Rendezvous mit mir - Mo Marlitt - E-Book

Rendezvous mit mir E-Book

Mo Marlitt

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Beschreibung

Diese moderne Weisheitsgeschichte erzählt davon, wie man mit seinem Inneren Kind Frieden schließen und zu neuem Selbstvertrauen finden kann. Die Redakteurin Doro ist gestresst, sie muss eine Sendung zum Thema "Vertrauen" auf die Beine stellen und das übers Wochenende! Durch den Kontakt mit einer Interviewpartnerin werden überwunden geglaubte Erinnerungen an ihre Heimat und die Kindertage wach und die heilende Auseinandersetzung mit einer alten Familienwunde beginnt.

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Seitenzahl: 108

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Mo Marlitt

Rendezvous mit mir

Frieden finden mit dem inneren Kind

Originalausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal, Rosenheim/München

Umschlagmotive: © Natalia Shargorodskaya - shutterstock, GalinaL - shutterstock, Alona K - shutterstock, Roobcio - shutterstock

Vignetten Innenteil: © Natalia Shargorodskaya - shutterstock, GalinaL - shutterstock, Alona K - shutterstock

E-Book-Konvertierung: le tex publishing, Leipzig

ISBN E-Book 978-3-451-81291-0

ISBN Print 978-3-451-03108-3

Inhalt

Eine neue Sendung

Was ich an mir mag?

In jedem Setzling schlummert ein Baum

Der Anrufbeantworter

Reise in die Vergangenheit

Durchbruch

Ein Mädchen im Mond

Die Stimme in mir

Besuch mit weißen Punkten

Eine neue Freundin

Ankommen

Ich spüre, wie mein Blut schneller fließt. Es pulsiert in meinen Adern. Auch wenn ich noch so viel guten Willen habe und meinen Job echt liebe, die Summe der anfallenden Aufgaben überfordert mich total. Es ist zu viel, was Sebastian da von mir verlangt. Man kann nicht eine neue Sendung konzipieren und gleichzeitig mit dem Schreibtisch in ein neues Büro umziehen.

Vor mir türmen sich Kisten und verschiedene Unterlagen. Ein Sammelsurium, das unordentlich aussieht und mich in Nervosität versetzt. Soll ich erst die Schubladen leeren oder den Bücherschrank ausräumen? Wohin mit den Büchern, die ich nicht mehr brauche? Es wäre vielleicht auch sinnvoll, erst einmal den Schrank mit den Themenordnern einzupacken, denn den brauche ich am schnellsten wieder. Oder doch erst die Schubladen? Es ist zum Närrischwerden … wo und wie fange ich am besten an?

»Zieht dein Computer eigentlich mit um?« Sebastian, der Redaktionsleiter, schreckt mich aus meinen Gedanken auf. Er hat seine »Chefstimme« aufgelegt. Wenn er derart sonor in die Chefetage aufsteigt, bringt er mich auch nach all den Jahren noch zum Lachen. Er sieht dann so richtig albern aus, mit dem Blick über die Lesebrille hinweg.

»Es sieht hier so aus, als ob ein Umzugscoaching hilfreich wäre …«

»Wie kommst du denn darauf?«, frozzele ich zurück.

»Will mal so sagen, ich sehe viele offen stehende Kartons und dazwischen eine Frau, die sinniert, aber eher zögerlich vorankommt.« Seine Hand wandert durch die Luft, über die Schachteln und Taschen, gerade so als wäre er ein adeliger Landbesitzer und würde auf die Vielfalt seiner Güter deuten. »Ein Kessel Buntes könnte man das nennen.«

»Möchtest du auch in diese Redaktion einsteigen?«, necke ich ihn weiter.

»Nein, mi Läidy, helfen kann ich dir leider nicht, denn ich muss noch den Redaktionsplan machen. Eine Kollegin«, er zwinkert mir zu, »kommt irgendwie nicht schnell genug voran.«

»Haha«, ich verziehe meinen Mund.

»Spaß beiseite«, jetzt wird er wirklich ernst, »vergiss nicht, spätestens am Montagmorgen müssen die Gäste für die neue Sendung stehen! Wir sollten also vor dem Wochenende unbedingt noch einmal darüber sprechen.«

Vor kaum einer halben Stunde habe ich erfahren, dass sich die Planung geändert hat und der Hörfunktalk, den ich bereits inhaltlich vorbereitet hatte, einen neuen Titel und damit eine neue Ausrichtung bekommen hat. »Glück ist doch inzwischen viel zu abgegriffen«, hatte Sebastian mit einem Mal bestimmt. »Wir brauchen eine Überschrift, ein Thema, das unsere Zuhörer bewegt. Inneres Kind wäre so eins. Was haltet ihr davon? Mit dem inneren Kind liegen wir ganz nah am Puls der Zeit.«

Wer auch immer diesen Puls gemessen hat!

In letzter Minute schnell noch einen neuen Dreh finden, das ist in Redaktionen Alltag. Ich arbeite schon zu lange als Radioredakteurin, um mich darüber noch zu erschrecken. Es ist sozusagen Berufsrisiko. Radio ist schnell. Viel schneller als Fernsehen. Wenn Gäste nicht anreisen können, kann man sie zur Not auch zuschalten. Hören tut man das fast gar nicht. Also gibt es wenig Gründe, einen unliebsamen Auftrag nicht anzunehmen.

Aber diesmal ist es anders. Mit diesem neuen Thema, »inneres Kind«, kann ich absolut nichts anfangen. Vermutlich wäre ich motivierter, müsste ich nicht umziehen und mein geliebtes Nest verlassen. Aber beides – das ist echt zu viel. Drücken kann ich mich auch davor leider nicht, denn die Redaktion wächst. Neue Menschen brauchen neue Schreibtische und neue Schreibtische brauchen Platz. Das Schreibtischkarussell wurde also angeworfen und damit wanderte der meine in ein neues Zimmer.

Nina, meine junge Kollegin, muss auch aus unserem gemütlichen Arbeitsstübchen ausziehen. »Es gibt Redaktionen«, weiß sie, »da hat niemand mehr einen festen Schreibtisch, sondern sucht sich jeden Morgen einen neuen Platz. Das ist kreativ! Ich sehe das so: dass wir jetzt umziehen, schenkt auch einen neuen Blick auf unsere Arbeit und gibt neuen Schwung.«

Diese Sprüche kenne ich und wenn es mir gut geht, dann kann ich auch kluge Weisheiten von mir geben, mehr noch: Ich würde sie vielleicht sogar leben. Aber heute bin ich insgesamt ein wenig neben der Spur. Im Grunde ist es einer der Tage, an denen man mittags am liebsten noch mal neu beginnen möchte und abends alles schnell vergessen. Ich bin genervt, weil zu viel auf einmal ansteht, oder liegt es vielleicht … Mein Blick fällt auf den Mondkalender … Vollmond! Klar, in diesen Phasen bin ich immer dünnhäutig und leicht reizbar. Je voller er wird, desto sensibler reagiere ich. Manchmal zeigt sich das in Produktivität. Doch manchmal legt mich der Mond auch richtiggehend lahm.

Schon als Kind war ich an Vollmondtagen entweder weinerlich oder ich fühlte mich voll Kraft und Schaffenswillen. An guten Mondtagen bin ich nicht auszubremsen. Als Kind kannte ich keine Ruhe. Malen wollte ich, kneten, mit meinen Puppen spielen oder Märchenschallplatten bis zur Erschöpfung hören. Kaum war das Licht aus und die Tür geschlossen, schlüpfte ich auch schon aus dem Bett, schlich leise zum Fenster und beobachtete den Vollmond, wie er über der Wiese stand. Ich bin ein Mondkind. Seine Phasen steuern mich. Wenn er voll wird, dann passiert etwas mit mir. Heute ist seine positive Kraft irgendwo auf der Milchstraße hängen geblieben.

Paul, mein Freund, ist da völlig anders. Rational. Lösungsorientiert. Er weiß ziemlich genau, was mir an wackeligen Vollmondtagen guttut. Aber ausgerechnet jetzt, wo einer dieser Tage ist und ich mich nach seinen Armen und seiner Zuwendung sehne, macht er ein Trainingswochenende, exakter: einen Joggingkurs, im Schwarzwald, als gäbe es in unserer Nähe kein Fitnessstudio, keine Kurse übers Internet oder irgendwelche Lauf-Apps fürs Handy!

Damit mich jetzt wenigstens eine zur Kenntnis nimmt, nämlich ich, atme ich geräuschvoll durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Es ist ein Puh-Laut, der akustisch verdeutlicht, dass ich mich weder mir noch der Welt gewogen fühle. Genug nachgedacht. Ich hänge dem Zeitplan wirklich hinterher und in der Redaktion gibt es keinen Mondschein-Bonus.

»Kommst du bitte?«, Sebastian schaut schon wieder rein. »H.J. will noch mal mit uns brainstormen.« H.J. ist der Moderator der Sendung. Letztes Jahr wurde er 61 Jahre alt und seitdem darf man ihn nicht mehr Hans-Jürgen nennen, denn er findet, das mache ihn älter, als er sei. Kein Kommentar. Und weg ist Sebastian, wie ein Blitz, aber dann, als könne er sich doch nicht richtig lösen, ist er auch schon wieder da. Seitlich streckt er seinen Kopf durch die Tür zu mir herein. »Du weißt schon, dass ein paar Bleistifte in der Schachtel keinen Umzug machen? Du solltest dringend mit dem Packen anfangen.«

Im Hintergrund höre ich H.J.s Stimme. Sein lauter Bass schwingt bis zu meinem Schreibtisch und lässt mich unfreiwillig an einem Telefonat mit einer Hierarchiestufe höher teilhaben. Wenn es um die Sendung geht, kämpft er wie ein Löwe. »Dorothea macht das!«, höre ich ihn sagen. »Wir kriegen das hin. Inneres Kind ist super!«

Sein »Dorothea macht das« erinnert mich an Kindertage. Vielleicht habe ich deswegen keine Lust auf dieses innere Kind. Ich bin froh, dass meine Kindheit vorüber ist. Jetzt legt H.J. geräuschvoll auf. Also stehe ich auf, streiche mir über Bluse und Rock und mache mich auf den Weg zur Stehkonferenz.

Auf dem Gang herrscht hektisches Treiben. »Brauchst du die Kaffeekanne heute noch?« Nina, meine Noch-Zimmergenossin, ist mit dem Einpacken bereits so gut wie fertig. Sie hat die Kanne aus der Teeküche geholt, um sie ebenfalls zu verstauen. »Nein, … doch, … ach, ich weiß nicht. Nimm sie ruhig schon mit«, stottere ich, während ich zu den Chefs hetze.

»Und der Wasserkocher?«

»Auch. Ich werde ohne dich weder essen, noch trinken«, versuche ich es mit einen kleinen Scherz. Sie rollt mit den Augen, will etwas kontern, aber Sebastian drängelt und so flitze ich nur wild gestikulierend an ihr vorbei. »Wo bleibst du denn?«

»Bin schon da.« Eine Redakteurin ist kein ICE, wobei ich in diesem Fall ja auch einfach auf der Strecke hätte stehenbleiben können. Oberleitungsschaden. Nichts kommt mehr an und nichts geht hinaus. Es ist doch erstaunlich – schießt es mir durch den Kopf, als ich Platz nehme –, dass ich auch an schlechten Tagen zumindest zu einem bisschen Ironie noch fähig bin. Zu mehr innerem Zuspruch reicht es allerdings nicht, denn Sebastian und H.J. brüten mit qualmenden Köpfen vor dem Flipchart, und was ich auf den ersten Blick erkenne, sieht nach Überstunden und Finger-wund-Wählen aus.

»Also Doro«, Sebastian dreht nachdenklich den Stift in der Hand und dann erklärt er mir die Skizze auf dem Blatt. »Das Beste aus zwei Welten: mein inneres Kind und ich« steht da geschrieben. Ich weiß nicht, an welche Welten die beiden denken. Meine Erwachsenenwelt ist ziemlich klar, aber die des inneren Kindes hüllt sich in Nebel. Weiter entfernt als der Mond. Ist es wirklich ein Zeitproblem oder will ich nicht verstehen oder habe ich Berührungsängste? Im Moment kann ich es nicht bestimmen, zu sehr wehre ich mich dagegen. »Können wir nicht beim alten Thema bleiben?«, versuche ich es erneut. »Das ›Glück‹ war doch schon fertig und nun fangen wir wieder von vorne an!«

»Mal schauen.« Sebastian ruft kurzerhand die gesamte Etage zu einer Stehkonferenz zusammen. Er will das Thema prüfen. Das ist meine Chance, jubiliere ich innerlich. Doch kaum hat Sebastian ein paar einleitende Worte gesprochen, nicken auch schon alle los, Beispiele und Satzfetzen fliegen durch den Raum. So, als wäre dieses innere Kind ein Allerweltsthema, etwa wie: »Machen Diäten dick oder schlank?«

Es ist, als wäre ich noch mal in der Schule und alle außer mir haben ihre Hausaufgaben gemacht. Aus meinen Kolleginnen und Kollegen sprudelt es nur so heraus und Erlebnisse, Erkenntnisse und Antworten prasseln von allen Seiten auf mich ein.

»Das ist doch ein super Thema«, wird Lotte richtig aufgeregt, »das innere Kind spiegelt unsere innere Erlebniswelt. Es ist stark, wenn du eine glückliche Kindheit hattest, wenn man dich wertgeschätzt hat, gefördert, geliebt. Wenn man ehrlich mit dir war und deine Eltern ein gutes Verhältnis zu sich und anderen hatten. Da gibt es bestimmt viele Menschen, die dazu etwas erzählen wollen.«

»Und was ist wenn nicht?«, meckere ich gegen die rosaroten Brillen, denn wer kann schon wirklich von einer richtig guten Kindheit erzählen? Ich jedenfalls kenne niemanden, der nicht wenigstens gelegentlich über Mutter oder Vater klagt. Paul mal ausgenommen, der, was das angeht, ein wahres Glückskind ist. »Meine Mutter«, werfe ich in die Runde, »war zum Beispiel total streng. So geht es doch vielen. Haben die dann trotzdem ein inneres Kind oder ist an seiner Stelle nur ein Vakuum im Bauch?« Das soll provozierend klingen, das Team geht aber gar nicht darauf ein. Zu schade, denn auch das wäre eine Chance gewesen, das Thema einfach zu beenden und das Glück zu fahren, wie wir es vorgesehen hatten.

»Solche Geschichten sind es doch«, Nina nickt und runzelt gleichzeitig die Stirn, »die diese Sendung interessant machen.« Sie klopft mit dem Bleichstift auf ihr Heft. Ich kenne das; sie macht es immer, wenn ihr etwas total wichtig ist. »Die Sendung könnte aufzeigen, wie man mit dem eigenen inneren Kind spricht und hört, wenn es etwas Trauriges erzählen möchten. Du kannst eine miese Kindheit nämlich rückwirkend zurechtrücken. Du solltest das sogar, denn wie viele Menschen reden mit sich selbst so streng, wie das einst Mutter oder Vater taten. Das ist nicht gut, denn es macht Stress.« Spricht sie von mir? Für einen Augenblick fühle ich mich regelrecht ertappt und könnte explodieren.

»Manche«, meint Lotte, »sind sogar noch strenger mit sich selbst, als es ihre Eltern waren, oder nehmen sich sogar gar nicht ernst. Die haben dann zum Beispiel Stress und treiben sich immer weiter an, weil sie gar nicht merken, wie sehr sie sich überfordern. Oder sie fühlen sich von jemandem angegriffen, obwohl der Grund eigentlich eine Verletzung in Kindertagen ist. Weil sie ihrem inneren Kind nicht zuhören, bekommen sie es nicht mit und lassen ihren Ärger vielleicht an der falschen Stelle raus.«

»Genau!«, Nina nickt Lotte zu. »Und gewonnen ist gar nichts!«