Tödlicher Besuch - Ben Worthmann - E-Book
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Tödlicher Besuch E-Book

Ben Worthmann

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Beschreibung

***** Leichtsinn und Lügen mit fatalen Folgen! ***** Es hatte lange gedauert, bis Max Berthold endlich sein Glück gefunden zu haben glaubte. Nach einem abenteuerlichen Leben wurde er zum treu sorgenden Ehemann und Vater, verschrieb sich der Kunst und wollte nicht mehr an seine früheren Jahre als Box-Champion erinnert werden. Doch dann begegnete er einer geheimnisvollen Fremden, und ehe er sich versah, befand er sich in einem Strudel aus Gewalt, Täuschung und Lügen. Und plötzlich zeigte der kultivierte, sensible Max Berthold sein ganz anderes Gesicht. Als er merkte, dass er in den tödlichen Scheidungskrieg eines prominenten Paars geraten war, war es zu spät. Verzweifelt versuchte er, seine eigene Ehe zu retten. Aber dabei machte er einen Fehler nach dem anderen, während ein alter Kommissar ihm allmählich auf die Schliche kam. Der neue Psychothriller von Ben Worthmann, Autor des Erfolgsromans "Die Frau am Tor" sowie von "Nocturno", "Das Grab der Lüge" und "In einer Nacht am Straßenrand". Außerdem von ihm im Handel: Die Familientrilogie "Etwas ist immer", "Meine Frau, der Osten und ich" und "Leben für Fortgeschrittene"

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Seitenzahl: 167

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Ben Worthmann

Tödlicher Besuch

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

Impressum neobooks

1.

„Möchtest du noch etwas trinken? Mal einen Gin vielleicht oder doch lieber einen Kaffee?“

Sie nippte an ihrem Rotwein, schaute auf ihre Armbanduhr, nachdem sie das Glas auf dem flachen Couchtisch abgestellt hatte, und schüttelte den Kopf. Infolge der Bewegung schimmerten im matten Schein der Stehlampe ein paar kleine Lichtreflexe auf ihrem kinnlangen kastanienbraunen Haar.

„Danke, lass mal“, sagte sie mit ihrer Stimme, die fast etwas zu jung klang im Vergleich zu ihrem schmalen, ebenmäßigen Gesicht mit den winzigen Fältchen um Augen und Mund. „Es ist spät geworden, schon nach zwölf. Ich glaube, es wird langsam Zeit für mich.“

„Du willst also gehen?“

„Es ist besser. Jedenfalls heute. Bestellst du mir ein Taxi? Ich muss noch mal kurz verschwinden.“

Er nickte wortlos und hätte auf Anhieb kaum zu sagen gewusst, ob es wirklich Enttäuschung war, was er empfand. Oder doch, ja, im Grunde und bei ehrlicher Prüfung seiner selbst wusste er, dass es keine Enttäuschung war, sondern ihr Gegenteil, Erleichterung. Er hatte einen Fehler gemacht, und inzwischen fragte er sich, wieso er eigentlich auf den Gedanken hatte kommen können, diese Frau zu sich einzuladen, sie einfach zu fragen, ob sie noch mitkäme. So etwas war sonst ganz und gar nicht seine Art. Jedenfalls nicht mehr, seit sein Leben in neuen, geordneten Bahnen verlief, was ja nun mittlerweile seit etlichen Jahren der Fall war.

Ausgerechnet jetzt, kurz vor Annas Rückkehr, eine fremde Frau mit nach Hause zu nehmen, das war wirklich eine besonders schlechte Idee gewesen. Da half auch keine billige Ausrede wie etwa die, dass diese Frau es ihm aber auch verdammt leicht gemacht und nach nur kurzem, womöglich nicht einmal ganz ernst gemeintem Zögern eingewilligt hatte. Fast hatte es für ihn so ausgesehen, als habe sie nur darauf gewartet.

Doch dann, in den gut eineinhalb Stunden, seit sie in seinem Haus angekommen waren, war gar nichts weiter geschehen, außer dass sie miteinander geredet und einige Glas Wein getrunken hatten. Es hatte ihm gefallen, sich mit ihr zu unterhalten. Sie war lebhaft und vielseitig interessiert und konnte sich gut ausdrücken. Aber ihr Gespräch, bei dem es im wahrsten Sinn um Gott und die Welt gegangen war, beflügelt dann auch noch von den Wirkungen des Weins, war immer merkwürdig unpersönlich geblieben. Einige Male war sie aufgestanden, um die Bilder an den Wänden und die Bücherreihen in den beiden hohen Regalen zu betrachten, doch sie hatte nichts dazu gesagt, keine Fragen gestellt. Das hatte ihn insofern irritiert, als gerade seine Bilder zuvor in dem Lokal ein Thema gewesen waren, das sie besonders zu interessieren schien. Und letztlich hatte er sie sogar als Argument für seine Einladung benutzt, wenn auch eher beiläufig, da besonderer Nachdruck gar nicht notwendig gewesen war.

Auch zu dem Ensemble von Fotos und Zeitungsausschnitten, das hinter Glas über der kleinen Vitrine mit den Trophäen hing, hatte sie nichts gesagt. Doch das war ihm weniger befremdlich vorgekommen, da er davon ausging, dass sie damit ohnehin wenig anfangen konnte und es ihr vermutlich schwerfiel, sie in einen Zusammenhang mit ihm zu bringen. Bei der Gelegenheit war ihm wieder eingefallen, dass er all das Zeug am liebsten weggeworfen hätte, doch Anna beharrte darauf, dass auch dies zu seinem Leben gehörte und dass es falsch sei, bestimmte Kapitel davon auslöschen zu wollen.

Mehr und mehr war es ihm vorgekommen, als umgebe seine Besucherin eine Aura aus Unbefangenheit und freundlicher Unverbindlichkeit, sodass von ihr zeitweilig alles zu gewärtigen schien oder eben am Ende auch gar nichts. Und mochte auch anfangs einiges nach einem unausgesprochenen Arrangement für den Rest der Nacht ausgesehen haben – zumindest nach den gängigen Maßstäben -, so hatte es im weiteren Verlauf des Abends von ihrer Seite keinerlei noch so geringes Signal mehr gegeben, das auf erotische Abenteuerlust hätte schließen lassen.

Jetzt erhob sie sich vom Sofa, griff nach ihrer Handtasche, einem Beutel aus weichem dunklem Leder, blieb einen Moment lang vor ihm stehen und berührte kurz seine Schulter, während sich ihre Blicke trafen. Sie hatte große, sehr dunkle Augen, über deren Farbe er sich noch genauso wenig klar geworden war wie über ihr Alter, das irgendwo zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig liegen mochte. Und irgendetwas war in ihrem Blick, das nicht zu ihrem sonstigen Verhalten zu passen schien, eine Art Müdigkeit oder Resignation, wenn nicht gar ein Anflug von Angst.

Er sah ihr nach, als sie sich umwandte und in Richtung Diele ging, wo sich die Gästetoilette befand. Wieder, wie schon zuvor, als sie das Lokal verlassen hatten, fiel ihm ihr Gang auf, der an den einer Tänzerin erinnerte. Er hatte sich ihr mit vollem Namen vorgestellt, eher aus Gewohnheit als in der Erwartung, dass sie damit irgendetwas anfangen konnte. Sie hatte ihm nur ihren Vornamen genannt, Laura, und er fand, dass der gut zu ihr passte.

Sie war ziemlich hochgewachsen und sehr schlank, eine Frau, bei deren Anblick einem sofort das Adjektiv elegant einfiel, auch wenn ihre Kleidung nicht übertrieben wirkte, sondern eher dem aktuellen modischen Mainstream entsprach. Zu dem dunkelgrauen Wollkleid, das nur wenig länger als ein Pullover war, trug sie schwarze Leggins, die ihre Beine betonten, und wadenhohe Stiefel, deren Absätze bei jedem Schritt auf dem Parkettboden ein klackendes Geräusch verursachten. Ihr Mantel aus hellgrauem Kunstfell lag noch immer über einem der Sessel.

Als er gerade zum Telefon greifen wollte, um das Taxi zu rufen, schrillte die Türglocke und ließ ihn zusammenzucken. Welchen Grund konnte es für unangemeldeten Besuch um diese Uhrzeit geben? Anna war mit der Kleinen für ein paar Tage zu ihrer kranken Mutter gefahren und wollte dort über das Wochenende bleiben. Sie telefonierten täglich, und dass sie mitten in der Nacht plötzlich vor der Tür stehen könnte, war praktisch ausgeschlossen. Zwar war es in letzter Zeit nicht immer so gut zwischen ihnen gelaufen, aber er hatte ihr nie irgendeinen Anlass für Misstrauen geliefert, allenfalls für ebenso besorgte wie liebevolle Mahnungen, er solle mehr auf sich achten. Immer war sie so besorgt um ihn, war es von Anfang an gewesen. Plötzlich spürte er heftige Gewissensbisse bei dem Gedanken an sie und an den Leichtsinn, zu dem er sich an diesem Abend hatte hinreißen lassen, auch wenn zum Glück nichts wirklich Verwerfliches passiert war.

Er überlegte kurz und ergebnislos, wer sonst um diese Zeit einen triftigen Grund für einen nächtlichen Besuch haben könnte. Und dabei spürte er, wie ein ungutes Gefühl in ihm aufstieg. Enge Bekannte oder Freunde hatten sie auch noch nicht gefunden, seit sie erst vor einigen Monaten hierher gezogen waren, sodass auch diese Möglichkeit ausschied.

Mit einem widerwilligen Seufzer stemmte er sich aus dem Sessel hoch. Er war noch nicht ganz an der Haustür, als es erneut klingelte. Vorsichtig öffnete er, nahm noch den Schwall kalt-feuchter Novemberluft wahr - und konnte im nächsten Moment nur noch einen letzten halbwegs klaren Gedanken fassen, nämlich den, dass er soeben einen weiteren Fehler gemacht hatte, und zwar einen noch weit schwereren als den ersten.

Hände packten ihn und rissen ihn nach draußen. Ihm blieb keine Chance, die Fäuste hochzunehmen und in Abwehrstellung zu gehen, weil ihn sofort Arme von hinten umklammerten. Ein Hieb auf den Solarplexus raubte ihm die Luft, ein weiterer an die Schläfe ließ ihm die Beine wegsacken. In seinem Kopf war ein dumpfes Dröhnen, das sich in bewusstloser Dunkelheit verlor, als sein Schädel hart auf den Steinplatten des Wegs von der Haustür zum Grundstückstor aufschlug.

2.

Er versuchte den Mund zu öffnen, um zu schreien, aber sein Mund schmerzte zu sehr und schmeckte nach Blut und kaltem Schmutz. Er hatte schon im sprichwörtlichen Staub gelegen und kannte den bitteren Geschmack der Niederlage, aber das war lange her und dies hier war etwas völlig anderes. Das dämmerte ihm, als er den Kopf heben wollte, der sogleich wieder kraftlos auf den harten Boden sank. Er versuchte seinen Körper zu bewegen und begann damit, sich aus der halb seitlichen Lage auf den Rücken zu drehen, um den unter seinem Brustkorb eingeklemmten rechten Arm frei zu bekommen. Aber das kostete ihn enorme Mühe und verursachte weitere Schmerzen, stechend und bohrend von der Brust über die Bauchgegend bis zu den Hüften und Oberschenkeln.

Über sich sah er den schwarzen Himmel. Es war still, bis auf sein eigenes Stöhnen und Keuchen, das ihm wie aus fremder Ferne ins Ohr drang. Und es war kalt, viel zu kalt, um nur in Hemd und Hose dazuliegen. Mit einer großen Kraftanstrengung schaffte er es, sich aufzusetzen. Er starrte auf die Leuchte über der Haustür, die ein gelbliches Licht warf. Es waren nur ein paar Schritte bis dorthin, aber um sie zu gehen, müsste er erst einmal aufstehen. Und allein das erschien ihm im Moment wie eine Herausforderung weit jenseits seiner Möglichkeiten.

Er ließ sich wieder zurücksinken auf den harten, kalten Boden und zwang sich dazu, einige Male tief und ruhig durchzuatmen. Es hatte Zeiten gegeben, da er leichter mit Schmerzen umzugehen verstand, weil es dazugehörte, sie ignorieren zu können. Er versuchte sich daran zu erinnern, versuchte die alten Techniken zurück in sein Gehirn und seine Nerven und Muskeln zu rufen.

Mit einem Ruck richtete er sich erneut auf, schaffte es, in die Hocke zu gelangen und kroch auf Händen und Knien zur Haustür – um dort die niederschmetternde Entdeckung zu machen, dass sie geschlossen war. Er brauchte nicht erst in den Hosentaschen nach seinem Schlüssel zu kramen, da er wusste, dass die Taschen leer waren, tat es aber trotzdem und konnte anschließend nur noch in blinder Verzweiflung mit der Faust gegen das Holz hämmern.

Einen Moment lang, der sich zur Ewigkeit zu dehnen schien, blieb er vor der Tür hocken, die ihm den Zugang zu seinem eigenen Haus versperrte. Dann versuchte er, sich aufzurichten. Seine Finger fanden wenig Halt in den Fugen zwischen den diagonal angebrachten Holzelementen, aber als sie den dicken, runden Türknauf gefunden hatten, ging es besser. Er zog sich hoch und verharrte, den dröhnenden Schädel gegen die Tür gelehnt. Er musste nachdenken, was verdammt schwierig war.

Vielleicht hatte er ja vergessen, die große gläserne Flügeltür vom Wohnzimmer zur Terrasse hin an der Rückseite des Hauses abzuschließen, auch wenn das ziemlich unwahrscheinlich war. Aber um das zu überprüfen, war es in jedem Fall notwendig, um das Haus herum zu gehen. Nach drei Schritten musste er innehalten, weil ihm schwindelig wurde. Er ließ sich gegen die Hauswand fallen und dachte kurz daran, sich einfach hinzulegen auf den kalten, feuchten Rasen und dann abzuwarten, egal, was mit ihm geschehen würde.

Aufgeben musste schließlich nicht immer die schlechteste Option sein, auch das hatte er schon erfahren. Und mit den Grenzbereichen zur großen dunklen Nacht, wo das Leben nur noch langsam und kaum merklich floss, hatte er auch schon Bekanntschaft gemacht. Vielleicht war es von dort ja gar kein allzu weiter Schritt mehr zur gnädigen Ruhe.

Aber, zum Teufel, nein, so leicht wollte er es dem letzten großen Gegner dann doch nicht machen. Zumindest noch nicht jetzt. Ein paar Schritte nur würden bereits genügen, und er wäre an dieser blöden Terrassentür und hätte damit zumindest die theoretische Möglichkeit, zurück in sein Haus zu gelangen, endlich ins Warme, zu telefonieren und Hilfe zu holen. Er brauchte ganz dringend einen Arzt, so viel war ihm klar. Also weiter, auch wenn es wehtat und seine Beine sich wie Pudding anfühlten.

Aus dem Wohnzimmer, wo nur die Stehlampe neben dem Sofa brannte, floss eine breite Bahn von Licht auf die Terrasse und ein Stück des angrenzenden Rasens, der von schmalen Rosenbeeten gesäumt war. Er packte die Türklinke und rüttelte daran, aber natürlich war sie abgeschlossen. Er unterdrückte den Impuls, mit den Fäusten gegen das Glas zu hämmern und überlegte stattdessen, was ihm anderes zu tun blieb. Die Tür gewaltsam öffnen, mit einem Spaten oder Stemmeisen? Das wäre sicherlich den Versuch wert gewesen. Aber die Gartengeräte befanden sich in der Garage, die gleichfalls abgeschlossen war. Noch während ihm die bittere Erkenntnis dämmerte, dass er im Grunde gar nichts tun konnte, außer wegzugehen, um anderswo Hilfe zu suchen, wurde sein Blick von dem angezogen, was durch die Türscheiben im Wohnzimmer zu sehen war.

Neben dem flachen Tisch lag auf dem Boden die Frau, von der er nicht viel mehr wusste, als dass sie Laura hieß.

Sie lag halb seitlich, das Gesicht mit den geschlossenen Augen ihm zugewandt, und so wie sie dalag, schien es ihm kaum vorstellbar, dass es andere Gründe dafür gab, als den, dass sie nicht mehr lebte. Woher er diese Gewissheit nahm, hätte er selbst nicht sagen können. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er sich schon vor langer Zeit angewöhnt hatte, stets mit dem Schlimmsten zu rechnen. Und angesichts der fatalen Lage, in der er sich befand, blieb ihm ohnehin nicht viel anderes übrig, als auf alles gefasst zu sein. Zu seinem eigenen Erstaunen stellte er fest, dass er den Anblick der fremden toten Frau in seinem Wohnzimmer ertrug, ohne dass ihm erneut die Knie einknickten. Das geschah erst, nachdem er sich bis ans Grundstückstor geschleppt hatte. Mit keuchendem Atem musste er sich daran festhalten, bis er wieder genug Kraft gesammelt hatte, um auf die Straße zu treten, die dunkel und leer war.

Er versuchte abzuschätzen, wie spät es sein mochte. Zu dumm, dass er sich abgewöhnt hatte, eine Armbanduhr zu tragen, da ihn das Handy normalerweise mit allen notwendigen Daten versorgte. Aber das lag jetzt auf dem Wohnzimmertisch in seinem Haus, aus dem er ausgesperrt war. Es war kurz nach zwölf gewesen, als Laura erklärte hatte, sie wolle nun gehen. Und nur Minuten später war es dann auch schon passiert. Wie lange hatte er bewusstlos draußen vor der Tür gelegen? Immerhin war er von selbst wieder aus seiner Ohnmacht erwacht und aus eigener Kraft auf die Beine gekommen, wenn auch unter schmerzhaften Mühen. Das sprach aller Erfahrung nach dafür, dass er sich außer verschiedenen Prellungen eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte, aber wohl keine schwere, und gebrochen schien auch nichts zu sein.

Am besten wäre es, ein Auto anzuhalten, dachte er. Aber auf der schmalen Straße herrschte auch tagsüber nur wenig Verkehr und jetzt lag sie erst recht wie ausgestorben da. Sein Haus war das letzte vor dem Ortsausgang, von dort ging es durch ein Waldstück bis zur breit ausgebauten Landstraße. Stadteinwärts waren es in einem leichten Bogen etwa hundertfünfzig Meter bis zu der kleinen, schicken Neubausiedlung, wo die nächsten Nachbarn wohnten, meist junge Familien. Einige kannte er flüchtig vom Sehen, aber mehr als die üblichen Grußworte hatte er noch mit niemandem gewechselt. Die Vorstellung, jetzt mitten in der Nacht dort irgendwo anklingeln zu müssen, mutete ähnlich surreal an wie die Umstände, die ihn dazu zwangen.

Vor allem aber musste er es erst einmal schaffen, die Strecke bis dorthin hinter sich zu bringen. Alte Erinnerungen wurden wach, die ihm halfen, auf vermeintlich nicht mehr vorhandene Reserven zurückzugreifen, letzte Energien zu aktivieren und die Schmerzen so weit aus dem Bewusstsein zu verdrängen, dass sie ihre böse, lähmende Wirkung nicht voll entfalten konnten. Er merkte, wie die Bewegungen seines Körpers bald nur noch den Instinkten gehorchten, während seine Gedanken mit jedem Schritt klarer zu werden schienen.

Er hatte das Bild der Frau auf dem Boden des Wohnzimmers vor Augen, und im nächsten Moment sah er Anna vor sich - und sich selbst vielen Fragen ausgesetzt, nicht nur von ihr. Fragen, die er nicht beantworten konnte. Und damit stand für ihn fürs Erste zumindest eines fest: Er durfte jetzt nicht noch einen weiteren Fehler machen.

3.

Als hinter der Kurve die Siedlung und die Lichter der Straßenlaternen auftauchten, brachte er es sogar fertig, seinen Schritt zu beschleunigen. Schwitzend und frierend zugleich erreichte er sein Ziel und drückte beim ersten Haus mehrmals auf die Klingel neben dem Vorgartentor.

Ein Hund schlug an, im Obergeschoss wurden Rollläden hochgezogen, ein Fenster geöffnet und Licht gemacht, dann tauchte die Silhouette eines weiblichen Oberkörpers auf.

„Hey, was soll denn das? Das ist nächtliche Ruhestörung. Was wollen Sie? Verschwinden Sie, sonst hole ich die Polizei!“, rief eine Stimme, die verärgert und schlaftrunken klang.

„Entschuldigung, ich brauche nur mal kurz Hilfe“, rief er halblaut zurück.

Das Fenster wurde wieder geschlossen. Er wartete. Dann klingelte er erneut. Und dann noch einmal. Die Haustür wurde geöffnet und ihm Flurlicht sah er eine Frau im Morgenmantel, neben sich einen knurrenden Labrador, den sie am Halsband hielt.

„Was ist denn? Was wollen Sie?“, fragte sie ungehalten.

„Bitte, entschuldigen Sie, aber ich brauche Hilfe“, wiederholte er.

Plötzlich ging außer der Lampe über der Haustür noch eine Leuchte im Vorgarten an, deren Schein das Grundstück bis zum Tor hin erleuchtete. Die Frau trat aus dem Haus, den großen Hund eng neben sich, und kam ein paar Schritte näher.

„Bitte“, sagte er noch einmal, „Sie müssen keine Angst haben. Entschuldigen Sie die Störung. Es ist mir wirklich sehr unangenehm. Ich bin ein Nachbar, Max Berthold. Wir wohnen dort drüben am Wald. Mir ist ein Missgeschick passiert.“

Sie kam bis direkt ans Tor. Er erinnerte sich, sie schon ein paarmal auf der Straße gesehen und gegrüßt zu haben, einmal, als er zusammen mit Anna und der Kleinen unterwegs gewesen war. Sie war jung, bestimmt noch keine dreißig, und außerdem ziemlich hübsch auf ihre blonde, etwas vollschlanke Art.

„Ach, Sie sind das“, sagte sie, jetzt in verändertem Ton, und schlug sich die Hand vor den Mund. „Mein Gott, Sie sehen ja schrecklich aus. Was ist Ihnen denn zugestoßen? Sie haben ja Blut im Gesicht. Hatten Sie einen Unfall? Soll ich einen Krankenwagen rufen? Und die Polizei?“

„Nein, nein, mal langsam, das ist nun wirklich nicht nötig. Mir ist nur etwas ganz Dummes passiert. Ich wollte noch mal kurz raus zur Mülltonne und dabei bin ich auf dem nassen Laub ausgerutscht und gestürzt. Währenddessen ist die Haustür zugefallen. Ich hatte den Schlüssel nicht eingesteckt und jetzt stehe ich da und kann nicht wieder rein. Ich bin zurzeit nämlich allein. Meine Frau ist mit unserer Kleinen für ein paar Tage verreist.“

„Ach du lieber Himmel, das ist aber wirklich zu blöd. Sollen wir einen Schlüsseldienst anrufen? Da gibt’s doch solch einen Rund-um-die-Uhr-Service. Und möchten Sie nicht lieber gleich auch einen Arzt kommen lassen?“, fragte sie, nun mit ernstlicher Besorgnis in der Stimme. „Ich bin übrigens Claudia Stegmüller. Wir sind uns ja schon mal über den Weg gelaufen. Und Sie müssen entschuldigen, dass ich zuerst so unfreundlich war. Das Kind schläft und mein Mann ist auf einer Dienstreise, ich bin also auch allein zu Haus. Na ja, nicht ganz, ich habe ja ihn hier.“

Der Hund schaute ihn aufmerksam an, blieb aber ruhig, während sie ihm kurz den Kopf kraulte.

„Bloß keine Umstände. Eigentlich brauche ich nur irgendein Werkzeug, um die Haustür oder ein Fenster aufzuhebeln oder die Terrassentür, zum Glück hatte ich die Rollläden noch nicht heruntergelassen.“

„Mein Mann hat so einen Werkzeugkoffer im Keller“, sagte sie nach kurzem Zögern. Offenbar war sie unschlüssig, ob sie das Tor öffnen und ihn hereinbitten sollte, konnte sich dann aber doch nicht dazu durchringen.

„Das wäre natürlich sehr nett, wenn Sie mir den ausleihen könnten.“

„Moment, ich hole ihn rasch“, sagte sie, schon im Gehen. Der Hund folgte ihr. Sie kehrte ohne ihn zurück und machte das Tor auf, um den Koffer hinauszureichen, der ziemlich groß und schwer war. Er bedankte sich und versprach, ihn am nächsten Tag zurückzubringen.

„Ach, das hat doch keine Eile. Jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Erfolg“, sagte sie und musterte ihn skeptisch. „Kommen Sie wirklich allein zurecht?“

„Ich werde das schon irgendwie hinkriegen, bestimmt. Aber eine Frage habe ich noch. Können Sie mir sagen, wie spät es ist?“

„Eben, als Sie anklingelten, habe ich auf den Wecker geschaut, da war's kurz vor eins.“