akademischer Direktor i. R. für Neuere deutsche Literaturgeschichte am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg, geb. 1940, Studium der Evangelischen Theologie und Germanistik in Göttingen und in Heidelberg, Gastdozenturen in Evanston/Illinois, U.S.A. 1971/72, in Peking 1982 und 1983; erneut 2005, 2007 und 2008.

Publikationen: Dissertation über Kierkegaards Kritik der Romantik; über die Dichtertheologie der Goethezeit: Was aber (bleibet) stiften die Dichter (zusammen mit Hermann Timm und Peter Pfaff); Heidelberg im poetischen Augenblick (zusammen mit Klaus Manger); Edition von Maler Müllers Werken; Monographie Das Elend des Polyphem. Zum Thema der Subjektivität in der Gegenwartsliteratur (zusammen mit Peter Pfaff); Arbeiten zu Problemen der Kunsttheorie und Liedästhetik; Aufsätze zu Lessing, Herder, Schiller, zur Romantik (E.T.A. Hoffmann, Eichendorff), zu Fontane, Thomas Mann, Joseph Roth, Max Frisch, Thomas Bernhard, Botho Strauß.

Gerhard vom Hofe

Das Genie

Wolfgang Amadé Mozart

in literarischen Bildern romantischer Tradition der Kunstreligion und Musikästhetik

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild: Wolfgang Amadeus Mozart, Ausschnitt aus einem Portrait der Familie Mozart von JOHANN NEPOMUK DELLA CROCE, auf dem auch Wolfgangs Vater Leopold und seine Schwester Maria Anna zu sehen sind.

Das Bild ist Teil der Sammlung der Stiftung Mozarteum in Salzburg. (gemeinfrei)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

ISBN 9783957446510

www.engelsdorfer-verlag.de

Für meine Frau, die Mozartliebhaberin

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Kapitel 1

Wolfgang Amadé Mozart: Das Wunderkind und unbegreifliche Genie in der Optik der Mozarts sowie der Zeitgenossen und grundsätzliche Überlegungen zur Genieproblematik

Kapitel 2

Göttlich – menschlicher Amadeus. Literarische Mozart – Bilder im Horizont des romantischen Kunst- und Geniebegriffs

Kapitel 3

E. T. A. Hoffmanns enthusiastisches Fantasiestück Don Juan als Deutung von Mozarts Oper Don Giovanni im Licht der romantischen Musikästhetik

Kapitel 4

Die Konstellation der Genies: Raffael und Shakespeare in Mozarts Kunstgeist in parallelisierender Deutung des frühen 19. Jahrhunderts

Kapitel 5

Das poetische Mozart-Bild in Mörikes Erzählung Mozart auf der Reise nach Prag

Anmerkungen

Vorwort

Die hier versammelten Beiträge zu Wolfgang Amadeus (= Amadé) Mozart dokumentieren Motive und Erkenntnisinteresse eines Literaturwissenschaftlers, im historischen Nachvollzug an den Reflexionen und verschiedenen Interpretationsbemühungen seit der frühen Rezeptionsphase um 1800 teilzunehmen, in der Absicht, im Spiegel literarischer Bilder der Tradition romantischer Kunstreligion und Musikästhetik eine historisch vermittelte und möglichst adäquate Vorstellung dieses genialen Komponisten zu gewinnen. Sie sind zu verstehen als Zeugnisse eines Musikliebhabers, der sein Bewusstsein dafür geschärft zu haben glaubt, dass auch poetisch imaginierte Bilder durchaus legitime Versuche darstellen können, dem Phänomen Mozart näherzukommen und dessen singuläre Genialität cum grano salis „rational“ zu erfassen. Freilich erfolgen solche Versuche einer „Rationalisierung“ des Wunders und Genies Mozart immer mit dem Vorbehalt, dass man es hier letztlich nur mit unmaßgeblichen Suchbildern zu tun hat. Und der Verfasser glaubt sich in diesem Sinne auf Lessing berufen zu dürfen, der in einer vielleicht vergleichbaren, beinahe aporetischen Situation bescheiden die Hoffnung hegte, man möchte dem Liebhaber das nachsehen, was man dem Kenner (in diesem Falle dem Musikexperten, der aber hier nur als Dilettant“ auftritt) vorhalten möchte.

Zwei Kapitel dieses Bandes gehen auf leicht korrigierte Textfassungen bereits früher gedruckter Aufsätze zum Thema des Mozartischen Genies zurück. Sie beziehen sich auf Diskurse und Deutungskonzepte des romantischen Geistes im 19. Jahrhundert und auf Autoren, die mit mythisch-literarischen Bildern und romantischen Ideen operieren. Und diese Aufsätze sind jeweils aus Vorträgen erwachsen. Sie lenken als historisch orientierte Interpretationsversuche die Aufmerksamkeit zurück auf verschiedene ästhetisch, biographisch und philosophisch begründete Auffassungen, vor allem aber auf literarische Mozartbilder des 19. Jahrhunderts. Vortragseinladungen nach Barcelona und Saarbrücken im 200. Todesjahr Mozarts 1991 bildeten den ursprünglichen Impuls für meine intensivere Beschäftigung mit dem Komponisten und dem mit ihm verbundenen Genieproblem. Diese Vortragsthesen fanden ihren ersten Niederschlag in einem Aufsatz, welcher 1994 im Athenäum (Jahrbuch für Romantik) wie auch in einem von Gerhard Sauder herausgegebenen Sammelband Mozart. Ansichten (im Röhrig Verlag in St. Ingbert) 1995 erschien unter dem paradoxen Titel: „Göttlich-menschlicher Amadeus. Literarische Mozart-Bilder im Horizont des romantischen Kunst- und Geniebegriffs. Dieser Beitrag enthielt bereits im zweiten Teil eine Interpretation der bekannten Mörike – Novelle, die hier im 5. Kapitel in einer wesentlich erweiterten und veränderten Form, zudem entschiedener auf das Genieproblem zugeschnitten, vorgelegt wird. Hierbei handelt es sich um den in diesem Band umfangreicheren und bisher nicht gedruckten Beitrag zum Thema des „unbegreiflichen Genies in literarischen Bildern“, im Wesentlichen um eine neuerliche Deutung der renommierten Erzählung Eduard Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag. Diese Arbeit geht zurück auf einen Vortrag, den der Verfasser am 27. Januar 2006 (also an Mozarts 250. Geburtstag) zu seinem Abschied von der Universität Heidelberg gehalten hat.

Und der Beitrag über Die Konstellation der Genies: Raffael und Shakespeare in Mozart, der an die vorausgehenden, das Genieproblem behandelnden Kapitel thematisch anschließt, ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich auf einer in Zusammenarbeit mit der Mozartgesellschaft Kurpfalz veranstalteten Tagung zur frühen Rezeptionsgeschichte Mozarts in Mannheim im Jahre 1992 gehalten habe. Er wurde im Sammelband Mozart. Aspekte des 19.Jahrhunderts (herausgegeben von Hermann Jung) im Palatium Verlag in der Reihe der Mannheimer Hochschulschriften im Jahre 1995 veröffentlicht und erscheint hier mit wenigen Änderungen und Ergänzungen. Neu dagegen für diesen Band konzipiert wurde das E.T.A. Hoffmanns Don Juan – Erzählung geltende 3. Kapitel unter Berücksichtigung der Grundsätze von Hoffmanns paradigmatischer romantischer Musikästhetik.

Besonders danken möchte ich meiner Frau, die mir bei der Erstellung des Textes und bei den Korrekturen eine unschätzbare Hilfe war. Ihr, der Mozartliebhaberin, ist dieser Band gewidmet.

Kapitel 1 Wolfgang Amadé Mozart: Das Wunderkind und unbegreifliche Genie in der Optik der Mozarts sowie der Zeitgenossen und grundsätzliche Überlegungen zur Genieproblematik

Der Versuch, sich ein differenziertes Urteil über die Qualitäten des Genies Wolfgang Amadé Mozarts zu bilden und im Zusammenhang damit die Frage: „Wer war Mozart?“ wenigstens annähernd sachgerecht beantworten zu können, scheint noch immer ein herausforderndes hermeneutisches Experiment und ein durchaus aufregendes Abenteuer. Für eine korrekte Entscheidung dieser Problematik scheint der Umstand, ob man die Voraussetzung einer unlösbaren Einheit von Künstler und Person Mozarts berücksichtigt, ob man also die Frage nach dem Geheimnis des Genies mit der Frage nach dem Charakter und der individuellen Lebensweise des Komponisten unlösbar verbunden sieht, eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen. Eine Alternative könnte darin liegen, das Genieproblem ausschließlich hinsichtlich der Produktionsweise des Künstlers und der Frage nach der Originalität seiner geschaffenen Werke zu betrachten, mithin von der Biographie des Künstlers und seinen spezifischen, historisch bedingten Lebensumständen weitgehend abzusehen. In diesem Fall müsste jedoch der besondere Zusammenhang mit der allgemeinen musikgeschichtlichen Entwicklung und mit der musikästhetischen Tradition an Bedeutung gewinnen. Beobachtet man rückblickend die literarischen Mozartdarstellungen und deren Behandlung der Geniethematik (und das gilt für die Literatur unterschiedlicher Provenienz und unterschiedlichen Ranges), so lässt sich grundsätzlich sagen, dass sie in der Regel die Vermittlung der Aspekte des schaffenden Künstlers und der mitteilsamen Person des Komponisten, der Art und Weise seiner Produktion (ob man es hier mit Modalitäten einer Mimesis oder einer originären Schöpfung zu tun hat) und deren Reflexion in den Blickpunkt ihres Interesses rücken. Dabei kommen auch und immer wieder Aspekte zur Sprache, die den Charakter des genialen Künstlers Mozart beleuchten.

Ebenso scheint folgender Tatbestand kaum zu bestreiten: Angesichts der facettenreichen Mozart-Literatur sieht sich der Mozartliebhaber mit einer Pluralität von Mozart-Bildern konfrontiert (um nicht zu sagen: umstellt), die sich aus der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Komponisten herleiten lassen und die der Literatur seit dem zeitgenössischen Verständnis, hauptsächlich aber aus der Tradition der romantischen Interpretationen und dem 19. Jahrhundert zugewachsen sind und die sich gelegentlich noch immer hartnäckig behaupten. Die heute bisweilen in den Medien propagierte Etikette vom „Jahrtausendgenie“ ist denn doch letztlich ein plakatives, viel zu abstraktes Klischee und entbehrt aller präzisen Bestimmungen. Sie bleibt ohne Aussagekraft und verrät nichts über die spezifischen Ausdrucks- und Erscheinungsformen des Genialen bei Mozart. Ließe sich das nicht mit demselben Recht von Bach oder Beethoven behaupten? Die marktschreierische Etikette, auf die hier das Profil des Genies reduziert wird, kann allenfalls den Vorteil beanspruchen, nicht wahnsinnig falsch zu sein; und sie scheint als Superlativ – modisch geredet – kaum noch zu „toppen“. Auf den Punkt gebracht wäre damit immerhin eine Auszeichnung Mozarts als des schlechthin Unvergleichlichen in der neueren Musikgeschichte; es fragt sich nur, mit welchem besonderen Erkenntniswert?

Erst seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, vor allem in Wolfgang Hildesheimers Mozartstudien1, ist die kritische Frage nach dem authentischen Profil des Komponisten, nach dem widerständigen Genie und nach dem „wahren“ Mozart wieder einmal entschieden neu gestellt worden, und dies in einer bisher kaum vertretenen Radikalität. Die Resonanz schien denn auch verhalten. Hildesheimers Mozartdarstellung fand nicht die vom Autor erhoffte Zustimmung. Zuvor waren nur in Ausnahmefällen einmal unpopuläre Mozartbilder vertreten worden, die bei Kennern und Liebhabern Mozarts kaum Akzeptanz gefunden hatten. Man denke etwa nur an Auffassungen des „dämonischen Genies“, dem kein geringerer als Goethe das Wort geredet hatte. Mit Wolfgang Hildesheimers radikalen Thesen schien der Impuls zu einer Revision traditioneller, zäh fortlebender Vorstellungen vom Genie Mozart mit ihren deutlichen Tendenzen einer Mythisierung und Idealisierung gegeben. Auch das Kapitel einer entschiedeneren Kritik der immer noch reichlich sprudelnden Quellen der Mozart-Legenden und anderer fragwürdiger überlieferter Zeugnisse war damit neu aufgeschlagen. Darüber hinaus hat der moderne Mozartbiograph einen erneuten Anstoß dazu gegeben, die überkommenen Mozart – Bilder kritisch zu überdenken und die beliebten Motive der Legenden, derer sich vorzugsweise die spekulativ verfahrende Literatur bedient hat und die in der herkömmlichen Biographik dankbar genutzt worden sind, zu destruieren. Emphatisch geredet: Wieder einmal schien es an der Zeit, die Arbeit einer „Entmythisierung“ zu leisten.

Seither haben die Lebens- und Werkgeschichten Mozarts neue Wege beschritten: Ein Rekurs auf die kritisch edierten Quellen, die in sorgfältigen Ausgaben verfügbaren historischen Dokumente, auf die Briefe des Komponisten und der Familie Mozart, auf zeitgenössische und posthume Zeugnisse setzte ein. Eine Rückbesinnung auf die historisch verbürgten Lebensumstände und die Schaffensbedingungen des Genies Mozart fand in stärkerem Maße als bisher Berücksichtigung. Das Befolgen des Imperativs „ad fontes“, bewährte Tugend des wissenschaftlich arbeitenden Forschers und des Philologen, schien schließlich verlässlicher zum Ziel zu führen und einen Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Bestimmung von Mozarts wahrem Genie zu ermöglichen. Denn das ist doch immerhin ein bedeutsamer und erfreulicher Tatbestand: Die Vita Wolfgang Amadé Mozarts und seine Werkgeschichte sind (im Vergleich zu anderen Komponisten des 18. Jahrhunderts) erstaunlich gut, breit und zuverlässig dokumentiert.2

Beinahe 1500 Briefe der Familie Mozart, davon bald ein Drittel vom Komponisten selbst, datierend von 1769 bis zum 14.10.1791, also bis kurz vor seinem Tod, sind als immerhin aussagekräftiges, wenn auch natürlich interpretationsbedürftiges Material überliefert und liegen in kritischen Ausgaben vor. Das gilt nicht allein für die Dokumentation der Lebensgeschichte Mozarts. Auch seine Kompositionen sind in wissenschaftlich vorbildlicher Weise ediert. Dem Musikwissenschaftler wie dem Biographen und Historiker stehen außerdem zahlreiche und sogar ergiebige Berichte von Zeitgenossen, aber auch spätere Zeugnisse der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zur Verfügung. Zudem liegen diese Texte wie auch die musikalischen Werke Mozarts mittlerweile in kritischen und gründlich kommentierten neueren Ausgaben vor.3 Gleichwohl hält die Auseinandersetzung um den „wahren Mozart“, halten die Bestimmungsversuche seines Genies mit kontrovers ausgetragenen Diskussionen weiter an. Ein Hauptgrund dafür scheint mir die wenigstens untergründig fortlebende Tradition der Mozart-Legenden und ihrer Faszination zu sein, welche vor allem die Romantik seit Friedrich Rochlitz zu verantworten hat.4

Trotz der inzwischen schon sehr weit fortgeschrittenen Destruktionsarbeit scheinen Anekdoten und Legenden ihre Faszinationskraft noch immer nicht ganz eingebüßt zu haben. Ein weiterer Anlass für die oft mit Mutmaßungen und Spekulationen operierenden Deutungen des Mozartischen Genies liegt vielleicht in der häufigen Ambivalenz, ja Vieldeutigkeit der Sprache und in stilistischen Eigenarten des Briefschreibers Mozart, 5 auch seiner Selbstdeutungen.

Trotz der günstigen Quellenlage bleiben also Hindernisse. Lücken in der Dokumentation wichtiger Phasen von Mozarts Lebensgeschichte, auch werkgeschichtlich ungeklärte Fragen erschweren manchmal eine angemessene Urteilsfindung und verhindern ein konsensfähiges Mozart – Bild. Solche Probleme betreffen z.B. Mozarts Verhältnis zum Vater Leopold nach seiner Abdankung beim Fürsterzbischof Colloredo in Salzburg und nach seiner Entscheidung für Wien 1781, sodann den Prozess seiner Emanzipation vom mächtigen Vater mit der Heirat Constanze Webers wider dessen Einwände.

Bis heute nicht letztlich geklärt ist auch Mozarts Beziehung zum durch seine Briefe berühmt gewordenen Bäsle in Augsburg. Ähnliches gilt auch für die Art und Weise seiner Zusammenarbeit mit Lorenzo da Ponte und für Mozarts persönliches Verhältnis zu diesem berühmten Librettisten, dem wir die Texte der großen späten Opern (Le nozze di Figaro, Don Giovanni, Cosi fan tutte) verdanken und der auch – wie dessen späte Memoiren verraten – ein klares Bewusstsein für die historische Bedeutung von Mozarts Genie gewonnen, aber zu dessen Lebzeiten sich offensichtlich nicht in der Lage gesehen hatte, seine Überzeugung angemessen zu vermitteln und Mozarts Anerkennung als singuläres Genie in der Öffentlichkeit zu beflügeln. Ob sein Diktum deshalb als eine heimliche Selbstkritik gelesen werden kann, bleibt wohl eine Mutmaßung: „Obwohl Mozart das höchste Talent und eine vielleicht größere Begabung als irgendein anderer Komponist der Vergangenheit oder Gegenwart besaß, so war es ihm infolge der Intrigen seiner Gegner doch nicht gelungen, sein göttliches Genie in Wien zur Geltung zu bringen. Er blieb im Dunkeln gleich einem kostbaren Edelstein, der seinen Glanz im Schoß der Erde verbirgt.“6

Einige Probleme bereiten noch immer die endgültige Klärung der Frage, wie denn Mozart in Wahrheit menschlich zu seinem musikalischen Rivalen Salieri oder auch zu anderen Künstlern der zeitgenössischen Musikszene gestanden haben mag. Und noch nicht hinreichend geklärt scheint auch die Frage nach den wirklichen Ursachen für die finanziellen Nöte und für die Misere, in die Mozart offensichtlich ab 1787 geraten ist. Schließlich hat dieser Umstand Stoff für eine ganze Flut von Legenden über Mozarts Kind gebliebene, lebensuntüchtige Künstlerexistenz geboten, haben die entsprechenden Legenden und Anekdoten seine mangelnde Ökonomie, seine Leichtfertigkeit, seine Lebensfremde und naive (oder besser gesagt: unbesonnene) Großmut des Genies und Arglosigkeit des im Grunde sozial eingestellten Mozart ausdrücklich zu erklären versucht.7

Oder man denke nur an die bis heute nicht vollends aufgeklärten Kompositionsmotive für die späten großen Werke, fürs Requiem und die letzten drei großen Sinfonien in Es- Dur, g- moll und C- Dur (KV 543, 550, 551)8 und deren Entstehungsgeschichten. Allerdings hat vor kurzem Christoph Wolff gerade diesen Themenkomplex neu beleuchtet und in seiner jüngst erschienenen Mozartmonographie überzeugende Einsichten vermittelt.9

Die außerdem in vielen Punkten dunklen, d.h. historisch unbefriedigend und lückenhaft dokumentierten Ereignisse der letzten Lebenswochen Mozarts und seiner Todesumstände konnten in besonderem Maße zu vielen bis in unsere Gegenwart hinein populär gebliebenen Legenden führen.10 Und viele gerade dieser apokryphen Texte haben sich teilweise sogar als vermeintlich seriöse Zeugnisse von Fakten in Mozarts Biographie (aller kritischen Vorbehalte zum Trotz) behaupten können.

*****

Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts (dies lässt sich zumindest tendenziell feststellen) dominierte in der wissenschaftlichen Biographik, in literarischen Mozartdarstellungen, aber auch allgemein in der Musikkultur und unter Liebhabern das Bild vom seraphischen Götterliebling Amadeus. Man glaubte in Mozart eine geradezu mustergültige Inkarnation eines apollinischen Künstlergottes und das schlechthinnige Paradigma eines begnadeten göttlichen Wunderkindes zu erkennen. Dies Bild verrät natürlich oft mehr über die Interessen der Betrachter als über den wahren Sachverhalt des Objekts der Anschauung: Der Geist des historisch orientierten Bildungs- und Kulturbürgertums findet darin seinen signifikanten Ausdruck. Und dies Bild verdankt seine Entstehung wesentlich dem frühen 19. Jahrhundert und der romantischen Tradition der Musikästhetik.11

Komplementär zum Bild der göttlichen Lichtgestalt Mozarts und der Anschauung des Wunderkindes haben die frühen Mozartverehrer der Zeit um 1800 – um hier nur die prominentesten Autoren zu nennen: vornehmlich Goethe und E.T.A. Hoffmann – das Bild eines durch das Dämonische gezeichneten und tragischen Genies, eines damit letztlich auch fremden und unheimlichen Mozart geprägt. Dabei spielt das Erlebnis seiner Oper Don Giovanni, angeschaut und interpretiert als Spiegelbild des Komponisten, ja als eine verborgene Selbstdarstellung, eine maßgebliche Rolle.12 Diese Sichtweise wird dann Wolfgang Hildesheimer aufnehmen und aus moderner Optik und in Kenntnis der Rezeptionsgeschichte mit aller Entschiedenheit, ja Radikalität das „dämonische Element“ Mozarts als des der Welt und dem Leben gänzlich Fremden betonen. Er vertritt gegen die Tradition seit der Romantik, auch gegen den Strich nahezu aller literarischen Mozart- Darstellungen die radikale These des absolut isolierten, nicht mitteilsamen und schlechterdings inkommensurablen, in anderen Kategorien existierenden Künstlers Mozart.13

Mit Hildesheimers Sicht einher geht im Unterschied etwa zu E.T.A. Hoffmanns idealisierender Interpretation in dessen romantischer Erzählung Don Juan14 eine konsequente Destruktion der Mythisierungen des Genies Mozart als des göttlichen und apollinischen Kindes vor allem in der Folge des Raffaelkultes der deutschen Frühromantik, der von Wackenroder/Tieck begründet worden ist.15 Diesen Rezeptionsprozess hat der Leipziger Musikkritiker und Schriftsteller Friedrich Rochlitz maßgeblich befördert. Dessen Auffassung hat bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine nachhaltige Resonanz gefunden. Rochlitz hatte 1798 in seiner Allgemeinen Musikalischen Zeitung eine kommentierte Sammlung von Mozart-Anekdoten veröffentlicht16 und damit der unbefriedigten psychologischen Neugier vieler Mozartliebhaber Rechnung getragen, dem Geheimnis der Person des Genies auf die Spur zu kommen und über die Seelengeschichte und die Innerlichkeit Mozarts Näheres in Erfahrung zu bringen als dies durch die bisher publizierten Quellen, etwa den Nekrolog Schlichtegrolls von 179217 oder auch durch Niem(e)tscheks erste Biographie von 179818 möglich schien.

Außerdem hatte Rochlitz in einem programmatischen Aufsatz mit dem Titel Raffael und Mozart, erschienen in der Juninummer seiner Musikalischen Zeitschrift des Jahres 180019, alles Unheimliche, Peinliche und Fremde bewusst ausblendend oder doch überspielend, in deutlich apologetischer Absicht die Einheit des Künstlergenies und des großen tugendhaften Menschen Mozart akzentuiert und damit großen Einfluss auf die Urteilsbildung der musikalischen Öffentlichkeit genommen, ja das Mozart-Bild der künftigen Rezeptionsgeschichte für Jahrzehnte geprägt. Elemente des durch Rochlitz fixierten und normbildend nachwirkenden Mozart-Bildes finden sich sogar noch in Peter Shaffers Amadeus - Theaterstück und in Milos Formans darauf zurückgehenden Film unserer Zeit.20

Rochlitz hatte offenbar die Absicht, die seiner Zeit vorherrschende Mozart-Kritik der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts zu verabschieden.21 Diese frühe Rezeptionsphase hatte dem Komponisten wohl ein „großes Genie“ im Sinne einer musikalischen Zeitgröße von Rang attestiert, aber eben nicht in der Bedeutung eines vollendeten „klassischen“ Künstlers.

Eine historische Erklärung dafür bietet vielleicht der für das späte 18. Jahrhundert charakteristische und oft beschworene „Paradigmenwechsel“ von der Vokal- zur Instrumentalmusik22, der mit der Begründung einer romantischen Musikästhetik eine „Metaphysik der Instrumentalmusik“ zur Folge hatte, die aber den Blick für die Bedeutung von Mozarts großen klassischen Sinfonien noch nicht gewonnen hatte. Zudem hatte man Mozart „eigentlich wenig höhere Kultur und wenig wissenschaftlichen Geschmack“23 als beklagenswerten Mangel vorgehalten.

Bei Rochlitz finden sich alle wichtigen und wirkungsmächtigen Motive des populär gewordenen romantischen Mozart-Bildes ausgebildet: eine klare Profilierung der menschlichen Tugenden Mozarts (seine Gefälligkeit, sein Gerechtigkeitsgefühl, sein Fleiß, seine Gatten- und Familienliebe, sein Selbstbewusstsein, seine soziale Einstellung, seine Treue zur deutschen Nation etc.); nicht minder die Idealisierung seines unglaublichen musikalischen Vermögens, seines unfasslichen Ideenreichtums (traditionell rhetorisch ausgedrückt: seiner unglaublichen inventio) wie der unvorstellbaren Mühelosigkeit seines Komponierens, die im Hinblick auf die zeitgemäßen Erklärungsmodelle der in den frühen 90er Jahren entwickelten romantischen Musikästhetik unwillkürlich mit dem Wunderbaren in Verbindung gebracht wurde. In Wackenroder/Tiecks Phantasien über die Kunst oder dann auch in E.T A. Hoffmanns musikästhetischen Schriften wird als Gegenstand der „eigentlichen Musik“ des romantischen Zeitalters – im Gegensatz zur überlieferten Ästhetik der Vokalmusik mit ihrer zentralen Kategorie der imitatio naturae – in der nun stark betonten „Metaphysik der Instrumentalmusik“ das „Übermenschliche“ und „Wunderbare“ (statt des Natürlichen) geradezu schwärmerisch akzentuiert.24

Rochlitz reklamiert für Mozart (der Gedanke lag nahe) die Auffassung von der Musik als einer göttlichen, heiligen Kunst mit einer „religiösen Substanz“ im Sinne der Kunstfrömmigkeit der Romantik seiner Zeit, womit dann wiederum eine besondere Wertschätzung seiner Kirchenmusik verbunden ist und im Blick auf die erkannte Raffael-Parallele, speziell auf dessen Transfigurationsbild (seine Verklärung Christi von 1520)25 in Mozarts Komposition des Requiems dessen Vermächtnis und vermeintlich Mozarts höchst vollendetes Werk gesehen wurde.26

Der spekulative Vergleich Mozarts mit Raffael, dem erklärten Kunstgott der Romantik seit Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders und den von Tieck herausgegebenen Phantasien über die Kunst, verfolgt das Ziel, den Menschen Mozart zum vorbildlich idealen und einzigartigen Künstler zu erhöhen, ihn zu genialisieren und den religiösen Gehalt seiner Werke als Emanationen des himmlischen Kunstgeistes zu erklären.27

Der Dichter Franz Grillparzer zitiert in einem 1843 entstandenen Gedicht Zu Mozarts Feier das längst zum Topos gewordene Motiv der Künstlerparallele:

„Mit Raffael, dem Maler der Madonnen, steht er <Mozart!> deshalb, ein gleichgescharter Cherub, der Ausdruck und der Hüter wahrer Kunst, in der der Himmel sich vermählt der Erde.“28

Klassische und romantische Vorstellungen erscheinen bei der Berufung Raffaels als des neuzeitlichen Realisators des klassisch-antiken Schönheitsideals par excellence vermittelt. An das Raffael-Bild Winckelmanns29 erinnern die ästhetischen Prinzipien des Klassizismus30, die beispielsweise die Schlussstrophe eines Huldigungsgedichts mit dem Titel An Mozart des Königs Ludwig I. von Bayern von 1856 metaphorisch zur Sprache bringt, wenn er Mozart poetisch feiert als die Sonne, „welche ewig glüht“:

„Vermählet ist in deinen Tönen

Die Melodie mit Harmonie.

Es lebt das Ideal des Schönen

Im Zauber deiner Phantasie.“31

*****

Es scheint unverzichtbar, noch eine weitere Mozart-Publikation von Friedrich Rochlitz zu erwähnen, weil diese nicht weniger gravierende Folgen für das bis ins 20. Jahrhundert kanonisch gebliebene Mozart-Bild hatte. Es handelt sich hierbei (wie man heute weiß) um eine vorsätzliche Geschichtsklitterung: das 1815 veröffentlichte Schreiben Mozarts an den Baron von ...32, eine scheinbar authentische Antwort auf die Frage nach dem Schaffensvorgang des Komponisten. Hier sollte der Mythos vom leichthin im Kopf komponierenden Mozart, der experimentell nicht einmal auf das Klavier angewiesen schien, seine angeblich vom Komponisten selbst autorisierte Begründung finden. Diese eigentümliche und einzigartig geniale Kompositionsweise Mozarts, die vermeintlich nur noch eines mechanischen Schreibakts bedarf, wurde immer wieder als besondere Auszeichnung des göttlichen Musensohns hervorgehoben.

Goethe, ein großer Bewunderer Mozarts33, aber auch andere Prominente haben an diese Art göttlicher Inspiration Mozarts bereitwillig geglaubt. Und selbst wenn es so gewesen wäre und der Komponist nach dem Empfang seiner Eingebungen naturgemäß nur noch, wie mutmaßlich Thomas Bernhard (der Schluss von dessen Roman Das Kalkwerk kommt einem unwillkürlich in den Sinn34) gesagt hätte, „seinen Kopf urplötzlich von einem Augenblick auf den anderen (...) auf das Papier“ hätte „kippen“ müssen; selbst dann bliebe noch allein die mechanische Arbeit der Niederschrift von insgesamt 23.000 Seiten Noten nach Zählung der Neuen Mozart-Werkausgabe, und dies in einem Zeitraum von noch nicht einmal siebenunddreißig Lebensjahren (abzüglich der frühen Kindheitszeit) als eine beinahe unglaublich zeitaufwändige Fleißarbeit maßlos zu bestaunen.

Ulrich Konrads Habilitationsschrift über die Schaffensweise, über Skizzen und Notizhefte Mozarts hat diesen durch Rochlitz in die Welt gesetzten Mythos der Produktionsweise, dem die Familie Mozart selber durch briefliche Äußerungen Vorschub geleistet hatte, zuletzt entscheidend korrigiert und wenigstens tendenziell in den Bereich der Legenden verwiesen.35