Küsse im Aprikosenhain - Persephone Haasis - E-Book
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Küsse im Aprikosenhain E-Book

Persephone Haasis

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Beschreibung

Manchmal geht das große Glück einen kleinen Umweg ...

Nathalie ist fassungslos, als ihr Freund sich per Postkarte von ihr trennt. Wütend reist sie ihm nach Frankreich hinterher, um ihn zur Rede zu stellen. Doch nach einer Autopanne landet sie stattdessen auf einem idyllischen Hof in der Provence. Sofort ist sie fasziniert vom herrlichen Kräutergarten, den schönen Aprikosenhainen – und dem mürrischen, aber attraktiven Hofbesitzer Felix. Als Nathalie erfährt, dass der Hof finanzielle Probleme hat, hat sie eine Idee: Sie beginnt mithilfe des Kräuterbuchs von Felix' Großmutter, himmlische Cremes und duftende Öle aus Aprikosen und Kräutern herzustellen. Aber kann sie damit auch Felix' Herz gewinnen?

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Seitenzahl: 508

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PERSEPHONE HAASIS, geboren 1989, hat Kreatives Schreiben und Literaturwissenschaften in Hildesheim und Bamberg studiert. In ihrem zweiten Roman »Küsse im Aprikosenhain« erzählt sie von der Liebe, von Selbstverwirklichung und davon, dass man manchmal einen kleinen Umweg gehen muss, um das ganz große Glück zu finden. Persephone Haasis lebt in Kaiserslautern.

Außerdem von Persephone Haasis lieferbar:

Ein Sommer voller Himbeereis. Roman.

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Persephone Haasis

Küsse im Aprikosenhain

Roman

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

© 2020 Persephone Haasis

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Copyright © 2020 by Penguin Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Favoritbüro

Umschlagmotiv: © Shutterstock / Lesya Dolyuk, Shutterstock / Nataly Studio,

Shutterstock / Shutova Elena, Shutterstock / little birdie

Redaktion: Lisa Wolf

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel GmbH, Köln

ISBN 978-3-641-25484-1V001

www.penguin-verlag.de

PROLOG

Nathalie,

es ist vorbei. Seit ich hier mit unserem Camper an der Côte d’Azur angekommen bin, wird mir mit jedem Tag klarer, wie wenig wir zusammenpassen. Wenn wir ehrlich sind, war in unserer Beziehung ja schon lange die Luft raus, und mit Jana ist alles ganz anders und so viel schöner. Eine Postkarte ist vielleicht nicht der beste Weg, um eine Beziehung zu beenden, aber ich will zumindest ehrlich sein und dich nicht hinhalten. Außerdem hast du so wenigstens Zeit, in Ruhe aus unserer Wohnung auszuziehen, bis ich wieder zurück bin.

Es tut mir leid.

Elias

1.

Nathalie machte einen letzten Strich und betrachtete zufrieden ihr Werk. Die Entwürfe für den Kunden mit dem Hundezubehör waren fertig. Auch wenn sie sich fragte, wozu man ein Chihuahua-Tragegeschirr brauchte, das den Hund durch den Tragegriff am Rücken in eine Handtasche verwandelte, mochte Nathalie die putzigen Vierbeiner, die sie gezeichnet hatte. In einer einfachen Schreibschrift, die sie beim Lettern ein wenig nach rechts geneigt hatte, stand darüber der Slogan »Wau! So viel Zubehör für Hund und Herrchen gibt’s nur bei Ottmar Langenhagen«. Die Schrift verlieh dem Werbeplakat etwas Nostalgisches und zugleich Seriöses, und das war dem Kunden, der auf seine langjährige Erfahrung als Hunde-Ausstatter setzte, besonders wichtig. Trotzdem schwor sich Nathalie, dass sie weder Hundepfotenschuhe zum Schutz gegen den heißen Asphalt noch Regencapes passend zu Herrchens oder Frauchens Lieblingsjacke kaufen würde, sollte sie sich jemals einen Hund anschaffen. Als ob man so etwas bräuchte. Wenn sie einen Hund hätte, würde sie sicher auch auf das Fitnesslaufband zum Abspecken verzichten können und mit ihm stattdessen lieber im Stadtpark spazieren gehen. Sie würden gemeinsam die einigermaßen frische Luft – so frisch sie in Frankfurt eben sein konnte – einatmen und die Sonnenstrahlen genießen. Sie würde ihm beibringen, Stöckchen zu apportieren, oder einen Wochenendausflug zum See machen, wo sie dann gemeinsam im Wasser herumtollten oder ein tiefes Loch im Sand buddeln würden. Aber ein Hund war in der kleinen Frankfurter Stadtwohnung ebenso ausgeschlossen wie das Gemüsebeet, von dem sie schon so lange träumte.

Nathalie tippte noch rasch ein »Mit freundlichen Grüßen« unter ihre E-Mail und drückte dann auf »Senden«. Den letzten Auftrag für heute hatte sie erledigt. Es war kurz vor eins. Sie hatte also noch genug Zeit, um ihren Schreibtisch aufzuräumen, und dann würde sie sich ins Wochenende verabschieden. Das war einer der schönen Vorzüge ihrer Arbeit, freitags früher gehen zu können. Ordentlich stapelte sie die Papiere zusammen und stellte die jeweiligen Ordner in den Schrank zurück. Am Montag würde sie im Teammeeting der Marketingagentur ihre Probeskizzen für die Nahrungsergänzungsmittel präsentieren, die sie heute Vormittag gezeichnet hatte. Sie fand die glücklich dreinblickenden Obst- und Gemüsesorten grauenhaft, aber wenn der Kunde eben solche Vorgaben machte, fügte sie sich. Unter ihren Skizzen lag das Buch mit ihren Lettering-Entwürfen, das sie während Telefonaten oder in ihren Pausen für eigene Ideen nutzte. Nathalie liebte ihren Job als Kommunikationsdesignerin, aber manchmal wünschte sie sich, Projekte zu betreuen, für die sie wirklich brannte. Sie blätterte durch ihre Skizzen und blieb an dem schmelzenden Eis in der Waffel hängen, dessen Tropfen die Ü-Pünktchen von »Süße Sommergrüße« bildeten. Zu Hause würde sie das Eis mit Aquarellfarben illustrieren und ihrer Mutter als Postkarte schicken.

Nathalie schlug das Buch zu und steckte es in die Handtasche. Hoffentlich zeigte sich dieses Wochenende noch die Sonne. Sie letterte nämlich viel lieber draußen auf ihrem kleinen Balkon zwischen den Blumen und Kräutern. Ob ihre Paprika wohl mittlerweile Farbe bekommen hatten? Nathalie erinnerte sich noch gut daran, wie glücklich sie war, als sich letztes Jahr um diese Zeit die Farbe der ersten Paprikaschote von einem unreifen Grün in ein vielversprechendes Gelb verwandelt hatte. Aber das würde dieses Jahr vermutlich nicht so schnell passieren. Die Sonne schien einfach viel zu wenig in den letzten Wochen. Sie fuhr ihren Computer herunter, zog sich ihre leichte Sommerjacke über und nahm ihren Schirm aus dem Ständer.

»Bis Montag!«, rief sie in Miriams Büro, wo ihre Kollegin und beste Freundin gerade am Telefon hing und herzlich lachte.

»Einen Moment, Lena.« Miriam verdeckte mit der Hand die Sprechmuschel des Hörers. »Unsere kleine Grillparty müssen wir verschieben, oder?«

Nathalie nickte. »Sieht so aus, als ob sie schon wieder ins Wasser fällt.«

»Buchstäblich«, stimmte Miriam nach einem kurzen Blick nach draußen, drehte sich dann wieder zu Nathalie und formte mit den Lippen ein lautloses »Schönes Wochenende«, bevor sie die Hand vom Hörer nahm, um weiterzutelefonieren.

Frankfurt versank in einem milchigen Nebel aus grauen Wolken, Häuserfassaden, Wasserpfützen und durch den Regen eilenden Passanten, die sich unter ihren Schirmen versteckten, um nicht nass zu werden. Einzig die orangefarbene Leuchtschrift auf der Anzeigetafel der Straßenbahnhaltestelle brachte ein bisschen Farbe in diesen grauen regnerischen Tag. Nathalie hatte den Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen und den Schirm aufgespannt, während sie an der Haltestelle wartete. Das Wetter passte zu ihrer Stimmung, seit Elias ohne sie an die Côte d’Azur gefahren war. Die Grillparty wäre zumindest eine willkommene Ablenkung gewesen, um sie von den marternden Gedanken abzulenken, die sie seitdem quälten.

Als die nächste Straßenbahn kam, drängte sich Nathalie, zusammen mit den anderen Wartenden, in das dampfende Abteil, in dem man vor Regenschirmen, triefenden Mänteln und beschlagenen Scheiben kaum etwas sehen konnte. Es war stickig und warm, und sie kam sich trotz des trüben, eher kühlen Junitages vor wie in einer Sauna. Zum Glück hatte sie nur ein paar Haltestellen zu fahren. Sie stellte sich nah an die Tür, öffnete den obersten Knopf ihrer Jacke und genoss den kühlen Windhauch, der ihr bei jedem Halt entgegenschlug, wenn sich die Türen öffneten. Während sie mit halbem Ohr ein paar Gesprächsfetzen folgte, überlegte sie, was sie nun mit ihrem freien Wochenende anstellen sollte. Sie hatte sich zwar auf das Grillen am See mit Miriam gefreut, aber so würde sie sich zumindest mal wieder um ihren geliebten und zum Glück überdachten Balkon kümmern können. Ihre Margerite wollte sie ohnehin schon seit einer Woche umtopfen, und jetzt konnte sie ein bisschen Zeit draußen verbringen, ohne nass zu werden.

An der Haltestelle Lindenbaum stieg Nathalie aus und lief die Straße entlang zu ihrer Wohnung. Zuallererst würde sie sich einen Tee machen, um sich etwas aufzuwärmen, dann würde sie die Post durchsehen, ein bisschen lesen – und möglicherweise würde sich dann der Himmel gnädig erweisen und eine kurze Regenpause einlegen, damit sie sich in Ruhe um ihre Balkonpflanzen kümmern oder noch ein bisschen zeichnen konnte. Nach einem kurzen Halt am Briefkasten nahm sie die Steinstufen hinauf in den zweiten Stock und schloss die Tür zu ihrer gemütlichen Zwei-Zimmer-Altbauwohnung auf, in der sie seit drei Jahren mit Elias lebte. Die Wohnung war zwar nicht besonders groß, aber durch die hohen Decken des Altbaus wirkte sie trotzdem sehr geräumig. Nathalie hatte sich sofort bei der ersten Besichtigung in den Charme der Wohnung verliebt, und der kleine Balkon hatte ihr neues Zuhause perfekt gemacht.

Die meisten Möbel hatten Elias und sie aus Secondhandläden zusammengesammelt, und so sah die Einrichtung kunterbunt, aber auch sehr gemütlich aus. Besonders liebte Nathalie die kleine Kommode im Flur, bei der jeder Schubladenknauf eine andere Farbe hatte, und ihr Bücherregal, das sie gemeinsam mit Elias aus alten Kartoffelkisten zusammengeschraubt hatte. Sie mochte das blassgrüne Siebzigerjahre-Sofa und den Geruch des dunkelbraunen Leders ihres Lesesessels, der direkt am Fenster stand und über dessen Lehne immer die alte Patchworkdecke lag, falls ihr beim Lesen kalt wurde. Gut, über den Couchtisch, der aus der Glasplatte eines alten Aquariums und zwei gebrauchten, übereinandergestapelten Europaletten bestand, ließ sich streiten, aber er war Elias’ ganzer Stolz, denn es war sein erstes selbst entworfenes Möbelstück.

Nathalie hängte ihre Jacke an die Garderobe, zog ihre Schuhe aus und tauschte ihre nassen Strümpfe gegen ein paar flauschig-warme Wollsocken, die sie schon im Flur bereitgelegt hatte. Als sie in die Küche ging und der Dielenboden behaglich unter ihren Füßen knarzte, fühlte sie, wie sie sich langsam entspannte. Jetzt noch eine warme Tasse Tee, und das Wochenende war, so gut es bei diesem Wetter eben ging, eingeläutet. Nathalie setzte Wasser auf, hängte einen Beutel Hagebuttentee in einen Becher und übergoss ihn mit dem sprudelnden Wasser. Hagebuttentee mochte sie bei so einem Wetter am liebsten, weil er nach Sommer und Sonne schmeckte – egal, wie sehr es draußen regnete oder stürmte. Dann stellte sie den dampfenden Becher auf ihren Holztisch in der Küche und setzte sich.

Während der Tee zog und sich ein fruchtiger Geruch in der Küche verbreitete, sah sie die Post durch. Es waren hauptsächlich Rechnungen – Strom, Internet und Telefon, die Heizkostenabrechnung –, ein Werbeheft für Schuhe, das sie ungelesen direkt in die Schachtel fürs Altpapier legte, und dazwischen eine Postkarte, mit Blick vom Meer auf einen von der Sonne geküssten Strand, hinter dem sich im Hintergrund eine Stadt erhob. »Viele Grüße von der Côte d’Azur« stand in bunter Schrift auf dem wolkenlosen blauen Himmel. Nathalie fand, dass die Schrift ein bisschen altbacken wirkte, trotzdem freute sie sich, dass Elias an sie gedacht und ihr geschrieben hatte. Vielleicht hatte sie ihm vor dem Urlaub doch unrecht getan, als sie ihm vorgeworfen hatte, ihre Beziehung sei ihm egal.

Nathalie drehte die Karte um und erkannte sofort Elias’ gleichmäßige Handschrift. Aber schon beim ersten Satz stutzte sie, überflog dann die restlichen Zeilen, las die Karte ein zweites und schließlich noch ein drittes Mal, doch es dauerte, bis sie den Inhalt der Worte begriff.

Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Machte Elias allen Ernstes auf einer Postkarte mit ihr Schluss? Das Blut rauschte in ihren Ohren, Gedanken und Erinnerungen wirbelten durch ihren Kopf wie bei einem Tornado, um wenige Augenblicke später absolute Leere darin zurückzulassen. Nathalie ließ die Karte sinken und sah zu dem gerahmten Foto über dem Küchentisch, das sie und Elias letztes Jahr in ihrem Urlaub in den Alpen gemacht hatten. Sie beide lächelten in die Kamera, während hinter ihnen die verschneiten Bergspitzen wie Haifischzähne in den Himmel ragten.

Nathalie starrte wieder auf die Postkarte. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Mit einem Mal wurde ihr so kalt, als hätte Elias einen Eimer Eiswasser über ihr ausgegossen. Er hatte sie nicht nur einfach abserviert, nein, er war mit Jana, seiner neuen Kollegin, an der Côte d’Azur! Ein tiefer Stich bohrte sich in Nathalies Herz und ließ sie wütend aufschluchzen. Mit einem Mal zerriss sie die Karte und warf sie zum restlichen Altpapier. Wie konnte er nur! Er hatte über ihre Beziehung nachdenken und ein bisschen Abstand haben wollen – und sie war auch noch so dumm und damit einverstanden gewesen, in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch noch mal zusammenraufen würden. Klar, wenn Nathalie ehrlich zu sich selbst war, lief ihre Beziehung schon seit einigen Monaten nicht mehr so richtig rund. Aber dass Elias bereits mit Jana zusammen war und mit ihr in den Urlaub fuhr, war die Höhe. Das konnte er nicht ernst meinen! Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Es war aus. Elias hatte mit ihr Schluss gemacht. Auf einer Postkarte! Nathalie konnte es kaum begreifen. Sie war gleichzeitig wütend und traurig – so eine Abfuhr hatte wirklich niemand verdient. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien, aber in ihr war alles wie betäubt. Wahrscheinlich, weil sie insgeheim schon länger damit gerechnet hatte, dass sie keine gemeinsame Zukunft hatten. Trotzdem tat dieser endgültige Schlussstrich so unfassbar weh und machte sie so wütend, dass sie diesen hässlichen, dämlichen Couchtisch nur zu gerne durch die Wohnung geworfen hätte. Doch das würde auch nichts ändern, das wusste sie.

Schniefend stützte Nathalie ihre Ellbogen auf den Küchentisch und ließ ihr Kinn in die Hände sinken. Ihr Blick wanderte wieder nach draußen, doch mittlerweile konnte sie nicht einmal mehr die Hausfassade von gegenüber erkennen, denn der Regen war so stark geworden, dass dicke Tropfen gegen die Scheibe prasselten und in kleinen Bächen am Fensterglas hinunterrannen. Das Orangenbäumchen war mittlerweile fast ertrunken, und das Basilikum, das sie erst letzten Montag gesetzt hatte, ließ deutlich seine Blätter hängen. Doch auch die Sorge um ihre Pflanzen konnte Nathalie nicht von den Gedanken an Elias ablenken. Und während hier die Welt unterging, lag er an einem Sandstrand der Côte d’Azur und ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen – zusammen mit dieser Jana.

Nathalie spürte, wie ihre Kehle schon wieder eng wurde, und das machte sie noch wütender. Es war ja nicht so, dass sie nicht selbst schon über eine Trennung nachgedacht hätte. Aber sie hatte Elias nicht einfach kampflos aufgeben wollen. Sie hatte es nicht über sich gebracht, ihre letzten vier gemeinsamen Jahre einfach so wegzuwerfen. Im Gegensatz zu ihm. Es war unfassbar. Nathalie schnaubte aufgebracht und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

Dass Jana nicht nur eine Arbeitskollegin war, hatte sie ja schon seit Längerem befürchtet. Sie hatte viel zu oft nach Feierabend bei Elias angerufen, und der hatte immer den Raum verlassen, um mit Jana über Projekte mit dringenden Deadlines zu sprechen. Eigentlich hätte sie es längst wissen müssen. Vor allem, als er dann plötzlich für zwei Wochen allein mit dem Camper verreisen wollte, um sich über ihre Beziehung klar zu werden. Sie war einfach zu naiv.

Als es draußen jetzt hell aufblitzte und kurz darauf ein lautes Donnern ertönte, zuckte Nathalie unwillkürlich zusammen. Sie hätten damals auch einen tollen Urlaub am Meer haben können, wenn Elias nicht auf die Schnapsidee gekommen wäre, einen Abenteuertrip mit Rucksack auf dem Rücken, fünfzig Euro in der Tasche und einem mickrigen Zelt im Gepäck zu unternehmen. Nathalie verdrehte schon allein bei dem Gedanken daran die Augen. Sie spürte, wie es in ihr brodelte. So gerne hätte sie mit Elias im letzten Sommer einfach nur am Strand gelegen und ihre Auszeit genossen, aber er hatte ja unbedingt Action und Abenteuer haben wollen.

Das Picknick neben einem Ameisenhaufen hatte zu fiesen Ameisenbissen geführt, anstatt zu romantischen Küssen unter dem Sternenhimmel. Dazu war das Zelt nicht wasserdicht gewesen, und die fünfzig Euro hatte Elias schon in der ersten Woche für Medikamente ausgegeben, da er sich leider eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte. So viel also zu ihrem romantischen Urlaub in der Natur.

Und jetzt war er mit ihrem Camper unterwegs, genoss die Côte d’ Azur mit dem glitzernden Meer, das gute Essen und den Rotwein von einem regionalen Winzer, unternahm Spaziergänge in der herrlichen Natur oder am Strand bei Sonnenuntergang, während sie damals auf steinigem Boden im Zelt geschlafen hatten. Pah, das könnte ihm so passen! Nathalie schob mit einer energischen Bewegung den Stuhl zurück. Sie ging zum Telefon und wählte Elias’ Nummer. Jetzt würde sie ihm erst einmal gehörig die Meinung sagen. Genau genommen war das nämlich gar nicht ihr gemeinsamer Camper, mit dem er da gerade unterwegs war, sondern ganz allein ihrer! Elias hatte ihr die fünftausend Euro dafür schließlich immer noch nicht zurückgezahlt, die sie damals vorgestreckt hatte.

Nathalie lauschte dem regelmäßigen Tuten, während das Telefon die Verbindung aufbaute. Elias konnte sich auf etwas gefasst machen, sie würde … Die Mailbox sprang an. Es war nicht zu fassen! Elias ging doch tatsächlich nicht ans Handy. Anscheinend wollte er in seinem Liebesurlaub nicht gestört werden. Nathalie presste mit einem finsteren Gesichtsausdruck die Lippen zusammen. Sie konnte sich schon denken, was das hieß. Vermutlich alberte er gerade mit Jana im herrlich türkisblauen Meer herum, oder die beiden lagen Händchen haltend auf den Sonnenliegen, die sich Nathalie und Elias extra für ihren Camper gekauft hatten.

Nathalie konnte den Gedanken daran kaum ertragen! Nein, das alles würde sie Elias in keinem Fall gönnen. So konnte er nicht mit ihr umspringen. Sie würde ihn nicht so einfach mit einer Postkarte davonkommen lassen. Während sie tief durchatmete, um sich zu beruhigen, kam ihr plötzlich eine Idee. Innerhalb von Sekunden war sie voller Energie, sie fühlte sich ganz schwindelig, als der Plan in ihrem Kopf Gestalt annahm und sie eine Entscheidung traf. Aber bevor sie diese in die Tat umsetzte, brauchte sie erst einmal Unterstützung. Und in so einem Fall konnte ihr nur ihre beste Freundin helfen: Miriam.

»Nathalie, was ist los? Willst du doch im Regen grillen?«, meldete Miriam sich bereits nach dem zweiten Klingeln fröhlich.

»Auf gar keinen Fall. Ich rufe an, weil Elias sich gemeldet hat.«

»Aha. Wie ist sein Urlaub denn so – allein?«

»Umwerfend, wie es scheint«, gab Nathalie mit zusammengebissenen Zähnen zurück.

»Dann hat er seine Auszeit also genutzt, um sich über seine Gefühle klar zu werden?«

»So kann man das auch sagen«, antwortete Nathalie trocken. »Er hat mir eine Postkarte geschrieben.«

»Ach, das ist aber süß!«, rief Miriam. »Ich habe mich immer gefragt, wer so etwas heute noch macht!«

»Süß? Von wegen. Warte, ich zeig sie dir.« Nathalie nahm ihr Smartphone vom Ohr, machte ein Foto von der Postkarte und schickte es über WhatsApp an Miriam.

»Sekunde …«, sagte Miriam, und Nathalie hörte Papier rascheln. Bestimmt musste ihre Freundin das Smartphone wieder unter einem Berg von Ordnern suchen. »Ah, ich hab’s gefunden …« Dann kam nur noch ein empörtes Schnauben. »Was? Ist das sein Ernst?«

»Anscheinend.« Nathalie spürte, dass sie am ganzen Körper bebte.

»Ich habe doch gleich gesagt, dass das mit seiner Arbeitskollegin seltsam ist.«

»Ich weiß«, gab Nathalie zu und betrachtete die Regentropfen, die am Küchenfenster herunterrannen.

»Mensch, Süße, das ist echt unglaublich, aber im Grunde hast du doch schon länger damit gerechnet.«

»Ja, schon, aber die Art und Weise, wie er es beendet hat, macht mich so unfassbar wütend! Ich meine, mal ehrlich – mit einer Postkarte?!«

»Das ist nicht nur gemein, sondern feige. Als ob er echt keinen Arsch in der Hose hätte, um dir das ins Gesicht zu sagen!« Miriam überlegte einen Moment. »Soll ich vorbeikommen? Wir machen eine Flasche Sekt auf, hören Gute-Laune-Musik, und ich lenk dich ein bisschen ab?«

Nathalie lächelte matt. »Du, das ist echt lieb, aber ich glaube, ich brauche jetzt erst mal ein bisschen Zeit für mich.«

»Kann ich verstehen.« Miriam seufzte leicht. »Aber du gibst jetzt nicht klein bei, oder?«

»Was?« Nathalie riss sich von dem Schauspiel der Wassertropfen an der Fensterscheibe los.

»Na, du wirst doch hoffentlich jetzt nicht aus der schönen Wohnung ausziehen. Du hast ewig gesucht, bis du den tollen Altbau mit dem kleinen Balkon gefunden hast. Da lässt du dich doch jetzt von Elias nicht so einfach vor die Tür setzen, oder?«

»Nein, den Gefallen tue ich ihm ganz sicher nicht! Immerhin zahle ich seit mehreren Monaten die Miete. Irgendwann ziehe ich definitiv aus und suche mir was Hübsches mit einem kleinen Garten, aber nicht heute und nicht, bevor Elias nicht zuerst ausgezogen ist. Aber packen werde ich definitiv.«

»Sekunde …« Miriam schien irritiert zu sein. »Wie meinst du das? Willst du jetzt seine Sachen zusammensuchen?«

Nathalie dachte kurz nach. »Ja, das wäre natürlich auch eine Möglichkeit, aber das kann er mal schön selber machen. Nein, ich nehme mir jetzt einen Koffer und packe.«

»Und dann?«, fragte Miriam, noch immer verwirrt.

»Dann fahre ich an die Côte d’ Azur.«

»Aber was soll das bringen?«

»Ich stelle ihn zur Rede«, sagte Nathalie entschieden. »Den Gefallen, dass er sich gerade den besten Urlaub aller Zeiten macht, während ich hier mit gebrochenem Herzen sitze und ausziehen soll, tue ich ihm ganz sicher nicht!«

Am anderen Ende herrschte einen Augenblick Stille. »Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?«, fragte Miriam dann.

»Absolut.« Nathalies Stimme klang bitter. »Meinetwegen kann er sich trennen, meinetwegen kann er auch seine Arbeitskollegin flachlegen – auch wenn es fairer gewesen wäre, wenn er damit bis nach unserer Trennung gewartet hätte –, aber sich an der Côte d’Azur zu vergnügen und mich mit einer Postkarte abzuspeisen, das ist einfach nur albern und kindisch.«

»Aber ist es dieser Vollidiot wirklich wert, ihm hinterherzufahren?«

Nathalie zögerte einen kurzen Moment, sagte dann aber mit fester Stimme: »Nein, aber ich muss das klären, und zwar jetzt. Ich habe es satt, immer darauf zu warten, dass Elias die wichtigen Entscheidungen trifft und ich mich nach ihm richten muss. Immerhin ist das unsere gemeinsame Wohnung, und es ist mein Camper, mit dem er da gerade durch die Gegend gurkt!«

»Nathalie … jetzt warte doch mal.« Miriam raschelte wieder mit irgendwelchen Unterlagen. »Wie willst du ihn denn überhaupt finden? Du hast doch keinen blassen Schimmer, wo er sich gerade aufhält, also abgesehen von der Postkarte natürlich.«

»Das finde ich schon raus.« Nathalie stand auf. Ein ungewohnter Tatendrang hatte sie erfasst, ihre Wut auf Elias war wie ein Motor, der sie antrieb. Sie wollte jetzt nicht nachdenken oder vernünftig sein. Alles, was sie wollte, war, Elias ein für alle Mal ihre Meinung zu sagen! All das, was da in ihrem Inneren brodelte, musste einfach raus. Mit dem Handy am Ohr ging sie in den Flur, um dort ihren Koffer vom Schrank zu holen.

»Und wie?«, fragte Miriam.

»Internet«, entgegnete Nathalie knapp, während sie auf Zehenspitzen nach dem Koffer angelte.

»Was meinst du mit Internet?«, hörte sie Miriam noch sagen, ehe das Telefon herunterfiel.

Nathalie fluchte und hob das Smartphone vom Boden auf.

»Nathalie? Alles okay bei dir?«

»Alles bestens«, versicherte Nathalie und schwang den Koffer aufs Bett. »Mir ist nur gerade mein Handy runtergefallen. Also, ich werde mal grob in die Richtung fahren, und so, wie ich Elias kenne, wird er früher oder später schon posten, wo er sich befindet. Dafür liebt er seinen Reiseblog einfach viel zu sehr, als dass er darauf verzichten würde.«

»Nathalie, das ist das Bescheuertste, was du bisher in deinem ganzen Leben getan hast!«, sagte Miriam. »Aber auch das Mutigste«, fügte sie dann hinzu.

»Und genau deshalb ziehe ich das jetzt durch!«, sagte Nathalie entschlossen, während sie wahllos ein paar Sommerkleider in den Koffer warf.

»Jedenfalls finde ich es gut, dass du Elias die Meinung sagen willst! Du hast dich viel zu lange von ihm herumschubsen lassen! Auch wenn ich es ein bisschen übertrieben finde, ihm deswegen hinterherzufahren.« Sie machte eine kurze Pause. »Kann ich denn irgendwas für dich tun?«

»Ja, eine Sache gibt es da. Das Wochenende wird sicher nicht ausreichen, um an die Côte d’Azur zu fahren. Und ich müsste noch reichlich Urlaubstage übrig haben. Könntest du Clausen bitten …«

»Also, ich sehe gerade, dass du heute Nachmittag ja einen Urlaubsantrag für zwei Wochen eingereicht hast. Und …« Nathalie hörte, wie ihre Freundin auf der Tastatur herumtippte. »Na, so ein Zufall. Den hat unser Chef gerade bestätigt.«

»Miriam, das könnte dich deinen Job kosten, oder?«, flüsterte Nathalie, auch wenn sie wusste, dass Jens Clausen sie nicht hören konnte.

»Quatsch, das geht schon klar. Wozu sonst hat man seine beste Freundin in der Personalabteilung sitzen? Und abgesehen davon tut es dir bestimmt gut, wenn du dir danach noch eine kleine Auszeit gönnst. Du hast es wirklich nötig.«

»Danke«, flüsterte Nathalie, und jetzt stiegen ihr doch die Tränen in die Augen. Dass Miriam das für sie tat, obwohl sie von ihrem Vorhaben nicht ganz überzeugt war, bedeutete ihr viel.

»Nathalie?«, kam noch einmal leise die Stimme aus dem Telefon.

»Ja?«

»Viel Glück. Und fahr vorsichtig!«

Nathalie musste lächeln. »Mach ich«, versprach sie und legte auf. Dann ließ sie sich rückwärts aufs Bett fallen, schloss die Augen und atmete tief durch.

»Reiß dich zusammen, Nathalie«, murmelte sie nach einer Weile und setzte sich wieder auf. Jetzt bloß nicht nachdenken, sonst warf sie womöglich alles wieder über den Haufen und würde es nie nach Frankreich schaffen. Entschlossen stemmte sie die Hände in die Hüften und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen weg, stand vom Bett auf und begann, weiter ihren Koffer zu packen. Neben den Sommerkleidern schmiss sie eine Jeans, eine kurzärmlige Bluse, zwei Tops, zwei Röcke und eine Hotpants hinein. Wenn sie Elias schon gegenübertrat, wollte sie sich dieses Mal wenigstens begehrenswert und sexy fühlen. Er sollte wissen, was er da gerade aufgab, und abgesehen davon brauchte sie das jetzt für ihr angeknackstes Ego. Danach warf sie noch ein Paar Flipflops in den Koffer, ging ins Badezimmer und packte ihre Zahnbürste und ein bisschen Schminke in ihre Kosmetiktasche, klappte den Koffer zu und rollte ihn in den Flur. Innerlich schwankte sie zwischen Wut und Traurigkeit, aber sie wollte sich auf keinen Fall im Bett verkriechen, so wie bei ihrer letzten Trennung. An diese Zeit dachte sie wirklich nicht gerne zurück.

Nachdem sie ihren Koffer im Flur abgestellt hatte, ging Nathalie zurück ins Schlafzimmer. Was zog man auf einer Fahrt an die Côte d’ Azur an? Sie entschied sich für ein bequemes Kleid mit Blumenprint und ihre geliebten Riemchensandalen mit Absatz, in denen sie sich unwiderstehlich fühlte. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel und mehreren Drehungen um sich selbst war sie zufrieden. Sie fühlte sich hübsch und feminin, wenigstens ein kleines Trostpflaster nach dem Fiasko heute. Sie band ihre hellbraunen Haare zu einem lockeren Zopf, nahm ihren Koffer und die Handtasche und angelte ihren Autoschlüssel von der Ablage im Flur. Mit einem Ruck zog sie die Wohnungstür hinter sich zu und schloss ab, bevor ihr Verstand wieder einsetzte und sie sich das alles doch noch einmal anders überlegte. Nein, sie würde das jetzt durchziehen.

Nathalie verstaute ihr Gepäck in ihrem uralten silberfarbenen Polo, den sie liebevoll Luise nannte, und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Sie schloss kurz die Augen, atmete tief durch und tippte dann einfach »Côte d’Azur« in ihr Smartphone ein, um sich von der Navigations-App eine geeignete Route berechnen zu lassen. Ihr erstes Ziel lag irgendwo zwischen Cannes und Toulon, dort würde sie dann überlegen, wie sie Elias am besten aufspüren könnte. Nathalie ließ den Motor an und fragte mehr sich selbst als das silberfarbene Auto: »Bereit für einen Ausflug?«

Dann gab sie Gas.

Aus dem Pflanzen- und Kräutertagebuch der Adeline Legrand

23. Februar 1951

Als Henni heute nach Hause gekommen ist, war er ganz aufgeregt. Er hat ein Häuschen für uns gefunden, einen alten Hof, um genau zu sein. Früher wurden dort Aprikosen angebaut, aber die Haine sind verwildert und alt. Henni sagt, es gäbe einiges zu tun, wenn man den Hof wieder auf Vordermann bringen will. Wir überlegen, ob diese Aufgabe etwas für uns ist. Eigentlich hatten wir ja vor, in die Stadt zu ziehen. Ich wollte dort meine Ausbildung zur Krankenschwester fortsetzen, aber jetzt zögern wir.

Man soll eine Chance ja bekanntlich ergreifen, wenn sie sich einem bietet, aber ich bin unsicher. Was, wenn wir uns verkalkulieren? Andererseits wäre so ein Leben auf dem Land, inmitten von grünen Wiesen und den Bäumen, sicherlich etwas ganz Wunderbares, und jedes Mal wenn ich Hennis leuchtende Augen sehe, wenn er mir von dem Hof erzählt, frage ich mich, ob wir diesen Schritt nicht doch wagen sollten. Vielleicht frage ich Henni, ob wir uns den Hof demnächst einmal zusammen ansehen können.

2.

Nathalie donnerte mit Luise über die Autobahn. Es regnete zwar immer noch, aber das machte die Fahrt im Wageninneren zumindest einigermaßen erträglich. Denn aufgrund seines Alters verfügte der Polo über keine Klimaanlage, und Nathalie hatte schon mehrere Fahrten schwitzend und im Durchzug in ihrem Auto verbracht. Jetzt fuhren die Scheibenwischer wieder gleichmäßig über die Windschutzscheibe und ließen die gewohnten Schlieren darauf zurück. Im Radio lief gerade Mark Forsters »Sowieso«, und Nathalie versuchte, nicht an die guten Zeiten zu denken, die sie mit Elias erlebt hatte. Doch irgendwie wollte das nicht klappen. Ständig kamen ihr die schönen Momente in den Sinn, wie etwa als sie bei lauter Musik in ihrer kleinen Küche gesungen und gekocht hatten, als sie gemeinsam ein Möbelstück für ihre Wohnung restauriert oder aneinandergeschmiegt auf dem Sofa gelegen und über irgendeine alberne Fernsehserie gelacht hatten. Nathalie schluckte und wechselte den Sender. Trauer konnte sie jetzt nicht gebrauchen, sonst würde sie sich an einer Tankstelle auf der Rückbank zusammenrollen und weinen, bis keine Tränen mehr kamen. Nein, dazu würde sie es nicht kommen lassen. Entschlossen stellte sie einen Rocksender im Radio ein. Doch sie konnte es nicht verhindern, dass ihre Gedanken immer wieder zu Elias abschweiften.

Wann war das mit ihnen eigentlich so schiefgelaufen? Anfangs hatten sie sich doch geliebt. Nathalie war von seiner Spontaneität fasziniert gewesen und hatte es gemocht, dass er sie immer wieder überrascht hatte. Aber dann hatte sie irgendwann angefangen, sich nach etwas Festem zu sehnen, nach etwas Beständigem, doch da hatte Elias bereits sein halbes Leben umgekrempelt. Er hatte seinen Job in der Bank gekündigt, weil ihn ein Anzug mit Krawatte und feste Arbeitszeiten einengten und er, wie er sagte, keine Luft mehr bekam. Er wollte noch einmal neu anfangen, aber je freier er sein wollte, desto mehr hatte Nathalie gemerkt, wie sehr sie sich nach Sicherheit in ihrer Beziehung sehnte. Sie wünschte sich vielleicht sogar, irgendwann einmal zu heiraten und eine Familie zu gründen, ganz spießig, ganz altmodisch. Aber mit Elias hatte sie sich das irgendwie nicht so richtig vorstellen können. Wie sollte aus jemandem, der so unbeständig war wie er, je ein fürsorgender Vater werden? Elias wollte reisen und die Welt entdecken. Er wollte mit seinem Reiseblog Karriere machen. Und das – wie es schien – ohne sie.

Nathalie schluckte schwer und drehte die Musik noch etwas lauter auf. Jetzt bloß nicht heulen, dachte sie und überholte schwungvoll den Lkw, der vor ihr durch die Landschaft zuckelte und reichlich Wasser aufwirbelte.

Vielleicht war sie ihm einfach nicht spontan genug gewesen, überlegte Nathalie. Das war ein weiterer Streitpunkt der letzten Monate gewesen. Ha, jetzt sollte Elias sie mal sehen – diese Reise bewies eindeutig, dass sie durchaus spontan sein konnte! Und sie war nicht spießig, nur weil sie sich geweigert hatte, ihren Job ebenfalls zu kündigen und mit ihm auf Weltreise zu gehen. Sie hatte nur ein bisschen mehr Zeit gebraucht, um darüber nachzudenken, ob sie das auch wirklich wollte.

Anfangs war sie ja selbst vom Reisen ganz fasziniert gewesen. Sie war naturbegeistert, liebte das Gärtnern und hatte nie nur ihre Karriere im Kopf gehabt, aber gleichzeitig mochte sie es auch, ein Zuhause zu haben, einen Ort, zu dem man immer wieder zurückkehrte. Einfach von heute auf morgen alles aufgeben und ins kalte Wasser springen konnte sie nicht. Und vielleicht hatte sie Elias genau deshalb jetzt verloren.

Mittlerweile hatte Nathalie Freiburg im Breisgau hinter sich gelassen und nur auf dem ersten Teil der Strecke eine kleine Pause eingelegt. Sie fuhr nun schon seit einiger Zeit am Rhein entlang und würde bald den Grenzübergang erreichen. Nathalie sah auf die Uhr. Sie hatte nun fast die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, aber die Fahrt zog sich. Wenigstens hatte der Regen nachgelassen, und ganz langsam spitzten sogar die ersten Sonnenstrahlen wieder hinter den Wolken hervor. Das war doch ein gutes Zeichen, sagte sie sich.

Nathalie warf einen kurzen Blick aus dem Fenster und sah die vorbeifliegenden Felder und Wiesen, die nur selten von einer Stadt unterbrochen wurden. Sie spürte, wie sich die Ruhe der Natur auf sie übertrug. In Frankfurt war alles dicht an dicht gebaut, aber hier schien sie endlich wieder Luft zum Atmen zu haben und einen freien Kopf zu bekommen. Sie kurbelte das Fenster ihres Polos herunter und ließ frische Luft ins Auto. Die Sonnenstrahlen und der Luftzug zauberten ihr zumindest ein kleines Lächeln ins Gesicht.

Als es langsam dunkler wurde und Nathalie die Scheinwerfer einschalten musste, warf sie einen kurzen Blick auf die Navigations-App. Bis Dijon war es noch eine gute Dreiviertelstunde. Hier würde sie sich ein Motel oder einen Rasthof zum Übernachten suchen. Es wurde endlich Zeit, irgendwo einzukehren. Nathalie spürte, dass sie Kopfschmerzen bekam. Sie brauchte dringend ein Bett, um sich vom heutigen Tag zu erholen. Das letzte Stück der Strecke jagte sie ihr Auto über die Autobahn und nahm dann die Ausfahrt zum Rastplatz, der kurz vor Dijon endlich angeschrieben stand.

Als Nathalie am nächsten Morgen die Augen aufschlug, musste sie sich erst einmal orientieren. Das Zimmer, in dem sie lag, war in ein fahles Licht gehüllt, und die Vorhänge hielten das Tageslicht von draußen nur dürftig ab. Nathalie brauchte einen Moment, bis ihr alles wieder einfiel und die Erinnerungen mit einem dumpfen Schlag zurückkamen: Elias hatte ihr diese schreckliche Postkarte geschrieben, und sie war daraufhin Hals über Kopf losgefahren, um ihn zur Rede zu stellen. Abends war sie dann irgendwo in Frankreich in einem kleinen Motel eingekehrt, auf dem Weg an die Côte d’Azur, wo sie dann Elias suchen wollte …

Sie warf einen Blick auf ihr Smartphone. Es war kurz nach acht Uhr morgens. Miriam hatte ihr gestern Abend noch auf ihre kurze Nachricht geantwortet. Nathalie öffnete den Messenger und las die Nachricht ihrer Freundin: Die Hälfte der Strecke hast du schon! Schlaf dich aus. Und wenn was ist, melde dich!!!

Nathalie richtete sich auf und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, das sich vom Weinen ganz geschwollen anfühlte. Höchstwahrscheinlich sah sie aus wie Hulk – nur eben in Rot, statt in Grün.

Ob Elias mittlerweile etwas gepostet hatte? Sie nahm ihr Smartphone wieder in die Hand und öffnete seinen Reiseblog. Tatsächlich, da war ein neuer Beitrag. Er war in Antibes gewesen und beschrieb in seinem Blogeintrag die Schönheit der Altstadt und die Leuchtturmgruppe am Cap. Das Foto dazu trug Janas Namen im Copyright. Das reichte, um wieder all die Wut des Vortages in Nathalie wachzurufen. Sie sprang auf, um sich frisch zu machen und dann schnellstmöglich weiterzufahren. Jetzt wusste sie immerhin, wo sie Elias suchen musste. Während des Zähneputzens schickte sie Miriam den Link, recherchierte anschließend nach Campingplätzen in der Nähe und stellte fest, dass es davon nicht sonderlich viele gab. Sie konnte sie also problemlos abfahren.

Nathalie nahm eine schnelle Dusche, entschied sich für einen Rock kombiniert mit einem Sommertop, denn die Fahrt heute Richtung Süden würde sicherlich warm werden. Sie legte etwas Make-up und Wimperntusche auf, damit ihre Augen nicht ganz so verquollen aussahen, packte ihre Sachen zusammen und schlüpfte wieder in die Riemchensandalen. Dann checkte sie aus, kaufte sich ein kleines Frühstück, bestehend aus einem Café au Lait und einem Pain au Chocolat, und ein Frikadellenbrötchen und eine Wasserflasche für unterwegs und ging zu ihrem Auto. Nathalie legte ihre Brötchentüten und den Geldbeutel auf das Wagendach, stellte den Café au Lait und die Wasserflasche daneben und kramte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel.

Gerade als sie dabei war, ihren Koffer zu verstauen, hörte sie ein eigenartiges Geräusch. Es klang wie ein Fiepen. Verwundert sah sie sich um. Dann schloss sie den Kofferraum und bückte sich, um unter ihrem Auto nachzusehen. Nichts. Da hörte sie das Fiepen erneut. Nathalie ging vorsichtig ein paar Schritte von ihrem Auto weg, als sie neben einem Laternenpfahl eine Decke im Gras entdeckte. Sie lief darauf zu und sah, dass um den Laternenpfahl eine Hundeleine gewickelt war. Als sie sich hinkniete, wurde das Fiepen deutlich lauter.

»Hallo?«, wisperte sie, und dann entdeckte sie ein kleines Fellknäuel, das sich im Gebüsch versteckte. Nathalies Herz setzte einen Schlag aus. Hoffentlich war das Tier nicht verletzt. »Hey«, flüsterte sie wieder, und jetzt rührte sich das Fellhäufchen, das so flauschig war, dass es sie fast an ein Lämmchen erinnerte. Es hob seinen Kopf und schnupperte in die Luft.

Nathalie streckte vorsichtig eine Hand aus. Der Hund mit dem zottelig weißen Teddyfell hob seine Nase, schnüffelte kurz und tapste dann unsicher auf sie zu. Nathalie brach es fast das Herz, dass der Hund offenbar einfach hier auf dem Parkplatz zurückgelassen worden war. Dabei sah er eigentlich ganz niedlich aus. Kopf und Rücken waren hellbraun gefleckt, und auch sein linkes Ohr war braun gefärbt. Die ehemals schwarzen Knopfaugen waren milchig trüb, und Nathalie vermutete, dass er nicht mehr gut sah. Der Hund schnupperte an ihrer Hand, bis er mit seiner trockenen Nase dagegenstieß und ein bisschen irritiert den Kopf zurückzog.

Mit lautem Getöse brauste in diesem Moment ein weißer Lieferwagen auf dem Parkplatz an ihnen vorbei. Nathalie zuckte zusammen, und auch der Hund verkroch sich wieder im Unterholz. Das arme Tier! Nathalie schenkte dem Lieferwagen, der mit quietschenden Reifen zum Stehen kam, keine Beachtung. Rücksichtslose Idioten gab es überall. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem kleinen Hund, der sich da im Gestrüpp versteckt hatte.

»Salut, mon petit poussin!«, murmelte Nathalie sanft. »Ist schon gut. Du musst keine Angst haben. Ich tu dir nichts. Hat dich jemand etwa einfach so ausgesetzt?« Sie streckte wieder die Hand nach dem Hund aus und streichelte ihn behutsam.

Das Tier wich erschrocken zur Seite, schnupperte erneut, und als es ihren Geruch witterte, ließ es ihre Berührung zu. Der Hund war völlig verängstigt. Während Nathalie ihn behutsam kraulte, bemerkte sie sein rotes Halsband, an dem ein goldenes Plättchen hing. »Gustave« stand darauf eingraviert. Sie drehte es um, aber die Rückseite war leer. Auch sonst hatte der Hund keine Adresskapsel oder Hundemarke am Halsband. Nathalie sah sich um. Wer war denn bitte so herzlos und setzte heute noch einen Hund hier an einer Autobahnraststätte aus? Es gab doch inzwischen überall Tierheime!

Einer der Lastwagenfahrer, die nicht weit entfernt von ihr parkten, war auf sie aufmerksam geworden und beobachtete sie.

»Gehört der zu Ihnen?«, rief Nathalie auf Französisch in seine Richtung.

»Nee, der sitzt schon seit ein paar Tagen hier«, entgegnete der Fahrer.

»Das arme Tier!« Nathalie streichelte dem Hund mitleidig über den Kopf. »Haben Sie bei einem Tierheim angerufen oder hier im Motel Bescheid gegeben?«

»Beim Tierheim?« Der Lastwagenfahrer lachte, und jetzt sahen auch zwei seiner Kollegen in ihre Richtung.

»Was meinen Sie, was die mit dem machen?«, fragte ein anderer höhnisch. »Jetzt, in der Ferienzeit, ist er nicht der Einzige.«

»Genau«, bestätigte der erste. »Da ist das Tierheim doch völlig überfüllt. Und so einen will doch sowieso keiner mehr.«

Nathalie sah die beiden Männer entsetzt an und wandte sich dann wieder dem Hund zu, der sie erwartungsvoll anschaute.

»Du brauchst jetzt erst mal etwas zu trinken, Gustave«, sagte sie, stand auf und ging in Richtung ihres Autos. Dort stand eine Gruppe Jugendlicher an einem dunklen Kombi und rauchte. »Gehört der Hund vielleicht zu euch?«, fragte sie die vier Jungs, doch die schüttelten nur ihre Köpfe und verzogen sich dann schnell in ihren Kombi, um davonzubrausen. Nathalie zuckte mit den Schultern. Dann eben nicht, dachte sie sich.

Sie nahm ihre Wasserflasche und die Papiertüte mit dem Frikadellenbrötchen vom Autodach und ging damit wieder zu dem Hund zurück. Irgendwie fühlte sie sich dem armen Tier, das hier so einsam saß, seltsam verbunden. Sie schraubte den Deckel von der Flasche ab und ließ vor der Hundeschnauze etwas Wasser in ihre hohle Hand rinnen. Aber Gustave rührte sich nicht. Nathalie setzte sich auf den Asphalt am Straßenrand und stupste seine Schnauze vorsichtig mit ihrer feuchten Hand an. Jetzt reagierte das Tier und schnüffelte ihre Hand ab. Nathalie lächelte, und das hilflose Suchen des Hundes zog ihr das Herz zusammen.

»Hier, schau«, murmelte sie und ließ noch einmal etwas Wasser in ihre hohle Hand rinnen.

Dieses Mal trank er, und Nathalie musste kichern, als seine raue Zunge über ihre Hand kitzelte. Sie goss noch einmal etwas Wasser nach, und Gustave schlabberte so gierig danach, dass sie es in einem kleinen Rinnsal laufen lassen konnte. Erst nachdem er fast die halbe Flasche ausgetrunken hatte, schleckte er sich zufrieden über sein feuchtes Maul. »Das hat gutgetan, was?«, lobte sie ihn und streichelte ihm über den Kopf.

Gustave winselte zufrieden. Doch dann kam Leben in das Tier, und der Hund schnüffelte mit seiner pelzigen Schnauze über den Boden zielsicher auf die Tüte mit dem Frikadellenbrötchen zu. Sein Schwanz wedelte dabei freudig im Takt.

»Ja, das dachte ich mir.« Nathalie packte das Brötchen aus der Tüte.

Gustave schnupperte wieder, und als sie ihm ein Stückchen von der Frikadelle abriss und hinwarf, zuckte er zurück, weil das Fleischstück auf seine Schnauze gefallen war. Dann suchte er gierig den Boden ab, wobei er sich nicht sonderlich geschickt anstellte.

»Hier«, sagte Nathalie und wackelte mit ihrem Finger neben dem Frikadellenstück im Gras. Gustave brauchte eine Weile, bis er sich traute, es zu nehmen. Sein Vertrauen in Menschen schien nicht besonders groß zu sein, und Nathalie wollte gar nicht darüber nachdenken, was man dem armen Kerl womöglich schon alles angetan hatte. Sie riss das nächste Stück Fleisch ab und hielt es ihm unter die Nase. Es ihm direkt zu geben, klappte deutlich besser, auch wenn der Hund zuerst sehr vorsichtig und dann zunehmend immer gieriger fraß. Er setzte sich vor sie und stibitzte jedes Fleischstück ganz behutsam aus ihren Fingern, konnte es jedoch kaum erwarten, das nächste zu bekommen. Als er die Frikadelle komplett verspeist hatte, riss Nathalie auch das Brötchen in kleine Stücke, die er sich ebenfalls schmecken ließ.

»So, jetzt hab ich nichts mehr«, sagte sie.

Einer der Lkw-Fahrer, der sie von Weitem beobachtet hatte, rief ihr zu: »Jetzt werden Sie den kleinen Racker bestimmt nicht mehr los! Aber so einer hätte es wahrscheinlich verdient, dass sich endlich mal jemand um ihn kümmert.«

Nathalie sah erst Gustave und dann wieder den Lkw-Fahrer an. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich muss ihn jetzt wohl mitnehmen!«

Bevor sie ihre Entscheidung rückgängig machen konnte, stand Nathalie auf, band die Leine vom Laternenpfahl und packte die Decke zusammen. »Komm, Gustave, wir fahren zusammen an die Côte d’Azur.« Ganz selbstverständlich tappte der Hund neben ihr her, und als er zu ihr hochsah und ein bisschen mit dem Schwanz wedelte, wurde es Nathalie ganz warm ums Herz.

Sie ging mit Gustave zum Auto, öffnete die Beifahrerseite und legte seine Decke in den Fußraum. Gustave hatte sich neben die Tür gesetzt und wartete brav. »Na, was ist? Steigst du ein?«, fragte sie, doch der Hund legte nur wieder den Kopf schräg und schaute Nathalie an. Anscheinend verstand er sie nicht. Wie auch? Nathalie presste die Lippen zusammen. Tat sie wirklich das Richtige? Vielleicht entführte sie ja gerade einen wildfremden Hund. Andererseits … Sie konnte ihn ja auch nicht einfach hier sitzen lassen. »Also, mein Angebot steht«, sagte sie entschieden und klopfte mit ihrer Handfläche zweimal auf die Decke im Fußraum.

Das ließ sich Gustave nicht zweimal sagen. Er erhob sich und sprang in den Wagen.

»Alles klar.« Nathalie nickte bestätigend. Irgendwie fühlte sie sich sofort ein bisschen besser. »Ab jetzt also eine Reise zu zweit.« Sie ging um ihr Auto herum und wollte gerade einsteigen, als ihr noch etwas einfiel. »Du musst allerdings kurz auf mich warten«, sagte sie dann zu dem Hund, der es sich mittlerweile im Fußraum gemütlich gemacht hatte. »Ich muss noch etwas erledigen.«

Mit raschen Schritten lief Nathalie zum Motel zurück. Sie wollte wenigstens ihre Handynummer hinterlassen, falls es sich der Besitzer doch anders überlegte und Gustave zurückwollte. Dann stieg sie in ihren Wagen und sah lächelnd zu ihrem neuen Reisegefährten, der wedelnd im Fußraum des Beifahrersitzes stand und sie so begrüßte, als sei sie stundenlang weg gewesen.

»Ist ja gut.« Nathalie tätschelte ihm zur Beruhigung den Kopf, doch Gustave bekam sich vor Freude kaum in den Griff. Er war sichtlich begeistert, dass er jetzt nicht mehr allein war. Und Nathalie musste zugeben: sie auch. Sie startete den Motor und lenkte ihren Wagen wieder auf die Autobahn zurück.

Mittlerweile hatte Nathalie Mâcon, Lyon und Valence hinter sich gelassen. Die Sonne stand hoch am Himmel und heizte das Wageninnere auf. Nathalie ließ das Fenster der Fahrerseite herunter, und ein paar ihrer Haarsträhnen flogen im Wind. An einer Péage-Station reihte sie sich in die Autoschlange ein und suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Geldbeutel. Wo war er nur? Nathalie zuckte zusammen. Hatte sie ihn in der Aufregung etwa auf dem Autodach vergessen? Beim nächsten Rastplatz würde sie rausfahren und noch einmal alles gründlich absuchen. Sie nahm ein paar Münzen vorne aus der Ablage hinter dem Schaltknüppel, zahlte und fuhr weiter.

Angespannt trat sie das Gaspedal durch. Jetzt war sie doch etwas unruhig. Normalerweise packte sie ihren Geldbeutel doch immer direkt wieder in die Handtasche zurück, um ihn stets griffbereit zu haben, aber Gustaves Fiepen hatte sie vorhin wohl aus dem Konzept gebracht. Die Autobahnschilder flogen an ihr vorbei, und Nathalie wurde beinahe wahnsinnig, weil keines davon einen Rastplatz ankündigte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit war eine kleine Möglichkeit zum Halten ausgeschildert. Sie setzte den Blinker und nahm die Ausfahrt. Es war ein kleiner Parkplatz mit zwei Bänken und einem silbernen Toilettenhäuschen, das sie lieber nicht von innen sehen wollte, aber hier wollte sie ja ohnehin nicht lange bleiben. Sie brachte ihren Wagen auf dem gepflasterten Seitenstreifen zum Stehen, suchte den Fußraum der Beifahrerseite ab, doch da stupste sie nur eine feuchte Hundeschnauze an. Nathalie stieg aus und lief mit eiligen Schritten zum Kofferraum. Doch auch da war kein Geldbeutel!

In Gedanken ging sie noch einmal die Situation durch: Sie hatte ihr Frühstück auf dem Autodach abgelegt. Hatte sie da etwa auch ihren Geldbeutel …? Sie durchsuchte noch einmal gründlich ihre Handtasche, doch das Ergebnis blieb dasselbe. Der Geldbeutel war weg.

»So ein Mist«, murmelte sie tonlos, und ein eisiger Schauer überlief sie wie bei einer kalten Dusche. Was sollte sie jetzt nur tun? Verzweifelt biss sie sich auf die Unterlippe und ließ in Gedanken noch einmal die Situation Revue passieren. Da war dieser Lastwagenfahrer, aber den hatte sie doch eigentlich fast die ganze Zeit im Blick gehabt. Dann war da noch der weiße Lieferwagen gewesen, der an ihr vorbeigeprescht und unweit von ihr geparkt hatte. Und was war mit diesen Jugendlichen aus dem dunklen Kombi, die sich so eigenartig verhalten hatten? Nathalie rieb sich mit den Fingerspitzen ihre pochenden Schläfen. Hatte sie ihr Auto abgeschlossen, als sie dem Fiepen nachgegangen war? … Nein, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte ihr Frühstück auf das Autodach gelegt, den Geldbeutel daneben, und dann war sie weggegangen. Nathalie schloss die Augen und ließ sich auf den Randstein sinken, der die gepflasterte Parkbucht von der angrenzenden Wiese trennte. Hatte sie womöglich ihr Portemonnaie einfach auf dem Autodach vergessen und war losgefahren? Das war ihr noch nie passiert. Und das gerade jetzt!

Vielleicht hatten die Jugendlichen das auch gesehen und ihre Chance genutzt. Ganz bestimmt sogar! Sie hatte gleich so ein eigenartiges Gefühl gehabt, als sie die Jungs in der Nähe ihres Autos gesehen hatte. O Gott, am Ende hätte die Bande noch ihren Wagen geklaut, wenn sie den Zündschlüssel auch noch stecken gelassen hätte. Hatte sie? Nathalie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Alles war so eigenartig und ungewöhnlich gewesen. Rasch suchte sie auf ihrem Smartphone die Telefonnummer des Rastplatzes heraus, aber natürlich hatte niemand ein gefundenes Portemonnaie abgegeben. Nathalie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und atmete tief durch. Das fehlte ihr jetzt wirklich noch zu ihrem Unglück, dass das Geld weg war, ihr Personalausweis, ihre Bankkarte – einfach alles, was sie dringend brauchte.

Sie ballte die Hände zu Fäusten und versuchte verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten, die sich unerbittlich in ihr nach oben kämpfen wollten, seit sie Elias’ Postkarte gelesen hatte. Sie durfte jetzt nicht nachgeben, denn wenn sie erst einmal so richtig mit dem Weinen anfangen würde, dann würde sie vermutlich nie wieder aufhören können. Sie musste sich zusammenreißen und versuchen, einen klaren Kopf zu behalten. Zuallererst musste sie die Polizei anrufen und melden, dass … Ach, verdammt, was sollte sie denen denn erzählen? Dass sie von ein paar Jugendlichen ausgeraubt worden war, wo es doch viel wahrscheinlicher schien, dass sie ihren Geldbeutel einfach auf dem Autodach vergessen hatte?

Sie musste ihre Bankkarte sperren lassen! Nathalie recherchierte die Banknummer und erklärte in wenigen Sätzen ihre Misere, doch das angebotene Notfallpaket konnte sie sich nirgendwohin schicken lassen. Sie hatte ja keine Bleibe, und noch mal ein paar Nächte irgendwo verbringen und darauf warten, wollte sie nicht. Aber welche Möglichkeit hatte sie sonst?

Ohne dass sie es verhindern konnte, traten ihr jetzt doch Tränen in die Augen. Sie legte den Kopf in den Nacken, atmete mehrmals tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. In was für einen Schlamassel hatte sie sich da nur hineingeritten? Miriam hatte von Anfang an gesagt, dass sie es lieber bleiben lassen sollte. Aber das half ihr jetzt auch nicht weiter. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer ihrer Freundin.

Als Miriam das Gespräch entgegennahm, fiel Nathalie ein Stein vom Herzen.

»Ich hab meinen Geldbeutel verloren!«, schluchzte sie ohne Begrüßung ins Telefon.

»Guten Morgen … Was?« Miriam, die eben noch verschlafen geklungen hatte, war sofort hellwach. »Wie kann ich dir helfen? Soll ich dir Geld in ein Hotel schicken?«

Nathalie lächelte schniefend. Auf ihre Freundin war wirklich immer Verlass. »Das ist lieb, aber ich bin irgendwo hinter Valence und überlege jetzt, was ich machen soll. Das alles war eine ganz blöde Idee. Ich hätte einfach zu Hause bleiben sollen.«

»So ein Quatsch!«, sagte Miriam sofort. »Jetzt bist du schon so weit gekommen. Wenn du weißt, wo du erst mal bleiben wirst, dann ruf mich an, und ich überweise dir etwas.«

»Das ist echt lieb von dir«, sagte Nathalie gerührt.

»Hast du denn deine Karte schon sperren lassen?«

»Ja, das habe ich gerade gemacht.« Nathalie seufzte. »Ich war so dumm, Miriam. Ich hab den Geldbeutel einfach aufs Autodach gelegt und dort wohl vergessen …«

»O nein, wie ärgerlich!«, sagte Miriam mitfühlend. »Aber es ist auch kein Wunder, dass du wegen Elias so neben der Spur bist.«

»Ehrlich gesagt, ist es dieses Mal gar nicht wegen Elias, sondern wegen Gustave«, gab Nathalie halblaut zu.

»Gustave?«, fragte Miriam überrascht. »Wer ist Gustave? Hast du etwa schon jemand Neuen?«

Im selben Moment war ein Fiepen aus dem Auto zu hören.

Nathalie stützte sich mit einer Hand auf dem Oberschenkel ab und stand auf. Oje, der arme Hund. Er hatte die ganze Zeit geduldig im Auto gewartet, während sie ihrer Freundin ihr Herz ausgeschüttet hatte. Rasch öffnete sie die Beifahrertür und ließ Gustave aus dem Auto, der sofort schnüffelnd die Gegend erkundete.

»Ja, und ich fürchte, es ist was Ernstes. Warte …« Nathalie machte rasch ein Foto von ihm.

Wie erwartet, brach Miriam am anderen Ende der Leitung sofort in Entzücken aus: »Ist der niedlich! Wo hast du den denn her?«

»Den habe ich ander Raststätte gefunden. Wahrscheinlich hat ihn dort jemand ausgesetzt.«

»Wie herzlos! Wer macht denn so was?«

Nathalie seufzte. »Ich weiß es nicht, aber ich konnte ihn jedenfalls nicht dort sitzen lassen. In der ganzen Aufregung hab ich dann wohl meinen Geldbeutel vergessen.«

»Ist ja nur verständlich. Aber sag mal, was machst du jetzt?«

Das war eine gute Frage. Hier konnte sie auf keinen Fall bleiben.

»Ich weiß es nicht«, sagte Nathalie ehrlich. »Aber viele Möglichkeiten habe ich nicht. Entweder ich drehe um und blase die ganze Aktion ab, oder ich fahre weiter und schlage mich durch.«

»Ich finde, du solltest weiterfahren«, antwortete Miriam. »Und wenn du was brauchst, dann melde dich.«

»Danke«, sagte Nathalie lächelnd. »Ich überlege es mir.«

»Okay, aber schreib mir unbedingt, wie du dich entschieden hast, ja?«

»Mache ich.« Nathalie legte auf und sah zu Gustave, der gewissenhaft jeden Zentimeter des Wiesenstücks inspizierte. Der Tank ihres Autos war noch recht voll, aber ob das bis Antibes reichen würde? Sie gab den ersten Campingplatz dort in ihr Handy ein. Noch knapp dreihundert Kilometer. Sie könnte es drauf ankommen lassen, einfach nach Antibes fahren, und vielleicht hatte sie Glück und würde Elias dort finden. Dann könnte sie zu ihm gehen, die fünftausend Euro zurückfordern, ihm all ihre angestaute Wut entgegenschleudern und mit dem Geld locker wieder zurückfahren.

Aber was, wenn sie schon vorher irgendwo stecken blieb? Dann stand sie möglicherweise mitten auf der Autobahn und musste hoffen, dass jemand ein Herz hatte und anhielt, um ihr zu helfen. Oder sie fuhr die nächste Ausfahrt ab, suchte sich dort eine Bleibe und erklärte ihre Situation. Vielleicht könnte sie dort unterkommen, bis Miriam ihr das nötige Geld für die Heimreise überwiesen hatte, für Sprit oder ein Zugticket vielleicht, nachdem sie selbst den netten Pensionsbesitzern erklärt hatte, dass sie kein Leben als Landstreicherin führte. Aber wollte sie jetzt einfach so aufgeben? Wollte sie Elias wirklich gewinnen lassen?

Gustave trottete zu ihr zurück, legte sich neben sie und beobachtete sie mit seinem Hundeblick.

»Was meinst du, was sollen wir machen?«, fragte sie und hörte zu ihrem Erschrecken, wie verzweifelt sie klang.

Als er ihre Stimme hörte, hob der Hund seinen Kopf von den Vorderpfoten und schnupperte interessiert in ihre Richtung. Nathalie nahm den zotteligen Kopf in beide Hände und kraulte das Tier hinter den Ohren. Das weiche, warme Fell unter ihren Fingern tröstete sie ein wenig. Gustave blinzelte mehrmals, dann sah er sie wieder aus großen Augen an.

Nathalie schmolz dahin wie Butter, und es wurde ihr gleich ein klitzekleines bisschen leichter ums Herz. Dann stupste Gustave sie aufmunternd an und bellte zweimal.

»Du hast recht«, sagte sie entschieden. »Ich gebe nicht auf! Wir zwei lassen uns nicht unterkriegen! Wir fahren weiter, und dann rechne ich mit diesem Idioten ein für alle Mal ab! Und falls wir doch irgendwo stranden, werden wir bestimmt jemanden finden, der uns hilft. Und vielleicht haben wir Glück, und wir können irgendwo auf Kredit tanken oder übernachten oder finden eine Streuobstwiese oder ein Restaurant, das es gut mit uns meint.« So wie damals in ihrem Urlaub mit Elias … schoss es Nathalie durch den Kopf, und der Stich in ihrer Brust ließ ihr Herz einen Moment stolpern. Aber darauf wollte sie jetzt nicht hören.

Wir fahren weiter!, schrieb sie Miriam. Dann ließ sie Gustave wieder auf der Beifahrerseite einsteigen und klemmte sich selbst hinters Lenkrad. Sie wählte in ihrem Smartphone eine Route nach Antibes aus, drehte den Zündschlüssel und fuhr wieder auf die Autobahn.

Zwischen Montélimar und Avignon entschied Nathalie, von der Autobahn zu fahren, um die Mautgebühren zu sparen. Sie wollte lieber über Land fahren und das bisschen Geld, das sie noch in der Mittelkonsole hatte, für etwas zu trinken aufheben. So würde sie wenigstens auch etwas von der Landschaft sehen. Das konnte doch bestimmt nicht schaden, wenn sie schon unterwegs war.

Sie setzte ihren Blinker bei der Ausfahrt von Avignon, und schon beim Herunterfahren wurde sie von der überwältigenden Umgebung der Provence in Empfang genommen. Vor ihr lag eine hügelige Landschaft, durchzogen von grünen Waldstücken, kargen Felsen und bewirtschafteten Feldern. Unter einem leuchtend blauen Himmel, über den einige wenige Wolken träge dahinzogen, spannte sich die malerische Natur, die sich aus Bäumen, Weinbergen und Olivenhainen zusammensetzte. Dazwischen erstreckte sich, einer Patchworkdecke gleich, das berühmte lilafarbene Meer blühender Lavendelfelder. Eine Ruine aus einem früheren Jahrhundert thronte inmitten der sommerlichen Farbenpracht und erinnerte an ein längst vergessenes Märchen. Immer wieder sah Nathalie auch kleine Ansammlungen alter Steinhäuser, deren schwarzer Name auf einem weißen, rot umrahmten Ortsschild der einzige Hinweis darauf war, dass dies ein Dorf war, und die so aussahen, als hätte ein Riese seine Würfel gerade über die Äcker geworfen. Am Wegesrand fanden sich Kräuter, und zwischen den Feldern ragten Zypressen wie spitze Nadeln in den Himmel. Nathalie ließ jetzt auch die andere Fensterscheibe auf Gustaves Seite herunter, und der betörend süße Geruch des Lavendels stieg ihr in die Nase, dazu der Rosmarin und ein Duft, den Nathalie nicht zuordnen konnte. Zum ersten Mal seit ihrer spontanen Wahnsinnsaktion hatte sie das Gefühl, ein klein wenig aufzuatmen.

Nathalie war von den kräftigen Farben und der schier endlosen Weite der Natur überwältigt. Alles wirkte so schön, so friedlich und rein, dass sie ganz vergaß, warum sie eigentlich hier war. Sie ließ die Landschaft, die an ihr vorbeizog, auf sich wirken und merkte, wie sich mit jedem Kilometer ihre Gedanken ein wenig beruhigten und sich ihr Geist ein bisschen mehr öffnete. Das sorgte zwar dafür, dass die Wut weniger und der Schmerz etwas mehr wurde, aber so war das nun einmal nach dem Ende einer so langen Beziehung. Sie konnte sich nicht ewig etwas vormachen und so tun, als würde ihr die Trennung nicht wehtun. Trotzdem hatte sie das Gefühl, während der Fahrt durch die wunderbare Landschaft etwas zur Ruhe zu kommen. Vielleicht konnte sie nach dem Gespräch mit Elias hier in der Nähe ihre Akkus wieder etwas aufladen und vielleicht auch herausfinden, was sie jetzt mit ihrem Leben anfangen wollte. Ja, es war eine gute Entscheidung gewesen, weiterzufahren – und diese Fahrt überhaupt anzutreten. Manchmal konnte man einfach nicht absehen, wofür manche Dinge gut waren.

Auf Nathalies Gesicht breitete sich ein kleines Lächeln aus. Es war hier einfach wunderschön, so wunderschön, dass sie all ihren Schmerz und die Wut für einen Moment vergessen konnte.

Die Landschaft veränderte sich und wurde hügeliger, und Nathalies Polo kämpfte sich eine kurvige Straße hinauf. Der Wagen schnaufte und ächzte dabei, und Nathalie hatte den Eindruck, dass es ihrem Auto womöglich auch zu warm war. Sie würde ihm bald eine Pause gönnen, aber hier, im Hinterland der Provence, gab es, abgesehen von der malerischen Natur, absolut nichts. An der letzten Häuseransammlung war sie bestimmt schon vor über zwanzig Minuten vorbeigekommen, und die vereinzelten Häuschen, die vor ihr immer mal wieder auftauchten, sahen inmitten der flirrenden Lavendelfelder und Olivenplantagen eher aus wie kleine Gartenlauben oder Ferienhäuschen. Nathalie trat behutsam die Kupplung und schaltete einen Gang runter. Es galt, ihr Auto zu schonen, während sie sich Kurve für Kurve bergauf kämpfte.

Der Wagen begann zu rattern, das Schnaufen wurde lauter, und dann gab es plötzlich einen Knall, und das Tempo des Autos verlangsamte sich so rasch, dass Nathalie nur wenige Meter später am Straßenrand zum Stehen kam. Aus der Motorhaube quoll weißer Rauch empor. Das durfte doch nicht wahr sein! Mit einer energischen Handbewegung zog sie die Handbremse, denn der Polo machte Anstalten, den Hügel rückwärts wieder hinunterzurollen.

»O nein«, murmelte Nathalie, der nichts Gutes schwante. Panik machte sich in ihr breit.

Sie stieg aus und versuchte, die Motorhaube zu öffnen, aber die strahlte so eine Hitze aus, dass sie sie unmöglich mit bloßen Händen anfassen konnte. Ihr fiel nichts Besseres ein, als mit einem Zipfel ihres Rocks die Motorhaube zu öffnen, und anschließend musste sie erst einmal kräftig husten, als ihr noch mehr Rauch ins Gesicht schlug. Nathalie stemmte die Hände in die Hüften und sah ratlos auf das Innere des Wagens. So schwer konnte das doch nicht sein. Mit einem prüfenden Blick begutachtete sie die einzelnen Teile, doch alles, was sie ausmachen konnte, war die Einfüllöffnung für Scheibenwischwasser und die Abdeckung der Autobatterie, mit der sie Miriams Wagen im Winter einmal überbrückt hatte. Vorsichtig beugte sie sich über die unterschiedlichen Schläuche und Kabel, aber alles war viel zu heiß, um auch nur irgendetwas anzufassen, und, ehrlich gesagt, hatte sie auch keine Ahnung, wo der Fehler liegen könnte. Nathalie musste sich eine Sache ganz dringend eingestehen: Im Gegensatz zu Elias hatte sie vom Inneren eines Autos nicht die geringste Ahnung. Das Einzige, was er ihr einmal gezeigt hatte, war, wie man den Ölstand maß, und da sie keine andere Idee hatte, zog sie schließlich den Ölmessstab an seinem gelben Plastikring heraus und wischte ihn an einem Taschentuch ab. Dann tauchte sie ihn wieder ein und las den Stand ab. Zumindest der war in Ordnung. Nathalie wischte sich nachdenklich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.