Etwas ist immer - Ben Worthmann - E-Book

Etwas ist immer E-Book

Ben Worthmann

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Beschreibung

"Etwas ist immer" ist der erste Teil der Familien-Trilogie von Ben Worthmann. Teil 2: "Meine Frau, der Osten und ich", Teil 3: "Leben für Forgeschrittene". Alle drei Teile können auch abhängig von einander gelesen werden. Auf den ersten Blick sind sie eine richtige Bilderbuchfamilie: ein hübsches Paar mit zwei aufgeweckten Kindern. Doch hinter der idyllischen Fassade lauert so manche Fallgrube. Denn die Wechselfälle des Lebens und eine Reihe äußerst exzentrischer Verwandter sorgen dafür, dass ständig Aufruhr herrscht. Es geht im wahrsten Sinne immer wieder um Leben und Tod. Und als sich der geplagte Familienvater auch noch auf das Abenteuer einlässt, ein Häuschen im Grünen zu bauen, nehmen die Turbulenzen kein Ende. Mit diesem komischen Familienroman, der zunächst bei Goldmann erschien, gelang Benjamin Worthmann vor einigen Jahren ein Bestseller. Jetzt gibt es ihn erstmals als eBook. Weitere Bücher des Autors im Handel: "Die Frau am Tor", "In einer Nacht am Straßenrand", "Das Grab der Lüge" und "Nocturno".

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Ben Worthmann

Etwas ist immer

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Mehr über den Autor

Impressum neobooks

Kapitel 1

In dem Jahr, in dem mein Großvater starb, starben auch seine Schwester und der vorletzte seiner Brüder, und der Bau unseres Hauses kam so weit voran, dass man sehen konnte, dass es ein Haus werden sollte. Man könnte auch sagen, es wurde viel geschippt und geschaufelt – einerseits, um Aufbewahrungsstätten für Tote, andererseits, um eine Wohnstatt für Lebende anzulegen.

Während die einen in hölzerne Kisten verfrachtet und in jene Erde, von der man sie verabschiedete, eingegraben wurden, sahen die andere aus eben dieser Erde ein steinernes Gebäude entwachsen, das ihnen Hort und Heimat werden sollte. Im Zeitalter der Hypertechnisierung mutet es mitunter seltsam an, welch hergebrachte, um nicht zu sagen altertümliche Methoden der vermeintlich zivilisierte Mensch immer noch anwendet, wenn es darum geht, Unterkünfte für seinesgleichen zu schaffen. Abgesehen von ein paar Details hat sich daran im Lauf der Jahrhunderte nur wenig geändert.

Der Mensch hat offenkundig das Bedürfnis, sich in Hohlräume zurückzuziehen. Er kann es nicht verwinden, dass er aus dem Mutterleib ausquartiert worden ist. Daher macht er sich am Leib der Mutter Erde zu schaffen und übersät ihn mit Millionen von mehr oder minder geräumigen Gruben, nur um sie anschließend wieder mit etwas zu füllen, von dem er meint, dass es unter die Erde gehört. In die eine Art von Löchern legt er jene Artgenossen, die alles Irdische hinter sich gelassen haben, in die anderen Erdlöcher setzt er steinerne Behausungen für diejenigen, die noch ein Leben voller Verheißungen vor sich zu haben glauben, was sich oft genug als Irrtum erweist.

Das moderne Wohnhaus ist im Grunde das Nachfolgemodell sowohl der prähistorischen als auch der ägyptischen Pyramide, es ist ein künstlicher Uterus-Ersatz, eine Gruft für die Lebenden und zugleich das Luftschloss eines melancholischen Triumphs, mit welchem sich die Illusionen des Lebens ein eigenes Denkmal zu setzen versuchen. Denn genau genommen handelt es sich doch nur um eine Art oberirdische Zwischenlagerstätte, von der aus es dann eines Tages gleichfalls in die unterirdische Richtung gehen wird, dorthin, wo das Individuum den Zustand seiner äußersten Unbehelligtheit erlangt – strikte Einzelunterbringung in Furnier, kein Telefon, nicht mal ein Fenster, und obendrauf zwei Meter Mutterboden, als Dämmstoff, wirkungsvoller als jede Schallisolierung. Dort unten ist man absolut sicher und ungestört.

Wer den Entschluss fasst zu bauen, hat allerdings zunächst anderes im Kopf, als sich mit den spezifischen Eigenarten der Ewigkeit auseinanderzusetzen, auch wenn er sich einbildet, etwas sehr Definitives zu tun, zumindest hierzulande. Die Deutschen bauen ihre Wohnhäuser ja bekanntlich so, wie einst die mittelalterlichen Bischöfe ihre Dome: Als seien sie dazu bestimmt, bis ans Ende aller Tage zu stehen. Mit den ethischen Fragen der Beendigung des menschlichen Erdenlebens indes beschäftigt sich der normale Bauherr höchstens insofern, als er über kurz oder lang Mordgedanken gegen den Architekten und gewisse Handwerker hegen wird.

Hätte ich alle diesbezüglichen Anwandlungen im Verlauf jenes Lebensabschnitts, den wir später kurz die „Bauphase“ nannten, wirklich in die Tat umgesetzt, so wäre ich zweifellos als einer der produktivsten Serienkiller in die Geschichte des deutschen Kapitaldelikts eingegangen und wäre meiner Freiheit verlustig gegangen. Nun ja, sagen wir lieber, meiner relativen Freiheit, denn ich bin verheiratet und im Angestelltenverhältnis beschäftigt.

Wie dem auch sei, es liegt mir gar nicht so besonders, den Dingen allzu viel Bedeutung beizumessen und ständig wie mit einem weltphilosophisch geeichten Geigerzähler herumzulaufen. Ich habe zwar einen leichten Drang zur Überhöhung des Banalen und stelle mitunter gerne meine Betrachtungen über den Gang der Dinge und den Sinn des großen Ganzen an, sofern sich dazu eine Gelegenheit bietet, aber mehr auch nicht. Anna, meine Frau, billigt allerdings selbst diese dezent entwickelte Neigung nur in begrenztem Maß. Immer einmal wieder hält sie mir vor, ich schwebte in den Wolken und hinge zu sehr gewiss anspruchsvollen, aber letztlich doch unnützen Überlegungen nach, währenddessen sie sich mit dem gesamten verbleibenden Rest herumzuschlagen habe.

Ich tue solche Kritik nicht leichtfertig ab, aber ich halte sie doch für nicht ganz fair. Immerhin bin ich es, der sich beispielsweise seit eh und je um die Steuererklärungen kümmert, indem er konstruktive Gespräche mit unserem Steuerberater führt und diesem die erforderlichen Unterlagen zukommen lässt. Anna hat bis heute nicht realisiert, dass wir seit langem einkommensteuerpflichtig sind und redet immer noch vom „Lohnsteuerjahresausgleich“, ein Wort, das sie vermutlich in ihrer Kindheit irgendwo aufgeschnappt hat. Ich habe seinerzeit sogar eigenhändig und nahezu ohne fremde Hilfe sämtliche Formulare für den Bauantrag ausgefüllt, obschon mir so etwas überhaupt nicht liegt. Außerdem führe ich regelmäßig den Hund aus, jedenfalls seit wir neuerdings einen besitzen und soweit ich dazu die Zeit habe, und am Wochenende decke in den Frühstückstisch.

Als das Jahr des Löchergrabens anbrach, hatten wir das Gefühl, uns eigentlich recht erträglich im Leben eingerichtet zu haben. Die Geschichte liegt schon eine gewisse Zeit zurück. Anna war vierunddreißig, ich siebenunddreißig, und unsere Söhne Max und Paul waren zehn und sieben. Wir waren eine richtig ansehnliche kleine Sippe – ein hübsches Paar, wie die Leute zu sagen pflegten, mit zwei wohlgeratenen, aufgeweckten Kindern. Wenn man sich die Fotos von uns ansieht, die damals im Urlaub an der Ostsee und bei uns im Garten gemacht wurden, denkt man: Na, was wollen die mehr? Eine sehr attraktive, mädchenhafte blonde Frau und ein kräftiger, ziemlich maskuliner Mann, zwei schlanke, hellhaarige Engel von Söhnen – vier strahlende Gesichter und eine Aura von Sonnenschein, der aus der Seele kommt.

Das mag jetzt ein wenig selbstgefällig klingen, aber so ist es nicht zu verstehen. Es war einfach so, dass wir einigermaßen zufrieden mit uns sein konnten und es auch waren, und das konnte man uns ansehen. Und was sonst noch ist, sieht man auf solchen Fotos ja sowieso nicht.

Ich bezog ein ansehnliches Einkommen und wir lebten angemessen: auf etwas gehobenem Niveau, vor allem, was Bildung und Geschmack angeht. Wir legten Wert darauf, dass unsere Kinder beizeiten Klavierunterricht erhielten. Wir gingen regelmäßig ins Theater und pflegten ein alles in allem sehr erfreuliches Sexualleben. Im Grunde genommen hätten wir es gar nicht nötig gehabt, ein Haus zu bauen, so wenig, wie wir es nötig hatten, aus Statusgründen eine bestimmte Automarke zu fahren. Nach wie vor ziehe ich unseren Volvo jedem Mercedes oder BMW vor, weil er einfach perfekt die Idee des Understatement verkörpert. Unsere Mietwohnung – mit Terrasse und eigenem Garten – war wirklich groß genug für uns, und der Mehrwert an Sozialprestige, den manche Leute mit dem Besitz eines Hauses verbinden, interessierte uns ziemlich wenig. Wir hatten, um es einmal so zu sagen, in unserem Dasein andere Prioritäten gesetzt als jene, die im strikt konventionellen Sinne zu gelten pflegen, was aber auch wieder nicht heißen soll, dass wir unbürgerlich lebten. Wir lebten nur etwas ungezwungener, etwas legerer, eben wie Leute, die Ende der Sechzigerjahre erwachsen geworden sind, ohne sich deswegen schon als ausgesprochene Achtundsechziger zu betrachten. Allerdings hatte ich auch nichts dagegen, wenn mich bestimmte Leute als „alten Achtundsechziger“ apostrophierten und mich dabei anguckten, als sei es ihnen völlig unbegreiflich, dass jemand in meinem Alter immer noch nicht richtig etabliert war. Manchmal wartete ich nur auf solche Situationen, um dann mit müdem Lächeln darauf hinzuweisen, dass es ganz und gar müßig sei, mich in irgendwelche Schubkästchen einordnen zu wollen.

Wer oder was ausgerechnet uns auf den Gedanken verfallen ließ, ein Haus zu bauen, haben wir im Nachhinein manchmal zu rekonstruieren versucht. Vielleicht war es, wenn man so will, doch ein gewisser unterschwelliger kompensatorischer Wunsch nach Konvention oder auch nur die Lust am trotzigen Kontrast zu den sonstigen, eher lässigen Inszenierungen unseres Daseins – oder womöglich auch von beidem ein bisschen. Als Hausbesitzer, dachte ich bisweilen, kannst du immerhin offen zeigen, wie wenig dir an Besitz liegt, indem du beispielsweise den Vorgarten verkommen oder den Zaun verrotten lässt, sodass die Nachbarn missbilligende Blicke herüberwerfen. Aber es war beileibe nicht so, als hätten derartige Fantasien mich nicht ruhen lassen und als hätte ich den wirklich dringenden Wunsch in mir gespürt, ein eigenes Haus zu haben. Im Grunde war es mir einfach egal, ob wir nun bauten oder nicht.

Anna war schon deutlich stärker an der Sache interessiert. Aber letzten Endes ist es uns nie gelungen, die Frage der Anstiftung zu diesem Projekt vollständig aufzuklären. Wir stießen aber immer wieder auf Indizien, die in Richtung „die Familie“ im Allgemeinen und die Schwiegermütter im Speziellen wiesen, wie es wahrscheinlich oft so ist.

„Wenn deine Mutter mit ihren spießigen Ansichten uns nicht dauernd in den Ohren gelegen hätte, hätten wir uns eine Menge Ärger ersparen können“, sagte ich dann und wann zu Anna und hatte damit zweifellos zumindest teilweise Recht.

Sie erwiderte: „Wenn wird das Haus nicht gebaut hätten, hätten wir das ganze Geld für irgendwelchen Blödsinn verplempert und es wäre jetzt weg.“ Das hatte ebenfalls einiges für sich.

Doch solche Dialoge endeten selten mit einer einvernehmlichen Schlussfolgerung. Man sollte überhaupt darauf hinarbeiten, den Konjunktiv irrealis völlig aus der menschlichen Kommunikation zu verbannen. Nichts Wesentliches bleibt ungesagt, wenn man alle Sätze mit „wenn“ und „hätte“ und „wäre“ einfach herunterschluckt. Im Sinne der Vermeidung unnötiger Streitereien wäre dies vielmehr eine vorzügliche Diät.

Übrigens haben wir inzwischen noch einen Sohn, und auch dieser Umstand steht in einem zumindest zeitlichen Zusammenhang mit den Ereignissen des Sterbens, Erbens, Begrabens und Bauens in dem besagten Jahr.

Einerseits angetrieben von dem Bemühen, der Wahrheit die Ehre zu geben, und andererseits darauf bedacht, nicht zu sehr ins Platt-Exemplarische abzugleiten, habe ich eine Weile gezögert, ob ich mir die Erwähnung dieser Familienvergrößerung im Zuge von Begräbnisfeiern und Richtfesten nicht lieber verkneifen sollte. Muss denn unbedingt, wo gestorben und gebaut wird, gleich auch noch neues Leben gezeugt werden? Es muss wohl. Tatsache bleibt jedenfalls, dass es so war. Ich kann es nicht ändern und will das auch gar nicht.

Manchmal entwickelt sich eben alles etwas symbolhaltiger, als man ursprünglich beabsichtigt hatte. Aber während es sich ereignet, bemerkt man es ohnehin nicht. Erst hinterher, wenn man in vergilbten Alben blättert oder die alten Sachen durchwühlt, von denen man nie genau weiß, ob sie in die Umzugskiste gehören oder in den Müllcontainer, fällt einem auf, wie trefflich und passgenau sich doch alles zusammengefügt hat. Und dann sitzt man da zwischen all dem Zeug und hat plötzlich das Gefühl: Völlig klar, dass es so kommen musste, wie es kam, schon deswegen, weil sonst das Leben seinem Ruf nicht gerecht werden könnte, dass es die merkwürdigsten Geschichten im Zweifelsfall immer noch selbst auf Lager hat.

Würde ich zum Beispiel sagen, dass, als unser Rohbau stand, mein Großvater, seine Schwester und sein Bruder unter der Erde lagen, so entspräche dies nicht ganz den Tatsachen. Zwar hätte es so sein sollen, denn alle drei waren schließlich tot und die in hiesigen Breiten übliche Beisetzungsmethode dürfte bekannt sein. Aber es kam etwas anders, und ohne den Geschehnissen allzu weit vorzugreifen, kann man sagen, dass die Umstände der Bestattung in einem Fall nicht von solcher Art waren, dass sich eine pauschale Feststellung wie „die drei lagen unter der Erde“ aufrechterhalten ließe.

Kapitel 2

Der Tag, an dem wir nach allerlei telefonischem Vorgeplänkel, den unvermeidlichen Konsultationen dieses oder jenes Experten sowie endlosen Beratungen im engsten Familienkreis – Teilnehmer: Anna und ich – zum ersten Mal beim Architekten saßen, um uns real existierende Baupläne anzusehen, war einer von diesen Tagen, an denen man schon morgens weiß, dass alles Mögliche passieren kann – man weiß nur noch nicht genau, was.

Wir kannten Ernst Stawitzki bis dahin nur vom Telefon, und die persönliche Begegnung mit ihm bedeutete für uns einen gelinden Schock. Er war ein großer, massiger Mensch, etwa in meinem Alter. Er war nachlässig gekleidet und hatte fettiges Haar, und er drückte sich in einem etwas unbeholfenen Deutsch aus – diesem typischen Gemisch aus technokratisch-wichtigtuerischen Floskeln und einem inkompetenten Alltagsjargon, das für Leute bezeichnend ist, die es auch ohne nennenswerte formale Bildung zu etwas gebracht haben. Nichts an ihm verriet auch nur entfernt etwas von jenen im weitesten Sinne kreativen Fähigkeiten, die man bei einem Konstrukteur und Designer von Bauwerken gemeinhin doch wohl erwarten darf. Er trug eine eiterfarbene Hose mit verstellbarem Bund und Gesundheitsschuhe und sein braunes Polohemd war drei Nummern zu eng. Er bot einen entsetzlichen Anblick. Mit solchen Leuten hatte ich normalerweise nichts zu tun. Ich war, um es einmal so auszudrücken, optisch und akustisch stark befremdet.

Er wirkte auf mich wie ein Parvenü, der es in Abendkursen und über zweite und dritte Bildungswege irgendwie geschafft hatte, sich Architekt nennen zu dürfen. Warum, ging es mir durch den Kopf, mussten wir unter hundert Möglichkeiten, uns ein Haus entwerfen zu lassen, ausgerechnet die Variante Stawitzki auswählen? Was dabei herauszukommen drohte, sah man ja an seinem eigenen Haus und an seinem Büro: alles protzig und teuer, aber ohne Stil. Dunkles Holz unter den Decken und pseudomodernes Stahlrohrmobiliar vor rustikalen Eichenwänden, wo in den Regalen ein paar Lexika und Reiseführer und etwas Nippes die Staffage bildeten – das Ganze sah schlimmer aus als aus einem Einrichtungskatalog. Die Antwort auf „warum Stawitzki?“ war indes verhältnismäßig einfach: Er war uns empfohlen worden, und zwar von unserer Bausparkasse. Und Tatsache war, dass wir über keinerlei Erfahrung verfügten, wie man Empfehlungen von Bausparkassen erfolgreich in den Wind schlägt, um die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen.

Stawitzki wusste irgendwoher, dass ich bei der Zeitung im Politikressort arbeitete, und er begann sogleich auf die Regierung zu schimpfen. Es ist merkwürdig, aber einige Leute meinen, sie müssten einem irgendetwas bieten, sobald sie mitbekommen haben, dass man Journalist ist. Offenbar haben sie die Vorstellung, ein Journalist würde unentwegt mit Block und Stift durch die Welt laufen und alles notieren, was er hört und sieht. Sie denken, wenn sie jemandem wie mir etwas erzählen, das sie selbst für interessant oder gar originell halten, dann wird es vielleicht wie durch Zauberei irgendwie „in die Zeitung kommen“. Es ist wirklich absurd, welche Vermutungen in weiten Kreisen der Menschheit auch im sogenannten Medienzeitalter immer noch darüber existieren, wie eine Zeitung entsteht und worin die Beschäftigung von Journalisten besteht. Ich habe längst aufgehört zählen, wie oft ich schon äußerst unhöfliche Reaktionen unterdrücken musste, weil wieder einmal jemand, der Ärger mit seiner Autowerkstatt oder mit dem Finanzamt hatte, mir gönnerhaft den Rat geben zu müssen meinte: „Das sollten Sie mal in Ihrer Zeitung schreiben.“

Zu Stawitzki sagte ich, dass ich auch kein großer Freund der Regierung sei und seine diesbezüglichen Aversionen gut verstehen könne, aber genauso wenig sei ich ein Freund ausufernder Gespräche über Politik während meiner arbeitsfreien Zeit, denn mit Politik hätte ich dienstlich schon genug zu tun. Ich sagte das keineswegs in einem unfreundlichen Ton. Anna brauchte mir keinen ihrer ermahnenden Blicke zuzuwerfen, wie sie es meistens tut, wenn ich gegenüber anderen Leuten nicht so verbindlich bin, wie ich es ihrer Ansicht nach eigentlich sein sollte. Ich sagte zu Stawitzki, außerberuflich sei ich durchaus auch an anderen Dingen als an Politik interessiert. Ich wollte damit auf weiter gar nichts Besonderes hinaus. Welchen Anlass hätte ich auch gehabt, diesem Mann die Gewissheit zu ermitteln, dass er einen potenziellen Kunden mit breit gefächerten Interessen vor sich sitzen hatte? Doch prompt fragte er uns, ob wir uns für Musik interessierten. Natürlich bestätigten wir ihm das, ohne lange darüber nachzudenken. Es stimmte ja auch, und wer würde eine solche Frage schon mit Nein beantworten? Wir ahnten auch noch nichts weiter, als Stawitzki uns in ein Nebenzimmer bat, in dem außer ein paar Stühlen nur ein monströser nussbaumfarbener Kasten stand.

„Meine neue Orgel“, erklärte er uns. „Habe ich mir gerade gekauft.“ So, so, dachte ich bei mir, das ist also seine neue Orgel, aber muss mich das wirklich etwas angehen? Er indes nahm Platz, klappte den Deckel auf, hantierte an Schaltern und Knöpfen herum und begann, während das Instrument seinen Betrieb aufnahm, zu singen. Ich erstarrte innerlich. Ich wagte nicht, Anna anzuschauen, ich wäre am liebsten aus dem Fenster gesprungen. In diesem Moment beneidete ich die hysterischen Damen des Rokoko, die in unerfreulichen Situationen einfach eine Ohnmacht vortäuschen und theatralisch hauchen konnten: „Frau Nachbarin, das Fläschchen bitte.“ Ich hatte nicht die geringste Chance. Ich musste bei vollem Bewusstsein hier durch, das war mir klar.

Der Architekt in der eiterfarbenen Hose und dem zu engen Polohemd sang „I did it my way“, und ich kann bis heute nicht sagen, was das Schlimmste daran war: sein Orgelspiel, sein Singen oder sein Englisch. Alles zusammen erfüllte zweifellos mehrere Tatbestände des deutschen Strafgesetzbuchs, aber es gelangte zur Aufführung, ohne dass weit und breit vom Arm des Gesetzes auch nur eine Manschettenspitze zu entdecken war. Stawitzki seinerseits war offenkundig begeistert von seinem Tun. Er schwelgte förmlich in falschen Akkorden, falschem Gesang und falschem Englisch. Ich bin immer wieder erstaunt, wie heil manche Menschen ihr ungebrochenes Selbstwertgefühl aus Kindertagen bis in die mittleren Jahre hinüberretten und welch unterschiedliche Auffassungen doch in der Bevölkerung darüber bestehen, was eine erhebliche Peinlichkeit ist und was nicht.

Als Stawitzki geendet hatte, fragte ich ihn, wo die Toilette sei, und indem ich mich an Anna vorbei in den Flur verdrückte, raunte ich ihr zu: „Wenn seine Häuser so sind wie seine Lieder, sollten wir uns schleunigst davonmachen.“

Sie raunte zurück: „Schließlich ist unser Haus nicht das erste, das er baut. Und wenn er nicht seriös wäre, würde die Bausparkasse ihn nicht empfehlen.“

Weil uns gegen diese Logik kein schlagendes Argument einfiel, jedenfalls nicht auf die Schnelle, saßen wir einige Minuten später, trotz allem, einigermaßen gefasst auf unseren Stühlen vor Stawitzkis Schreibtisch und drehten die Köpfe, um, seinem wurstförmigen Zeigefinger folgend, in uns aufzunehmen, was er uns hinsichtlich des Bauvorhabens mitzuteilen hatte. „Die Einheit umfasst drei Reihenhäuser“, sagte er, „aber das Ganze wirkt im Prinzip wie ein einziges großes Haus, sehen Sie? Der Bauplatz ist übrigens ganz in Ihrer Nähe. Sie wohnen doch jetzt an der anderen Seite des Stadtparks, das sind nur ein paar hundert Meter.“

Wir betrachteten den Lageplan, dann die Frontskizze. Sie war sehr anschaulich, ein Bauzeichner aus Stawitzkis Büro hatte sich wirklich Mühe gegeben , im Vorgarten standen sogar schon schraffierte Büsche und Bäumchen, und eine Frau im Trench und Kinder waren auch darauf zu sehen. „Nach hinten raus sind Terrassen und Gärten“, fuhr Stawitzki fort.

Wir betrachteten die Skizze der Rückseite. „Zwei Stockwerke, und den Keller und das Dach können Sie auch noch ausbauen, wenn Sie wollen.“

Wir betrachteten die Etagengrundrisse.

Das sah eigentlich alles ganz ordentlich und überzeugend aus. Ich blickte Anna an und meinte in ihren Augen Zustimmung zu lesen. Außerdem las ich, dass sie ihrerseits Zustimmung in meinen Augen zu lesen meinte, und folglich nickten wir beide beifällig. Ich wollte wissen, wer denn die beiden anderen Bauherren außer uns seien. Oh, da gebe es zahlreiche Interessenten, aber im Prinzip seien Schneiders, eine Familie mit ebenfalls zwei Kindern, sowie Assmanns, ein Ehepaar, entschlossen, sich zu beteiligen, sodass es wohl auf uns drei hinauslaufen werde. Woher er die Gewissheit nahm, dass wir tatsächlich schon gewillt waren, blieb mir in diesem Augenblick zwar rätselhaft, ich widersprach aber auch nicht.

Im Prinzip, sagte ich, seien wir durchaus interessiert. Wenn ich geahnt hätte, welchen fatalen Beigeschmack die Floskel „im Prinzip“ beim Bauen ganz generell und besonders bei einem Bauvorhaben wie diesem annehmen kann, hätte ich es vermutlich als frivol empfunden, sie einfach so zu verwenden. Eigentlich wollte ich auch nur testen, wie Stawitzki, bei dem jeder zweite Satz ein „im Prinzip“ enthielt, reagierte, wenn man auf diese Marotte anspielte. Ich treibe hin und wieder gern solche kleinen psychologischen Studien, um herauszufinden, wie empfindlich meine Mitmenschen für harmlose Sottisen sind. Stawitzki erwies sich als absolut resistent. Er hatte offenbar das Gemüt eines Fleischerhundes. Ich wusste nicht, ob es vorteilhaft oder eher von Schaden ist, sich in die Hände eines Baumeisters zu begeben, dessen Sinne so unentwickelt und stumpf sind, dass er sich erstens mit Hilfe einer nussbaumfarbenen Heimorgel an Frank Sinatra vergeht und zweitens nicht bemerkt, wenn man ihn auf die Schippe nimmt. Ich wusste, genau wie Anna, vom Bauen so gut wie gar nichts.

„Wir sollten dann möglichst bald einen Termin mit Haltemeier vereinbaren“, sagte Stawitzki.

„Wer ist denn das?“, fragte ich.

„Der Bauunternehmer.“

„Wieso...ich dachte, dass Sie...“

„Wir arbeiten zusammen, ich, das heißt, mein Büro, wir entwerfen und planen, und Theo Haltemeier, der macht die Bauausführung. Wir haben schon öfter projektmäßig zusammengearbeitet. Er macht das im Prinzip sehr günstig.“

Kapitel 3

Abends, als die Kinder im Bett lagen, fing Anna damit an, das neue Haus einzurichten. Sie lief in unserer Wohnung hin und her und erzählte mir, was wir von unserer Einrichtung noch gebrauchen könnten und was wir neu anschaffen müssten. Es kam, so weit ich das verfolgen konnte, darauf hinaus, dass wir praktisch alles neu brauchten – für das große Wohnzimmer, das fast das gesamte Erdgeschoss einnahm, für ein zusätzliches Kinderzimmer – bisher teilten sich Max und Paul einen Raum -, für das Gästezimmer, für unser eheliches Gemach unter dem geräumigen Giebeldach. Im Handumdrehen hatte Anna einen potenziellen Bedarf an Einrichtungsgegenständen zusammengerechnet, mit dessen Deckung ein mittleres Möbelhaus seinen Jahresumsatz hätte verdoppeln können. Ich sah schon geschniegelte Geschäftsführer mit devotem Augenaufschlag um ihre neue Großkundin herumspringen, ihr die Tür aufhalten und sie mit Beweisen höchster Ehrerbietung überschütten, um sich dann anschließend, wenn sie hinaus war, feixend die Hände zu reiben.

„Wenn man ein bisschen geschickt ist, kann man das alles über die Baufinanzierung regeln“, sagte Anna. „So machen das doch alle.“

Ich hatte das etwas anders gehört. Ich hatte es in diversen Gesprächen mit erfahrenen Kollegen so verstanden, dass man eine geschickte Baufinanzierung daran erkennt, dass hinterher Geld genug für ein neues Auto übrig bleibt, nicht aber für Möbel, Lampen und Vorhänge. „Ein Daimler müsste dabei immer rausspringen“, sagten sie. Mannhaft unterdrückte ich den Drang, Anna auf diesen kleinen Unterschied hinzuweisen – schon deshalb, weil wir uns eben erst ein neues Auto gekauft hatten. Wir hatten beide gemeint, dass es, wenn wir erst bauten, auf ein paar tausend Mark mehr oder weniger auch nicht mehr ankomme und also kühn unsere Ersparnisse angegriffen. Ich hatte das Projekt „Autokauf vor Hausbau“ für mich dahingehend zu legitimieren versucht, dass man nicht zum Sklaven zeitlicher Abläufe werden dürfe, dass es mithin also gleichgültig sei, ob man das mittels Baufinanzierung zu erwerbende Auto vor Baubeginn oder erst nach dem Einzug anschaffe. Außerdem hatten wir den neuen Wagen wirklich dringend gebraucht, schon aus Vernunftgründen, weil der alte nicht mehr durch den TÜV gekommen wäre.

Im Übrigen hatte ich nicht die geringste Lust, mich an diesem Abend mit Anna über Autos, Häuser und Geld zu unterhalten. Ich wollte noch ein Glas Rotwein trinken, in Ruhe eine Zigarette rauchen und ins Bett, mit ihr. Sie wusste das auch, wir wussten das beide schon seit dem Nachmittag.

Anna nahm einen Zettel und begann, Zahlen untereinander zu schreiben. Jedes Mal, wenn es um irgendwelche Vorhaben und um Geld ging, nahm sie Zettel und schrieb Zahlen auf. Sie machte sich vor jedem Einkauf einen Zettel, aber ich hatte noch nie erlebt, dass sie ihn auch mitnahm. Sobald sie einen Einkaufzettel geschrieben hatte, verlor sie jegliches Interesse daran und verlegte ihn. Zwar fragte sie manchmal pro forma: „Ach, wo ist denn nur mein Einkaufszettel?“, aber in Wahrheit wollte sie das gar nicht wissen. Bestimmt hätte es sie völlig aus dem Konzept gebracht, wenn sie ihn wirklich wiedergefunden haben würde. Deshalb maß ich ihrem abendlichen Treiben keine allzu große Bedeutung bei. Ohnehin ging es hier um Summen, die den üblichen Rahmen von Einkaufszetteln deutlich sprengten. Das Ganze kam mir, ehrlich gesagt, ein wenig absurd vor.

„Hör auf damit“, sagte ich, „das ist doch jetzt noch gar nicht akut.“

Sie lenkte erstaunlich schnell ein. Es gab Tage, da wussten wir morgens, wie sie enden würden, ein paar Blicke und Gesten genügten und uns beiden war klar, worauf es hinauslaufen würde. Das war in meinen Augen seit jeher der unbestreitbare Vorzug einer dauerhaften, intakten Zweierbeziehung. Man konnte sich den Zeit- und Nervenaufwand ersparen, den andere benötigten, nur um sich hin und wieder in den Genuss eines Beischlafs zu bringen. Erotische Abwechslung mag ihren Reiz haben – erotische Verlässlichkeit ist jedoch eine Errungenschaft, die letzten Endes mehr wiegt. Es ist kaum übertrieben, sie zu den großen kulturellen Aneignungen der Menschheit zu rechnen. Die Vorzüge der Monogamie zu preisen hat nichts mit Moral zu tun. Es ist einfach eine Frage der Zweckmäßigkeit und der richtigen Balance von Aufwand und Nutzen.

Ich kannte eine ganze Reihe von Leuten, Geschiedene und Singles, die sozusagen mit triefenden Lefzen durchs Leben hechelten, immer auf der Jagd nach einer Sexualpartnerschaft, immerzu gestresst, meistens frustriert. Gelang es ihnen, jemanden zu erbeuten und klappte es mal für eine Nacht, machten sie sich sofort Gedanken, ob es nicht auch vielleicht drei Jahre oder ein ganzes Leben gut gehen könnte. Ging es drei Wochen gut, begannen sie zu grübeln, ob nicht etwas falsch lief und ob es nicht besser gewesen wäre, die Sache nach drei Tagen zu beenden.

Ronald beispielsweise, ein früherer Kollege, stellte nach einem Jahr fest, dass seine Ehe nicht mehr funktionierte, wie er sich mir gegenüber ausdrückte. Ich bohrte ein bisschen nach, und er breitete sein gesamtes Intimleben vor mir aus, bis hin zu den seiner Ansicht nach lieb- und reizlosen Unterbekleidungsgewohnheiten seiner überaus attraktiven Frau sowie gewissen, daraus folgenden Retardierungen des beiderseitigen koitalen Temperaments. Es stellte sich heraus, dass Ronalds Ehe im Grunde noch nie funktioniert hatte, da die beiden nicht wie richtige Eheleute zusammen-, sondern wie zwei Einzelgänger nebeneinander lebten. Am Wochenende ging er seinem Hobby nach – Fotografieren – und sie pflegte ihre Migräne. Wenn sie hin und wieder miteinander ins Bett gingen, schmierte sie sich vorher das Gesicht mit Fettcreme ein und zog ein Flanellnachthemd an. Das fand er entsetzlich. Am Sonntagabend zog er sich zurück, um sich mit seinen Fotos zu beschäftigen und ließ sie allein vor dem Fernseher sitzen, was sie ihrerseits nicht in Ordnung fand. Schließlich wurde ihre Unterwäsche immer rustikaler und ihr Cremeverbrauch erreichte ein solches Ausmaß, dass er darin massive Anzeichen für vorsätzliche Verweigerung erblicken zu müssen meinte, jedenfalls was die Ausübung des Sexualaktes mit ihm, Ronald, betraf.

Eines Tages dann entdeckte er, dass sie heimlich seidene Slips zu tragen begann, und als er von einer Dienstreise zurückkehrte, war die Wohnung halb leer geräumt und die Angetraute weg. Sie hatte, wie ihm alsbald zur Kenntnis gebracht wurde, einen Anderen gefunden, und sie wurde umgehend schwanger, während Ronald erst in Depressionen versank, dann zu trinken anfing und schließlich hektisch durch alle möglichen Betten turnte. Jedes Mal, wenn er wieder eine neue Frau fürs Leben entdeckt hatte, erzählte er mir haargenau, wie es mit ihr lief. Falls seine Berichte zutrafen – was ich bisweilen bezweifelte, manches erschien mir ein bisschen übertrieben –, führte er ein wahrhaft zügelloses, aber eben auch sehr aufreibendes Leben. Seine Fotos waren, nebenbei bemerkt, nicht halb so gut, wie er selbst glaubte.

Wenn ich einen Zeugen für meine These nötig hätte, dass die erotische Vertrautheit und die sexuelle Verlässlichkeit der diesbezüglichen Abwechslung bei weitem vorzuziehen sind, müsste ich mir nur Ronald vor mein geistiges Auge rufen, stellvertretend für all jene meiner Geschlechtsgenossen, die nach Art übermotivierter, neurotischer Trüffelschweine in einem trüffelfreien Wald ständig nach den zwei ultimativen weiblichen Schenkeln schnüffeln, zwischen denen sie Linderung zu erfahren hoffen, ohne sie indes je erlangen zu können.

Anna und ich, wir begaben uns an diesem Abend also auf unser Nachtlager, und wir hielten uns nicht lange mit Präliminarien auf. Das ist manchmal besonders angenehm, einfach schnurstracks zur Sache zu kommen, das hat nichts mit ehelicher Routine zu tun, ganz im Gegenteil. Man kann sich den Genuss der bewussten Direktheit – um es einmal so zu nennen – nur dann richtig gönnen, wenn man einander sehr gut kennt.

Annas Atem ging bereits schwer und sie war eben dabei, mich in die richtige Position zu dirigieren, als das Telefon in der Diele sich meldete.

„Ach, lass doch“, ließ sich meine Frau etwas verwaschen vernehmen, „wer wird das um diese Zeit schon sein.“

Sie machte einfach weiter. Das Telefon machte ebenfalls weiter. Ich merkte, dass ich in gewisse Schwierigkeiten geriet, die Anna allerdings zu ignorieren versuchte. Aber es war schon zu spät. Ich löste mich aus ihrer Umklammerung, stieg aus dem Bett, stolperte aus dem Zimmer, stieß gegen das Telefontischchen und nahm leise fluchend den Hörer ab.

„Ja, bitte!“, sagte ich so geschäftsmäßig wie möglich, damit gleich klar war, wie wenig gelegen mir dieser Anruf kam.

„Opa ist tot“, sagte meine Mutter.

„Oh“, sagte ich.

„Er ist ganz ruhig eingeschlafen“, fuhr sie fort. „Ich wollte noch mal nach ihm sehen – und da lag er da und atmete nicht mehr.“

„Und was machst du jetzt?“, fragte ich. „Ich meine, bist du jetzt...allein...mit ihm? Kannst du schlafen, während er...nebenan...?“

„Anton Veigel ist rübergekommen“, sagte sie, „er sitzt noch hier. Aber es wäre schön, wenn du morgen...“

„Sicher“, sagte ich, „natürlich, ich komme. Das heißt, wir kommen. Am späten Vormittag sind wir da.“

Ich ging zurück ins Schlafzimmer. Anna hatte das Gespräch mitbekommen und wusste Bescheid.

„Bring uns doch mal eine Zigarette“, sagte sie. Ich tastete mich zurück durch die Diele ins Wohnzimmer, angelte meine Schachtel Camel vom Regal und holte einen Aschenbecher.

Dann lagen wir nebeneinander und rauchten abwechselnd dieselbe Zigarette. Auf unseren erhitzten Körpern hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet, und ich dachte an den erkaltenden, allmählich starr werdenden Körper meines Großvaters, der hundert Kilometer entfernt, in dem Haus, in dem ich geboren und aufgewachsen war, in dem Bett lag, in dem er viele Nächte seines Lebens geschlafen hatte.

„Fahr du mal morgen allein nach Mellingen“, sagte Anna.

„Bist du traurig?“, fragte ich sie. „Ich meine, er war ein sehr alter Mann, fast neunzig, und er war krank.“

„Trotzdem“, sagte sie, „ja, ich bin traurig, ich habe ihn sehr gemocht.“

Du kanntest ihn ja auch nicht so gut wie ich, dachte ich. Irgendwann, gegen Ende, habe ich ihn auch gemocht, aber vorher hatte ich ihn oft genug zum Teufel gewünscht. Ich blickte auf Annas Körper, der schlank und hell war und nicht im Entferntesten vermuten ließ, dass aus ihm schon zweimal neues menschliches Leben gepresst worden war, und wie durch ein Wunder löste sich das Bild meines Großvaters in Nichts auf. Ich drückte die Zigarette aus, stellte den Aschenbecher weg, löschte das Licht – durch die Jalousienritzen kam gerade genug Mondschein, um es nicht stockfinster sein zu lassen – und hatte plötzlich den dringenden Wunsch, dort fortzufahren, wo wir aufgehört hatten.

Als ich den Arm um Anna legte, um sie an mich zu drücken, spürte ich erst einen leisen Widerstand, wahrscheinlich spielte so etwas wie Pietät dabei eine gewisse Rolle. Aber dann gab sie nach. Sie war sehr sanft, als sie mich auf sich zog, und ich wusste immer noch nicht, ob sie wirklich wollte oder ob sie nur deshalb mitmachte, weil sie fühlte, wie wichtig es gerade jetzt für mich war. Es war mir, ehrlich gesagt, auch ziemlich egal, weshalb sie das tat, was sie tat. Hauptsache, sie tat es.

Kapitel 4

Als mein Großvater geboren wurde, lag das 19. Jahrhundert in den letzten Zuckungen. Mein Großvater war ein genuiner Dorfbewohner, auf seine Weise war er immer ein antiquierter Mensch geblieben. Er war ein Patriarch, um nicht zu sagen Despot – und zugleich war er ein armes Schwein, wie die meisten Menschen seiner Generation es waren und wie es, alles in allem besehen, überhaupt die meisten Menschen sind, egal, welcher Generation sie angehören. Die wenigen Mitglieder der Menschheit, die keine armen Schweine sind, kann man, wenn man es recht bedenkt, an den Fingern einer Hand abzählen, sogar „an der Hand eines Sägewerkarbeiters“, wie sie in Mellingen und Umgebung zu sagen pflegten, wo es früher viele Holzmühlen gab, deren zweifelhafter Sicherheitsstandard sich darin dokumentierte, dass den dort Beschäftigten durchweg einer oder mehrere Finger fehlten.