Das Grab der Lüge - Ben Worthmann - E-Book

Das Grab der Lüge E-Book

Ben Worthmann

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Beschreibung

'Das Grab der Lüge' ist ein fesselnder Mix aus Liebesroman und Psychothriller, in dem Schuld und Versagen die zentralen Themen sind. Philipp, Anfang vierzig, war ein zufriedener Mann – bis sein gewohntes Leben von einem Tag auf den anderen in Trümmer fiel. Aber ebenso plötzlich bescherte ihm das Schicksal eine neue Chance. Zunächst glaubte er sie nutzen zu können, zumal er auch noch einer schönen jungen Frau begegnete. Doch dann beging er den Fehler seines Lebens, indem er einen Todesfall auf sehr spezielle Weise zu regeln versuchte, anstatt ihn der Polizei zu melden. Und von da an lief alles nur noch schief. +++ Dies ist keine übliche Krimi-Kost. Ähnlich wie bei seinen anderen Thrillern baut der Autor auch hier die Spannung langsam und von innen her auf. +++ Außerdem von Ben Worthmann im Handel: "Die Frau am Tor", "Nocturno", "Tödlicher Besuch", "Auf gute Nachbarschaft" und "In einer Nacht am Straßenrand" sowie die Familienromane "Etwas ist immer", "Meine Frau, der Osten und ich" und "Leben für Fortgeschrittene". Ferner gibt es von ihm ein Hundebuch mit dem Titel "Der kleine Hundephilosoph".

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Ben Worthmann

Das Grab der Lüge

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Grab der Lüge

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

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20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

Impressum neobooks

Das Grab der Lüge

Von Ben Worthmann

Copyright @2015: Ben Worthmann

Cover: Dunja Meyers

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist ausdrücklich nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors gestattet.

Über dieses Buch:

Philipp, Anfang vierzig, war ein zufriedener Mann – bis sein gewohntes Leben von einem Tag auf den anderen in Trümmer fiel. Aber ebenso plötzlich bescherte ihm das Schicksal eine neue Chance. Zunächst glaubte er sie nutzen zu können, zumal er auch noch einer schönen jungen Frau begegnete. Doch dann beging er den Fehler seines Lebens, indem er einen Todesfall auf sehr spezielle Weise zu regeln versuchte, anstatt ihn der Polizei zu melden. Und von da an lief alles nur noch schief.

Über den Autor:

Ben Worthmann hat bisher die Psychothriller „Die Frau am Tor“, „Nocturno“, "Tödlicher Besuch", "Auf gute Nachbarschaft" und „In einer Nacht am Straßenrand“ sowie die Familienromane „Etwas ist immer“, „Meine Frau, der Osten und ich“ und „Leben für Fortgeschrittene“ geschrieben. Er ist als Schriftsteller und Journalist tätig.

1.

Es war ein schöner, nicht zu heißer Sommer, mit sonnigen Tagen und kühlen Nächten, in denen es manchmal regnete. Die Natur stand in voller Pracht. Zum ersten Mal seit längerer Zeit hatte Philipp das Gefühl, allmählich wieder zur Ruhe zu kommen und zu sich selbst zu finden. Tag für Tag war er draußen. Er beschäftigte sich vor allem damit, den teilweise verwilderten großen Garten herzurichten. Und er unternahm lange Spaziergänge. Das gesamte Grundstück einschließlich mehrerer Hektar Wald, die dazugehörten, war noch um einiges größer, als er ursprünglich gedacht hatte. Und jenseits der Markierungen konnte er stundenlang über einsame Wege zwischen Koniferen, Buchen und Eichen wandern, ohne einem Menschen zu begegnen.

Das war genau nach seinem Geschmack. Er merkte, dass ihm die viele Bewegung an der frischen Luft guttat. Außerdem hatte er sich angewöhnt, täglich eine halbe Stunde lang Gymnastik zu machen – Sit-ups, Liegestütze und Klimmzüge an einem querstehenden Ast einer Fichte neben dem Haus. Die Sonne bräunte ihn, er nahm ein paar Kilo ab, fühlte sich straffer und voller Spannkraft wie lange zuvor nicht in seinem früheren Großstadtleben. Abends ging er zeitig zu Bett und war am Morgen schon gegen sechs Uhr wieder auf den Beinen.

Nur selten fuhr er seinen PC hoch. Sein Handy hatte er nie dabei, sondern ließ es abgeschaltet in der Schublade des Schreibtischs liegen. Irgendwann einmal würde er vielleicht häufiger hier sitzen, um etwas zu schreiben, Essays für Literaturmagazine oder auch endlich das Buch, das er schon immer hatte schreiben wollen, aber noch nicht jetzt. Anfangs hatte er ein paar Mails und SMS erhalten, von alten Kollegen und einigen seiner Bekannten, die er in der großen Stadt zurückgelassen hatte. Keine davon hatte er beantwortet. Nur seinem früheren Chefredakteur Roland Weidenfeld, der ihn mehrfach zu erreichen versucht und dringlich gebeten hatte, sich wegen gewisser bürokratischer Formalitäten im Zusammenhang mit Ausscheiden und Abfindung zu melden, schrieb er zurück: „Hallo Roland, den Philipp Kamphausen, den du kanntest, gibt es nicht mehr. Mein Anwalt und Finanzberater Horst Meinecke wird sich in dieser Angelegenheit mit dir in Verbindung setzen.“

Dann ging er hinaus und machte sich mit Handsäge und Beil über einen Baumstamm her, um Brennholzvorräte für den Kamin anzulegen. Während er arbeitete, bis ihm die Muskeln schmerzten, überlegte er, dass er jederzeit in seinen Wald gehen konnte, um einen passenden Baum zu schlagen, falls er Nachschub brauchte. Wenn das nicht wahre Unabhängigkeit war.

Später rief er Horst Meinecke an und sie machten aus, dass dieser ihn am übernächsten Abend besuchen würde. Überhaupt sei es allmählich an der Zeit, sich endlich einmal in Ruhe zusammenzusetzen, fanden beide. Bisher hatten ihre Gespräche immer nur in Meineckes Kanzlei stattgefunden und waren mehr oder weniger geschäftlicher Art gewesen. Philipp erwähnte, dass es im Keller nicht nur eine Sammlung guten Rotweins gebe, sondern auch ein beachtliches Sortiment feinen Whiskeys. Das sei ihm durchaus bekannt, sagte der Anwalt, schließlich sei er ja früher häufiger bei dem alten Herrn zu Gast gewesen. Und nicht selten habe er anschließend sein Auto stehen lassen und sich ein Taxi für die Heimfahrt bestellen müssen.

Diesmal kam er gleich zu Fuß. Wie immer trug er einen tadellos sitzenden Anzug, aber jetzt ohne Krawatte und mit offenem Kragen, und als er beim Haus angelangt war, zog er sein Jackett aus und krempelte sich die Hemdsärmel ein Stück auf.

„Puh, solch eine Wanderung zu Ihnen hinaus kann einen alten Mann dann doch ganz schön ins Schwitzen bringen“, meinte er und wischte sich mit einem Taschentuch über die hohe Stirn. Es war ein sehr milder, fast zu warmer Abend. Sie beschlossen, es sich draußen auf der überdachten, schmalen Terrasse bequem zu machen, wo eine hübsch geschnitzte Bank und ein kleiner Tisch standen. Sie ging nach vorn heraus, mit einem Durchgang zum Wohnzimmer, und da das Fundament des Hauses nicht ebenerdig abschloss, sondern ein Stück aus dem Boden herausragte, hatte sie vom Garten aus einen Aufgang mit fünf Stufen, genau, wie zur Haustür ein entsprechender Treppenaufgang führte.

Philipp brachte eine Flasche Glenfiddich, Wasser und Eis sowie ein bisschen Knabberzeug. Zu Abend gegessen hatten sie beide schon vorher. Philipp dachte nicht daran, sich zu betrinken, auf gar keinen Fall wollte er das, aber er hielt es doch für vertretbar, sich jetzt mal einen Schluck zu gönnen.

„Und? Schon ein bisschen heimisch geworden inzwischen? Jedenfalls scheinen Sie ja eifrig dabei, Ihren neuen Besitz so richtig in Beschlag zu nehmen“, meinte Meinecke und schaute sich anerkennend um. Er war ein ziemlich kleiner, fast zierlicher Mann von Ende fünfzig mit Halbglatze und Brille. Er redete ziemlich schnell und benutzte oft die schmalen Hände, um seinen Worten mit lebhaften Gesten Nachdruck zu verleihen. Und er hatte einen angenehmen, etwas spröden Humor. Philipp hatte ihn zu schätzen gelernt, auch wenn ihre Gespräche bis dahin kaum je privater oder persönlicher Natur gewesen waren.

„Nun ja, es ist schon eine ganze Menge Arbeit, aber ich habe ja Zeit und zum Glück nichts anderes zu tun. Ich merke, dass mir die körperliche Arbeit guttut. Und außerdem gibt es ja hier immer noch viel zu entdecken.“

Sie stießen an und tranken. Der Anwalt machte eine lobende Bemerkung. Philipp verstand nicht viel von Whiskey, aber dass dies hier ein guter war, merkte auch er und genoss die wohlig weiche wärmende Wirkung. Er brachte die Sprache auf die Abfindung. Meinecke musste ein bisschen schmunzeln, weil Philipp ihn als Finanzberater bezeichnet hatte und meinte, im Grunde sei er das ja auch, „genau wie für Ihren, nun ja, Vorgänger, wenn man so sagen will.“

„Zum Glück“, sagte Philipp. „Allein wäre ich sonst ziemlich aufgeschmissen.“

„Diese Sache mit Ihrem früheren Arbeitgeber werde ich natürlich regeln, kein Problem. Um wie viel geht’s denn bei der Abfindung?“

„Fünfzigtausend.“

„Na, immerhin, das ist kein Pappenstiel, wenn auch nicht gerade die Welt für jemanden in Ihren Verhältnissen. Andere würden sich da jedenfalls nicht lange bitten lassen und umgehend noch mal bei ihrem früheren Chef vorbeischauen. Aber Sie scheinen ja mit all dem endgültig abgeschlossen und nur noch ihre Ruhe haben zu wollen.“

„Stimmt, ja, da haben Sie recht.“

„Täusche ich mich oder haben Sie sich bisher regelrecht so ein bisschen verkrochen? Das ist ja fast ein Einsiedlerleben, das Sie hier führen. Nicht gerade das, was eigentlich von einem jungen, attraktiven und obendrein wohlhabenden Mann zu erwarten wäre. Ich sage Ihnen, im Ort wird schon ganz schön getuschelt und geredet über Sie. Vielleicht sollten Sie doch so allmählich mal ein bisschen Kontakt zu den Eingeborenen hier aufnehmen. Immerhin gehören Sie ja hier nun zu den oberen Zehntausend. Wobei das vielleicht etwas übertrieben ist. Obere Hundert wäre wohl passender bei gerade mal gut zwanzigtausend Einwohnern“, korrigierte er sich sogleich. „Fünfzig würden es zur Not auch tun.“

„Alles zu seiner Zeit“, antwortete Philipp. „Dieses Einsiedlerleben hier bekommt mir bisher ganz gut. Ich brauche noch ein Weilchen ganz für mich.“

Das Haus lag ungefähr eineinhalb Kilometer außerhalb der kleinen Stadt, völlig abgeschieden, ohne Nachbarn. Das letzte Stück der schmalen asphaltierten Straße, die größtenteils durch den Wald dorthin führte, war als Privatweg ausgewiesen. Er endete vor einem großen, zweiflügeligen Tor aus verschnörkeltem Schmiedeeisen, an dem sich eine Klingel und der Briefkasten befanden. Es bildete den Durchlass, auch für Fahrzeuge, in der gut halbhohen, teils mit efeubewachsenen Mauer aus Bruchsteinen, die das eigentliche Hausgrundstück mit einer Fläche von rund anderthalbtausend Quadratmetern umgab. Vom Tor führten ein plattierter Weg zur Haustür an der linken Seite und ein weiterer, breiterer aus Pflastersteinen zu der Remise, die ein Stück abseits an der rechten Grundstückseite stand. Die Fläche davor nutzte Philipp als Stellplatz für seinen Wagen.

Nur einige Male war er bisher in den Ort gefahren, um sich mit Lebensmitteln einzudecken, Anmeldeformalitäten im Rathaus zu erledigen und bei der Bank vorbeizuschauen, um ein neues Konto einzurichten. Dass man ihm dort mit besonderer Freundlichkeit begegnete, überraschte ihn zwar nicht, vermittelte ihm aber doch ein sehr ungewohntes Gefühl.

Meinecke betrachtete ihn mit schräg gelegtem Kopf und lächelte.

„Na ja, so ein gewisser Hang zum Eremitendasein hängt wohl hier im Mauerwerk. Aber im Ernst, ein bisschen gewundert hat es mich schon, wie schnell Sie bereit waren, Ihre Zelte in der Großstadt so gründlich abzubrechen und hierher aufs Land zu ziehen, in dieses biedere Nest. Das hatte ja fast etwas von einer Flucht. Ich hätte gedacht, dass Sie etwas mehr Bedenkzeit benötigen würden, egal, was Sie hier an Besitz erwartet. Lassen Sie mich raten. Eine Frauengeschichte? Stress im Job? “

Philipp zögerte einen Moment. Dann füllte er die Gläser nach, sie stießen erneut an und er begann zu erzählen, was ihm widerfahren war - die ganze schreckliche, verrückte Geschichte. Als er geendet hatte, atmete sein Besucher tief durch und sagte nur: „Du lieber Himmel, das ist ja kaum zu glauben. Manchmal passieren wirklich Dinge im Leben ...“

2.

In letzter Zeit hatte Philipp viel über sich und sein Leben nachgedacht und darüber, wie es knapp dreiundvierzig Jahre lang verlaufen war, bis es dann plötzlich und ganz unverhofft eine solch abrupte, verrückte Wende genommen hatte. Aber gesprochen hatte er darüber bisher mit niemandem. Der Boden war ihm unter den Füßen weggerissen worden, er hatte in den Abgrund geschaut und nicht mehr ein noch aus gewusst. Und jetzt war er ein wohlhabender Mann, mit Grundbesitz und dickem Bankkonto, wohnte wieder in einer Kleinstadt ähnlich jener, aus der er damals nach dem Abitur förmlich geflohen war, um ihrer Enge zu entkommen, und mindestens einmal pro Tag ertappte er sich bei dem Gedanken, dass das alles doch nur ein großer Irrtum sein konnte. Über kurz oder lang würde gewiss jemand kommen und ihn bei der Schulter packen und wachrütteln und sagen: „Hey, alter Junge, sorry, du bist hier leider im falschen Film gelandet.“ Doch genau das geschah eben nicht.

Begonnen hatte es damit, dass er praktisch wie aus heiterem Himmel seinen Job verloren hatte. Aber im Nachhinein besehen war das noch wahrlich das Geringste. Er war nie ein Karrierist gewesen. Anna, seine Freundin, hatte sogar manchmal gemeint, etwas mehr beruflicher Ehrgeiz könne bei ihm nicht schaden. Doch er selbst fand das nicht, er war überzeugt, dass er es eigentlich ganz gut getroffen hatte. Schon früh hatte für ihn festgestanden, dass er sein Geld mit einer geistigen Arbeit verdienen wollte, am besten mit Schreiben oder zumindest durch irgendeine Art von Beschäftigung mit Texten – nicht gerade das Übliche in dem Städtchen, aus dem er stammte und auch nicht das, was man wohl eher von ihm erwartet hatte, wenn er denn schon die nicht unbedingt selbstverständliche Chance bekam zu studieren. Seine Eltern, ein Lehrerehepaar, hatte er schon als ganz kleiner Junge durch einen Unfall verloren, ohne sie je wirklich kennengelernt zu haben, und war dann bei den Großeltern aufgewachsen, die inzwischen auch längst tot waren.

Sein Großvater hatte einen kleinen Tischlereibetrieb gehabt, ein hart arbeitender Mann mit wenig Sinn für das, was Philipp interessierte. Von der Großmutter war er verhätschelt worden.

Ohne zunächst genau zu wissen, was er damit anfangen würde, hatte er Germanistik und Kulturwissenschaften studiert, wobei ihn das Studentenleben in der Großstadt bisweilen kaum weniger in Anspruch nahm als das Studium selbst. Auch darüber hatte sich Anna manchmal mokiert, die so viel zielstrebiger und pflichtbewusster war. Immerhin war er danach als Lektor in einem Wissenschaftsverlag untergekommen, um dann, nach einigen Jahren, noch einmal umzusatteln und Journalist zu werden.

Er hielt sich einiges darauf zugute, es beim „Morgenkurier“ zum Feuilletonchef gebracht zu haben, und das als Quereinsteiger, wie er gern betonte. Es handelte sich, wie er selbst zugeben musste, um ein ordentlich gemachtes Blatt, aber mehr im Grunde auch nicht. Manchmal gab es deswegen kleinere Reibereien zwischen ihm und Anna, die ihm immer wieder vorhielt, er könne und müsse mehr aus seinen Möglichkeiten machen, zu einer „richtigen großen Zeitung“ gehen, wie sie es ausdrückte. Er neige dazu, sich zu rasch abzufinden und zufriedenzugeben, und das wisse er selber insgeheim auch sehr wohl, sagte sie. Womöglich ahnte er es selbst, aber er hätte es nur ungern zugegeben. Und wenn schon, was war denn daran so schlimm, mit seinem Leben einigermaßen zufrieden zu sein und keine allzu großen Anforderungen zu stellen, vor allem nicht in materieller Hinsicht?

Manchmal fand er die Art, wie Anna dieses Thema behandelte, ein wenig anstrengend. Aber, nun ja, sie war nun mal Psychologin, hatte eben ihr Studium mit Bravour abgeschlossen und voller Stolz ihre erste Stelle in einer großen therapeutischen Praxis angetreten. Da musste er es ihr wohl nachsehen, dass sie ihn hin und wieder als eine Art Versuchskaninchen betrachtete, wie er scherzhaft sagte. Immerhin attestierte sie ihm auch jederzeit gern, dass er ein „ziemlich gebildeter und gutaussehender Mann“ sei. Das mache dann einiges andere wieder wett. Meistens endeten solche Diskussionen letztlich damit, dass sie beide lachen mussten.

Anna war gerade dreißig geworden, also gut ein Dutzend Jahre jünger als er. Aber schon bald, nachdem sie wenige Wochen nach dem Kennenlernen vor gut drei Jahren zu ihm in seine Altbauwohnung gezogen war, hatte er die Erfahrung gemacht, dass der Altersunterschied zwischen ihnen keine sonderlich große Rolle spielte. Gelegentlich kam es ihm sogar so vor, als sei sie mit ihrem Realitätssinn und Alltagspragmatismus die Lebensklügere von ihnen beiden, während er, „der Herr Feuilletonist“, wie sie ihn manchmal titulierte, in ihren Augen dazu neigte, „ein bisschen in den Wolken zu schweben.“

Dabei gab es Zeiten, in denen sie weniger energisch und lebhaft wirkte als sonst und sich förmlich in sich zurückzuziehen schien. Dann wurde sie sehr schweigsam, schien beinahe bemüht, ihm aus dem Wege zu gehen.

Doch dann erledigte sich eines Tages alles - ihr Reden, ihr Schweigen und auch sein berufliches Dasein.

3.

Am Morgen jenes Tages wurde Philipp vom Telefon geweckt. Der Wecker auf dem Nachttischchen an Annas Bettseite zeigte kurz nach zehn. Eigentlich Zeit zum Aufstehen. Aber er hatte einen freien Tag zum Ausgleich für den Sonntagsdienst, und an solchen Tagen schlief er gern aus, manchmal bis gegen Mittag. Er hoffte nur, dass nicht jemand in der Redaktion etwas von ihm wollte. Das kam hin und wieder vor, wenn auch nicht allzu häufig.

Schlaftrunken griff er nach dem Handy, das genau in diesem Moment verstummte, und schlurfte in die Küche, um sich, wie gewohnt, am Frühstückstisch zu bedienen, erst mal nur mit einem Kaffee. Anna, die immer vor ihm aus dem Haus musste, seit sie vor einigen Monaten ihren ersten Job angetreten hatte, pflegte alles zuzubereiten, nicht nur, wenn er frei hatte; der kleine Zettel mit einem Gruß neben seiner Tasse gehörte mit zu diesem Ritual – eine bewusst anachronistische Geste in den Zeiten von SMS und E-Mail, wie sie es beide nannten. Da er einen tiefen Schlaf hatte und Anna sich stets Mühe gab, leise zu sein, bekam er so gut wie nie mit, wenn sie aufstand, sich fertigmachte und die Wohnung verließ. Sein Arbeitstag dauerte schließlich bis spät in den Abend, daher schien diese Regelung nur fair. Er revanchierte sich dafür an den Wochenenden und brachte ihr das Frühstück ans Bett, bisweilen mit der Folge, dass er anschließend noch einmal zu ihr unter die Decke schlüpfte.

Diesmal fand er weder einen Zettel noch sonst etwas vor. Der Tisch war leer, nicht einmal der Kaffee angesetzt. Das war noch nie vorgekommen. Philipp spürte plötzlich ein Pochen in den Schläfen, nahm sich ein Glas Wasser aus dem Kran und überlegte, ob am Abend etwas zwischen ihnen vorgefallen war, das sie verstimmt haben könnte, ohne dass er es gleich bemerkt hatte. Aber nein, da war nichts gewesen, gar nichts. Anna war, so wie häufig, vor ihm zu Bett gegangen, nachdem sie zusammen ferngesehen und ein Glas Rotwein getrunken hatten, während er noch eine Weile mit Lesen verbracht hatte. In seinem Arbeitszimmer lag dauernd ein Stapel neuer Bücher, die er sichten musste, um sie an Kollegen oder freie Mitarbeiter zur Rezension zu geben oder selbst zu begutachten.

Der Festnetzapparat in der Diele klingelte. Philipp hoffte, dass es Anna war, aber als er abnahm, hörte er die Stimme von Roland Weidenfeld, seinem Chefredakteur.

„Sorry, Philipp, dass ich störe, ich hatte es auch schon auf dem Handy probiert, und, ja, ich weiß, du hast frei, aber es wäre trotzdem ganz gut, wenn du rasch herkämst. Es ist wichtig.“

„Wieso, was ist denn los?“

„Das kann ich dir jetzt nicht am Telefon erklären. Beeil dich bitte ein bisschen, es ist wirklich wichtig.“

Auch das noch! Philipp stieß einen leisen Fluch aus. Als Erstes musste er jetzt wissen, was mit Anna los war. Er versuchte es übers Handy, aber sie meldete sich nicht, die Mailbox war abgeschaltet. Dann rief er in der Praxis an. Frau Bertram sei heute leider nicht zum Dienst erschienen, teilte man ihm mit, und Gründe für ihr Fernbleiben seien nicht bekannt. Philipp war wie vor den Kopf geschlagen.

Während er sich im Bad hastig fertigmachte, überlegte er, wen er sonst noch anrufen konnte. Ihre Eltern, zu denen sie kaum Kontakt hatte, wohnten irgendwo in Süddeutschland. Dass sie ausgerechnet zu ihnen gefahren war, einfach so, schied als realistische Möglichkeit aus. Dasselbe galt für den Bruder, den es noch gab und der als Ingenieur meist im Ausland arbeitete, wie Anna einmal erwähnt hatte. Die Namen zweier Freundinnen fielen ihm ein, aber er hatte ihre Nummern nicht.

Beunruhigt und widerwillig machte er sich auf den Weg zur Redaktion. Wie immer nahm er das Rad, weil er damit schneller vorankam als mit dem Wagen und es außerdem nicht sehr weit war. Anna kleiner gelber Fiat stand nicht dort, wo sie ihn gestern Abend geparkt hatte. Bevor er das Zeitungsgebäude betrat, wählte Philipp noch einmal ihre Nummer und rief auch noch ein weiteres Mal in der Praxis an. Nach wie vor gab es kein Zeichen von Anna.

Anfangs hörte er nur mit halbem Ohr auf das, was Chefredakteur Weidenfeld ihm mitzuteilen hatte. Mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Normalerweise kam er mit Weidenfeld gut zurecht. Aber an diesem Tag ging ihm der übergewichtige Mann mit dem graumelierten vollen Haar, der ständig auf seinem Brillenbügel kaute, schlichtweg auf die Nerven. Was schwadronierte er denn da nur! Wie lange er, Philipp Kamphausen, jetzt bei der Zeitung sei, als geschätzter Mitarbeiter, beliebter Kollege und wichtige Führungskraft, beinahe fünf Jahre, eine lange Zeit in solch bekanntlich immer unsicher werdenden Zeiten, in denen sich vieles leider oft sehr rasch ändere, quasi über Nacht, wegen der fortschreitenden Digitalisierung, die den Printmedien immer mehr zu schaffen mache, und die Gesetze des Marktes seien nun mal so, wie sie seien, die Großen fräßen die weniger Großen, sodass das Gute nicht immer Bestand habe.

„Entschuldige mal“, ging Philipp dazwischen. „Weshalb erzählst du mir das eigentlich alles? Hast du mich deswegen extra herkommen lassen?“

Weidenfeld stockte nur kurz und redete ungerührt weiter. Er selbst stehe unter gewissen Sachzwängen, wisse, ehrlich gesagt, momentan nicht einmal, wie es mit ihm selbst weitergehe. Jedenfalls werde es das Feuilleton und vermutlich überhaupt das Blatt in der bisherigen Form nicht mehr geben. Und da er wisse, wie sehr Philipps Herz an diesem klassischen journalistischen Format hänge und wie wenig ihm daher die Umstellung im Zuge der Übernahme zuzumuten sei - „unter Kultur verstehen die nur noch Buntes, Vermischtes, Human Touch, Promi-News, dieses Lifestyle-Zeugs, na du weißt schon“ - habe man sich entschlossen, ihm die Möglichkeit zu eröffnen, sich selbst um neue persönliche Perspektiven und Optionen zu kümmern.

„Philipp, wie gesagt, niemand bedauert das so sehr wie ich. Aber ich meine, du bist ja noch ein junger Mann, dreiundvierzig ist schließlich kein Alter. Sieh mich an, ich gehe auf die sechzig zu. Und natürlich bekommst du eine Abfindung. Die Personalabteilung wird wegen dieses ganzen bürokratischen Krams noch auf dich zukommen.“

So also läuft das heutzutage, wenn du plötzlich seinen Job los wirst, schoss es ihm durch den Kopf. Ihm war, als würden seine Gedanken irgendwo außerhalb seines eigenen Hirns gedacht. Was war denn dies nur für ein schrecklicher Tag! Als wäre die zutiefst beunruhigende Sache mit Anna nicht schon schlimm genug. Philipp war sonst so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ein bisschen Phlegma ist ja ganz angenehm, aber du übertreibst es damit gelegentlich“, hatte Anna schon mal etwas spöttisch konstatiert. Aber jetzt vermengten sich seine verschiedenen Empfindungen plötzlich zu einer ihm selbst bis dahin unbekannten explosiven Mischung.

Er sprang auf, stieß seinen Stuhl so heftig gegen den Schreibtisch, dass Weidenfeld zusammenzuckte und zischte ihn an: „Du schmeißt mich also raus, ja? Warum sagst du das nicht einfach und klaust mir meine Zeit?“

„Philipp, bitte, beruhige dich, es tut mir wirklich leid, aber ich stehe nun mal unter gewissen Sachzwängen.“

„Ach ja? Und das ist dir gerade eben heute Morgen eingefallen? Wie stillos ist das denn!“

„Bitte, nein, ja“, stotterte Weidenfeld und wurde rot, „irgendwie ist das alles ein bisschen unglücklich gelaufen. Du bist übrigens nicht der Einzige, falls dich das tröstet.“

„Na toll, Ihr schmeißt die Leute gleich reihenweise raus. Das ist ja sehr beruhigend. Kann ich jetzt gehen? Ich hole kurz meine Sachen aus dem Büro, dann bin ich weg.“

„Mein Gott, was ist denn mit dir los, so kenne ich dich ja gar nicht“, sagte Weidenfeld musterte ihn mit besorgtem Blick. „Zunächst mal bist du nur freigestellt, dein Gehalt läuft drei Monate weiter. Und selbstverständlich bekommst du eine Abfindung. Glaub mir, es ist besser so für dich, du hättest dir hier sonst nur die Nerven ruiniert. So kannst du dich jetzt in aller Ruhe nach was Neuem umsehen.“

Der Chefredakteur des „Morgenkurier“ stieß einen Seufzer aus, stemmte sich aus seinem Sessel hoch und streckte ihm die Hand hin. Philipp wandte sich wortlos ab, eilte zur Tür und knallte sie hinter sich zu.

Als er zu Hause sein Rad abstellte, fuhr gerade ein dunkelgrauer Wagen vor. Ein älterer Mann und eine Frau stiegen aus und fragten ihn, ob hier ein Philipp Kamphausen wohne. Ihm wurde flau, als sie ihre Dienstausweise hervorholten und ihn baten, mit ihm hinaufkommen zu dürfen.

4.

Fragen, Fragen, Fragen. Einige dröhnten ihm in den Ohren nach, obwohl sie ruhig und höflich ausgesprochen worden waren. Andere bohrten sich wie mit Widerhaken in seinen Schädel. Doch letztlich lief es immer wieder auf nur eine einzige Frage hinaus: Warum?

Warum hatte Anna Bertram beschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen? Ein Leben, das eben erst dabei gewesen war, richtig zu beginnen? Das Leben einer jungen, attraktiven Frau am Beginn einer vielversprechenden Karriere als Psychotherapeutin, in einer harmonischen Beziehung lebend und ohne erkennbare Probleme? Warum war sie mitten in der Nacht aus dem Bett gestiegen, war in ein entlegenes Parkhaus in einem Vorort gefahren, hatte dort einen von der Videoüberwachung nicht erfassten Winkel aufgesucht und dann mit einem Gummischlauch die Abgase vom Auspuff in den Innenraum des Wagens geleitet?

Die beiden Polizeibeamten, die ihre Fragen an ihn, den Lebensgefährten der Toten, richteten, gingen behutsam und rücksichtsvoll vor und erklärten ihm, sie täten nur ihre Pflicht; bei derartigen nicht natürlichen Todesfällen seien nun einmal Ermittlungen routinemäßig vorgeschrieben, schon um jedes Fremdverschulden ausschließen zu können. Eine reine Formalie. Die Situation selbst ließ sich vergleichsweise leicht und letztlich auch plausibel rekonstruieren. Nein, er hatte nichts davon mitbekommen, wie sie die Wohnung verließ, da sein Schlaf fest und sie immer darauf bedacht gewesen war, ihn nicht zu wecken, wenn sie vor ihm aufstand. Die Beamten sahen keinen Grund, seine Angaben anzuzweifeln, zumal die Kamerabilder zeigten, dass sie allein im Wagen gesessen hatte, als sie morgens um 4.57 Uhr in das Parkhaus fuhr.