Das Gras auf unserer Seite - Stefanie de Velasco - E-Book

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Stefanie de Velasco

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Beschreibung

Mit unverwechselbarem Sound und großem Witz erzählt Stefanie de Velasco in ihrem neuen Roman von drei Frauen, die keine Lust auf das Lebensmodell haben, das für sie vorgesehen ist. Kessie, Grit und Charly haben den Fortpflanzungsdrang ihrer Altersgenoss:innen seit jeher mit amüsierter Verwunderung beobachtet. Einen Kinderwunsch hat keine von ihnen je verspürt. Auch nicht das Bedürfnis, sich in eine monogame Paarbeziehung zurückzuziehen und nur noch als Wir durch die Welt zu laufen. Doch einige überraschende Ereignisse stellen nun, mit Mitte vierzig, noch einmal alles infrage: Charly, eine erfolglose Schauspielerin, bekommt ein Rollenangebot in einer anderen Stadt. Und stellt fest, dass sie schwanger ist – von wem, weiß sie nicht so genau. Grit fliegt aus ihrer WG und muss zu ihrem Freund ziehen, der sich das schon lang wünscht. Doch sie will ein Zimmer für sich allein, besser noch eine ganze Wohnung. Während ihr Freund auf der Suche nach ihrem zukünftigen Nest am Berliner Wohnungsmarkt verzweifelt, findet sie Zuflucht in einem Schrebergarten. Kessie kommt derweil ihrer Jugendliebe Nazim näher, als sie in die alte Heimat fährt, um ihre kranke Mutter im Pflegeheim einzugewöhnen. Der einzige Partner, der in den letzten Jahren an ihrer Seite war, war ihr Hund Pan. Jede der drei Frauen steht vor einer Entscheidung. Und die Gesellschaft scheint sehr genau zu wissen, wie sie ausfallen sollte.

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Stefanie de Velasco

Das Gras auf unserer Seite

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Stefanie de Velasco

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Stefanie de Velasco

Stefanie de Velasco, geboren 1978 im Rheinland, studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft. Sie schreibt regelmäßig für das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die FAS und ZEIT Online. 2013 erschien ihr Debütroman »Tigermilch«, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt wurde.

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Über dieses Buch

Mit unverwechselbarem Sound und großem Witz erzählt Stefanie de Velasco in ihrem neuen Roman von drei Frauen, die keine Lust auf das Lebensmodell haben, das für sie vorgesehen ist.

Kessie, Grit und Charly haben den Fortpflanzungsdrang ihrer Altersgenoss:innen seit jeher mit amüsierter Verwunderung beobachtet. Einen Kinderwunsch hat keine von ihnen je verspürt. Auch nicht das Bedürfnis, sich in eine monogame Paarbeziehung zurückzuziehen und nur noch als Wir durch die Welt zu laufen. Doch einige überraschende Ereignisse stellen nun, mit Mitte vierzig, noch einmal alles infrage: Charly, eine erfolglose Schauspielerin, bekommt ein Rollenangebot in einer anderen Stadt. Und stellt fest, dass sie schwanger ist – von wem, weiß sie nicht so genau. Grit fliegt aus ihrer WG und muss zu ihrem Freund ziehen, der sich das schon lang wünscht. Doch sie will ein Zimmer für sich allein, besser noch eine ganze Wohnung. Während ihr Freund auf der Suche nach ihrem zukünftigen Nest am Berliner Wohnungsmarkt verzweifelt, findet sie Zuflucht in einem Schrebergarten. Kessie kommt derweil ihrer Jugendliebe Nazim näher, als sie in die alte Heimat fährt, um ihre kranke Mutter im Pflegeheim einzugewöhnen. Der einzige Partner, der in den letzten Jahren an ihrer Seite war, war ihr Hund Pan. Jede der drei Frauen steht vor einer Entscheidung. Und die Gesellschaft scheint sehr genau zu wissen, wie sie ausfallen sollte.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

1 MENSTRUATION

In der Nacht

Am Morgen

2 FOLLIKELPHASE

Es klingelt

Charly hat so fest

Grit hockt im Beet

Die Wohnung

3 OVULATION

Charly steht am unteren Ende

4 LUTEALPHASE

Am Abend

Charly ist müde

Die Nachbarschaftshilfe

Als Charly am Morgen

5 MENSTRUATION

PLANTASIA

DANKE

Für meine Freundinnen.

Für Pinsel und Jan.

1MENSTRUATION

Wir fressen –

Gras,

schaumgeborene Asianudeln,

Hamburger, halbe Hähnchen.

Wir fressen –

Alles, was aus dem Kinderwagen fällt:

Fetzen von Brezeln,

Teilchen von süßen Teilchen,

Maiswürmer in Speichel.

Wir fressen –

Aas

Knochen, Erbrochenes und Stuhl,

Absichtslos, aus Veranlagung.

Aus SCHMUTZIG BLEIBEN: VERSE FÜR HÜNDINNEN von Grit Feigenhauer

In der Nacht kommt die Hitze. Sie kann nicht schlafen, das T-Shirt klebt an ihr, obwohl sie draußen unterm Birnbaum liegt. Grit hat ein Moskitonetz um die Matratze gespannt – wieder eine dieser Tropennächte, selbst der Garten verschafft kaum Abkühlung, aber diese Hitze hier ist keine Sommerhitze. Wie bei schwerer Migräne kündigt sie sich mit Aura an, gleitet vom Magen hoch bis hinters Gesicht und kriecht dann in jede einzelne Pore, wo sie eine Art Kopfleuchten erzeugt, sodass an Schlaf nicht mehr zu denken ist. Perimenopause. Die Wechseljahre beginnen, meinte die Gynäkologin, als Grit wissen wollte, was zur Hölle das bedeuten soll – Perimenopause. Sie wollte ihr Hormone verschreiben, aber Grit hat die durchwachten Nächte inzwischen lieb gewonnen, und den Schlaf holt sie tagsüber nach. Niemand zwingt sie, morgens aufzustehen. Eine Weile liegt sie einfach nur da und lauscht der Nachtigall im Holunderbusch, diesem elektronischen Sound, der so gar nicht nach Natur klingt, sondern nach Minimal Techno oder dem MRT letztes Jahr, als sie in die Röhre musste wegen des Lipoms in der Brust.

Das Bettgestell wankt, als sie ihre Hose anzieht, die Füße auf den Rasen setzt und in die Crocs schlüpft. Grit hat es mit Gurten an den Birnbaum hängen müssen, weil Anno nicht wollte, dass sich die Metallbeine in den Boden bohren und der Rasen darunter gelb wird, aber in die Hütte hat es auch nicht mehr gepasst. Bis an die Decke stapeln sich dort Umzugskisten, ineinander verkeilte Möbel, obenauf ihr Wäschekorb, noch voll mit dreckigen Klamotten. Einmal noch wird sie ihre Unterhosen auf links tragen, dann muss sie endlich waschen – sobald die Verwandtschaft weg ist. Ihre Schwester und ihr zukünftiger Schwager. Die Zwillinge. Otto und Wilhelm, diese Terrorneffen, die mit ihrem Geschrei, ihrem Getrampel und dem unstillbaren Verlangen nach Eis und Endgeräten seit einer Woche die Ruhe in Annos Wohnung stören – eine Woche, in der nur beige Nahrung aufgetischt wurde: Nudeln, Apfelmus, Pommes frites, Vanilleeis. Sie weiß, man darf vom Nachwuchs nicht genervt sein, schon gar nicht als kinderlose Frau Ende 40 mit einer fetten Rosazea im Gesicht von zu viel Eierlikör und Smarties, aber warum Alice die Kinder nicht bei den Eltern gelassen hat, versteht Grit nicht.

Zum Glück ist ihr der Garten eingefallen, als sie in der zweiten Nacht mit Bauchweh neben Anno auf dem Klappsofa im Wohnzimmer lag, während Alice nebenan so laut schnarchte, als wäre sie ein alter Sack mit Schlafapnoe.

Schwaches Mondlicht fällt auf das Fenster der Hütte, Grit betrachtet ihr Gesicht, das sich darin spiegelt – ein Werwolf mit ungewaschenen Haaren in einem alten Dirty-Dancing-Shirt –, fummelt sich das Gummi vom Handgelenk, ordnet die Haare, zieht den Pferdeschwanz fest, sodass er ihr ein natürliches Facelifting verpasst. Irgendetwas klemmt ihr zwischen den Zehen im Schuh. Ein Samen? Hier liegen überall Samen herum, manche groß wie Flummis, aber es ist nur ein Smartie.

Vorbei an wuchernden Himbeeren und verkrauteten Beeten bahnt sie sich den Weg zu der kleinen Wiese hinter der Hütte, auf der ihr Fahrrad steht. Nebenan in der Parzelle brennt Licht, schwach rot scheint es durch die Hecke. Noch so eine Schlaflose vielleicht, jedenfalls ist Grit nicht die Einzige, die hier auf dem alten Niemandsland zwischen Yorckbrücken und Potsdamer Platz übernachtet, obwohl das gegen die Kleingartenordnung verstößt.

In der letzten Saison haben Annos Eltern hier noch alles in Schuss gehalten, die Hecke gestutzt, den Rasen gemäht. Seitdem ist der Garten verwildert. Grit schiebt ihr Fahrrad auf den Schotterweg, legt drei Ikeataschen hinten in den Anhänger und beschwert sie mit dem Fahrradschloss. Im Park am Gleisdreieck übertönen die stumpfen Beats der Bluetoothboxen den Gesang der Nachtigallen. Auf der Brücke donnert die U1 in Richtung Westen, BERLIN IS GAIAS CLITORIS, hat jemand an die Pfeiler geschmiert, Mädchen in Croptops und Cargohosen tanzen darunter, es sind die gleichen Klamotten, die Grit getragen hat, als sie in ihrem Alter gewesen ist. Seltsam, dass sich so vieles wiederholt. Was meinte die Gynäkologin gestern? Pubertät, nur rückwärts – das erwartet Sie in den kommenden Jahren. Grit biegt an den Volleyballfeldern rechts ab, lässt sich am Baumarkt die Rampe runterrollen und überquert die Yorckstraße. Vor Hisar sitzt Partyvolk bei einem Gute-Nacht-Döner, in der neu gebauten öffentlichen Toilette verschanzen sich die Junkies, hocken eng beieinander, Grit hört sie kichern und husten, als sie an ihnen vorbeifährt. Da ist er wieder. Herr Trott – sie sieht den Schatten ihres Hundes neben sich herlaufen, die fliegenden Ohren, sie meint das Klackern der Krallen zu hören, als hätte er sich seine Pfoten mit Rosenkränzen beschlagen lassen. Sie hat ihn eine Weile nicht mehr gespürt – wie lange wird er noch bleiben? Sie rollt auf die Straße, stemmt sich aus dem Sattel und schaut über die Autos hinweg in die Hauseingänge. Neben der Bäckerei steht eine Umzugskiste. Grit parkt das Fahrrad und schaltet die Taschenlampe an ihrem Handy ein. Im Sperrbildschirm leuchtet eine Nachricht.

DOGVILLE

Kessie: Kurz vor Köln hat sich jemand vor die Gleise geworfen. Stehen im Bergischen Land.

Grit: O no …

Kessie: Überall huschen Taschenlampen im Dunkeln. Schaffner meinte, wir sollen nicht aus dem Fenster schauen. Glaube, sie sammeln Leichenteile auf.

Grit: lol Du hast natürlich aus dem Fenster geschaut

Kessie: Nein, meinte der Typ neben mir. Ihm sei das schon auf der Strecke von Hamburg nach Hannover passiert. Wegen Muttertag, sagt er. So ein redseliger Eieresser.

Grit: Eieresser?

Kessie: Jemand, der auf Reisen Eier isst.

Grit: Oha…mache ich auch.

Kessie: Finde das grenzt an Belästigung.

Grit: Du meinst, Blähstigung? lol

Kessie: Hehe

Grit: Ich war vorhin bei dir. Du meintest den Heftstapel auf dem Schreibtisch, richtig? Nen anderen habe ich nicht gesehen. Schick ich dir montag … die Hefte liegen schon verpackt im garten

Kessie: Danke. Hätte ich niemals mehr in den Koffer gekriegt. Wollte die Hefte schon am WE korrigieren. Jetzt sind sie liegen geblieben.

Grit: War ja auch sehr plötzlich…dein aufbruch. Sag bescheid wenn du noch was brauchst oder wir sonst irgendwas für dich tun können …

Kessie: Ja, danke. Sag, welcher Garten eigentlich?

Grit: Von Annos eltern….die nutzen den nicht mehr und ich penne da seit Alice + Söhne da sind….das ging gar nicht mit so vielen Leuten in der kleinen Wohnung von anno…. bin fast durchgedreht.

Kessie: Ein Schrebergarten?

Grit: Ja der wird demnächst verkauft. Solange bleibe ich hier! Ha!

Grit beugt sich über die Kiste und leuchtet hinein. Hauptsächlich liegt Kleidung darin. Ein Paar Asos-Mokassins, darunter ein originalverpackter Spiralschneider und ein paar DVDs. Grit scannt den Barcode der Videos in der Momox-App ein. Alles, was mehr als 50 Cent wert ist, legt sie in den Fahrradanhänger. Die Kleidung ist nass und riecht nach Wein, Grit tastet den Stoff ab, dreht die Taschen einer kaputten Jeans auf links und findet einen Fünf-Euro-Schein. Einmal im Marie-Kondō-Wahn, nehmen sich Wegschmeißer im Rausch nicht mehr die Zeit, Hosentaschen zu leeren. Unter der Kleidung liegen Bücher, alle trocken. Rich Dad, Poor Dad – Was die Reichen ihren Kindern über Geld beibringen. Ratgeber bringen kein Geld, außer harte Esoterik. Engel und Außerirdische gehen immer – und natürlich Buddhismus. Rich Dad, Poor Dad bringt acht Euro, sagt die App. Sie legt das Buch in den Fahrradanhänger. Ist vielleicht was für ihren Schwager, als Versöhnungsgeschenk. Der liest so einen Blödsinn.

DOGVILLE

Kessie: Feuerwehr ist gekommen. Wird heute bestimmt nichts mehr mit einem Anschlusszug nach Ihrscheid. Feuerwehr spritzt jetzt den Zug ab.

Grit: Warum das??

Kessie: Eieresser meinte, die machen das Blut weg. So könne der Zug nicht in den nächsten Bahnhof fahren.

Grit: ok, krass!

Kessie: Werde mir in Köln ein Taxi nehmen müssen. Ärgerlich.

Grit: Weißt du schon, wie lange du in ihrscheid bleiben wirst?

Kessie: Habe absolut keine Ahnung.

Unten an der Hauptstraße hat vor Kurzem ein Biomarkt eröffnet, der sperrt seine Tonnen noch nicht ab. Grit fährt auf den Hof und rüttelt an der Klinke des Gitterkäfigs. Abgeschlossen, die haben schnell gelernt. Sie klemmt sich die Ikeataschen zwischen die Zähne und klettert über den Zaun. Ein Schwall Fliegen kommt ihr aus der ersten Tonne entgegen, es riecht nach vergammelten Molkereiprodukten, schnell wirft Grit den Deckel wieder zu. In der zweiten Tonne liegen Bananen, darunter Salatkartoffeln und Karotten. Die Bananen sind nicht einmal braun. Kohlrabi und Orangen, Äpfel und noch mehr Karotten liegen in der dritten, alles ein wenig runzlig, aber zu schade für die Tonne. Grit packt ein, hievt die Tasche über das Gitter, eine Karotte rollt dabei auf den Boden.

Herr Trott hätte sie sich sofort geschnappt, weggekaut und sich dann in seiner Bettlerpose vor sie hingestellt. Das schwarze Fell, der weiße Fleck auf der Brust, die liebsten Augen der Welt – kurz fühlt es sich an, als würde jemand auch an Grits Herz wie an einer Karotte nagen. 16 Jahre war er ihr Gefährte, hat sie in den Urlaub, auf Lesereisen, Fahrten zu ihren Eltern und nächtlichen Touren wie diesen begleitet. Sie wusste immer, dass der Hund einmal sterben würde, logisch – und zum Ende hin, als er 24 Stunden am Tag Pflege brauchte, war sie fast froh, als die Tierärztin meinte, jetzt ist Schluss. Einen neuen Hund will sie nicht haben. Neuer Hund, wie das klingt. Anderer Hund, auch nicht besser. Wer Tiere liebt, der hält sich keine, das klingt inzwischen gut. Sie packt die Karotte ein. Die Taschen sind fast voll, zu viel bleibt übrig. Tausende könnte sie mit dem speisen, was sie monatlich aus den Tonnen dieser Stadt holt. Ein letztes Mal steigt sie über den Zaun und öffnet die vierte Tonne. Croissants und Zimtschnecken liegen darin, etwas trocken, aber ansonsten völlig in Ordnung. Vielleicht möchten ihre Neffen die morgen zum Frühstück essen, als Versöhnungsmahl.

Sie schiebt das Rad mit dem schweren Anhänger die Potsdamer Straße runter, vorbei am Kleistpark, immer geradeaus bis zur Kurfürstenstraße. Die Nutten stehen zusammen, recken die Hälse, als Grit mit den Lebensmitteln vorbeikommt.

»Wollt ihr eine Zimtschnecke?«, fragt sie, aber die Nutten schütteln den Kopf und drehen sich weg, arrogant und elegant – denken sich wahrscheinlich, endlich mal eine, die nachts noch seltsamer unterwegs ist als wir. Grit legt einem schlafenden Obdachlosen eine Banane hin und ein Croissant. Der freut sich vielleicht am Morgen, dass ihm jemand Frühstück ans Bett gebracht hat. Sie schaut sich um, sie muss mal. Im Garten gibt es kein Klo, manchmal pinkelt sie auf die Blumen, das soll ganz gut sein, hat sie irgendwo gelesen, effektive Mikroorganismen – aber nur in Maßen. Sie stellt das Rad ab, hockt sich zwischen zwei Autos und lässt laufen. Machen doch alle. Männer. Ihr Schwager gestern am Kulturforum. Richtig stolz hat er sich am helllichten Tag einfach an einen Baum gestellt. Die Zwillinge haben große Augen gemacht, wie kleine Äffchen standen sie da, man konnte es in ihren Köpfen rattern hören – lernen am Modell.

Ein Kerl mit 4You-Rucksack und Reflektorstreifenjacke läuft den Bürgersteig entlang, er weicht dem Fahrrad aus, dann erst entdeckt er Grit zwischen den Autos.

»Schäm dich was«, murmelt er und geht kopfschüttelnd weiter.

Grit zieht sich die Hose hoch. »Schäm dich selber was.«

DOGVILLE

Kessie: Geht zum Glück endlich weiter. Habe mir langsam Sorgen um Pan gemacht. Länger als 6 Stunden hält er nicht durch.

Grit: Du hättest ihn bei mir lassen sollen …

Kessie: Nein. Hast selber genug Ballast mit deiner Verwandtschaft in Annos kleiner Wohnung. Außerdem ist Pan ein angenehmer Puffer zwischen mir und meiner Mutter.

Grit: Solltest du länger bleiben müssen kann ich ihn auch abholen …

Kessie: Danke, du Beste. Sind gleich da. Kann schon den Rhein glitzern sehen.

Grit: Gute weiterreise!

Kessie: Danke. Melde mich morgen!

Kessie steckt das Telefon weg und schaut aus dem Fenster. Im Schritttempo fährt der ICE über die Hohenzollernbrücke in den Kölner Hauptbahnhof ein, vorbei an den mit Tausenden Vorhängeschlössern übersäten Gittern. Als junge Erwachsene konnte sie sich nicht sattsehen an diesen eisernen Liebesbeweisen, über Jahre hinweg von Paaren an der Brücke befestigt. Sie gaben Kessie bei jedem Überqueren der Brücke die diffuse Hoffnung auf eine Zukunft, in der auch sie nicht mehr allein sein würde. Inzwischen ekelt sie sich vor ihnen. Dicht an dicht rosten sie vor sich hin, verschmelzen immer mehr mit der Brücke – braun und bedeutungslos, genau wie die Hohenzollern.

Pan kommt unter dem Sitz hervor. Die ganze Fahrt hat er ausgeharrt, ohne einen Ton von sich zu geben. Kessie hat sich das teure Ticket für ihn gespart, stattdessen eine Tageszeitung gekauft und so auf ihrem Schoß ausgebreitet, dass der Hund verdeckt wird. Sie sieht es nicht ein – Hunde zahlen bei der Bahn so viel wie ein allein reisendes Kind, dabei darf Pan nicht mal auf einen Sitzplatz. Er schüttelt sich diskret und Kessie streicht ihm über das kurze Fell. Vor acht Jahren, als sie ihn am Strand von Torre-Pacheco fand, war er ein runtergekommenes Gerippe, voller Räude. Zu Anfang ließ er sich kaum locken. Sie versuchte es mit Chorizo, dann mit der fetten Salami aus Pamplona, doch erst, als sie ihm ein Stück Brot reichte, kam er näher, nahm es ihr aus der Hand und ließ sich streicheln. Nach dem spanischen Wort für Brot hat sie ihn benannt, nicht nach dem Gott Pan, auch wenn er mit seinen schwarz umrandeten Augen und den seidigen Schlappohren wie ein kleiner süßer Gott aussieht.

Kessies Sitznachbar – der Eieresser – steht auf und staunt. »Da lag die ganze Zeit ein Hund?«, fragt er.

Kessie lächelt.

Der Eieresser nickt anerkennend und wuchtet seinen Koffer aus der Gepäckablage. »Also dann, schöne Weiterfahrt und alles Gute für Ihre Mutter.«

»Danke.«

Pan gähnt und streckt sich – herabschauender Hund. Adho Mukha Svanasana. Sie hat die Yogamatte in Berlin vergessen. Sie praktiziert regelmäßig, aber nur, um ihre Bildschirmzeit auszugleichen. Sie erhofft sich keine Gelassenheit, Selbstliebe oder gar Erleuchtung dadurch. Auch wenn sie das in Ihrscheid sicher gebrauchen könnte. Kessie hat ihre Mutter in den letzten Jahren nur noch selten gesehen. Mal an einem Wochenende oder an Weihnachten. Diesmal wird sie länger bleiben müssen. Sie ist gefallen. Der Nachbar hat sie im Treppenhaus gefunden. Sie war bei Bewusstsein, aber verwirrt. Sie hat immer wieder gesagt, dass sie dich vom Kindergarten abholen muss. Sie liegt im Krankenhaus mit einer heftigen Gehirnerschütterung. Absurd, diese Nachricht ausgerechnet von Álvaro zu erhalten. Kessies Bruder ist mit 18 für ein Praktikum nach Spanien gegangen und nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Keine Zeit, meinte er am Telefon, es tue ihm furchtbar leid, aber er könne seine Frau in der Hauptsaison mit den Kindern und dem Hotel nicht allein lassen. Ende des Monats komme er, also wird Kessie das erst mal allein durchziehen müssen.

Als der Zug zum Halten gekommen ist, lässt sie Pan zuerst raus und rollt mit dem Koffer zu den Aufzügen. Draußen am Taxistand dauert es eine Weile, bis jemand sie mit dem Hund einsteigen lässt.

DOGVILLE

Charly: my deer, bist du schon daa?

Kessie: Fast. Habe die letzte Regionalbahn verpasst. Sitze im Taxi nach Ihrscheid. Bin zum Glück gleich am Bahnhof.

Charly: äh warum fährt der dich nicht heim???

Kessie: Pan muss noch mal bewegt werden.

Charly: ok dann schrieb wenn du zuhaus bist kein bock dass die dich in einem blauen plastiksack zurück nach berlin schicken

Charly: *schreib

In Ihrscheid steht Kessies Mutter nicht wie sonst winkend am Bahnhof. Es ist kurz nach Mitternacht, der Bahnhofsvorplatz ist dunkel und verwaist. Der Taxifahrer stellt den Koffer auf den Bürgersteig, Kessie steckt die Quittung ein, verabschiedet sich und beugt sich zu Pan hinab. Den zieht es zum erstbesten Baum, aber vorher muss der Maulkorb drauf. Es ist schon lange nicht mehr so wie früher. Über die Jahre hinweg hat Pan nicht nur Dutzende Allergien entwickelt, sondern sich auch in eine Art Staubsauger verwandelt, der alles von der Straße aufnimmt, was halbwegs essbar erscheint. Würde er heute nur ein winziges Stück Brot fressen, bekäme er spätestens morgen Sodbrennen und blutigen Durchfall.

»Verfluchte Scheiße«, flüstert Kessie und wühlt in ihrer Tasche. Sie kann den Maulkorb nirgends finden. Sie muss ihn in der Aufregung im Zug vergessen haben. Vor ihr liegt die menschenleere Fußgängerzone von Ihrscheid. Vor einigen Jahren wurde die Kreisstadt an die ICE-Strecke nach Frankfurt angebunden, das gesamte Bahnhofsareal wurde modernisiert, nur das Amtsgericht sieht noch genauso schäbig aus wie damals, als Kessie dort vor einen Richter treten musste. Sie war allein mit diesem Mann in einem großen Raum. Bei wem willst du leben, fragte er, bei deinem Vater oder deiner Mutter? Der Richter wiederholte Kessies Aussage, sprach dabei leise in ein kabelloses Gerät, das er dicht vor seinen Mund hielt. Bei meiner Mutter.

»Aus«, zischt sie und zieht an der Leine. Pan gehorcht und lässt den Brezelfetzen fallen. Sie reicht ihm zur Belohnung ein Leckerli. Nur noch die Exoten verträgt er – Kamelfleisch, Strauß und Känguru. Sie wird ihm später sicherheitshalber einen Säureblocker geben. Ein kranker Hund ist das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann. Sie muss morgen ins Krankenhaus, Dolores besuchen und mit der Neurologin sprechen, sie muss Álvaro anrufen, die Öffnungszeiten der Fachhochschulbibliothek in Sankt Augustin googeln.

An der Sparkasse hebt Kessie Geld ab und zieht sich eine Packung Luckies aus dem Automaten. Sie raucht nur noch selten, aber ohne Zigaretten hält sie Ihrscheid nicht aus. Früher war die Gegend um den Bahnhof voller Nacktbars und Erotikläden. Wenn Kessie an Sonntagen betrunken und müde vom Feiern nach Hause wankte, kamen ihr vereinzelt Typen wie Zombies in einem Videospiel entgegen. Einmal sprach sie einer an, dunkler Anzug, milchige Flecken auf der Hose. Kennst du die Furzelstraße? Kessie ging weiter, aber er packte sie am Arm und sagte etwas, sie weiß nicht mehr, was, er hielt ihr ein Pornoheft ins Gesicht, daran erinnert sie sich noch. Und an die Abbildung – zwei in die Höhe gestreckte Beine und dazwischen eine dick belegte Zunge mit einer Furche zwischen den Papillen. Ein anderes Mal wartete sie frühmorgens auf die Straßenbahn, um auf den Flohmarkt in der Rheinaue zu fahren. Sie rauchte. Ein junger Mann setzte sich neben sie, blond und besoffen. Er öffnete seine Jeans und fing an, sich einen runterzuholen. Er lächelte sie an. Bis heute sieht sie seine Augen vor sich, das wässrige Blau, den plötzlichen Schmerz darin, als sie ihm die brennende Zigarette auf seinem Schwanz ausdrückte, und wie so oft gruselt sie sich vor diesem mutigen Leichtsinn, der ihr spätestens mit 20 völlig abhanden gekommen sein muss.

Von Weitem kommen die grauen Wohnblöcke der Baugenossenschaft in Sicht, Kessie kramt den Hausschlüssel der Mutter hervor. Der Familienname an der Klingel ist verblasst. Ihr Bruder erhielt noch einen spanischen Vornamen, beim zweiten Kind bestand Dolores auf einen deutschen: Kerstin – damit du hier richtig zu Hause bist. Pan reibt sich ausgiebig an den Wänden und hinterlässt dabei graue Schlieren im Treppenhaus. Früher hätte Kessie ihren Hund davon abgehalten, Dolores’ Nachbarn sind Hobbyspitzel und Rassisten, doch ihre Mutter wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr zurückkehren.

Als Kessie im zweiten Stock die Wohnungstür aufschließt, stößt ihr ein unangenehmer Geruch entgegen. Pan läuft mit der Nase am Boden ins Schlafzimmer der Mutter, Kessie kann ihn gerade noch davon abhalten, etwas vom Boden aufzuschlecken. Erbrochenes liegt auf dem Bettvorleger. Kessie rollt ihn zusammen und packt ihn im Bad in die Waschmaschine. Blutverschmierte Handtücher liegen darin. Sie füllt Waschpulver in die Kammer, schlägt die Tür zu und hält den Atem an, bis das Wasser zu rauschen beginnt. Durstig ist sie, gierig trinkt sie Wasser direkt aus dem Hahn, putzt sich die Zähne, bezieht Dolores’ Bett frisch und legt ihre Kleidung ab. Pan hat sich müde von der Reise auf dem Sofa zusammengerollt.

DOGVILLE

Kessie: Bin da.

Charly: Toppp drum kann auch ich jetzt schlafen

Kessie: Wieso bist du noch so spät wach?

Charly: War ich gar nicht hab gepennt tief und fest doch dann hat vincent mich geweckt stand vor der tür am heulen. er trennt sich.

Kessie: Schon wieder?

Charly: ja der arme ich schlaf jetzt erstmal mit ihm

Kessie: Hehe. Tu was du nicht lassen kannst. Melde mich morgen früh. Gute Nacht!

Am Morgen wird Kessie von Pans feuchter Nase wach. Die halbe Nacht hat sie sich im Bett der Mutter gewälzt, bis der Hund gegen vier Uhr zu ihr ins Bett gekrochen ist. Müde durchstöbert sie die Küchenschränke nach ordentlichem Kaffee. Dolores hat immer nur Linde’s Kornkaffee getrunken. In den 40 Jahren in Deutschland hat die Mutter ihre mediterrane Diät konsequent beibehalten, nur im obersten Kühlschrankfach findet Kessie Hausmacher Leberwurst und Sülze im Glas. Guilty pleasure – letztes Jahr an Weihnachten erklärte Kessie Dolores, was das heißt. Gilti plätscher, sagte Dolores, deutsche Wurst. Schon als Kinder lachten Álvaro und Kessie Tränen, wenn ihre Eltern englische oder lange deutsche Wörter aussprachen. Sag Michael Jackson. (Mika-el Dschak-sonn), sag Streichholzschächtelchen (Estrei-kolz-schättel-tschen), und auch die Eltern lachten über ihre katastrophale Aussprache. Heute ist Kessie froh, wenn Dolores überhaupt noch lächeln kann, so starr sind ihre Gesichtszüge inzwischen geworden.

Mit einer Tasse Muckefuck betritt sie den Balkon. Die Sonne bricht durch den Nebel, hinter den Dächern ragt der Michaelsberg mit der Benediktinerabtei hervor, am Ende der Straße steht der real, in dem Dolores als Kassiererin gearbeitet hat. Genau vier Jahre hatte sie was von ihrem Ruhestand, dann fingen die Stürze an. Zu Anfang vermutete Kessie, der Grund wären die verkürzten Achillessehnen ihrer Mutter. Sie zeigte ihr Dehnübungen, zusammen kauften sie ein Paar Turnschuhe mit Geleinlage, aber Dolores lief weiter mit hohen Absätzen herum und Kessie hörte auf, sich über die Stürze zu wundern. Die Anrufe aus Ihrscheid mehrten sich – ich falle, ich falle. Dann kam die Diagnose, Kessie nahm sie hin, ohne das Ausmaß der Erkrankung zu verstehen. Inzwischen kann sie es nicht mehr leugnen: Dolores hat in den letzten Jahren abgebaut. Ihre Sprache hat sich verändert, die Gesichtszüge sind starrer und gleichzeitig schlaffer geworden, sie haben der sonst so resoluten Mutter einen verträumten Ausdruck gegeben, den Kessie mögen würde, wenn sie nicht wüsste, dass er von der Erkrankung kommt.

Sie macht ein Foto von der Abtei auf dem Berg, dem Einkaufszentrum, dem pinken Himmel, filtert es in Pastelltönen und stellt es in den Hundechat.

DOGVILLE

Kessie: Nichts macht dich so fertig wie deine Heimatstadt.

Charly: Gumoooo …

Grit: hey du-hu warst du schon im krankenhaus?

Kessie: Nein. Gehe gleich hin. Wünschte, ihr wärt hier.

Charly: wenn dir alles zuviel wird komm ich nach ihrscheid

Grit: Und ich mit

Charly: auch wenn ich grad sowas von megapleite bin für dich fahr ich auch bis nach lummerland

Grit: Hä? Du hast doch anfang Mai gedreht. Oder nicht?

Charly: ja aber ich muss doch diese krasse tierarztrechnung abstottttern diese frau aus dem tiergarten hat ernst gemacht, bubba hatte streit mit einem bobtail er hasst diese wuschelhunde

Grit: Mit streit meinst du eine Beißerei, korrekt?

Charly: ich hab bubba irgendwann zu packen gekriegt aber die frau vom bobtail ist komplett durchgedreht sie meinte sie ruft die bullen, und dann hat die meinen perso ABFOTOGRAFIERT

Kessie: Entschuldige. Das muss bei mir im Trubel um Dolores untergegangen sein.

Charly: achtung angeschnallt hier kommt die rechnung

Grit: wtf??!? 1500 Euro

Kessie: Ordentlich.

Charly: i know schöne scheisse

Grit: »wundbehandlung und wundnaht«? Was hat bubba bitte mit dem armen bobtail gemacht??

Charly: wo soll ich bitte so viel geld herholen

Kessie: Soll ich dir was leihen?

Charly: das würdest du machen???

Kessie: Bedingung wäre Bubbas zeitnahe Kastration. Geld für die OP lege ich noch obendrauf. Muss jetzt mal los. Melde mich später.

Charly: Was? nein

Charly schleudert das Telefon ans Bettende. Sie mag es, mit diesem Ding brutal umzugehen, zu riskieren, dass es kaputtgeht. Fritz hat ihr eine Klapphülle geschenkt, aber so was zieht sie ihrem Telefon nicht an. Wenn es ihres sein will, muss es sich wie Charly der Welt da draußen hingeben, die Härte und Hitze umarmen, tanzen muss es auf den spitzen Ecken und Kanten, die das Leben zu bieten hat, auch wenn es manchmal schmerzt. Nur, denkt Charly, kann ich das von einem Endgerät erwarten, wenn ich mich dazu selbst derzeit nicht in der Lage fühle?

Es ist Samstag, im Schmuckwinkel riecht es nach B12-Lasagne. Charly liebt die Gerichte, die ihr Mitbewohner kocht, aber heute wird ihr schlecht von dem Dunst, der aus dem Flur durch den Türspalt dringt.

Vincent liegt neben ihr im Bett und rückt an sie heran.

»Wie spät ist es?«, fragt er.

Warmer Atem strömt über ihre Schulter hinweg. Vincents Gesicht sieht zerknautscht aus, wie einer von Bubbas zerbissenen Bällen. Mitten in der Nacht ist er hier reingeschneit, Charly wollte ihn eigentlich nach dem Sex um Geld bitten – für die Tierarztrechnung –, aber ist grad nicht der beste Moment, ist mal wieder Trennungsphase. So geht das seit Ewigkeiten. Streit, Trennung, Therapie, Versöhnung – das sind Vincents Jahreszeiten. Sie kennt seine Frau kaum, die will nicht, dass Vincent mit seinen Exen rumgluckt. Exen. So nennt sie sie. Was für ein Wort. Alle vor ihr waren nur Reptilien, oder was? Seine Frau. Klingt wie mein Hund. Charly fällt der Name nicht ein. Lina, Ida, Mina, Stina – wahlweise auch auf E endend. So heißen junge Ehefrauen heutzutage, und die Kinder Ferdinand oder Oskar, Hedwig oder Wilhelmine. Die einen wie in Bullerbü groß geworden, die anderen wie aus der Hitlerjugend entlaufen.

Charly blinzelt durch die Brüstung des Hochbetts. Bubba döst auf seiner Couch unter dem Ladenfenster. Seine Ohren zucken, er träumt. Niemand würde bei dem Anblick darauf kommen, dass dieser sanfte Riese so ein Hells Angel werden kann. Wie sein Maulfleisch geglänzt hat, als sich seine Zähne in die Bobtailwolle gebohrt haben – wie der lederne Reißverschluss irgendeiner teuren Tasche. BK. Bubba Kaiser, King of Kiefergelenk, Herr der Hoden. Charly lässt sich zurück in die Kissen fallen. Geld muss reinkommen – regelmäßig, sie braucht ein Ziel, Methoden und Routinen statt Schulden und Ruinen. Aber wie und welche? Sie kriegt ja die Augen kaum auf. Sie hat schon immer gern, viel und lange geschlafen, aber das hier kennt sie nicht. Diese komatösen Nickerchen, morgens, mittags, abends, das muss aufhören.

Vincent zieht sie zu sich heran.

»Musst du nicht gleich zur Therapie?«, fragt Charly.

»Ja, gleich«, flüstert Vincent. Er küsst sie, Charly rückt nah an ihn heran, reibt die Wange an seinen Bartstoppeln, drückt ihre Nase an seinen Hals und saugt den tannigen Geruch auf. Sherwoodforestgrüne Augen hat Vincent. So muss Robin Hood gelächelt haben, als Lady Marian ihn beim Baden erwischt hat, als er zu ihr gesagt hat: Verzeihung, aber ich befolge nur den Rat einer Lady. Das dachte Charly, als sie Vincent zum ersten Mal traf. Jahre ist das her. Sie standen beide allein und dumm vorm Berghain herum, weil der Türsteher sie nicht reinlassen wollte. Vincent bot ihr einen Schluck von seinem warmen Bier an. Sie spazierten am Wasser entlang über die Spree zum Badeschiff und kletterten über den Zaun. Das Schwimmbecken war mit einer Plane zugedeckt. Sie krochen ins Wasser, zogen sich ihre Sachen aus, dicht über ihnen die dicke Plane, und dort schliefen sie miteinander – es war so frisch und heiß zugleich, Vincents nasser, kühler Körper, übersät mit Leberflecken, wie ein Dalmatiner sah er aus. Danach lagen sie im Sand, über den Fluss schallten Beats und Jubelrufe von den Partybooten, und Vincent erzählte, dass er von einem der drei Musketiere abstamme. Charly hielt das für eine tollkühne Lüge, zu viel Testosteron im Blut nach dem Sex, aber sie liebte es – diese Geschichte, dieses Imponiergehabe, dass sich jemand so etwas Originelles einfallen ließ, um bewundert zu werden, und war fast enttäuscht, als Vincent ihr in der Woche darauf bei Wikipedia einen jungen Soldaten zeigte, der ihm tatsächlich verblüffend ähnlich sah, und ein Foto von einem Schwert, das in Paris bei seinen Eltern in einer Glasvitrine lag und diesem Musketier gehört haben soll.

Sie schiebt Vincents weißes, weiches T-Shirt hoch, fährt mit den Fingern über seine Rippen, streichelt das Tattoo an der linken Lende – ein Herz, You and me and Bela Lugosi, steht darin. Vincent stöhnt leise. Er beugt sich über Charly, seine langen Arme liegen neben ihren Schultern, schließen sie schützend ein in diese Höhle aus weicher, warmer Haut. Langsam und vorsichtig dringt er in sie ein, Charly hebt die Hüften und drückt ihre Vu an ihn wie eine glühende Raute. So macht man es bei Pferden und Rindern und bei teuren Taschen, so macht Charly es bei den Männern ihres Trios, brandmarkt sie wieder und wieder mit ihrem Zeichen: MCK, Maria Charlotte Kaiser – Königin des Koitus, Countess of Cunts, Femme Fontaine, sie fühlt sich satt und hungrig zugleich und dann immer hungriger und hungriger. Der erste Höhepunkt kommt langsam, wie Strom, der mit zu wenig Volt einen heißen Draht hochkriecht, der zweite dann umso schneller, ein Orgasmus, so flink wie ein Fuchs, der dem Kaninchen in den Bau folgt, es dann packt und – tot.

Vincent zieht das Kondom ab und löffelt sich an Charly ran. Sie presst ihren Hintern gegen seinen Schoß, fasst sich in den Schritt und legt die Hand auf ihre Vu. Die Haltung tröstet sie, wie als Kind das Stofftier im Arm ihr vor dem Einschlafen Trost gab. Beides drückt sie mit der gleichen Absicht an sich, nur warum? Warum dieses Trübsalgeblase? Alles ist gut und schön, bis auf das Geldproblem, und das ist seit jeher unausrottbar – wie Läuse im Kindergarten.

»Gehen zwei Zahnstocher durch den Wald, kommt ein Igel vorbei, sagt der eine Zahnstocher zu dem anderen, ich wusste gar nicht, dass es hier Busse gibt«, flüstert Vincent Charly ins Ohr, aber sie hört den obligatorischen Witz, den er ihr nach dem Sex erzählt, kaum, sie ist schon fast wieder weggedöst. Ihr Unterleib schmerzt. Vielleicht kriegt sie einfach nur ihre Tage, das verdrängt sie jeden Monat aufs Neue – diese rostrote Flut und was ihr an Müll vorausgeschwemmt wird: Kopfweh, Fressanfälle, Müdigkeit, Krämpfe. Seit 30 Jahren geht das so, genug Zeit, würde man meinen, um sich damit abzufinden, es als Teil ihres Lebens anzunehmen, aber trotzdem bleibt Charly dieser monatliche Überfall, diese Blutflut, fremd. Sie schreckt hoch.

»Was ist?«, fragt Vincent. Vielleicht blutet sie gleich los, sie hat keine Lust, die Bettwäsche zu wechseln – der einzige Nachteil an einem Hochbett –, sie hat auch keine Tampons mehr, wollte schon letzte Woche welche kaufen, selbst so was hat sie verschoben, und an ihren Füßen summt jetzt auch noch der Vibrator. Sie kriecht unter die Bettdecke, aber es ist nur das Telefon.

DOGVILLE

Grit: @charly könnt ihr lebensmittel brauchen? War gestern mal wieder in tausend Tonnen tauchen…könnte in einer Stunde vorbeikommen …

Charly: ja voll gern kannst du mir noch 1 tampon mitbringen??

Grit: ich hab dir doch diese mindtasse geschenkt.

Grit: Mondtasse