Das Geschenk der Fragezeichen - Mo Marlitt - E-Book

Das Geschenk der Fragezeichen E-Book

Mo Marlitt

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Beschreibung

Anne weiß nicht recht, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Statt Sinn und Lebensfreude fühlt sie Leere und Enge. In dieser Lebenssituation trifft sie nach vielen Jahren ihre Freundin Alice wieder. Diese erzählt ihr eine Geschichte von starken Mädchen und Frauen, einem magischen Spiegel und der Kraft eines Waldes – und Anne beginnt zu verstehen. Vor allem wird ihr klar: Es kommt darauf an, die richtigen Fragen zu stellen und mutig ein Tor in die neue Lebensphase aufzustoßen. Also macht sie sich auf den Weg, den Sinn des Lebens wiederzufinden und ihn fest zu umarmen.

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Seitenzahl: 89

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Marlitt

Das Geschenk der Fragezeichen

Aufbruch ins glückliche Leben

HERDER spektrum 6939

Originalausgabe 2017

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotive und Vignetten im Innenteil: © Shutterstock – Nikiparonak, Shutterstock – Roobcio

E-Book-Konvertiertung: le tex publishing services, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-81127-2

ISBN (Print) 978-3-451-06939-0

Inhalt

Wiedersehen

Der Tunnel

Am Ende der Welt

Der Spiegel

Waldspaziergang

Gewitter

Freundinnenfest

Ein magischer Kreis

Immer nach Hause

Mit offenen Augen

Es ist ewig her, dass wir uns gesehen oder miteinander gesprochen haben. Viele, viele Jahre. In einer Mischung aus freudig, irritiert und sentimental lege ich den Hörer auf, höre dem Klang von Annes Stimme noch ein wenig nach und rühre mich dabei nicht von der Stelle. Bilder kommen mir in den Sinn. Die kleine Anne und Karla, ihre Mutter, die lange eine Freundin war. Und jetzt, völlig aus dem Nichts, meldet sich auf einmal Anne, die jetzt vielleicht selbst schon Mutter ist. Zu dumm, ich habe vergessen, sie das zu fragen, so überrascht war ich von diesem Telefonat.

»Ich bin in deiner Gegend, habe dort ein Vorstellungsgespräch. Das wäre doch eine gute Gelegenheit, sich mal wieder zu sehen? Oder?«, war Anne sofort mit der Tür ins Haus gefallen. Obwohl sie zwitscherig wie ein kleines Vögelchen geklungen hatte, war doch ihre Aufregung zu hören, die zwischen den Worten mitschwang. Hastig hatte sie gesprochen, die Sätze untermalt von einem fragenden Ton, der mir signalisierte, dass es da vielleicht noch einen anderen Anlass gab als ein neuer Job. War mit Karla etwas passiert? Oder hatte ich Anne damals irgendwie verletzt? Arbeitete sie gerade ihre Kindheit auf? Sie war sehr oft bei mir gewesen, wenn Karla in der Arbeit war. Ein typisches kleines Frauennetzwerk, das gut funktionierte und nötig war, weil Karla alleinerziehend war. Ich kann mich nicht erinnern, zu streng oder schroff gewesen zu sein. Im Gegenteil, es gibt tausend schöne Momente, an die ich jetzt lächelnd zurückdenke. Sentimental eingestimmt gehe ich in die Küche und mache mir einen Kaffee.

Bunte Kindergeburtstage. Anne, wie ich ihr die Barbie schenkte, die sie von ihrer Mutter nicht bekam. Weihnachten. Wir alle und eine Gans, die sich weigerte, weich zu werden. Der erste Schultag. Ich hatte Anne die Tüte selbst gebastelt und mit Bildern von uns beklebt. Das Maskottchen, das ich ihr gehäkelt hatte, ein hässlicher Gnom, der eine entfernte Ähnlichkeit mit den Figuren der Sesamstraße hatte. Sie will vielleicht da anknüpfen, überlege ich weiter und rühre in meiner Tasse. Oder sie will mich auch einfach nur sehen und schauen, ob ich noch beide Ohren und meine Nase habe. Ich schmunzele. Das Mädchen! Wie sie wohl aussieht? Ob das Grübchen in der rechten Wange noch immer so keck in der Mimik spielt?

Anne war ein vergnügtes Kind gewesen und ich war ihre selbstgewählte Tante. Hin und wieder übernachtete sie auch bei mir. Diese Abende waren für mich immer ganz besonders, da unser Zusammensein dann intensiver war und ich mir viel Zeit für die Gespräche nahm. Es war wohltuend, dieses Kind bei sich zu spüren, zumal ich keine eigenen Kinder habe. Wir bauten zusammen zwischen Schrank und Kommode mit einer Decke eine Schlafhöhle – der ideale Ort, um zu kuscheln, vorzulesen und Märchen zu erzählen.

Dann wurde Anne größer, die Arbeit nahm einen immer größeren Teil meiner Zeit in Anspruch und schließlich zog ich wegen eines Jobs in eine andere Stadt. Karla heiratete zwischenzeitlich und baute sich eine neue Familie auf. Sicher, denke ich mir jetzt, ich hätte mit Anne in Verbindung bleiben können, aber wir haben uns offenbar dann doch nicht gefehlt.

Bis jetzt. Natürlich habe ich sie eingeladen vorbeizukommen, auch wenn ich nun etwas Lampenfieber vor der Begegnung spüre. »Wenn ich dich besuche, liest du mir dann auch wieder was vor?«, hat sie mich mit einem Zwinkern in der Stimme noch gefragt. Auch sie hatte unsere Abende also nicht vergessen. Das zeigte sie mir auf eine so entzückende Art, dass ich trotz anderer Pläne zu ihrem Besuch nicht Nein sagen konnte. Im Spiegel auf der Kommode sehe ich mich. 25 Jahre älter geworden. Mindestens 25 Jahre. Ich rechne nach, Anne war etwa sieben, als ich den damaligen Job antrat und wir begannen, uns aus den Augen zu verlieren. Jetzt bin gerade gut Fünfzig. Ja es stimmt, es sind runde 25 Jahre. Ob unsere alte Verbundenheit die Zeit wohl überlebt hat? Wir werden es merken. Vermutlich schon beim ersten Blick.

Ich schaue auf die Uhr, es ist höchste Zeit. Was essen wir? Das Bett! Die Aufregung wirbelt den Erinnerungssand in meiner Seele auf. Fotos von damals, soll ich die schnell suchen? Alte Postkarten und Briefe – in welcher Schachtel liegen die? Nachher, ich stutze einen Moment, ist sie an Einzelheiten gar nicht interessiert? Wie ein orientierungsloses Huhn renne ich von einem Zimmer in das andere, mache das Bett, decke den Tisch, poliere die Gläser und finde tatsächlich noch etwas Thunfisch und Oliven im eigentlich leeren Kühlschrank, um einen italienischen Salat zu zaubern. Das perfekte Provisorium! Dann klingelt es und wie in einem alten Film richte ich mir mit den Händen schnell noch mal das Haar, bevor ich auf den Öffner drücke.

»Da bist du, Kind«, sage ich und erschrecke, weil mir das Kind so aus dem Herzen kommt.

»Da bin ich!«, Anne schließt mich in die Arme. Ich rieche den Sommerduft, den sie trägt, fühle die Zartheit ihrer Hände und denke mir: Uh! Sie muss mehr essen, sie ist zu dünn.

»Für dich!«

Strahlend hält sie mir einen großen Sonnenblumenstrauß entgegen. Als ob die Zeit stehen geblieben wäre.

Während ich den Abendbrottisch decke, plaudert Anne aus ihrem Leben, dem Studium, erzählt von ihrem Freund und lässt auch Karla nicht aus, die mit ihrem Mann in die USA gezogen ist. Ich frage nach, interessiere mich und spüre doch: Nein, die Zeit mit Karla, sie ist vorbei. Hauptsache sie ist gesund, mehr will ich eigentlich gar nicht von ihr wissen.

»Weißt du, Alice«, beginnt Anne nun sehr vorsichtig, als ich uns eine Kanne Tee aufbrühe. »Du warst in meinem Leben irgendwie immer präsent, auch wenn wir uns so lange nicht gesehen haben. Ich habe immer wieder an dich gedacht und will dich schon ewig einmal besuchen. Die Kinderbücher von damals habe ich noch immer. Diese Erzählabende, die waren so wichtig. Mama hatte ja immer so einen vollen Kopf. Und naja, mit dir, das waren Zauber- und Zuckerstunden.« Wir lachen beide und ich stimme ihr zu. »Das sagst du richtig!« Ich muss sie einfach küssen und fühle Erleichterung, dass kein Schatten der Kindheit Anne zu mir bringt. »Ich fand dich immer toll.« Ihre Stimme klingt ganz aus dem Herzen. »Wenn ich groß bin«, habe ich mir damals vorgenommen, »dann will ich so wie Tante Alice sein.«

»Wie war ich denn?« Das will ich jetzt genauer wissen.

»Im Gegensatz zu Mama warst du immer so eindeutig und klar. Du hast mich ernst genommen. Wie soll ich sagen … du hast nicht über meinen Kopf hinweg entschieden, sondern ich durfte mitreden. Das fand ich super und deine Ideen, die waren einfach oft unerwartet. Man hat sprichwörtlich mit Nudeln gerechnet und du kamst mit Pudding. Das war genial!« Wieder müssen wir beide lachen. »Aber auch sonst, über die Spaßzeiten hinaus … du hast mir geholfen die Schule zu verstehen, mir gezeigt, wie man lernt …« Anne verstummt für einen Moment und rührt sich etwas Honig in den Tee. Eine Locke löst sich dabei aus ihrem Haar. Sie sieht süß aus, wie sie hier in meiner Küche sitzt, das kleine Mädchen, das ich von früher kenne und das jetzt als junge Frau mit Komplimenten und der gemeinsamen Vergangenheit um mich wirbt – und irgendetwas dringend von mir will. Um was geht es genau? Ich spüre etwas und will jetzt endlich wissen, was es ist.

»Bist du auf der Suche nach Tipps?« Musst du wieder etwas lernen oder drückt dich dein Vorstellungsgespräch? Wo und wann ist es denn genau?

Doch Anne schüttelt mit dem Kopf. »Ich hab’ am Telefon geflunkert.« Abwartend beäugt Anne mich über den Rand ihrer Tasse. Sie hält sie in beiden Händen, als müsse sie sich wärmen. Als ich nicht reagiere, stellt sie die Tasse ab und wird verlegen, fast ein bisschen ernst. »Der eigentliche Grund ist, dass ich dich wiederzusehen wollte. Ich wusste nicht, wie ich das anstellen soll, deswegen habe ich mir etwas ausgedacht. Und eigentlich«, sie stockt, »wollte ich das auch gar nicht beichten. Aber nun ist es heraus. Bitte nimm es als Verlegenheitsflunkern. Ich wollte wirklich und echt zu dir. Ich musste einen Anlass finden, weil ich dachte, dass dann der Anruf leichter geht.«

Sie wollte also ganz direkt zu mir? Das berührt mich. Aber dennoch, es geht hier nicht nur um ein Plauderstündchen, das Wiederbeleben alter Tage. Es gibt ein Thema, das klingt doch deutlich mit! »Was ist denn der Auslöser dafür, dass du ausgerechnet jetzt zu mir kommen wolltest?«, lege ich jetzt ganz direkt den Finger in die Wunde.

»Ach, ich weiß nicht so recht.« Anne windet sich ein bisschen. »Eigentlich geht es mir gut. Oder anders ausgedrückt: Ich habe eigentlich viele Gründe, glücklich zu sein. Ich habe liebe Freunde und auch mit Mama verstehe ich mich. Mit Benjamin, meinem Partner, läuft es super, wir wohnen zusammen. Mein Job ist okay. Ich könnte zufrieden sein. Aber es ist nicht so.« Das kommt mir bekannt vor, ich unterbreche sie aber nicht, sie soll einfach weitererzählen.

»Ich stelle mir immer häufiger eine große Frage: Wofür bin ich auf der Welt? Was ist meine Aufgabe?« Ja, ich kenne das, muss ich ein wenig schmunzeln. »Immer wieder kommt mir diese Frage und sie fühlt sich wie ein Rätsel an. Zu den unmöglichsten Zeiten taucht sie in meinen Gedanken auf. Beim Autofahren, wenn ich eigentlich einschlafen will. Oder wenn ich die Biografie von interessanten Menschen lese.«

»Und nun bist du hier, weil du meinst, dass ich gut im Rätsellösen bin?«

Anne sieht mich an und neigt ihren Kopf zur Seite, als traue sie sich nicht zu fragen. »Ich dachte, dass du mir mit deiner Lebenserfahrung weiterhelfen könntest. Und außerdem kennst du mich einfach schon sehr lang. Zwar haben wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber in den ersten Lebensjahren soll sich doch zeigen, wie ein Mensch angelegt ist, welche Talente in einem stecken. Und du«, sie beißt sich nachdenklich auf ihre Unterlippe, »du warst damals ganz einfach da. Vielleicht hast du ja etwas bemerkt, das mich auf die Spur bringt, oder eine Idee, wie ich eine Spur finden könnte, die mir hilft, Antworten auf meine Frage zu finden. Ich laufe gerade im Kreis herum. Oder besser: wie im Nebel.«

Neigen sich die Sonnenblumen in ihrer Vase gerade ein wenig zu ihr hin oder kommt es mir nur so vor, dass dieser Moment ein wenig besonders ist?