Das Glück schmeckt honigsüß - Persephone Haasis - E-Book
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Das Glück schmeckt honigsüß E-Book

Persephone Haasis

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Beschreibung

Summende Bienen, wilde Sommerblumen und das Versprechen einer vergangenen Jugendliebe …

Als Lena nach dem Tod ihrer Großmutter auf die Hallig Hooge zurückkehrt, scheint es fast so, als habe sich in all den Jahren nichts verändert: Noch immer überblickt das kleine Haus das tosende Wattenmeer und die Bienen umschwirren Alvas Wildblumen. Was Lena jedoch nicht weiß – das Haus wird ihr von nun an nicht alleine gehören. Ihre große Jugendliebe Jacob, der ihr vor Jahren das Herz gebrochen hat, soll die andere Hälfte ihres Hauses erben … Was hat sich ihre Großmutter Alva nur dabei gedacht? Und welche Geheimnisse hat sie in all den Jahren noch vor ihrer Enkelin gehütet?

Die Autorin von »Ein Sommer voller Himbeereis« und »Küsse im Aprikosenhain« beschert ihren Leserinnen erneut unvergesslich-romantische Lesestunden.

»Ein herzerwärmender Feelgood-Roman voll honigsüßem Kuchenduft und verschollen geglaubten Gefühlen.« Ulrike Sosnitza

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Seitenzahl: 467

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Persephone Haasis, geboren 1989, hat Kreatives Schreiben und Literaturwissenschaften in Hildesheim und Bamberg studiert. In ihrem dritten Roman »Das Glück schmeckt honigsüß« entführt sie ihre Fans auf die Hallig Hooge und erzählt von der großen Liebe, aber auch davon, wie es sich anfühlt, endlich anzukommen.

Außerdem von Persephone Haasis lieferbar:

Ein Sommer voller Himbeereis

Küsse im Aprikosenhain

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Persephone Haasis

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Persephone Haasis

Copyright © 2022 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Redaktion: Lisa Wolf

Umschlaggestaltung: Favoritbüro

Umschlagmotiv: © Shutterstock (Anucha Tiemsom, VICUSCHKA, nereia, Photoongraphy)

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel GmbH, Köln

ISBN 978-3-641-28604-0V001

www.penguin-verlag.de

PROLOG

Lena saß auf dem kleinen Balkon ihrer Bremer Stadtwohnung, auf dem gerade so ein winziger Tisch und zwei Klappstühle Platz hatten. Über dem schwarz gestrichenen Geländer hingen die Geranien, in einem selbst gebauten Regal aus einer Europalette hatte sie ein Wandbeet mit ihren Küchenkräutern angelegt. Von der Minze zupfte sie nun ein paar Blätter ab und tat sie in ihre Limonade, sodass sie zwischen Zitronenscheiben und Eiswürfeln in der süßen Sommerfrische schwammen. Unter ihr rauschte der Feierabendverkehr der Gröpelinger Heerstraße, doch Lena nahm das Geräusch der Autos nur aus der Ferne wahr. Wenn sie die Augen schloss, klang es fast ein wenig wie das Meeresrauschen, das sie schon so lange vermisste. Sie beugte sich wieder über ihr Notizbuch, in dem sie gerade eine Skizze für ein Holzschaukelpferd fertigstellte, und zog die Kufen mit mehreren schwungvollen Strichen nach. Der Schweif sollte aus gebundenem Stroh sein, die Mähne aus Wolle, dazu eine gewebte Satteldecke und ein Halfter aus Hanfseil, sie sah es ganz genau vor sich.

Das Vibrieren des Smartphones riss sie aus ihren Gedanken. Es war der Timer, der sie daran erinnerte, dass es Zeit wurde, sich fertig zu machen.

Lena stand auf, schob den winzigen Tisch beiseite und drängte sich daran vorbei zur Balkontür. Sie warf noch einmal einen sehnsüchtigen Blick zu den Windlichtern, die von einer Seite zur anderen über den Balkon gespannt waren, betrachtete den Himmel, der die Stadt langsam in diesiges Abendlicht tauchte. So gerne wäre sie noch eine Weile auf dem Balkon sitzen geblieben, doch ihre Freundinnen warteten. Sie nahm die Limonade und ging in ihre Altbauwohnung zurück, die sie sich mit Mats, ihrem Freund, teilte. Drinnen standen die Fenster weit offen, um die warme Sommerluft hereinzulassen. Doch die Satingardinen hingen träge vor den Fenstern, kein Lufthauch zog durch die Räume. Im Vorbeigehen stellte Lena das Glas auf ihren Schminktisch, öffnete den Kleiderschrank und holte ein knöchellanges Boho-Kleid mit V-Ausschnitt und Blumenmuster heraus. Es war eines ihrer Lieblingskleider, und eigentlich trug sie es viel zu selten. Der heutige Abend war ein idealer Anlass, um es wieder einmal aus dem Schrank zu nehmen, und der luftige Schnitt wäre bei dieser Wärme ideal. Lena schlüpfte hinein und band sich die blonden Haare zu einem losen Pferdeschwanz. Dann setzte sie sich an ihren Schminktisch und legte ein leichtes Make-up auf. Sie trank den letzten Schluck ihrer Limonade und griff nach dem Muschelkästchen, das auf der rechten Seite des Tisches stand und in dem sie ihren Schmuck aufbewahrte. Sie hatte es als kleines Mädchen auf Hooge in einem Touristenshop entdeckt und sofort ihr Herz daran gehängt. Und als sie zu ihrem neunten Geburtstag das Zeitungspapier von Jacobs Paket gewickelt hatte, war es darunter zum Vorschein gekommen. Lena war außer sich vor Freude. Das war in diesem Jahr das schönste Geschenk gewesen. Jetzt dachte sie mit Wehmut daran zurück – und an Jacob.

Sie fuhr mit den Fingerspitzen über den mit Muscheln besetzten Deckel. In letzter Zeit hatte sie immer wieder darüber nachgedacht, Dosen aus Holz herzustellen, aber ihr Freund und Geschäftspartner Mats war der Meinung, es rechnete sich nicht. Lena dagegen träumte davon, diesen Winter einen eigenen Stand auf dem Weihnachtsmarkt vor den Rathausarkaden zwischen Schütting und Roland, dem Bremer Symbol der Freiheit, zu haben. Sie wollte dort ihr Holzspielzeug verkaufen, einen kleinen Dackel, dessen Ohren sich drehten, wenn man ihn schob, ein Rennauto, watschelnde Enten, die eine Schräge herunterliefen und lustig dabei wackelten. Sie wollte Kinderaugen leuchten lassen, und für die Erwachsenen würde sie an ihrem Weihnachtsstand selbst gemachte Schalen und Kerzenhalter verkaufen, Dosen, in denen man Schmuck oder andere Schätze aufbewahren konnte, Salatbesteck aus Nussbaumholz, Schneidebretter, Pfannenwender mit der typischen Olivenholzmaserung. Perfekte kleine Geschenke für diejenigen, die noch auf der Suche nach etwas Besonderem mit ihren Einkaufstaschen durch die Bremer Innenstadt eilten, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, zum Schutz gegen die ersten Schneeflocken. Man könnte auch Mats’ Wurzel-Glastisch ausstellen, ein beeindruckendes Stück, an dem er viele Stunden gearbeitet hatte und das mit der Baumwurzel als Tischfuß ohne Weiteres als Designerstück durchgehen konnte. Vielleicht sollte man auch ein Foto von dem restaurierten Bauernschrank aushängen, das erste Stück, das sie gemeinsam in ihrer Schreinerei gefertigt hatten. So etwas würde die Kunden sicherlich anlocken und womöglich auch für weitere Aufträge sorgen. Aber Mats war dagegen, zu teuer sei die Standmiete für eine Bude auf dem Marktplatz in der Bremer Innenstadt, und sie mussten erst einmal die Raten für ihre Schreinerei begleichen.

Ihre Schreinerei … Auf Lenas Lippen legte sich ein Lächeln. Auch das war ein Herzenswunsch von ihr gewesen, eine eigene Schreinerei, in der sie selbstständig arbeiten konnte. Davon hatte sie während ihrer ganzen Ausbildung geträumt, und als sie dann Mats kennengelernt hatte, den begabten Tischler, war ihr Traum auf einmal zum Greifen nahe gewesen. Ja, es war ein Wagnis, aber Lena war davon überzeugt, dass man seine Chance nutzen musste, wenn sie einem so in den Schoß fiel. Auch wenn das bedeutete, dass sie jetzt erst einmal einen Haufen Schulden begleichen mussten. Lena hatte sich damals Hals über Kopf in Mats verliebt. Es hatte eine Weile gedauert, bis er ihre Gefühle erwiderte, aber dann war sie sich ganz sicher gewesen, das Richtige zu tun, als sie bei ihm in die Schreinerei eingestiegen war. Ihre Familie hatte ihr geraten, sich diesen Schritt noch einmal gut zu überlegen, allen voran ihre Großmutter, aber Lena hatte alle Bedenken in den Wind geschlagen. Jetzt, nachdem es zwischen Mats und ihr immer wieder kriselte, sah sie ihre Entscheidung kritischer, womöglich hätte sie besonnener handeln sollen, aber dieser unschöne Riss zwischen ihnen ließ sich ja vielleicht doch wieder kitten …

Lena seufzte und sah auf die Uhr. Es war kurz nach acht, jetzt musste sie sich beeilen, wenn sie nicht zu spät kommen wollte. Sie hob den Deckel von der runden Dose und nahm die Bernsteinohrringe heraus, ein Geschenk von Alva.

Ach, Oma, dachte Lena, und sie spürte wieder die Sehnsucht nach Ruhe und nach Meeresrauschen, nach Geborgenheit und dem süßen Geschmack der Honigbonbons. Doch für einen Urlaub hatte sie im Moment keine Zeit, sie musste mit Mats die Werkstatt am Laufen halten, neue Aufträge an Land ziehen und überhaupt sehen, wie es weiterging. In Lenas Innerem stach es verräterisch. Am liebsten hätte sie ihr Smartphone genommen und abgesagt, aber sie wollte ihre Clique nicht hängen lassen. Ihre Freundinnen warteten auf sie, zu lange schon hatte Lena sie hintangestellt, weil sie sich um ihre Beziehung hatte kümmern müssen. Dabei hätte sie jetzt viel lieber noch für sich in der Schreinerei gearbeitet oder sich mit einem Glas Wein auf den Balkon gesetzt.

Lena nahm ihre Tasche, warf noch kurz einen Blick in den Spiegel und machte sich dann zum Steintor auf, der übliche Treffpunkt ihrer Clique, von wo aus sie in Richtung Weserstadion durch die Bars ziehen würden. Schon als sie in die Straßenbahn stieg, waren ihr die Lichter zu grell, der Verkehr zu laut, und wieder wünschte sie sich, fernab von alldem zu sein, allein und für sich, so wie damals als Kind auf der Hallig, ein Eiland mitten im Meer, weit weg von all den Problemen, dem Stress, dem Trubel, dem Lärm … Wie sehr sie all das vermisste.

E-MAIL-ENTWURF VOM 22. FEBRUAR 2010

An: [email protected]

Von: [email protected]

Betreff: Gestern Abend

Liebe Lena,

was ist los? Gestern Abend habe ich am alten Anleger auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen. Wo warst du? Ich verstehe es nicht. Wir wollten doch unseren letzten Abend zusammen verbringen.

Warum reagierst du nicht auf meine Anrufe? Bist du böse auf mich? Habe ich was falsch gemacht?

Bitte, melde dich …

Jacob

1.

Der Abend gestern war lang gewesen. Lena hatte es genossen, mit ihren Freundinnen unterwegs zu sein, doch jetzt war sie erleichtert, wieder in der Werkstatt zu stehen, den Geruch nach frisch gesägtem Holz in der Nase zu haben und die laue Sommerbrise zu spüren, die durch das gekippte Fenster hereindrang. Der leichte Nieselregen am Morgen hatte für etwas Abkühlung gesorgt. Seit Tagen arbeiteten sie in der Schreinerei nun schon auf Hochtouren. Mats wollte die Kommode unbedingt noch diese Woche fertigstellen, und Lena konnte seinen Eifer verstehen. Mehrere Tage hatten sie auf den Auftrag gewartet, und dann – endlich – hatte das Telefon geklingelt. Eine Sonderanfertigung für ein wohlhabendes Ehepaar, das bereits deutlich gemacht hatte, auch einen passenden Schrank und einen Esstisch bestellen zu wollen, wenn sie mit der Arbeit zufrieden waren. Mats war Feuer und Flamme. Sofort hatte er verschiedene Skizzen auf ein Blatt geworfen und noch bis spät in die Nacht an seinen Entwürfen gearbeitet.

»Das ist unsere Chance«, hatte er immer wieder zu Lena gesagt, und dann, als er im Morgengrauen zu ihr ins Bett gekrochen war, hatte er ihr stolz seine Ideen gezeigt.

Lena fuhr prüfend über die Ecke der Schublade. Noch immer war das Holz an einer Stelle rau und faserig. Sie nahm ein groberes Schmirgelpapier und bearbeitete die Vorderkante erneut. Erst wenn sie absolut zufrieden war, würde sie die ausgewählten Beschläge befestigen.

Als das Telefon klingelte, sah Lena nur kurz auf. Mats stellte das Brett beiseite, das er gerade auf die Plattensäge hieven wollte, und lief zum Schreibtisch.

»Hallo?«

Lena konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Normalerweise wickelte Mats die Kundenanfragen ab, darum musste sie sich nicht kümmern.

»Für dich.«

Verwundert sah Lena auf. Mats stand vor ihr und hielt ihr den Hörer entgegen.

»Lena Hendriksen am Apparat«, meldete sie sich.

»Lena, es ist etwas ganz Furchtbares passiert!«, schluchzte ihre Mutter ins Telefon.

»Mama! Was ist denn los?«

»Deine Großmutter ist gestorben.«

»Was?« Lena legte das Schmirgelpapier beiseite und richtete sich auf. Sie versuchte am anderen Ende der Leitung etwas zu verstehen, doch Mats war mit der Säge zu laut. Verzweifelt hielt sie sich mit dem Zeigefinger das andere Ohr zu. »Was hast du gesagt?«

Aus dem Telefonhörer kam nur ein Wimmern.

»Mama?« Lena lauschte, doch sie konnte immer noch nichts hören. Sie presste das Telefon gegen ihre karierte Bluse und lief in den Nebenraum. »Mats, verdammt noch mal, mach die Säge aus. Ich verstehe kein Wort!«

»Was?« Mats warf ihr nur einen kurzen Blick über die Schulter zu.

»Die Säge!« Lena zeigte auf die gegenüberliegende Wand und bedeutete ihm dann mit einer Handbewegung, dass er die Maschine ausschalten sollte.

Widerwillig drückte Mats auf den Notausschalter und verschränkte die Arme.

»So, jetzt höre ich dich besser, Mama. Was hast du gesagt?«

Lena vernahm wieder das Schluchzen. »Alva … Sie ist gestorben.«

Lenas Kopf brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten. »Was? Aber … das kann doch gar nicht sein.« Sie lehnte sich gegen die Werkbank. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. »Wann denn? Und was ist überhaupt passiert?«

»Gestern Abend. Das Krankenhaus hat heute Morgen …«

»Krankenhaus?«, wiederholte Lena ungläubig. »Wieso war Oma denn im Krankenhaus? Ist sie gestürzt?«

Lena bemerkte, wie jetzt auch Mats in ihre Richtung sah und fragend die Brauen hob. Aber sie winkte mit einer knappen Handbewegung ab und lief wieder in den Nachbarraum.

»Nein … Anscheinend hatte sie einen Herzinfarkt. Ach, Lena, ich weiß es doch auch nicht genau. O Gott, es ist alles so schrecklich.« Wieder schniefte ihre Mutter. »Du musst das machen, Lena! Du musst nach Hooge fahren!«

»Was?« Lena versuchte aus dem Gestammel ihrer Mutter schlau zu werden. »Ich? Wieso? Und was soll ich da machen? Mama? Hallo?«

Jetzt knisterte es in der Leitung, und Lena musste den Hörer etwas von ihrem Ohr weghalten.

»Lena?« Das war die Stimme ihres Vaters. Sie klang fest und ruhig, das gab Lena wieder ein wenig Sicherheit.

»Papa, was ist denn genau passiert?«

»Das Krankenhaus in Sankt Peter-Ording hat vorhin angerufen und uns gesagt, dass Alva gestorben ist. Mama möchte, dass du für sie nach Hooge fährst und Alvas Nachlass regelst.«

»Ich?« Lena glaubte, sich verhört zu haben.

»Du weißt doch, der Streit damals …«, schluchzte Rieke im Hintergrund, und dann war ihre Stimme wieder etwas besser zu verstehen, anscheinend war sie wieder dichter am Telefon. »Ich hatte sie doch damals um die vorzeitige Auszahlung meines Erbes gebeten, als ich mit Papa aufs Festland gezogen bin. Alva war entsetzt und hat mir das nie verziehen. Bis zuletzt hat sie mir vorgeworfen, ich hätte sie auf Hooge alleingelassen. Und jetzt ist sie gestorben, und ich habe mich nie entschuldigt … Ich hätte mich doch mit ihr aussprechen müssen …« Wieder gingen ihre Worte in Weinen unter.

Lena seufzte. »Wie stellt ihr euch das vor? Ich kann hier doch nicht so einfach alles stehen und liegen lassen. Wieso fährst du nicht, Papa?«

»Ich habe hier noch zu tun. Ich muss in der Firma bis übermorgen eine Präsentation für einen Bauentwurf abgeben. Aber ich komme natürlich so schnell wie möglich nach, um dich zu unterstützen.«

Lena wurde das Gefühl nicht los, dass das nicht der Hauptgrund war. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Bitte, es ist wirklich wichtig.« Magnus’ Stimme war jetzt deutlich leiser, und Lena hatte Mühe, ihn zu verstehen. Fest presste sie das Telefon gegen ihr Ohr. »Rieke schafft das nicht, und ich kann hier nicht weg. Außerdem meint deine Mutter, dass die Halligbewohner sie nicht sehen wollen, weil sie sich so lange nicht um Alva gekümmert hat.«

Lena rutschte das Herz in die Hose. Sie war versucht ihrem Vater zu sagen, dass sie dann ganz bestimmt auch nicht die Richtige dafür war, aber als sie die Verzweiflung in seiner Stimme hörte, verkniff sie sich den Kommentar.

»Überleg es dir wenigstens.«

»Ich muss das zuerst mit Mats besprechen«, sagte Lena knapp. »Ich melde mich gleich noch mal.« Sie beendete das Gespräch und ließ sich auf den Hocker neben der Schublade sinken.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mats, der im Türrahmen lehnte.

»Meine Oma ist tot«, sagte Lena tonlos, doch die Worte schienen überhaupt nicht zu ihr zu gehören. Sie kam sich vor, als würde sie den Text irgendeines Theaterstücks aufsagen. »Ich soll ihren Nachlass regeln.«

»Wann?«, fragte Mats verwundert.

»Na, jetzt.« Lena sah ihn verständnislos an. »Hast du mir überhaupt zugehört?«

Mats überging ihre Frage. »Und wie soll das gehen? Wir müssen mit der Kommode bis Ende der Woche fertig sein.«

»Ich weiß, aber …« Lena schüttelte den Kopf. »Meine Oma ist gestorben, Mats! Und meine Mama kann sich nicht darum kümmern. Sie hatte damals einen riesengroßen Streit mit Oma, und jetzt macht sie sich schreckliche Vorwürfe, weil sie sich nie ausgesprochen haben. Außerdem traut sie sich nicht mehr nach Hooge deswegen.«

»Kann dann nicht dein Vater fahren?«

Lena zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich glaube, er will Mama in dem Zustand nicht alleinlassen. Aber er wird sicher so schnell wie möglich nachkommen.« Sie seufzte. »Ich muss das einfach machen, Mats, verstehst du?«

Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Also schön, wenn du meinst, dann fahr halt.«

»Allein?«, fragte Lena irritiert.

Mats zuckte gleichmütig die Schultern.

»Willst du nicht mitkommen?«

»Mein Gott, Lena, jetzt mach nicht so ein Drama daraus. Unter anderen Umständen wäre ich natürlich dabei, aber du weißt selbst, dass wir bis über beide Ohren verschuldet sind. Da kann ich nicht einfach so das Geschäft dichtmachen.«

Wie konnte Mats das alles so kaltlassen? Er selbst war doch auch schon mit ihr nach Hooge gefahren, hatte Alva kennengelernt, war Gast in ihrem Haus gewesen.

»So viel wird da schon nicht zu machen sein. Die Beerdigung, das Häuschen, das sie hat. Und vielleicht gibt es ja auch eine Kleinigkeit zu erben.«

Lena schnaubte und fuhr von ihrem Hocker auf. »Du kannst manchmal so ein gefühlskalter Block sein!«

»Lena …« Mats ging ein paar Schritte auf sie zu. Liebevoll legte er die Hände um ihre Arme und zog sie an sich. »Entschuldige, ich wollte nicht herzlos klingen. Ich weiß doch, wie wichtig dir Alva war. Aber du musst auch an uns denken. Wir hatten doch gemeinsam den Traum von der Schreinerei. Das war doch unser Ding! Wir haben so lange dafür gekämpft. Und ich bin mir sicher, dass Alva gewollt hätte, dass du glücklich bist, meinst du nicht auch?«

Lena sah nachdenklich nach draußen auf einen grau bewölkten Himmel. Noch immer fiel es ihr schwer zu begreifen, dass ihre Oma tatsächlich gestorben war. Dieses Gespräch mit Mats gerade fühlte sich so unwirklich an.

»Ich ruf Papa noch mal an«, sagte sie dann.

»Tu das.« Mats lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, bei dem sich Lena wie ein kleines Mädchen vorkam. Wieso hatte sie eigentlich immer das Gefühl, dass er in ihrer Beziehung das Sagen hatte? Dabei war sie diejenige, die damals entschieden hatte, weiterzumachen. Sie hatte die gemeinsame Werkstatt unbedingt haben wollen und war bereit gewesen, einen Teil seiner Schulden zu übernehmen. Und sie hatte ihm auch verziehen, dass …

Lenas Kehle wurde eng. Sie wollte lieber nicht daran denken, denn wenn sie jetzt zu weinen begann, würde sie vermutlich nicht mehr damit aufhören. So wie ihre Mutter. Als sie das vertraute Getöse der Plattensäge hörte, nahm sie ihr Smartphone und verließ die Werkstatt. Die klare Luft im Hinterhof tat ihr gut, und Lena atmete mehrere Male tief durch, ehe sie die Nummer ihres Vaters wählte.

»Papa, ich bin’s wieder.«

»Lena, hallo. Schön, dass du noch mal anrufst. Warte, ich gehe aus dem Wohnzimmer. Mama hat sich gerade ein bisschen hingelegt … So, jetzt kann ich sprechen. Wie geht es dir? Bist du in Ordnung?«

»Ich weiß es nicht«, gab Lena zu. »Ich kann das alles noch gar nicht richtig glauben.«

»Das verstehe ich, mein Schatz. Uns geht es ganz genauso.« Lena hörte die Anteilnahme in seiner Stimme. Sie klang echt und aufrichtig. »Versuch dich an die schönen Dinge mit ihr zu erinnern.«

Lena kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Tapfer blinzelte sie sie weg. »Papa, bitte … Jetzt brauche ich erst mal einen klaren Kopf, wenn ich nach Hooge fahren soll.«

»Dann fährst du?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Ich weiß gar nicht, was mich da erwartet.«

»So, wie ich es verstanden habe, war es Alvas Wunsch, auf der Hallig beerdigt zu werden. Du müsstest ihre Beisetzung organisieren, und deine Mama meinte, dass Alva wohl beim Notar ein Testament hinterlegt hat. Vielleicht reicht es, wenn du nur zur Testamentseröffnung hinfährst. Ich kann mich erkundigen, wann das ist. Vielleicht kann ich von hier aus telefonisch schon so viel wie möglich regeln.«

»Ich soll nur zur Testamentseröffnung?«, fragte Lena skeptisch. »Ich weiß nicht …« Irgendwie fand sie die Vorstellung seltsam. »Da fühle ich mich, als ob ich nur etwas abgreifen will.« Sofort geisterten Lena wieder Mats’ Worte durch den Kopf. Sollte sie vielleicht besser doch nicht fahren?

»Lena, jeder weiß, wie sehr du deine Oma gemocht hast. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand so etwas von dir denkt.«

»Nein, wenn ich fahre, dann mache ich das richtig.« Lena straffte den Rücken. »Das bin ich Oma schuldig.«

»Dann nutze die Möglichkeit doch, und nimm in Ruhe von ihr Abschied«, schlug Magnus vor. »Und ich komme nach, sobald ich kann.«

Lena vertrieb wieder die trüben Gedanken, die sich wie die grauen Regenwolken am Himmel über ihr zusammenbrauten. Wenn sie ihnen auch nur einen Funken Aufmerksamkeit schenkte, würde der Wolkenbruch in Form ihrer Tränen kommen.

»Also gut«, sagte sie dann, als sie das Gefühl hatte, ihrer Stimme wieder vertrauen zu können. »Ihr könnt euch auf mich verlassen; ich fahre hin und kümmere mich um alles.«

17. April 1954

Gunnar ist heute zurück auf die Hallig gekommen, um die Ringelgänse zu beobachten. Es wird Zeit: Ich muss ihn endlich fragen, ob er bleibt. Aber ich bin so schrecklich nervös. Was, wenn er Nein sagt? Wenn das mit uns beiden nichts wird? Jede freie Minute muss ich an ihn denken. Er muss einfach bleiben … Ich wünsche es mir so sehr.

2.

Die Überfahrt nach Hooge dauerte etwa eine Stunde. Lena hatte nach dem Telefonat mit ihrem Vater ein paar Sachen zusammengepackt, war mit dem Auto von Bremen nach Schlüttsiel gefahren und hatte dort ihren Wagen abgestellt. Auf der Hallig gab es zwar kein Autoverbot, aber die Bewohner rieten einem dringend, die eigenen Fahrzeuge auf dem Festland zu lassen, und, wenn man ehrlich war, brauchte man auf Hooge auch kein Auto. Das meiste konnte man zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigen. In Schlüttsiel hatte Lena Glück gehabt und gerade noch die letzte Fähre zur Hallig erwischt, sonst hätte sie bis zum nächsten Morgen warten müssen. Jetzt stand sie an der Reling und sah der Marschinsel entgegen, die vor ihr im Meer auftauchte. Still wie ein Spiegel lag das Wasser vor ihr. Die Hallig war so flach, dass es wirkte, als stünden die Häuser direkt im Wasser. Ein paar Möwen flogen vom Ufer aus dem Schiff entgegen. Sie hofften wohl auf ein paar Brotstücke, die ihnen die Passagiere hin und wieder zuwarfen.

Je näher Lena der Hallig kam, desto stärker tobten die Gefühle in ihr. Da waren die Traurigkeit und der Schmerz, die sie schon bei Fahrtantritt begleitet hatten, aber auch die Sehnsucht, die Hallig und ihre Bewohner nach zwei Jahren Abwesenheit endlich wiederzusehen, das aufgeregte Kribbeln in ihrer Magengegend, was sich wohl verändert hatte – und wenn sie ehrlich war, gab es da auch den Gedanken an Jacob, der ihr Herz wild zum Schlagen brachte …

Jetzt erkannte Lena den Fähranleger der Hallig. Die Tagesausflügler warteten schon an der Landungsbrücke. Wenn sie Hooge verließen, würde es deutlich leerer sein und die Halligbewohner blieben mit ihren Feriengästen unter sich. Das war der Preis, dachte Lena. Im Sommer war die Hallig von unzähligen Touristen bevölkert, und viele von den Hoogern lebten vom Tourismus, dafür hatte man im Winter seine Ruhe und war teilweise sogar ganz von der Außenwelt abgeschnitten, wenn die Fähre an manchen Tagen nicht fuhr oder die Gezeiten eine Überfahrt schlichtweg unmöglich machten.

Das Schliff verlangsamte sein Tempo, legte an der Landungsbrücke an, und jemand schob die Planke über das schmale Stückchen Wasser. Lena reihte sich in die Schlange der Passagiere, die von Bord wollten, und verließ dann mit einer Handvoll Feriengästen die Fähre. Nicht weit vom Anleger entfernt stand eine Pferdekutsche, das sogenannte gelbe Halligtaxi, das die Besucher und ihr Gepäck zu ihren Unterkünften bringen würde, aber Lena entschied sich dafür, lieber zu Fuß zu gehen. Sie wollte langsam auf der Hallig ankommen, nicht mit dem Kutscher über Belangloses sprechen müssen, sondern die Atmosphäre ganz in sich aufnehmen und für sich sein.

Einen Moment überlegte sie, ob sie über den Steindeich gehen sollte, der Hooge vor Sturmfluten schützte, entschied sich dann aber dagegen. Die asphaltierte Straße über die Mitte der Hallig erschien ihr mit ihrem kleinen Rollkoffer sinnvoller. Sie erwog, einen Umweg über die Hanswarft zu machen – die größte Warft und quasi das Zentrum von Hooge – und in einem der Gasthäuser dort einzukehren, doch auch danach stand ihr nicht der Sinn. Sie wollte erst einmal ankommen, und sicherlich hatte Alva etwas zu essen im Haus. Falls nicht, könnte sie sich später immer noch eine Kleinigkeit beim Halligkaufmann besorgen, wobei ihr momentan überhaupt nicht nach Essen zumute war. Also machte sie sich auf den Weg in Richtung Westen der Hallig, denn dort lag die Ipkenswarft, auf der Alvas kleines Häuschen stand.

Lena ließ die Backenswarft rechts liegen, auf der ihre ehemalige Schulfreundin Ronja wohnte, erkannte die Kirchwarft an dem Haus mit den zwei Schornsteinen und dem kleinen Friedhof, und wieder stieg dieses mulmige Gefühl in ihr auf. Wie würde es wohl sein, ohne Alva? Rasch ging sie weiter, über eine schmale Brücke und an den Weiden, den Fennen, vorbei, auf denen ganz besondere Saisongäste ihren Abend genossen: Kühe vom Festland. Im Frühjahr wurden sie mit einer Fähre auf die Hallig gebracht, wo sie dann bis zum Herbst Landschaftspflege betrieben, indem sie das Gras kurz hielten und den Boden festtraten. Lena erinnerte sich noch gut daran, wie sehr sich Bauer Kilian immer freute, wenn er dem ausgeliehenen Vieh zusehen konnte, wie die Kälbchen wuchsen und gediehen.

Sie lief weiter, aber als sie jetzt den Segelhafen aus der Ferne sah, zog es sie doch zum Meer. Sie hörte das sanfte Plätschern der Wellen und spürte den Wind, der an ihren Haaren zog. Von irgendwoher kreischte eine Möwe, und Lena sah am Horizont einen Segler, der über das glitzernde Wasser fuhr. Sie bemerkte die Sehnsucht, die sie auf einmal packte. Wie gern wäre auch sie jetzt draußen auf dem Meer, weit weg von all ihren Sorgen und dem, was in den nächsten Tagen auf sie zukam. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie schon früher das Gefühl hatte, hier auf der Hallig einfach alles hinter sich lassen zu können. Sie hatte immer den Eindruck gehabt, auf Hooge tickten die Uhren ein wenig anders, und die Probleme vom Festland kamen ihr so unendlich weit entfernt vor, wenn sie bei Alva gewesen war.

Lenas Herz wurde schwer wie Blei, als sie weiterlief und in der Ferne Langeneß mit seinem Quermarkenfeuer sah. Mit Alva hatte sie, als sie klein war, einmal einen Ausflug dorthin unternommen. Zum Glück musste sie jetzt wieder auf die Straße abbiegen, um zur Ipkenswarft zu kommen, denn sonst wäre sie vermutlich endgültig von ihren Erinnerungen überwältigt worden. Sie zerrte ihren kleinen Koffer wieder auf den Asphalt zurück und lief entschlossen weiter.

Da bemerkte sie von Weitem eine Frau, die auf sie zukam. War das nicht Anne?

»Hallo, Lena!«, grüßte Anne sie. Lenas Mutter Rieke und Anne waren früher in einer Klasse gewesen, und Lena erinnerte sich noch gut daran, wie sich die beiden Freundinnen, als sie klein war, zum gemeinsamen Kochen oder Stricken getroffen hatten. Mittlerweile war Anne mit Klaas, dem Halligkaufmann, verheiratet und half ihm hin und wieder im Laden aus, wenn sie nicht gerade Gäste in ihrer Ferienwohnung bewirtete. »Ich habe das mit deiner Oma gehört. Herzliches Beileid.«

»Danke«, sagte Lena und presste die Lippen zusammen.

»Ist Rieke auch da?«

»Sie kommt nach«, sagte Lena ausweichend.

Anne nickte und sah dabei ein wenig enttäuscht aus. »Ach so, schade, ich hätte gerne mal wieder mit ihr geplaudert. Sie war schon so lange nicht mehr hier.«

Lena wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

»Ich bin auf dem Weg zum wöchentlichen Treffen der Schutzstation. Willst du mitkommen?«, schlug Anne vor.

»Das ist furchtbar lieb, aber ich bin gerade erst angekommen.« Lena deutete auf ihren Koffer.

»Oh, da musst du natürlich erst einmal auspacken.« Anne nickte verständnisvoll. »Wenn du irgendwas brauchst, melde dich, ja?«

Lena bedankte sich und lief weiter.

Vor ihr erhob sich auf dem sanften Hügel mit dem saftigen Grün nun endlich die Warft, der kleine, künstlich errichtete Erdhaufen, der die Häuser vor einem Landunter schützen sollte. Jetzt waren es nur noch wenige Minuten zu Fuß bis zu Alvas Haus. Lenas Herzschlag beschleunigte sich.

Ob sich wohl etwas verändert hatte? Und wie wäre es, ohne Alva dort zu sein … Lena schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. Tapfer reckte sie das Kinn nach vorne und lief weiter auf die Warft zu. Die kleine Häuseransammlung thronte mitten auf dem Hügel, wo sie meistens vor Überschwemmungen geschützt war. Nur einmal war Alvas Haus vom »Blanken Hans« bei einer Sturmflut heimgesucht worden. Lena erinnerte sich noch genau, wie lebhaft ihre Oma ihr damals geschildert hatte, wie das Wasser gekommen war.

Wieder musste sie schlucken und vertrieb den Gedanken, indem sie noch einen Schritt schneller auf die Warft zulief. Zu ihrer Linken sah sie das braune gebogene Schild, auf dem in verschnörkelten Buchstaben »Ipkenswarft« stand, dahinter stieg die Straße ein wenig zu den vereinzelten Häusern an. Lena lief an dem weiß gekalkten Holzzaun vorbei und erreichte das kleine Haus aus roten Backsteinen, das mitten auf der Warftkrone stand. Alvas Refugium. Es war im Stil einer alten Halligkate gebaut und stand inmitten von Kräuterbeeten, Lavendel und Rosenbüschen. Ein wenig gedrungen wirkte es, als ob es sich die Zeit über vor dem schneidenden Wind weggeduckt hatte, und man sah, dass es bereits einiges mitgemacht haben musste. Einer der grünen Fensterläden hing schräg in den Angeln, und die Friesenbank neben der Tür hatte auch schon einmal bessere Tage gesehen. Lena ging die drei Stufen zur Haustür hinauf und bemerkte, dass eine Fliese locker war. Vielleicht kam sie ja dazu, sich in den nächsten Tagen darum zu kümmern. Jetzt hatte sie erst einmal andere Sorgen: Sie hatte nämlich keinen Hausschlüssel. Normalerweise brauchte sie den ja auch nicht, denn bisher war immer Alva da gewesen, wenn sie auf die Hallig gekommen war, aber jetzt …

Wieder kroch die Trauer aus Lenas Bauch empor wie ein Monster aus einem Albtraum und wollte sich gerade in ihrem Herzen einnisten, aber dann hielt Lena verwundert inne. Vor Alvas Haustür lag ein Wildblumenstrauß. Sie hob ihn auf und erkannte Gräser, Kamille, Dahlien, Rittersporn und Löwenmäulchen, doch es lag keine Karte dabei. Vielleicht ein Willkommensgeschenk der Halligbewohner? Aber das war unwahrscheinlich. Wer wusste schon, dass sie kam?

Lena blieb jetzt wenig Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste den Schlüssel suchen. Konzentrier dich, sagte sie sich. Alva hatte irgendwo einen Ersatzschlüssel deponiert, für den Fall, dass der Wind ihr die Haustür zuwarf. Sie schaute unter die Fußmatte und unter den auffälligen Steinen am Wegrand, die schon reichlich mit Moos bedeckt waren, aber da war nichts. Auch unter den Margariten, die sie aus dem gebrochenen Übertopf hob, fand sie nichts. Vorsichtig klopfte sie die Backsteine neben der Haustür ab. Vielleicht war da ja einer locker? Fehlanzeige.

Lena setzte sich auf die Friesenbank, den Koffer dicht neben sich, den Blumenstrauß auf ihrem Schoß. Das ging ja gut los. Gab es auf Hooge einen Schlüsseldienst? Sie hatte keine Ahnung. Vom Festland konnte sie niemanden mehr rufen. Die nächste Fähre würde erst morgen wieder fahren. Vielleicht gab es einen Halligbewohner, der ihr helfen konnte, aber sollte sie jetzt so einfach irgendwo klingeln? Möglicherweise hatte ja auch ein Nachbar einen Schlüssel oder wenigstens eine Idee, wo sie ihn finden könnte. Doch bei Arnold, dem kauzigen Mann im Haus nebenan, wollte sie nicht fragen. Alva und er hatten sich nie sonderlich gut verstanden. Sollte sie ihre Mutter noch einmal anrufen?

Lena seufzte leicht und ließ ihren Hinterkopf gegen die Hauswand sinken. Wenn alle Stricke reißen sollten, konnte sie noch immer ein Ferienzimmer irgendwo mieten. Sie sah auf Alvas Vorgarten, der gut gepflegt war. Das verwunderte Lena. Im Gegensatz zu Alvas Haus sah er so aus, als hätte sich erst heute Morgen jemand darum gekümmert. Eigenartig, dachte sie. Hatte ihre Oma bis zuletzt so akribisch in ihrem Garten gearbeitet? Sie hatte ja immer gewusst, dass Alva die Blumen wichtig gewesen waren, aber dass alles so ordentlich war, irritierte Lena trotzdem. Alva war mit ihren stolzen einundneunzig Jahren schließlich auch nicht mehr die Jüngste gewesen. Lena ließ ihren Blick über den Vorgarten schweifen. Die Sträucher waren gleichmäßig geschnitten, die Blumen ausgezupft, es gab nicht einmal Unkraut! Gut, der Lattenzaun war etwas marode, eine Latte fehlte sogar, aber ansonsten war der Garten tadellos. Im sanften Wind bewegte sich träge das Mobile aus Muscheln und Strandgut, das sie als Kind mit ihrer Oma gebastelt und in einen der Kletterrosenbögen gehangen hatte. Die große Muschel! Lena legte den Wildblumenstrauß neben sich auf die Bank und sprang auf. Tatsächlich steckte in der Schnecke der Muschel ein Schlüssel. Alva hatte ihr das einmal erzählt, jetzt erinnerte sie sich wieder. »Das Meer bringt dich immer nach Hause«, hatte sie ihr noch als Merksatz mitgegeben, fiel es Lena wieder ein.

Sie schloss die Tür auf und betrat die reetgedeckte Kate. Es war alles noch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Im unteren Bereich befand sich die Küche mit Essecke, ein kleines Bad und die Döns, die Wohnstube des Häuschens. Den ehemaligen Heuboden unter dem Dach hatte Alva ausgebaut. Dort waren jetzt zwei Schlafräume untergebracht, die man über eine Holztreppe erreichte.

Lena stellte ihren Koffer in dem winzigen Flur ab und betrat erst einmal die Küche. Auch hier war ihr nach zwei Jahren noch immer alles so vertraut, dass sie wieder das Brennen in ihren Augen spürte und das Innere der Kate für einen Moment verschwamm. Trotz der dunklen Holzdecke mit ihren Fächern wirkte der Raum hell und gemütlich. Das lag nicht zuletzt an dem großen Fenster, das einen herrlichen Blick auf Alvas Garten freigab. Ihre Oma hatte auch eine Wand entfernt, damit die Essecke Platz hatte. An dem Querbalken, der durch die Küche verlief, hingen Tassen und Alvas blau-weiß-getupftes Milchkännchen. Darunter gab es eine frei stehende Küchentheke, an der sie oft mit ihrer Großmutter das Abendessen zubereitet hatte. Über dem Gasherd waren kupferfarbene Töpfe und Pfannen angebracht, und in einem Holzküchenschrank auf der anderen Seite des Raumes befand sich hinter einer weißen Häkelgardine das Geschirr.

Lena legte die Blumen auf dem Küchentresen ab und suchte in Alvas Geschirrschrank nach einer Vase. Sie steckte den Strauß hinein, richtete ihn ein wenig aus und stellte ihn auf den Holztisch in der Essecke. Den hatte sie Alva zu ihrem fünfundachtzigsten Geburtstag geschenkt. Sie hatte ihn selbst aus altem Nussbaumholz zusammengezimmert. Wenig später hatte sie bei einem Trödler lederbezogene Stühle aus einem alten Gutshaus gefunden, die sie restauriert und Alva bei ihrem nächsten Besuch mitgebracht hatte. Sie passten wunderbar zu dem dunklen Holz der Tischplatte und luden zu einem herrlichen Frühstück ein.

Gedankenverloren strich Lena über eine der Lehnen. Hier hatte sie nur zu gerne mit Alva beim Sonntagskaffee mit Erdbeerkuchen und Schlagsahne gesessen und über die Halligbewohner geschnackt. Und als Kind hatte sie es geliebt, nach ihren Ausflügen durchs Watt in dieser Essecke gemeinsam mit Jacob eine heiße Milch mit Honig zu trinken und sich aufzuwärmen. Wieder versetzte es Lenas Herzen einen leisen Stich. Also ging sie lieber schnell in die Döns. Auch dort hatte sich nichts verändert. Ein bunt bemalter friesischer Hochzeitsschrank stand an der rechten Seitenwand, die wasserblauen Taftvorhänge waren beiseitegeschoben und gaben durch die Sprossenfenster den Blick in Alvas Bauerngarten frei, der ihr ganzer Stolz gewesen war. Von einem Fenster aus sah man sogar den alten Zwetschgenbaum, den sie so geliebt hatte.

Auf der anderen Seite befand sich eine hellgraue Sitzgruppe, die mit blau-weiß-gestreiften Sofakissen zum Verweilen einlud. Auf der Glasplatte des flachen Sofatischs lag sogar noch Alvas Stickheft, in dem Rattankorb, der darunter stand, war ihre angefangene Handarbeit. Es sah fast so aus, als hätte sie nur kurz das Haus verlassen, dachte Lena schmerzlich, und ein bisschen war es ja auch so – nur würde Alva nie, nie wiederkommen.

Lena presste fest die Lippen aufeinander. In einer Ecke des Zimmers direkt vor dem Fenster stand ein Korbsessel, der mit einem Schaffell ausgekleidet war, dahinter befand sich eine Leselampe mit blaugrünem Lampenschirm, und daneben stand die alte Truhe, auf der Alvas Buch lag. Das Lesezeichen spitzte zwischen den Seiten hervor. Lena hob es an, es war ein Krimi, die hatte Alva immer besonders gerne gelesen. Normalerweise hatte sie ihrer Oma immer einen mitgebracht, wenn sie sie vom Festland aus besucht hatte. Lena legte das Buch auf die Truhe zurück und bemerkte das gerahmte Foto, das danebenstand. Sie nahm den schlichten silbernen Bilderrahmen und betrachtete das Bild. Es zeigte Alva, Jacob und sie, alle im Friesennerz am Strand. Das Licht war grau wie Asphalt, und im Hintergrund vermochte man kaum zu sagen, wo das Meer aufhörte und der Himmel anfing. Lena erinnerte sich noch gut an diesen Tag. Es war im Herbst gewesen, beißend kalt, der Regen war ihnen ins Gesicht gepeitscht, und der Wind hatte an ihren Haaren gezerrt und sie unter der Kapuze hervorgelockt, dass die Strähnen nur so herumgeflogen waren. Aber sie hatten die Kälte und das schlechte Wetter einfach weggelacht, waren nach ihrem Strandspaziergang in Alvas alte Halligkate zurückgekehrt und hatten sich mit Zimtschnecken und einer Partie Uno hier am Bilegger, dem Zimmerofen, den man von der Küche aus befeuern konnte, wieder aufgewärmt.

Jacob … Lena spürte wieder den ziehenden Schmerz hinter ihren Rippen. Damals war noch alles in Ordnung gewesen. Aber das war viele Jahre her, elf lange Jahre, um genau zu sein.

Rasch stellte sie das Foto auf die Truhe zurück. Seltsam, dachte Lena. Früher hatte es seinen Platz in der Bildergalerie zwischen der Standuhr und dem Bücherregal gehabt, neben dem Ölgemälde, das die Ipkenswarft zeigte, dem Hochzeitsfoto von Lenas Eltern und der alten Schwarz-Weiß-Aufnahme, auf der Alva in ihrem Garten neben ihrem Bienenstock zu sehen war. Jetzt war dort an der Wand ein heller Fleck, eine leere Stelle, wie sie sich auch in Lenas Herzen befand.

Um nicht weiter darüber nachzudenken, nahm Lena ihr Smartphone und rief Mats an, erreichte ihn jedoch nicht. Also schrieb sie ihm eine Nachricht: Bin gut angekommen.

Sie hoffte, dass er sich meldete, aber es kam nichts zurück. Bestimmt arbeitete er in der Werkstatt und hatte sein Handy auf dem Schreibtisch vergessen.

Lena entschied, sich eine heiße Milch mit Honig zu machen. Das hatte sie früher immer getröstet, und vielleicht half es ihr auch jetzt. Sie ging wieder in die Küche, nahm die Milchflasche aus dem Kühlschrank und ließ ihren Blick über die Vorräte schweifen. Es gab ein bisschen Wurst und Käse, eine angefangene Butter auf einem Teller, ein paar Tomaten, sicherlich aus Alvas Garten. Neben dem Kühlschrank auf der Anrichte stand der Brottopf. Lena hob den Deckel an und sah, dass noch ein Rest Brot darin war, aber sie hatte keinen Appetit. Vielleicht würde sie nachher etwas essen, jetzt genügte ihr erst einmal die heiße Milch. Sie suchte auf dem Regal bei den Teepackungen nach dem Honig, entdeckte ihn dann aber in einer Küchenlade zwischen Marmelade, Kakao und Mehl.

Lena goss die Milch in einen der Kupfertöpfe, den sie von der Wand über dem Herd genommen hatte, gab zwei große Esslöffel Honig hinein und erwärmte alles unter sanftem Rühren auf dem Gasherd. Der Duft der warmen Honigmilch stieg ihr in die Nase, und sofort fühlte sie sich etwas besser. Auf dem Küchentisch lagen eine Zeitschrift und ein Kugelschreiber. Lena zog beides zu sich heran und sah darauf: ein begonnenes Kreuzworträtsel. Sie überflog die Buchstaben, die Alva schon eingetragen hatte, und füllte dann die nächsten Kästchen aus. Die Ablenkung tat ihr gut, und Lena kam sich so vor, als würde sie nur auf Alvas Rückkehr warten. Es war fast ein bisschen wie früher, der verheißungsvolle Geschmack des Honigs, dazu die Erinnerungen an ihre Kindheit. Sie seufzte leicht.

»Stadt mit größtem Kirchturm«, las sie halblaut vor und betrachtete die drei leeren Kästchen. Sie blickte auf, denn sie wollte gerade Luft holen, um Alva zu fragen. Früher hatten sie oft zusammen die Rätsel gelöst. In Geografie war ihre Oma immer unschlagbar gewesen, und was sie nicht gewusst hatte, das hatte Jacob gelöst. Doch dann bemerkte Lena, dass der Platz ihr gegenüber leer war. So leer, wie sich plötzlich das ganze Haus anfühlte.

»Drei Buchstaben«, murmelte Lena, aber es wollte ihr beim besten Willen nicht einfallen. Sie spürte wieder die brennenden Tränen, doch zum Glück klingelte in diesem Moment ihr Smartphone.

Das war bestimmt Mats, dachte sie hoffnungsvoll, doch als sie auf das Display blickte, sah sie das Bild ihrer Eltern.

»Papa?«

»Ich wollte nur hören, ob du gut angekommen bist.«

»Ja, doch, alles gut«, log Lena und kniff kurz die Augen zusammen. »Und bei euch? Wie geht es Mama?«

»Sie hat eine Schlaftablette genommen und sich ein bisschen hingelegt.«

»Okay«, brachte Lena halblaut hervor.

»Lena, Schatz, geht’s dir wirklich gut?«

»Ja, alles in Ordnung«, beeilte sie sich zu sagen. »Es war nur die Fahrt. Das war alles ein bisschen anstrengend. Hast du denn schon etwas wegen der Testamentseröffnung herausgefunden?«

»Das ist der zweite Grund, weshalb ich anrufe. Das Ganze soll morgen Vormittag im Gemeindebüro stattfinden.«

»Morgen schon?«, wiederholte Lena überrascht. »Ich dachte, erst in ein paar Tagen. Warum denn so schnell?«

»Keine Ahnung, aber so wurde es mir gesagt.« Eine kurze Pause entstand. »Soll ich vorbeikommen und dir helfen?«

Lena hätte zu gerne angenommen, aber sie hatte das Gefühl, ihre Eltern in dieser schweren Zeit unterstützen zu müssen. Besser, ihr Vater blieb bei Rieke. »Das ist wirklich lieb, aber ich komme klar. Kümmere du dich um Mama, sie braucht dich mehr als ich. Ich verschaffe mir morgen erst einmal einen Überblick, und dann sehen wir weiter.«

»Also gut, und mach heute nicht mehr zu lange. Es war ein anstrengender Tag, und morgen wird es sicherlich nicht besser. Da brauchst du deine ganze Kraft.«

Das stimmte. Lena konnte nur mit Mühe an die bevorstehende Testamentseröffnung denken, die das alles noch einmal ein Stück realer machen würde.

»Ich wollte noch auspacken und dann ohnehin bald ins Bett.« Lena schob die Zeitschrift beiseite, um sich bei ihrer Lüge nicht ganz so elend zu fühlen. Wahrscheinlich war es wirklich das Beste, wenn sie sich einfach hinlegte.

»Also dann, schlaf nachher gut, meine Große. Und wenn du uns brauchst, ruf einfach an.«

»Danke, Papa«, murmelte Lena und beendete das Gespräch.

Sie wollte ihr Smartphone gerade wegstecken, als es erneut klingelte. Bestimmt war ihrem Vater noch etwas Wichtiges eingefallen, doch dann sah sie das Bild von Mats auf dem Display.

»Bei dir war besetzt«, sagte er ohne eine Begrüßung, als Lena das Gespräch angenommen hatte.

»Hallo, Mats. Ich habe gerade noch mit meinem Papa telefoniert.«

»Ach so.«

Stille. Lena hasste es, wenn Mats nichts sagte. Sie war es gewöhnt, dass er am Telefon nicht viel sprach und überhaupt die meisten Dinge mit sich selbst ausmachte, aber gerade jetzt wäre sie für ein bisschen Ablenkung wirklich dankbar gewesen.

»Er wollte wissen, ob ich gut angekommen bin«, half Lena ihm ein wenig nach.

»Und, bist du?«

Lenas Enttäuschung breitete sich in ihrem Inneren wie schwarze Tinte auf einem Löschpapier aus.

»Ja«, gab sie knapp zurück.

»Gut.« Mats machte wieder eine kurze Pause. »Weißt du schon, wann du zurückkommst?«

»Mats!«, rief Lena aufgebracht. »Ich bin nicht mal zwei Stunden hier, und du willst wissen, wann ich wiederkomme? Ich habe keine Ahnung. Erst einmal muss ich hier alles regeln. Ich bin ganz alleine in Alvas Haus, meine Oma ist nicht da, es gibt so viel zu tun … Die Testamentseröffnung, und der Nachlass … und …« Sie brach ab, weil ihr die Tränen kamen.

»Entschuldige, ich habe ja nur gefragt.«

Offenbar tat es ihm wirklich leid.

»Was machst du denn gerade?«, wollte er ein wenig versöhnlicher wissen.

»Ein Kreuzworträtsel.« Sie sah wieder auf die Zeitschrift. »Ich suche eine Stadt mit dem größten Kirchturm. Drei Buchstaben.«

»Boa, Lena, keine Ahnung. Google es doch einfach.«

»Mats!« Lena war außer sich. »Das ist nicht der Sinn eines Kreuzworträtsels.«

»Ich hab ohnehin noch nie verstanden, wieso man diese Dinger macht«, meinte er gelangweilt. »Du, Lena, ich muss Schluss machen. Ich muss noch neue Knäufe im Internet bestellen. Die, die wir hier haben, passen nicht.«

Lena seufzte leicht. »Ist gut«, sagte sie, aber in Wahrheit war es überhaupt nicht gut. Sie wäre froh gewesen, wenn sie noch ein bisschen mit Mats hätte sprechen können, wenn er sie ein wenig abgelenkt und ihre Einsamkeit vertrieben hätte, aber wie so oft ging seine Arbeit wieder vor.

»Also, bis dann«, sagte er und legte auf.

Lena starrte auf das Display. War das wirklich das, was sie unter Glück verstand? Sie legte das Smartphone auf den Küchentisch zurück und trank den letzten Schluck der lauwarmen Milch. Unten hatte sich ein Teil des Honigs abgesetzt, süß und krisselig, und Lena schmeckte die Wiesenblüten heraus und die warme Sommersonne. Das tröstete sie ein bisschen und wärmte ihr Herz. Früher hatte sie sich immer am meisten auf diesen Schluck gefreut, auf die kleinen Honigkristalle und darauf, die Tasse ganz am Ende mit einem Löffel auszukratzen.

»Das Beste kommt immer zum Schluss«, hatte Alva dann mit ihrem verschmitzten Lächeln gesagt, während sich um ihre Augen kleine Fältchen bildeten. »Und wenn es nicht das Beste ist, dann ist es nicht der Schluss.«

»Es heißt: Ende gut, alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende«, hatte Lena sie einmal verbessert.

»Dann willst du dich also nur mit etwas Gutem zufriedengeben, statt auf das Beste zu warten?«, hatte Alva sie daraufhin mit einem Zwinkern gefragt.

Lena entsperrte ihr Smartphone und wählte Mats’ Telefonbucheintrag aus. Nachdenklich betrachtete sie sein Foto. Eigentlich wollte sie ihn noch einmal anrufen, aber dann musste sie wieder an Alvas Worte denken. Hatte sie sich mit etwas zufriedengegeben, obwohl sie eigentlich mehr wollte? Der Gedanke schnürte ihr Herz in eiserne Ketten und hinterließ wieder eine kleine Wunde, von denen schon unzählige dort zu finden waren. Nein, es war in Ordnung, es musste in Ordnung sein. Beziehungen waren eben nicht wie in kitschigen Liebesfilmen, es lief nicht immer alles nach Plan. Es war normal, enttäuscht zu werden und irgendwann nicht mehr alles durch die rosarote Brille zu sehen. Und Lena hätte es ja auch weitaus schlechter treffen können. Wer wusste schon, ob sich überhaupt jemals wieder jemand in sie verlieben würde, wenn sie sich von Mats trennte. Sie hatten sich vor acht Jahren kennengelernt, waren ein Jahr später ein Paar geworden, und jeder wusste, worauf er sich beim anderen eingelassen hatte. Es war okay, und das war nach so einer langen Zeit doch gar nicht so schlecht. Oder?

Lena sperrte den Bildschirm wieder, stand auf und stellte die Tasse in den Spülstein. Sie hatte sich für Mats entschieden, und so musste sie eben mit seinen Eigenheiten klarkommen. Besser, sie ging jetzt ins Bett, statt ihm am Telefon noch eine Szene zu machen. Außerdem brauchte sie morgen einen klaren Kopf.

Im Flur stellte sie ihren kleinen Koffer ab und holte ihre Zahnbürste heraus. Dann, nach einer Katzenwäsche, hievte sie den Koffer die Holztreppe nach oben. Lena bemerkte, dass die untere Stufe wackelte und beim Geländer eine Stange lose war. Schade, dass sich niemand darum gekümmert hatte. Trotzdem vermittelte ihr das Knarzen der alten Holzstufen etwas Tröstliches. Es erinnerte sie an früher. Sie nahm das linke Zimmer, das Gästezimmer, das den Blick hinaus in Alvas Garten und über das Meer bot. In der Ferne konnte man sogar den Leuchtturm von Amrum erkennen, der mit gleichmäßigem Blinken sein Licht über das Wasser zu ihr hinüberwarf.

Alva hatte immer gesagt, dass ihre Gäste den schönsten Blick haben sollten. Sie selbst hatte das kleinere Zimmer, das rechte, als ihr Schlafzimmer eingerichtet. Von dort konnte man immerhin noch einen Teil des Gartens sehen, das Quermarkenfeuer von Langeneß und manchmal die Fähre auf ihrer Route von Amrum über Föhr nach Sylt und dann zum Fähranleger von Hooge. Ihre Oma hatte immer gerne Gäste gehabt.

Das gemütliche Dachzimmer hatte Alva ganz in Grün gehalten. Ein runder weißer Tisch, um den vier Holzstühle standen, befand sich in der Mitte des Raumes, darauf zwei dunkelgrüne Kerzen in goldenen Messingleuchtern und eine kleine Blumenvase mit einem Trockenblumenstrauß. Die Kräuter stammten bestimmt aus Alvas Küchengarten und verströmten einen herrlichen Duft nach Sommer und Nachhausekommen. Zimmerpflanzen sorgten für Gemütlichkeit, auf einem weißen Sideboard stand ein kleines Segelschiff, ein Dreimaster, darum waren ein paar Muscheln verstreut.

Der Alkoven, eine traditionelle Bettnische, war mit hellgrünen Leinenvorhängen abgetrennt, die rechts und links zur Seite geschoben waren, dahinter befand sich das Bett mit weißen, frisch gestärkten Leinenbezügen. Und wie immer lag auf dem Kissen eine Blume aus Alvas Garten, eine Cosmea, wenn auch schon ein bisschen welk. Alva hatte jeden Tag eine neue Blume auf das Kopfkissen gelegt, denn man konnte ja nie wissen, wann Gäste kamen; manchmal hatten am Abend ein paar Feriengäste noch spontan nach einem Zimmer gesucht. Lena hatte es immer geliebt, dass der Schlafplatz so vom Wohnraum abgeteilt war. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, sie würde so geborgen in einer Höhle schlafen, geschützt vor bösen Träumen.

Hoffentlich war das heute Nacht auch so, dachte sie bedrückt. Schnell öffnete sie ihren Koffer, um ihren Schlafanzug zu holen, doch als sie ihre Kleidung durchsortierte, fand sie ihn nicht. Sie musste ihn in der Eile beim Zusammenpacken vergessen haben.

»So ein Mist«, murmelte sie.

Lena überlegte, ob sie in einem T-Shirt und Unterwäsche schlafen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Hier, am Meer, war es ihr dafür dann doch ein wenig zu frisch. Sie könnte sich ein Nachthemd von Alva borgen … Leise trat sie auf den Flur und ging zu Alvas Zimmer, doch vor der Tür zögerte sie. Es war eigenartig, ohne ihre Großmutter in ihr Schlafzimmer zu gehen.

Sie musste sich einen Ruck geben, ehe sie die Tür öffnen und den Raum betreten konnte. Alvas Schlafzimmer war ganz in Blau gehalten. Die Möbel, darunter der Kleiderschrank, die Wäschekommode und der viereckige Tisch mit den zwei Stühlen, über dem ein kleiner Lüster aus Glassteinen hing, waren alle im gustavianischen Stil. In Alvas Alkoven, der mit blaugrauen Samtvorhängen vom restlichen Raum abgeteilt war, lag ein kleines besticktes Sofakissen. Lena huschte durchs Zimmer, zog die Schubladen der Wäschekommode auf und fand schließlich ein langärmliges Nachthemd mit Spitzenbesatz am Halsausschnitt, das ihr bis zu den Kniekehlen reichte.

Rasch schlüpfte sie hinein. Sonderlich sexy war es nicht, es war ihr deutlich zu groß, denn Alvas Figur war rund und füllig gewesen, und so hing es eher wie ein Sack an ihr herunter. Figurumschmeichelnd, dachte Lena mit einem wehmütigen Lächeln, aber sie wollte ja auch keinen Schönheitswettbewerb damit gewinnen, und außerdem duftete es so herrlich nach ihrer Großmutter und der Lavendelseife, mit der sie sich immer gewaschen hatte, sodass Lena für einen kurzen Moment das Gefühl hatte, Alva würde sie umarmen. Und wenn sie die Augen schloss und die Arme um sich legte, fühlte es sich auch fast ein bisschen so an.

Traurig ging sie in ihr Zimmer zurück, schlug die Decke beiseite und schlüpfte ins Bett. Es war zwar erst halb neun, aber morgen musste sie fit sein. Hoffentlich würde sie wenigstens ein bisschen Schlaf finden.

E-MAIL-ENTWURF VOM 19. APRIL 2010

An: [email protected]

Von: [email protected]

Betreff: Lena auf der Hallig?

Liebe Lena,

ich habe dich gestern auf dem Sommerdeich gesehen. Erst dachte ich, du bist es gar nicht, weil du dich einfach weggedreht hast, aber als ich genauer hingesehen habe, war ich mir ganz sicher, dass du es sein musst. Wieso hast du mich ignoriert? Was habe ich dir getan?

Hat es damit zu tun, dass du an deinem letzten Abend nicht zum alten Anleger gekommen bist?

Lena, verdammt, ich vermisse dich. Erklär mir doch wenigstens, was schiefgelaufen ist!

Ich weiß überhaupt nichts mehr von dir. Bist du gut angekommen? Wie geht es dir auf dem Festland? Wie ist die neue Schule? Was hältst du von deinen Klassenkameraden? Hast du schon Freunde gefunden? Ich weiß doch, wie schüchtern du manchmal sein kannst, wenn du irgendwo neu bist.

Ich wäre so gern für dich da …

Jacob

3.

Als der Wecker klingelte, stand Lena sofort auf. Sie hatte nur wenig geschlafen, sich die meiste Zeit der Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt, und das penetrante Piepen jetzt empfand sie fast als eine Erlösung. Sie suchte sich die Sachen aus ihrem Koffer zusammen, die sie anziehen wollte. Für die Testamentseröffnung sollte es etwas Seriöses sein, also entschied sie sich für eine schwarze Hose und die Chiffonbluse. Unten im Bad nahm sie eine schnelle Dusche und zog sich an. Im Spiegel band sie die Schleife an ihrem Hals, fasste das honigblonde Haar mit wenigen Handgriffen zu einem Knoten zusammen und schlüpfte dann in ein Paar Ballerinas.

Im Schuppen müsste noch Alvas Fahrrad stehen, fiel ihr ein. Sie öffnete die dunkelgrün gestrichene Holztür und entdeckte erst mal einiges an Gerümpel, alte Möbel, Werkzeug, Bretter, Farbeimer und Ähnliches, aber auch Alvas bonbonrosanes Damenrad. Lena schob es heraus, prüfte kurz den Luftdruck der Reifen und schwang sich dann auf den Sattel. Beim Losfahren sah sie, dass Arnold, Alvas alter Nachbar, über den Gartenzaun lugte. Sie grüßte ihn mit einem knappen »Moin« und fuhr davon.

Obwohl die Hallig, abgesehen von den Warften, nahezu komplett eben war, musste Lena ganz schön treten, denn der Wind machte ihr die Fahrt beschwerlich. Vielleicht lag es auch an den Ereignissen, die drückend auf ihren Schultern lasteten, aber Lena ließ sich nicht davon abbringen. Sie umrundete eine Gruppe Touristen, die zu Fuß unterwegs war und sich in ihren Regenmänteln gegen den Wind stemmte, und winkte Kilian, dem Bauern, zu, der auf der Weide nach den Kühen sah und Lena ein »Herzliches Beileid« zurief, als sie an ihm vorüberradelte. Tapfer fuhr sie zur Mitte der Hallig. Das Gemeindebüro befand sich auf der Hanswarft, der größten Warft, die ein bisschen einem Dorf glich. Hier spielte sich hauptsächlich das Leben ab, es gab die meisten Geschäfte und Restaurants.

Lena schloss ihr Rad am Fahrradständer an und ging in das Gemeindebüro. Sie fand den Saal schnell, in dem die Testamentseröffnung stattfinden würde. Nervös straffte sie den Rücken, klopfte an und betrat dann den Raum. Als sich der Mann zu ihr umdrehte, der unweit des Schreibtischs stand, blieb Lena beinahe das Herz stehen. Jacob!

Er trug eine dunkelblaue Jeans, dazu ein schwarzes Hemd, das ihn ernst und ganz anders aussehen ließ als sonst, seiner Attraktivität tat das jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil, er wirkte reifer, erwachsener, und unwiderstehlich sexy, musste Lena sich eingestehen. Den oberen Knopf des Hemdes hatte er offen gelassen, leger, aber immer noch dem Anlass angemessen, darunter sah sie seine von der Sonne gebräunte Haut, die darauf schließen ließ, dass er anscheinend oft draußen war. Und dank ihrer flachen Ballerinas war Jacob auch wie immer einen Kopf größer als sie, hielt sich gerade und schien mit seiner Persönlichkeit fast den ganzen Raum einzunehmen.

»Moin, Lena«, sagte er und sah sie aus seinen dunkelbraunen Augen an. Lena schwankte wie auf der Fähre bei Seegang. »Herzliches Beileid.«

Selbst das geheimnisvolle Glitzern seiner Iris hatte sich nicht verändert. Der Dreitagebart, den er früher nicht getragen hatte, ließ ihn verwegen und maskuliner wirken.

Lena nickte knapp. »Danke«, murmelte sie.

Natürlich, sie hätte damit rechnen müssen, Jacob hier zu sehen. Er war immer schon sehr engagiert auf Hooge gewesen, kein Wunder, dass er da auch in der Gemeindeverwaltung arbeitete. Trotzdem spürte sie ein Flattern in der Magengegend. Sicher war es nur die Nervosität. Na gut, sie würde das schon tapfer durchstehen. Sie würde sich jetzt hier hinsetzen, sich anhören, was Jacob ihr aus Alvas Testament vorlas, und dann würde sie schnellstmöglich ihre Siebensachen zusammenpacken und gehen. Sie wollte keinesfalls eine Sekunde länger als nötig mit Jacob allein in einem Raum verbringen. Die Erinnerung tat einfach zu weh. Bei ihren letzten Besuchen auf der Hallig hatte sie ihm immer ganz gut aus dem Weg gehen können, und in den vergangenen zwei Jahren war sie ja gar nicht mehr hier gewesen. Aber dass es sie jetzt so traf, Jacob wieder gegenüberzustehen, überraschte sie dennoch. Vielleicht war das nun mal so bei der ersten großen Liebe …

»Entschuldigen Sie die Verspätung.«

Ein Mann, Lena schätzte ihn auf Anfang fünfzig, betrat den Raum. Er trug einen Anzug, war recht groß und stämmig. Als er dann hinter den Schreibtisch trat und Jacob und sie aufforderte, Platz zu nehmen, war sie ein wenig irritiert. Doch dann erinnerte sie sich, dass Alva ihn ihr auf einem Deichspaziergang vor einigen Jahren einmal als den neuen Notar auf Hooge vorgestellt hatte. Eigenartig …

»Wie Sie ja wissen, sind Sie heute wegen Alvas Testament gekommen«, begann er. Vor ihm auf der Tischmitte lag ein elfenbeinfarbener Umschlag, auf dem das Wort »Testament« geschrieben stand. Lena erkannte Alvas geschwungene, nach rechts kippende Handschrift sofort. »Sind Sie bereit?«

Mit angehaltenem Atem nickte Lena kaum merklich, und aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass auch Jacob angespannt war. Und dass er immer noch unwahrscheinlich gut aussah.