Das gestohlene Tierreich - Klaus Möckel - E-Book

Das gestohlene Tierreich E-Book

Klaus Möckel

4,9

Beschreibung

Etwas Unvorstellbares passiert im Zauberland – das Tierreich mitsamt seinem König, dem Tapferen Löwen, wird gestohlen. Ein Riese streut Schrumpfpulver über dem Wald aus, so dass Bäume und Sträucher, aber auch die Tiere um ein Vielfaches kleiner werden. Dann rollt er alles wie einen Teppich zusammen und schleppt es als Spielzeug für seine Kinder in die Berge. Das Unglück könnte nicht schlimmer sein! Während die Tiere größte Mühe haben, sich an ihre neue Lage anzupassen, stehen der Scheuch, Betty, Jessica und andere, die ein Waldfest besuchen wollten, dem Ereignis fassungslos gegenüber. Sie nehmen die Spur des Riesen auf, doch wie sollen sie helfen? Wieder einmal müssen sie unerwartete Hindernisse überwinden, gefährliche Abenteuer bestehen. Sie geraten in die Fänge doppelköpfiger Geier und Jessica mit Betty sogar in die Gefangenschaft des Riesenmädchens Bomm. Doch mit Hilfe eines Steinbocks und eines klugen Marabus gelangen sie schließlich ans Ziel. Gemeinsam mit den Tieren kann letztendlich die schwierige Aufgabe der Rückverwandlung in Angriff genommen werden. "Mit dem letzten Band der Reihe beweist Nikolai Bachnow noch einmal, zu welch fantastischen Ideen er fähig ist. Die Geschichte vom Tierreich ist toll und macht dieses Märchen zu etwas ganz Besonderem." (Karolin Kullmann) Dieses Buch, 2003 bei LeiV (Leipzig) mit Illustrationen von Hans-Eberhard Ernst unter dem Pseudonym „Nikolai Bachnow“ erschienen, ist das achte von mehreren Büchern, die an die bekannte Reihe des Russen Alexander Wolkow anschließen. "Endlich befindet man sich wieder in Gefilden, die nicht mehr futuristisch oder abstrakt anmuten", hieß es damals in Karolin Kullmanns Rezension. INHALT: Erster Teil: Das unheilvolle Pulver Der Riese Eine kahle Ebene Der kleine Bär Der Steinbock Ocki und Bomm Timbal und Sohn Die Rolltreppe Bomms Perlenkette Zweiter Teil: Gefährliche Begegnungen Der Geier mit den zwei Schnäbeln Rette sich, wer kann! Der Fallwind Das Gespräch mit der Riesin Die Elfen Endlich wieder in Freiheit Ein unheimliches Geheul Dritter Teil: Der Gott der Riesen Der Leopard Die Schlucht der Riesen Erneut gefangen Die schwarzen Pilze Wo ist Bomm? Das Puppenhaus Hilfe oder nicht? Eine pfiffige Idee Die Stimme des Berges Das Feuerwerk Eine gerechte Strafe Ein wunderbarer Tag

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Impressum

Aljonna und Klaus Möckel

Das gestohlene Tierreich

Band 8 der Nikolai-Bachnow-Bücher

ISBN 978-3-86394-130-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien unter dem Pseudonym „Nikolai Bachnow“ 2003 bei LeiV Buchhandels- und Verlagsanstalt GmbH.

Illustrationen: Hans-Eberhard Ernst

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorwort

Als Alexander Wolkow Mitte des vorigen Jahrhunderts seine Bücher über das Zauberland jenseits der Weltumspannenden Berge veröffentlichte, in denen er sich am berühmten "Zauberer von Oz" des Amerikaners Lyman Frank Baum orientierte, konnte er nicht ahnen, welchen Erfolg er damit haben würde. Nicht nur in der damaligen Sowjetunion fanden die Geschichten vom Mädchen Elli, dem Weisen Scheuch, dem Tapferen Löwen und dem Eisernen Holzfäller zahlreiche Leser, sie wurden auch in viele Sprachen übersetzt. In der DDR wuchsen Generationen von Kindern mit den sympathischen Helden auf, und die Wolkow-Bücher überlebten schließlich sogar die Wende. 1992 wurde der "Zauberer der Smaragdenstadt" im LeiV Verlag Leipzig neu herausgebracht und stand, genau wie einige weitere Bücher der Märchenreihe, in den Bestsellerlisten für Kinderliteratur lange an vorderster Stelle.

Es ist nicht erstaunlich, dass sich in Russland und anderswo bald Autoren fanden, die an diesen Erfolg anknüpfen wollten. Nach einigen Experimenten mit russischen Schriftstellern, die, den neuen Zeiten Rechnung tragend, die Wolkowschen Gestalten zum Teil auf ferne Atolle und ins Weltall schickten, kam der Verlag auf die Idee, wieder die ursprüngliche Wirkungsstätte in den Mittelpunkt zu rücken. Klaus und Aljonna Möckel, die sich als Schriftsteller bzw. Übersetzerin in der DDR einen Namen gemacht hatten, übernahmen unter dem Pseudonym Nikolai Bachnow (Nikolai als russische Version von Klaus; Bachnow nach dem Mädchennamen Bach der Übersetzerin), die Aufgabe, weitere Geschichten für die sympathischen Helden zu erfinden.

Natürlich sollten die Leser – Kinder und Erwachsene, die diese Bücher früher verschlungen und inzwischen selbst Kinder hatten - den Bezug zum bisherigen Geschehen herstellen bzw. den Übergang nachvollziehen können. Neue Gestalten waren schon in den letzten Wolkow-Bänden aufgetaucht, Söhne und Nichten der ursprünglichen Heldin Elli bestanden gefahrvolle Abenteuer, und in drei Bänden des Nachfolge-Autors Kusnezow wirkten weitere Helden mit. Doch das ursprüngliche Zauberland rückte dadurch in den Hintergrund, war kaum noch fassbar, das Geschehen oft verwirrend und zu abstrakt dargestellt.

Um diese Situation, die von vielen Lesern als unglücklich empfunden wurde, zu beenden und gleichzeitig die wichtigsten Verbindungen fortzuführen, konzentrierten sich Aljonna und Klaus Möckel erneut auf die Grundzüge der Zauberland-Serie. Sie hielten, zumindest in den ersten Bänden, an einigen der neueren Figuren wie dem Kapitän Charlie oder Chris Tall, Ellis Sohn, fest, stellten aber die vertrauten Gestalten wieder mehr ins Zentrum. Mit der Zeit formte sich ein neues Ensemble, in dem neben dem Scheuch, dem Löwen und dem Holzfäller besonders Goodwins Enkelin Jessica und die Puppe Prinzessin Betty, die der Scheuch zur Frau genommen hatte, herausragten, zu dem aber auch witzige Gestalten wie der Hobbyzauberer Pet Riva, die starke Spinne Minni oder der schlaue Mäuserich Larry Katzenschreck gehörten.

1996 kam es zur Veröffentlichung des ersten Bachnow/Möckel-Bandes "In den Fängen des Seemonsters", in dem sich die Bewohner des Zauberlandes mit einer Verschmutzung im Muschelmeer, dem Reich der Fee Belldora, auseinandersetzen müssen. "Manches hat sich im Zauberland verändert", schrieb seinerzeit die Kritikerin Karolin Kullmann im Internet, "aber dennoch hat man von der ersten Seite an das Gefühl, wieder im wundervollen Märchenreich zu sein ... Mit dem Autor Nikolai Bachnow, der von nun an das Schreiben neuer Geschichten übernimmt, hat die Reihe viel dazu gewonnen." Und die Rezensentin, die auch zu den späteren Büchern Kritiken verfasste, sprach am Ende die Hoffnung aus, "dass auch die Nachfolger mithalten können".

Von dem Autorenpaar entstanden in den Jahren 1996 bis 2003 acht Bände, die nun auch digital vorliegen. Aljonna und Klaus Möckel hatten sich vorgenommen, gut verständlich, spannend, mit Fantasie und Humor zu erzählen, so wie es für Kinder (und Erwachsene) sein sollte. Der Leser mag nun selbst urteilen, ob sich die Hoffnung der Kritikerin erfüllt hat.

Erster Teil: Das unheilvolle Pulver

Der Riese

Ein dumpfes Geräusch ertönte in der Ferne, ein Stampfen, das sich wiederholte und immer lauter wurde. Der Tapfere Löwe, Herrscher des mitten im großen Zauberland gelegenen Tierreichs, hob den Kopf. Er hatte nach einem ausgezeichneten Mahl am Fuße seiner Felsenburg in der warmen Mittagssonne gedöst, doch nun wurde er wach. Die Laute waren ungewöhnlich, wenn nicht sogar beunruhigend.

Der Hase hoppelte herbei, einer seiner Minister.

"Hörst du das Trampeln, Herr?", rief er aufgeregt. "Es scheint näher zu kommen. Was mag das sein?"

Der Löwe erhob sich.

"Das möchte ich auch gern wissen. Ganz schön unverschämt, so unsere Mittagsruhe zu stören." Er gähnte.

Das Geräusch verstummte, erscholl aber nach einigen Minuten erneut und noch stärker. Ein Trapsen wie von Riesenstiefeln, die Gehölz niederwalzten, Baumstämme zerbrachen.

Dem Hasen zitterten vor Angst die Pfoten, der Puschelschwanz und die langen Löffel.

"Das klingt wie ein Schritt. Als stapfte ein Riese heran!"

"Ein Riese bei uns? Bist du noch bei Verstand? Wo soll der herkommen?"

Inzwischen flatterten erschrocken Vögel durch die Luft, verkrochen sich in ihren Nestern und Baumhöhlen. Wildschweine, Füchse, Rehe flüchteten ins Unterholz.

Nun waren die Schritte schon ganz nahe. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, jagte der Hase davon, verschwand in seinem Bau. Der Löwe dagegen stieß ein wütendes Gebrüll aus. Er würde es dem Eindringling zeigen.

Doch er kam nicht dazu, den Feind ins Auge zu fassen. Ein Schatten verdunkelte die Sonne, eine Schuhsohle, fast so groß wie der Vierbeiner selbst, senkte sich auf ihn herab, so dass er mit einem jähen Satz zur Seite springen musste, wenn er nicht zertreten werden wollte. An der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte, wurden ein Strauch zermalmt, ein paar mächtige Steine in den Boden gedrückt, als sei der aus Wachs. Eine Stimme, die das Löwengebrüll um ein Vielfaches übertönte, sagte dröhnend:

"Das ist lustig. Das wird den Kleinen gefallen."

"Wer bist du? Wer ist das, die Kleinen? Was soll ihnen gefallen?", wollte der König des Tierreichs fragen, verstummte aber bereits nach den ersten Worten. Der Kerl, der wie ein Turm vor ihm stand, griff nämlich in einen Sack und streute mit weitem Schwung, so als säe er Korn aus, ein graues Pulver in die Gegend. Über die Wälder, die Wiesen, die Tiere und Vögel. Der Löwe duckte sich, versuchte auszuweichen – vergebens. Das schrecklich stinkende Zeug rieselte in dichten Schwaden auf ihn, die Pflanzen und Steine ringsum herab.

Der hat Schlimmes mit uns vor, will uns vielleicht sogar ersticken, schoss es dem Löwen durch den Kopf. Doch weiter kam er mit seinen Gedanken nicht. Die Beine knickten ihm weg, der Kopf wurde schwer, die Augen fielen ihm zu, und ohne etwas dagegen tun zu können, sank er betäubt zu Boden. Genau wie die anderen Wald-, Sumpf- und Steppenbewohner, die Vierbeiner und Vögel, die Schlangen, Echsen und Lurche. Selbst wenn sie sich gerade in ihren Höhlen aufhielten oder in letzter Minute dorthin geflohen waren, konnten sie nicht entrinnen. Das Pulver und sein beißender Geruch verbreiteten sich überall, drangen in jedes Loch, jede Ritze. Höchstens trat die Wirkung manchmal später ein, war ein bisschen schwächer. Auf jeden Fall aber reichte sie aus, den Tieren das Bewusstsein zu nehmen, so dass sie stumm dalagen, sich nicht mehr regen und keinen Laut mehr von sich geben konnten.

Aber noch etwas anderes, ganz Eigenartiges geschah! Es betraf neben Tieren und Vögeln auch die Bäume, Büsche, Pflanzen und sogar die Steine. Niemand außer dem Kerl, der das Pulver verstreut hatte, bemerkte anfangs die Veränderung, dämmerten doch alle in tiefer Benommenheit dahin. Und selbst als der Löwe wieder zu sich kam, begriff er die neue Lage nicht. Um ihn herum war es stockfinster, er fühlte sich eingequetscht, der Boden unter ihm schwankte und es kam ihm vor, als trüge man ihn davon. Ich bin in einen großen Teppich eingerollt, dachte er, der Riese hat mich betäubt und ein Tuch um mich geschlagen, er will mich in seine Höhle schleppen, vielleicht um mich am Spieß zu rösten. Ich muss mich unbedingt befreien.

Nach und nach gelang es dem Vierbeiner, sich etwas Raum zu verschaffen. Er streckte die Pfoten aus und kroch langsam ins tiefe Dunkel hinein - er sah nirgends Licht. Nein, da war nicht bloß eine Decke um ihn und allein war er hier auch keineswegs: Er stieß auf Steine, Gesträuch, Bäume, genau wie bei sich zu Hause. Vögel flatterten vor ihm auf und ein Reh sprang über moderndes Holz.

Denn in Wirklichkeit hatte der Riese nicht nur ihn, sondern den ganzen Wald eingepackt. Als Spielzeug für seine Zwillinge. Er beherrschte einige Zaubertricks und hatte das Pulver so zusammengemixt, dass alle Lebewesen und Gegenstände auf eine ihm genehme Größe schrumpften. Zufrieden hatte er zugeschaut, wie das gesamte Tierreich unter ihm kleiner und kleiner wurde, bis es sich nur noch als großer grüner Teppich darbot. Mit groben Händen hatte er diesen Teppich vom steinigen Untergrund gelöst und ihn mit allem, was darauf wuchs, fleuchte oder kreuchte, zu einer riesigen Rolle geformt. Ähnlich wie man den Kunstrasen in einem Fußballstadion zusammenwickelt. Dann hatte er den Packen unter den Arm genommen und war davongestapft, auf sein weit entferntes heimatliches Tal zu.

Das alles aber war so ungeheuerlich, dass niemand in der "Teppichrolle", weder der Löwe noch die anderen Tiere, die nun allmählich wieder zu sich kamen, auch nur das Geringste von den wirklichen Vorgängen ahnte. Jeder suchte verzweifelt nach einem Ausweg oder duckte sich, je nach Temperament, im Finstern ängstlich ins Gras. Erst viel später wurde erkennbar, was sich genau zugetragen hatte, und manches Kaninchen, manches Äffchen begriff es selbst dann noch nicht.

Eine kahle Ebene

Etwa um die gleiche Zeit waren der Weise Scheuch, seine Frau Betty Strubbelhaar und das Mädchen Jessica aus der Menschenwelt im großen Zauberland unterwegs. Sie kamen aus der berühmten Smaragdenstadt, die einst von Goodwin dem Schrecklichen erbaut worden war, und wollten ihren Freund besuchen, den Tapferen Löwen. Von ihm hatten sie eine Einladung zum Grünen Urwaldfest erhalten, auf das sie sich sehr freuten. Jessica hatte extra deswegen den Fliegenden Trog benutzt, der noch von der Hexe Gingema stammte und sie stets sicher über die Weltumspannenden Berge hierher ins Land der Märchenwunder brachte.

Und noch eine im Zauberland bekannte Persönlichkeit hatte sich ins Tierreich aufgemacht: der ganz und gar aus Blech bestehende Eiserne Holzfäller. Auch er wollte zum Fest und die Freunde treffen. Begleitet wurde er aber nicht etwa von seiner Katze Mia, einem höchst eigenwilligen Tier, das jedoch lange Wege scheute, sondern von einem Hündchen namens Knacks. Der Eisenmann hatte bei dessen Herrn, einem ihm bekannten Bauern, übernachtet und von der Einladung erzählt, woraufhin der Hund ganz aufgeregt wurde. Nicht ohne Grund, war er doch nicht irgendwer! Schließlich hatte er mit Jessica, dem Scheuch und dem Löwen schon einige Abenteuer erlebt. Im Reich der Unsichtbaren Fürsten zum Beispiel oder beim Kampf gegen den gefährlichen Drachenkönig. Nun bettelte er und bettelte, bis der Holzfäller bereit war, ihn mitzunehmen. Für den Bauern war das eine Ehre und so ließ er ihn, wenn auch ungern, ziehen.

Der Scheuch und seine Freunde trafen als erste an der Grenze zum Tierreich ein, das an dieser Stelle hinter einer Hügelkette begann. Sie kletterten auf eine der Anhöhen und schauten ins Land hinab. Aber statt grüner Wälder und saftiger Wiesen erblickten sie nur eine kahle Ebene. Die drei waren derart verblüfft, dass sie mit offenen Mündern dastanden und eine ganze Weile kein Wort herausbrachten. Schließlich sagte die Puppe Betty, oft auch einfach Prinzessin genannt, leise:

"Was ist denn das? Bin ich wach oder mit euch gemeinsam in einem schrecklichen Traum? Seht ihr auch, was ich sehe?"

Jessica schloss die Augen und öffnete sie wieder.

"Sind wir einen falschen Weg gegangen?", fragte sie. "Das da kann doch nicht das Reich meines geliebten Löwen sein."

"Das Land Dickhauts, des Hasen Mümmel und all der anderen", ergänzte Betty.

Der Scheuch fand endlich die Sprache wieder.

"Nein, das kann es wirklich nicht sein", murmelte er. "Für einen Moment dachte ich, man gaukelt nur mir etwas vor. Aber da wir anscheinend alle das gleiche Bild vor Augen haben ..."

"Haben wir uns im Weg geirrt?", wiederholte Jessica. Das schien ihr noch die einleuchtendste Erklärung.

"Wir haben den Gelben Backsteinweg genommen", antwortete der Scheuch, "den Großen Fluss überquert, uns links vom Kupferwald gehalten und die Abkürzung durch die Trompetenschlucht genutzt, wie immer. Dort drüben, jenseits der Felsen, liegt das Tal der Fragen. Es gibt keinen Zweifel, dass wir hier am richtigen Ort sind."

"Aber wo sind die Bäume hin, die Büsche, die Tiere?" Betty hob verzweifelt die Arme.

"Das sieht nach Hexerei aus", murmelte der Scheuch düster.

"Der arme Löwe! Mein freundlicher Elefant Dickhaut!" Jessica begann zu weinen.

"Vielleicht ist alles nur ein Trugbild." Betty setzte sich entschlossen in Bewegung. "Schauen wir uns das Ganze mal aus der Nähe an."

Sie liefen den Hügel hinab, hoffend, dass sie gleich auf Bäume und Büsche stoßen würden, zwischen denen ein Reh graste, einige Vögel schwirrten. Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, unten, auf sandigem und steinigem Grund, aus dem nur manchmal eine abgebrochene Wurzel ragte, sah alles noch trostloser aus.

"Wie still es hier ist", flüsterte Jessica. "Wie auf einem Friedhof."

"Ein Friedhof ist nichts dagegen", erwiderte die Puppe. "Da wispert der Wind in den Bäumen und die Vögel zwitschern."

Der Scheuch untersuchte den Boden, doch das brachte sie nicht viel weiter.

"Einen Brand hat es nicht gegeben", erklärte er, "sonst würden wir auf Asche stoßen und auf verkohlte Baumstämme."

"Kaum zu glauben, dass sogar der schöne Waldboden weg ist." Betty konnte es einfach nicht fassen.

"Als hätte jemand den weichen Grund von den Steinen gelöst", sagte Jessica. "Nur ein paar Wurzeln sind stecken geblieben."

Sie wurden unterbrochen. Blech schepperte und aufgeregtes Kläffen war zu hören. Der Holzfäller und Knacks bogen um einen der Hügel. Als der Hund die Freunde aus der Smaragdenstadt entdeckte, gab es für ihn kein Halten mehr. Er stürmte heran und sprang so begeistert an Jessica hoch, dass sie fast hingefallen wäre.

"Knacks? Wie hast du hierher gefunden?" Das Mädchen war nicht weniger erfreut.

Wie stets, wenn sie sich begegneten, gab es eine herzliche Begrüßung. Der Holzfäller erklärte die Sache mit dem Hündchen, der Scheuch richtete beste Grüße von Minister Din Gior aus, der in seiner Abwesenheit die Regierung übernommen hatte. Doch sofort wandten sie sich wieder dem verschwundenen Tierreich zu. Knacks und der Eisenmann waren genauso bestürzt wie die anderen.

"Das Ganze grenzt an Hexerei", sagte der Scheuch. "Wenn Kaligmo noch im Kupferwald herumgeisterte, würde ich ihn verdächtigen." Die Strohpuppe spielte damit auf einen sehr gefährlichen Zauberer an, mit dem sie sich einige Zeit zuvor herumgeschlagen hatten.

"Der Silberwolf hat ihn verspeist und das ist recht so", erwiderte der Holzfäller. "Er war ein böser, gewalttätiger Mann. Doch bei allem Respekt vor seinen schwarzen Künsten: Das Reich unseres Tapferen Löwen wegzuzaubern, hätte selbst er nicht vermocht."

Die Freunde nickten. Bis auf Knacks hatten sie es alle mit dem Hexer Kaligmo zu tun gehabt, aber so heimtückisch er auch gewesen war – für eine solche Tat hätten seine Fähigkeiten bestimmt nicht gereicht.

"Kaligmo kann es ebenso wenig gewesen sein wie die grausamen Zauberinnen Gingema und Bastinda", sagte Prinzessin Betty nachdenklich. "Die leben ja gleichfalls nicht mehr."

"Zum Glück ist Gingema damals von Elli, der Fee des Tötenden Häuschens, erledigt worden", bestätigte der Scheuch," und an Bastindas Ende haben wir selbst mitgewirkt. Sogar ihren bösen Schatten mussten wir später noch besiegen." Man merkte, dass er stolz auf diese Erfolge war.

Inzwischen hatte sich Knacks auf der Ebene umgeschaut, war hierhin und dorthin gerannt. Mit der Nase am Boden schnüffelnd, kläffte er:

"Kommt mal her zu mir! Hier ist so ein komischer Geruch."

"Was denn für ein Geruch?" Die anderen rannten hin.

"Und hier ist eine Vertiefung im Gestein", fügte der Hund hinzu. "Mit Resten von Erde und zerdrücktem Gras. Man könnte meinen, es handle sich um einen gewaltigen Fußabdruck."

Jessica war als erste an der Stelle.

"Knacks hat Recht", rief sie. "Es stinkt und sieht aus wie eine Kuhle von einer Riesensohle."

Alle begutachteten die Vertiefung und der Scheuch kratzte sich den Kopf.

"Sonderbar. Ob das freilich etwas mit dem verschwundenen Wald zu tun hat?"

"Knacks könnte die Spur weiterverfolgen", schlug das Mädchen vor.

"Welche Spur denn?", fragte der Holzfäller. "Ich sehe nur den einen Abdruck. Ob der wirklich von einem Schuh stammt, ist zu bezweifeln."

"Immerhin gibt es diesen Geruch", beharrte Jessica.

Betty stimmte ihrer Freundin zu.

"Knacks soll ruhig seine Nase gebrauchen. Wir haben doch sonst keinen Anhaltspunkt."

Doch der Hund hatte seine Schwierigkeiten.

"Na ja, das ist nicht so einfach. Der Geruch ist überall, mal etwas stärker, mal schwächer."

Der Scheuch strengte sein Hirn an, dass ihm die Nadelköpfe aus dem Kopf drangen – das Zeichen seiner Intelligenz.

"Moment mal", sagte er. "Wenn der Abdruck doch von einem Schuh stammt, muss es sich um einen Riesen handeln und der war bestimmt nicht einbeinig."

"Ja, das könnte uns weiterbringen." Betty ließ sich von dem Argument ihres Mannes überzeugen. "Wir müssen nach einer zweiten Vertiefung suchen."

"Und falls es einen zweiten Abdruck gibt, existieren noch weitere", ergänzte die Strohpuppe. "Irgendwo wird der Hüne ja hergekommen sein."

"Genau. Das ist die Fährte, der wir folgen können", meldete sich wieder Jessica.

Der Holzfäller wiegte den Kopf.

"Noch sind das alles Vermutungen. Aber einverstanden, machen wir uns auf die Suche. Mein Herz sagt mir, dass unsere Freunde in Gefahr sind und wir etwas unternehmen müssen."

Wie der Weise Scheuch sein Hirn und der Tapfere Löwe seinen Mut, hatte der Eiserne Holzfäller sein gütiges Herz einst vom Großen Goodwin bekommen. Obwohl es nur aus Seide und mit Sand gefüllt war, sah er es als seinen wertvollsten Besitz an.

Sie verteilten sich und erneut war es Knacks, der den zweiten Sohlenabdruck fand. Er bellte die anderen herbei.

"Dann scheint es in der Tat ein Riese gewesen zu sein." Betty sah sich ängstlich um. "Was für gewaltige Füße! Ob er noch in der Nähe ist?"

"Nein, nein, du brauchst keine Angst zu haben", beruhigte sie der Scheuch, "man würde ihn hören und sehen. Er muss so groß sein, dass er sich höchstens hinter den Hügeln verstecken könnte. Und von dort sind wir ja gekommen."

"Trotzdem, das Tierreich kann er nicht weggenommen haben." Der Holzfäller kam auf das eigentliche Problem zurück. "Wie hätte er das schaffen sollen?"

"Und wenn doch? Vielleicht ist er nicht nur gewaltig groß, sondern auch ein Zauberer", wandte Jessica ein.

"Das wäre sehr schlimm", murmelte der Scheuch, "aber wie es sich auch immer verhält, wir dürfen nicht klein beigeben. Wären Dickhaut und der Löwe an unserer Stelle, würden sie uns auch nicht im Stich lassen."

Der kleine Bär

Inzwischen war Knacks weitergerannt. Stolz auf seine bisherigen Entdeckungen, beschnüffelte er Steine und Erdreste, um neue Spuren zu finden. Der Gestank verlor sich langsam, aber plötzlich stieg ihm ein anderer fremder Geruch in die Nase. Er kam aus einer Senke, die durch eine herausgerissene Wurzel entstanden war. Etwas bewegte sich dort.

Mit lautem Gebell stürmte der Hund auf die Stelle zu. Doch genauso jäh stoppte er wieder, legte in letzter Sekunde eine Notbremsung hin. Ein kleiner Bär richtete sich in der Kuhle auf, hob wütend und mit wildem Gebrumm die Tatzen.

Mit einem Bärenjungen, selbst wenn es kaum größer war als Knacks selbst, wollte sich der Hund nicht anlegen. Zumal man von dem da vielleicht einige Auskünfte erhalten konnte.

"Schon gut, entschuldige, ich will keinen Streit." Er beeilte sich, den kleinen Bären zu besänftigen. "Im Gegenteil, ich bin froh, dass wir dich treffen."

"Und warum stürzt du dann so auf mich los?"

"Tu ich doch gar nicht. Ich dachte bloß ..." Was er genau gedacht hatte, konnte Knacks nicht mehr sagen.

Der Bär beruhigte sich.

"Du hast mir gerade noch gefehlt", murrte er. "Einen Riesenhund wie dich habe ich hier noch nie gesehen. Aber ich finde mich sowieso nicht mehr in der Welt zurecht."

"Ich, ein Riesenhund?" Knacks wusste nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. "Auch wenn du noch sehr jung bist, solltest du nicht solche Witze machen."

"Ich bin nicht jung. Man sieht doch, dass ich meine Jahre auf dem Buckel habe."

Die anderen hatten den Bären gleichfalls entdeckt und kamen heran.

"Endlich jemand, mit dem man sprechen kann", stellte der Scheuch erfreut fest. "Was um Himmels willen ist bei euch geschehen, mein Kleiner?"

Beim Erscheinen der Freunde wich der Bär zurück.

"Wer seid ihr und was tut ihr hier? Gehört ihr zu dem Riesen, der uns betäubt hat?"

"Ganz bestimmt nicht", erwiderte Betty. "Wir kommen aus der Smaragdenstadt und wollten deinen Herrscher besuchen, den Tapferen Löwen. Doch plötzlich ist hier nichts als eine kahle Fläche. Was ist passiert?"

Der Bär blieb misstrauisch.

"Ihr kommt aus der Smaragdenstadt? Stimmt, der Beschreibung nach könntest du der Weise Scheuch sein und du der Eiserne Holzfäller. Der Löwe hat oft von euch erzählt. Ich dachte allerdings immer, ihr beiden wärt kleiner als ich."

Knacks zupfte Betty am Rock.

"Dieses Bärenkind hat bestimmt einiges durchgemacht", flüsterte er, "es scheint ziemlich verwirrt. Es behauptet, schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben, und hat mich als Riesenhund bezeichnet."

"Ich weiß nicht, weshalb wir kleiner sein sollten als du", entgegnete der Scheuch, "aber lassen wir das mal beiseite. Sag uns lieber, wohin der Wald verschwunden ist. Wo sind all die Tiere? Wo ist deine Mama?"

"Meine Mama? Ich hab sie seit Jahren nicht gesehen, zum Donnerwetter! Ich bin doch kein Kind!"

"Schon gut, sei nicht gleich eingeschnappt." Betty blinzelte dem Scheuch zu. "Wir wollen nur erfahren, was geschehen ist."

"Das wüsste ich selber gern", brummte der Bär. "Erst kam dieser Riese und streute sein Pulver. Das stank so, dass ich ohnmächtig wurde. Dann wachte ich im Dunkeln auf und es war, als sei der Wald um mich herumgewickelt, mit all seinen Bäumen und Tieren. Ihr glaubt mir nicht, was?"

"Deine Geschichte klingt wirklich unglaublich", gab Jessica zu. "Trotzdem, was passierte danach?"