Tigermilch - Stefanie de Velasco - E-Book
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Tigermilch E-Book

Stefanie de Velasco

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Beschreibung

»Manchmal kann die Musik gar nicht laut genug sein, damit man das Leben nicht hört.« Nini und Jameelah leben in derselben Siedlung, sie sind unzertrennlich und mit ihren vierzehn Jahren eigentlich erwachsen, finden sie. Deswegen kaufen sie sich Ringelstrümpfe, die sie bis zu den Oberschenkeln hochziehen, wenn sie ganz cool und pomade auf die Kurfürsten gehen, um für das Projekt Entjungferung zu üben.Sie mischen Milch, Mariacron und Maracujasaft auf der Schultoilette. Sie nennen das Tigermilch und streifen durch den Sommer, der ihr letzter gemeinsamer sein könnte. Die beiden Freundinnen lassen sich durch die Hitze treiben, sie treffen nicht Tom Sawyer oder Huck Finn, aber hängen mit Nico ab. Nico, der in der ganzen Stadt »Sad« an die Wände malt und Nini ein Gefühl von Zuhause gibt. Sie machen Bahnpartys, rauchen Ott in Telefonzellen und gehen mit Amir ins Schwimmbad. Amir, den sie beschützen wie einen kleinen Bruder. Und dessen großer Bruder Tarik im Dauerstreit mit seiner Schwester liegt, weil diese sich in einen Serben verliebt hat. Nini und Jameelah erschaffen sich eine Welt mit eigenen Gesetzen, sie überziehen den Staub der Straße mit Glamour, die Innigkeit ihrer Freundschaft ist Familienersatz. Sie halten sich für unverwundbar, solange sie zusammen sind. Doch dann werden sie ungewollt Zeuge, wie der Konflikt in Amirs Familie eskaliert. Und alles droht zu zerbrechen.Mit einem hinreißend eigenen Sound, leichtfüßig und schonungslos, wuchtig und zart erzählt Stefanie de Velasco von zwei Mädchen, die das Leben mit beiden Händen ergreifen und lernen müssen, das eigene Dasein auszuhalten. Ein kraftvolles Debüt über Verlust und Sehnsucht. Unmittelbar, entlarvend und herzzerreißend.

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Stefanie de Velasco

Tigermilch

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Stefanie de Velasco

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Für Mädchen

Inhaltsverzeichnis

In einem kühlen Grunde

Da geht ein Mühlenrad;

Mein’ Liebste ist verschwunden,

Die dort gewohnet hat.

Sie hat mir Treu versprochen

Gab mir ein’n Ring dabei;

Sie hat die Treu gebrochen,

Mein Ringlein sprang entzwei.

Hör ich das Mühlrad gehen,

Ich weiß nicht, was ich will,

Ich möchte am liebsten sterben,

Da wär’s auf einmal still.

Joseph von Eichendorff

Inhaltsverzeichnis

Ich hätte ihn gar nicht erst entdeckt, wenn Mama nicht Frau Stanitzek auf der Straße getroffen hätte. Dass es die Stanitzek war, daran erinnere ich mich, weil ihr schon damals der Späti gehörte an der Vorderseite des Hauses, in dem Jameelah heute wohnt. Ich weiß noch, ewig standen die beiden herum, sie redeten und lachten, dann redeten sie wieder und dann wieder dieses Lachen. Ich hörte nicht hin, ich langweilte mich, und ich hielt mich am Kinderwagen fest, weil es so glatt war auf der Straße, das weiß ich noch ganz genau.

Im Kinderwagen lag Jessi, sie war noch ein Baby, ein Unfall. Mama hat geweint, als sie erfuhr, dass sie wieder schwanger war. Sie saß auf der Bettkante im Schlafzimmer, die Bettkante von dem Bett, in dem sie früher schon mit Papa geschlafen hatte. Rainer saß neben ihr, dann hat er sie in den Arm genommen, und dann haben sie sich irgendwie doch gefreut. Ich weiß noch, dass ich das damals alles durch den Türschlitz beobachtet habe und dass ich plötzlich dringend pinkeln musste. Auf dem Waschbecken im Klo lag noch der Schwangerschaftstest, einer von den billigen aus Papier, die äußeren Enden bogen sich langsam nach oben, wie alter Schnittkäse beim Bäcker in der Auslage.

Und dann sah ich ihn. Er lag im Schnee, er war grün, und er dampfte. Irgendjemand musste ihn erst vor Kurzem dort hingespuckt haben. Eigentlich sah er aus wie ein kleiner zusammengekneteter Pizzateig, wie für meine Barbie, nur eben grün, und er hatte Zahnabdrücke. Ich hielt mich immer noch am Kinderwagen fest, ich trug Fäustlinge, die mit einer Schnur verbunden waren, und die über meinen Rücken durch meinen Anorak lief. In einem der Fäustlinge steckte die Barbie. Und während Mama sich mit der Stanitzek unterhielt, da kroch der Oberkörper meiner Barbie aus dem Fäustling hervor und bückte sich. Die Barbie spießte den Kaugummi mit einer ihrer vorgestreckten Hände auf und steckte ihn mir in den Mund. Er war noch ein kleines bisschen süß, er schmeckte nach Waldmeister und ein bisschen nach Zigaretten. Als ich mit elf das erste Mal an einer Zigarette gezogen habe, da habe ich auch schon mal an den Kaugummi denken müssen, und heute, da habe ich wieder an den Kaugummi gedacht, wie er da im Schnee lag, und an den Geschmack, weil ich heute das erste Mal ein Kondom mit dem Mund draufgemacht habe. Alter Nuttentrick, sagt Jameelah, die Jungs finden das super. Ich erzähle das nur, weil ich glaube, dass ich zum ersten Mal eine richtige Kindheitserinnerung hatte, und Erinnerungen aus der Kindheit kann man doch nur haben, wenn man selbst kein Kind mehr ist. Jameelah sagt, sie kann sich an nichts aus ihrer Kindheit erinnern. Dann bist du vielleicht immer noch ein Kind, habe ich zu ihr gesagt. Ihr ist dann aber doch noch was eingefallen, wie sie mal in einer Mülltonne zwei Kaninchen gefunden hat, die noch nicht richtig tot waren, aber fast, das war mal in irgendeinem Sommer im Irak, da war ich noch klein, mein Cousin hat die dann totgeschlagen mit einem Tischtennisschläger, sonst hab ich keine Erinnerung, sagt Jameelah, ist vielleicht auch besser so, ich will auch gar nicht erwachsen werden, zumindest nicht ganz, nur gerade genug, dass ich in alle Clubs reinkomme und die Typen nicht denken, sie gehen in den Knast, wenn sie mit mir was anfangen.

 

Wir zwei, Jameelah und ich, wir sind jetzt erwachsen. Deswegen kaufen wir uns Ringelstrümpfe von unserem Taschengeld. Wenn man anfängt, sich selbst Klamotten zu kaufen, dann ist man erwachsen. Nach der Schule schließen wir uns im Mädchenklo ein und ziehen unsere Hosen aus, darunter sind die Strümpfe. Unsere T-Shirts, die reichen uns nur knapp über den Hintern, darunter die Ringelstrümpfe, bis zum Oberschenkel hochgezogen, das ist genau das, worauf die Typen abfahren. Ich kriege immer Schulmilch in der großen Pause, weil ich Kalziummangel habe, das sieht man angeblich an den weißen Flecken auf meinen Fingernägeln. Beim Penny haben wir eine Flasche Mariacron, Maracujasaft und eine Müllermilch Schoko gekauft, den Kassiererinnen ist das meistens egal, dass wir noch keine 18 sind. Die Müllermilch kippen wir ins Klo, Müllermilch ist für Kinder, wir trinken Tigermilch, und das geht so. Wir kippen ein bisschen Schulmilch, viel Maracujasaft und ordentlich Mariacron in den Müllermilchbecher. Jameelah rührt mit ihrem Finger alles zusammen, ganz lange Finger hat sie, voller Ringe, alle von Pimkie geklaut. Jameelah klaut nicht nur Ringe, auch Parfüm, Nagellack, eigentlich alles, wo keins von diesen Dingern dran ist, die piepsen.

Wir trinken abwechselnd aus dem Müllermilchbecher, und dann fahren wir zur Kurfürsten. Die Bahn schaukelt uns über ein Stahlgerüst quer durch die Stadt, und Jameelah fängt wieder an, sich Geschichten auszudenken. Stell dir vor, sagt sie und schaut mich aus ihren riesigen dunklen Augen an, stell es dir einfach nur mal vor. Es klingt so wie, es war einmal, es ist aber nicht, es war einmal, es ist, so könnte es mal sein. Ich schließe meine Augen, alles dreht sich ein bisschen. Ich stelle mir vor, die Bahn ist ein fliegender Teppich, und gleich wird Jameelah anfangen, irgendwas zu erzählen.

 

Stell dir vor, mit 17 oder so, wenn deine Brüste, wenn die nicht mehr weiterwachsen, stell dir vor, dass die sich dann für ein paar Tage im Monat mit Tigermilch füllen. Was meinst du, wie die Typen darauf abfahren würden.

Hör auf, Jameelah, du spinnst.

Jameelah kichert laut.

Doch, weißt du, so wie dir irgendwann Brüste wachsen, so wie du anfängst, deine Tage zu bekommen, kriegt man einmal im Monat Tigermilchtage.

Tigermilchtage?

Tigermilchtage und Nächte, Nage und Tächte.

Jameelah liebt es, Buchstaben zu vertauschen, Wörterknacken nennt sie das. Aus Luft macht sie Lust, aus Nacht nackt, Lustballons, Nacktschicht, Lustschutzkeller mit Nacktwächtern. Wir sprechen außerdem O-Sprache, Geld ist Gold, mit Filter drehen gibts nicht, nur mit Folter drohen.

Ich dachte früher immer, Teenager sind Leute, die Tee nagen, du auch?

Jameelah lacht und schüttelt den Kopf, dabei klirren ihre langen Ohrringe.

Was heißt Teenager auf Arabisch?

Weiß ich doch nicht, sagt Jameelah, ist doch total egal. Wie findest du die Idee, ein paar Tage Tigermilch, geschenkt von der Natur, von Gott, von irgendeinem Sexgott zum Eisprungfeiern.

Du bist echt ganz schön voll. Aber ich weiß nicht, das ganze Leben ein Mal im Monat, ist das nicht anstrengend?

Jameelah kneift die Augen zusammen und überlegt. Dann eben nur, bis du ein Kind kriegst. Nur bis dahin, das hat die Natur so eingerichtet, weil dann hast du ja einen Mann.

Ich nicke, Jameelah schaut mich verschwörerisch an. Dann darf man aber nie Kinder kriegen, weil dann hört das ja auf.

In Deutschland kriegt eh keiner mehr Kinder, hab ich im Fenster gelesen.

Im Irak schon.

Du bist aber nicht im Irak.

Aber vielleicht bald, in drei Monaten.

Wieso das denn?

Weiß nicht, meine Mutter hat so einen Brief bekommen, von der Ausländerbehörde.

Kriegt ihr doch ständig.

Ja, aber diesmal war was anders.

Wieso?

Andere Farbe.

Ich muss lachen.

Blauer Brief oder was.

Wütend schaut Jameelah mich an.

Das ist nicht lustig. Vielleicht schieben die uns ab oder so was.

Abschieben. Wieso?

Jameelah schaut auf den Boden und knistert mit dem Müllermilchbecher rum.

Keine Ahnung. Meine Mutter macht sich Sorgen.

Wie soll denn das einfach so gehen, sage ich.

Du hast echt keine Ahnung, sagt Jameelah, das kann ganz schnell gehen.

Aber du kannst doch gar kein Arabisch, sage ich.

Doch, verstehen schon. Aber selbst wenn nicht, das ist denen total egal.

Und jetzt?

Jetzt müssen wir abwarten, sagt Jameelah, in den nächsten drei Monaten sagen die irgendwas Bescheid. Dabei wollte meine Mutter eigentlich versuchen, uns einbürgern zu lassen.

Einbürgern, du meinst richtig deutsch werden?

Ja, genau.

Ist das schwer?

Ziemlich. Du musst lauter Sachen erfüllen, und du musst einen Test machen. Wenn du den bestehst, dann kriegst du einen richtigen deutschen Ausweis und so, nicht mehr diese blöde Scheckkarte mit Aufenthalt, nicht mehr ständig zum Amt rennen und Aufenthalt draufladen und so. Mann, wenn das mal passiert, wenn ich mal richtige Deutsche werde, dann mache ich eine große Party.

Finde ich gut, sage ich.

Ja, sagt Jameelah, aber ich mache nicht irgendeine Party. Ich mache eine Kartoffelparty.

Eine was?

Kartoffelparty. Haben Orkhan und Tayfun auch gemacht, wie in diesem einen Film, weißt du. Bei der gibt es nur Sachen aus Kartoffeln zu essen.

Ich schaue aus dem Fenster und denke, drei Monate. Ich will nicht denken, ich will nicht dran denken, was wäre, wenn Jameelah nicht mehr wäre, deswegen greife ich schnell nach ihrer Hand und drücke sie fest.

Alles wird immer anders, obwohl man gar nicht will, sagt Jameelah.

Nein, sage ich, alles bleibt immer gleich, wenn wir wollen. Wenn man erwachsen ist, dann kann immer alles so bleiben, wie man will. Das kann man als Erwachsener so bestimmen, das ist doch das Gute am Erwachsensein. Und außerdem, drei Monate, weißt du, was das heißt?

Jameelah schüttelt den Kopf.

Drei Monate, das heißt, der ganze Sommer liegt noch vor uns.

 

Ich habe einen Stein im Schuh. Ich mag es, wenn ich einen Stein im Schuh habe, das ist, als ob da jemand ist, jemand, der mit mir gemeinsam durch die Welt läuft. Ich kann mit ihm spielen, wenn mir langweilig ist, ihn unter meinem großen Zeh umherdrehen und wie ein Zirkuspferd durch die Manege reiten lassen, immer im Kreis herum. Keine Ahnung, wenn ich einen Stein im Schuh habe, dann bin ich einfach nicht allein.

Jameelah und ich legen die Füße auf den Sitz gegenüber, der Stein verkrümelt sich irgendwo in Richtung Ferse, und auf dem Sitz sammeln sich kleine karoförmige Lehmstücke, die von unseren Chucksohlen abfallen. Der Lehm ist aus dem Tiergarten, wir müssen manchmal dort nachsitzen. Jameelah schlägt ihre Schuhe gegeneinander, es regnet Karokrümel, sie grinst und nimmt einen großen Schluck aus dem Tigermilchbecher.

Lass mir auch noch was drin.

Mann, wir haben doch noch die ganze Flasche, sagt sie und tritt gegen ihren Rucksack. Am Reißverschluss baumelt die Diddlmaus, die ich ihr geschenkt habe, da waren wir noch in der Grundschule. Die Maus ist schon ganz grau, sie war mal weiß, so lange sind Jameelah und ich schon beste Freundinnen. Vorn auf dem Rucksack steht mit Edding Lieb dich, mein Engel, deine Anna-Lena.Anna-Lena hat echt keine Ahnung, einen Scheiß liebt sie Jameelah, und einen Scheiß ist Jameelah ein Engel.

Ein alter Sack, typisch Rentner, geht an uns vorbei.

Füße runter, sagt er.

Wir müssen jetzt eh raus, Nazi, sagt Jameelah.

Der Depp kriegt den Mund nicht mehr zu. Jameelah ext den Tigermilchbecher und lässt ihn auf den Boden fallen. An der Bahnhalte setzen wir uns auf die Bank und füllen meine leere Fantaflasche mit Tigermilch auf.

Verrückt, sagt Jameelah und gießt Mariacron in die Flasche, es gibt echt so ein paar Wörter in Deutschland, die sind verzaubert. Wenn du die sagst, dann bleibt die Welt stehen. Nazi. Die Welt glotzt dich an und bleibt stehen.

Na ja, eher verflucht. Der Alte war beleidigt. Weißt doch, wie das ist, wenn man Nazi sagt.

Ja gut, stimmt, Nazi ist ein blödes Beispiel, aber trotzdem, überleg doch mal, es gibt Wörter, die sagst du, und alle glotzen dich an, ob Beleidigung oder nicht. Stell dir vor, ich hätte einfach so laut Nazi gesagt, ohne den alten Sack. Alle hätten geglotzt. Oder Jude. Kannst du nicht laut sagen. Ist doch ein ganz normales Wort.

Das ist doch auch ein total bescheuertes Beispiel.

Jameelah verzieht nachdenklich den Mund.

Stimmt, stimmt. Aber du weißt, was ich meine, oder, mir fällt jetzt nur nichts ein.

Die letzten Tropfen Schulmilch gluckern zum Mariacron.

Scheide, sage ich.

Was?

Scheide ist so ein Wort, sage ich.

Jameelah starrt mich an.

Scheide, Scheide, ruft sie, genau, das meine ich! Das ist doch wirklich nur ein ganz normales Wort.

Jetzt schrei doch nicht so, sage ich.

Was, du jetzt auch schon? Du hast es doch als Erstes gesagt, schreit sie, siehst du, das meine ich, man kann es nicht sagen, man kann es nicht sagen!

Jameelah springt auf, die Diddlmaus an ihrem Rucksack baumelt tollwütig herum.

Neues Spiel, sagt Jameelah, dabei klirren ihre tausend Armreifen dicht vor meinem Gesicht, wir suchen nach den normalsten Wörtern der Welt, die man aber nicht sagen darf.

Ich schlage ein und sage, aber dann musst du das nächste Wort finden.

Jameelah überlegt.

Nazi, Jude, Scheide, ist gar nicht so einfach, da anzuschließen.

Jameelah kramt Tobak aus ihrem Rocksack und dreht sich eine. Den Tobak versucht sie so glatt und ebenmäßig wie möglich auf dem Blättchen zu verteilen, schon fast Maßarbeit, was sie da macht. Eine Weile sagen wir beide nichts, vielleicht, weil wir wissen, was jetzt kommt, und weil wir uns immer noch umentscheiden könnten. Ich will mich aber nicht umentscheiden, und überhaupt war es doch Jameelahs Idee, von Anfang an.

Wir machens aber schon noch mal, oder, frage ich.

Jameelah reagiert nicht, sitzt da, dreht seelenruhig ihre Kippe.

Komm.

Jameelahs Zunge huscht über die Klebefläche, sie steckt sich die fertige Kippe in den Mund und schaut mich an.

Meinst du, sagt sie, und holt ihr Zippo raus.

Meine ich. War ganz schön witzig, das letzte Mal.

War ganz schön kross, würde ich sagen.

Ja, war ganz schön kross. Aber auch irgendwie witzig, oder.

Ihre dunklen Augen bohren sich in mich hinein. Sie zieht an ihrer Kippe und bläst den Rauch zur Seite raus. Ich nehme ihr die Kippe aus der Hand und rauche.

Wieso haben wir uns denn sonst umgezogen?

Jameelah muss grinsen.

Na gut, sagt sie, du hast es nicht anders gewollt.

Ach, red doch nicht immer wie die Struck.

Ich gebe ihr die Kippe zurück, und Jameelah sagt noch, aber heute mache ich das Gummi drauf, das rote, dann springen wir gemeinsam die Treppen runter, immer zwei Stufen auf einmal, runter auf die Kurfürsten.

 

Auf der Kurfürsten ist jede Menge los, wie immer. Alle hetzen von einem Geschäft ins nächste. Den Leuten auf der Kurfürsten hängt immer ein bisschen Thunfischsalat oder Ketchup im Mundwinkel. Auf drei Geschäfte kommt nämlich eine Fressbude, ich habe mal abgezählt. Karstadt, Dunkin Donuts, Apollo Optik, C&A, McPaper, Subway, Peek&Cloppenburg, Pimkie, Dänisches Bettenlager, dann Nordsee und so weiter. Je weiter man die Kurfürsten runtergeht, desto billiger wird es, da sind dann der Handy King, Zeeman und McGeiz, und über den Geschäften sind meistens türkische Hochzeitsgeschäfte oder Nagelstudios. Direkt gegenüber von Krieger Baby fangen die Frauen an zu stehen.

Ich hab Hunger. Hast du Gold?

Nee, nicht wirklich.

Wir kaufen uns von unseren letzten Cents beim Ein-Euro-Shop Yum Yum, kauen so vor uns hin und schlendern ganz cool und pomade die Straße runter. Auf dem letzten Stück sind kaum noch Geschäfte, nur noch Sex-Kinos und Dönerbuden. Hier stehen jede Menge Frauen rum, sie tragen aber keine Ringelstrümpfe, sondern glänzende Leggings oder Lederröcke mit Schnüren, die an den Seiten runterhängen.

Zum Anbeißen, hat Jameelah das letzte Mal gemeint, weil die Schnüre an den Röcken genauso aussehen wie ausgerollte Haribolakritzschnecken. Ich weiß nicht, ob ich das so lustig finde.

Manchmal stehen auch Mädchen hier, die sind so alt wie wir. Eine von denen kommt mir bekannt vor, keine Ahnung, woher. Sie hat einen von den Röcken mit den Lakritzschnüren an, Ringelstrümpfe, und obenrum ein Spaghettitop. An einer Leine, die halb im Gully hängt und sich langsam mit Pfützenwasser vollsaugt, hält sie einen riesigen schwarzen Hund. Der Hund trägt ein rotes Halstuch statt einem Halsband, sein Maul steht offen, und ich glaube, wenn er sprechen könnte, würde er uns um ein paar Cent anhauen. Das Mädchen sitzt auf dem Bürgersteig, kramt in ihrem Bundeswehrrucksack und schaut uns misstrauisch an. Ihre Augen sind dunkel geschminkt, und die schwarz gefärbten Haare hat sie sich zum Mittelscheitel gezogen. Ihre Arme sind voller Schorf. Ich lasse die letzten Yum-Yum-Krümel in meinen Mund rieseln, da hält Jameelah mich am T-Shirt fest. Ein Auto biegt um die Ecke, das Mädchen mit den schwarzen Haaren springt hastig auf und zieht ihren Hund von der Straße. Der Fahrer beugt sich aus dem Fenster und schaut grinsend zu uns rüber, er hat ein ganz rotes Gesicht. Jameelah zeigt ihm den Mittelfinger, aber das Mädchen rennt dem Auto hinterher und verschwindet zusammen mit dem Hund auf dem Rücksitz.

Scheiße, denke ich und schaue auf den Boden. Der Bürgersteig ist voller Kaugummiflecken.

Gib mir mal den Tobak.

Jameelah greift in ihre Jackentasche, dabei winkelt sie einen Fuß ab und stützt ihn gegen die Häuserwand. Ich grinse, jetzt sehen wir echt genauso aus wie die Frauen hier. Jameelah zwinkert mir zu und zeigt auf einen Typen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite neben einer Litfaßsäule steht und zu uns rüberschaut. Er ist groß und dünn, hat enge Jeans an und eine von diesen beknackten Hornbrillen auf. Irgendwie ist er schon süß, aber ich glaube kaum, dass der wegen uns hier ist.

Ich schüttle den Kopf.

Wetten, sagt Jameelah, wetten, dass er rüberkommt.

Sie winkt ihm zu, ich kann sehen, wie er die Augenbrauen hebt, einen kurzen Moment zögert und dann mit einem verlegenen Grinsen die Straße überquert.

Der, frage ich.

Jameelah nickt, ohne den Blick von dem Kerl abzuwenden.

Jetzt pass mal auf, flüstert sie.

 

Als der Kerl immer näher kommt, wird mir ein bisschen komisch. Das ist aber normal, am Anfang wird einem immer ein bisschen komisch, das ist jedes Mal so, das gehört dazu. Jameelah nimmt meine Hand, wir schlendern ihm entgegen.

Na, sagt Jameelah.

Der Kerl blickt uns von oben bis unten an und grinst.

Was glotzt du denn so, sagt Jameelah.

Ich glotz doch gar nicht, sagt der Typ.

Er ist doch schon ganz schön alt, bestimmt dreißig. Von Weitem sah er jünger aus, wegen den Klamotten. Er hat kaum noch Haare auf dem Kopf, nur fiesen Flaum über den Ohren.

Achte, neunte Stunde Ethik ist ausgefallen, sagt Jameelah.

Ach so, sagt der Typ, und jetzt?

Ich bin Stella Stardust, sagt Jameelah, und das hier ist meine Freundin Sophia Saturna. Du hast bestimmt eine Wohnung mit Dielen und Stuck und so Kram, was. Und ohne Ende Schallplatten. Bist doch bestimmt so einer, der sich noch Schallplatten kauft, was.

Schallplatten nicht, aber CDs, antwortet der Typ und lässt seine Hände in den Hosentaschen verschwinden, wisst ihr denn überhaupt noch, was CDs sind?

Nee, wir sind lebende MP3-Player, weißt du, am Abend stöpseln wir uns so matrixmäßig in eine Art überdimensionalen USB-Stick ein. Der liegt auf unserem Nachttisch, gleich neben den Bibi-Blocksberg-Kassetten, und die Musik, die wird dann durch diesen Stick automatisch auf eine interne Festplatte gespielt, genauso wie alles andere, Hausaufgaben, Telefonnummern, Französischvokabeln, alles.

Der Typ starrt Jameelah an und lacht laut los.

Was ist denn daran komisch, fragt Jameelah, dabei sieht sie aus, als müsste sie selber gleich loslachen.

Kopfschüttelnd glotzt er uns an, als würde er gerade einen spannenden Film sehen. Für einen kurzen Moment denke ich, dass er den ganzen Schwachsinn, den Jameelah da verzapft, tatsächlich glaubt. Glauben ist, wenn man will, dass Sachen stimmen, von denen man eigentlich weiß, dass sie unmöglich sind. Und der da ist so einer, der will alles glauben, weil er sich den ganzen Tag mit stinklangweiligem Zeugs beschäftigen muss, mit E-Mails und Zahlen und Kunden, sicher muss er Kundengespräche führen, tausendmal am Tag rennt er zum Kopierer, und zwischendurch, da fragt er sich, warum er das alles eigentlich macht. Denn er will sich viel lieber von uns die Hucke volllügen lassen.

Was muss ich denn machen, um mir diesen Eingang mal anzuschauen, fragt der Typ und verschränkt die Arme vor der Brust.

Kostet hundert Euro, sage ich.

Jameelah zwinkert mich an und lässt den Blick zu ihrer linken Hand wandern. Mit Daumen und Zeigefinger formt sie einen Kreis.

Eigentlich mache ich so was nie, sagt er, als wir auf den Rücksitz seines Autos kriechen, das im Parkhaus steht.

Eigentlich machen wir so was auch nie, sagt Jameelah und kichert laut. Sie schmeißt einen Haufen glänzender Magazine vom Sitz auf meinen Schoß.

Bist du reich, frage ich.

Der Typ lacht.

Nein, nicht wirklich, sagt er und dreht den Spiegel an der Windschutzscheibe zurecht, damit er uns besser sehen kann.

Nicht wirklich gibt es nicht. Reich oder nicht?

Darüber rede ich nicht, sagt der Typ und kommt sich dabei ziemlich cool und pomade vor.

Jameelah schaut mich an und verdreht die Augen.

Was für ein Frosch, flüstert sie.

 

Die Wohnung ist echt Wolke, genau, wie wir es uns gedacht haben, riesengroß, überall stehen schöne Möbel, sehen aus wie von Ikea, nur teurer, nirgends liegt Staub, der hat bestimmt eine Putzfrau, denke ich.

Wollt ihr ein Eis, fragt der Typ.

Ich mag kein Eis, sage ich, dabei stimmt das gar nicht.

Genau, wir mögen kein Eis, sagt Jameelah und öffnet ihren Rucksack, wo ist denn hier die Küche, fragt sie, und hast du überhaupt Milch?

Neben dem Bett steht ein großes CD-Regal. Der Typ kauft sich echt noch CDs. Aus der hintersten Ecke höre ich Geschirr klappern, das sind Jameelah und der Typ in der Küche. Jameelah schlittert auf ihren Ringelstrümpfen über die Dielen und kommt vor mir zum Stehen.

Hey, zischt sie, Sophia Saturna.

Sie grinst breit, zeigt auf die Seidentücher, die über dem schmiedeeisernen Gitter des Bettes hängen, und schaut mich fragend an. Ich nicke, drücke beim CD-Player auf Play, und weil die Musik gut ist, drehe ich die Boxen auf. Jameelah schlittert zurück in Richtung Küche, dabei jauchzt sie auf wie ein Fohlen, das zum ersten Mal über eine Wiese läuft. Ich muss lachen, weil ich weiß, dass das nicht stimmt. Auf einmal wird der ganze Raum in dunkles Licht getaucht. An der Decke dreht sich eine Discokugel, überall tanzen kleine Lichtflecken. Der Typ muss sich in der Küche sein T-Shirt ausgezogen haben, jedenfalls kommt er mit nacktem Oberkörper zurück. Auf seiner Haut drehen die kleinen Lichter ihre Runden, wie freitags bei der Schlittschuhdisco in der Werner-Seelenbinder-Halle. Er hat gar keine Haare auf der Brust, ich wette, er rasiert sich regelmäßig. Er hält mir ein Glas hin und lächelt. Irgendwie sieht er gerade echt nett aus, aber deswegen tut er mir irgendwie leid.

Jameelah zieht sich ihr Oberteil aus, springt aufs Bett und hüpft auf der Matratze herum. Ich schmeiße mein T-Shirt auf Jameelahs Sachen und springe zu ihr rauf. Unsere Köpfe fliegen abwechselnd in die Höhe. Der Typ steht vor uns, glotzt und nippt ab und zu vorsichtig an seiner Tigermilch.

Komm hoch, schreit Jameelah, hier ist die Luft viel besser.

Mit seinen großen Füßen tastet er sich vorsichtig auf der Matratze vor, dabei kann ich ganz genau sehen, dass sein zweiter Zeh länger ist als sein dicker Zeh. Er sagt irgendwas, aber ich kann nicht verstehen, was, die Musik ist zu laut. Ich greife schnell nach seiner Hand, damit er nicht einknickt und runterfällt, kurz frage ich mich, ob das wohl am zweiten langen Zeh liegt, das mit dem Gleichgewicht. Mama hat mal irgendwas gesagt, über Leute mit langen zweiten Zehen, ich weiß nicht mehr, was, aber es war was Schlimmes, so was wie Menschen mit langen zweiten Zehen sterben früher, aber das war es nicht, eben nur so was Ähnliches. Mama sagt oft Sachen, die sich schlimm anfühlen. Mama sagt, dass Papa damals, als er abgehauen ist, ihren Verlobungsring mitgenommen hat, den mit dem grünen Stein in der Mitte, der war echt, der hat seiner Mutter gehört, das sagt Mama jedes Mal, wenn sie wieder von dem Ring anfängt, sie sagt, der war echt und dass Papa den Ring mitgenommen hat, um ihn seiner neuen Frau zu schenken, und dann fängt sie an zu weinen, und dann sagt sie, so was macht man doch nicht, sie sagt es so, als ob das mit dem Ring, dass der weg ist, dass Papa ihn mitgenommen hat, viel schlimmer ist als das mit Papa überhaupt.

Wir hüpfen zu ohrenbetäubend lauter Musik auf der Matratze herum. Der Typ zieht mich zu sich heran.

Du hast so schöne Haare, so blond, schreit er mir ins Ohr, so laut, dass es schmerzt.

Er versucht nach meinen fliegenden Strähnen zu greifen, und da küsse ich ihn, und er fasst mir an den Hintern. Jameelah hüpft auf ihre Knie und zieht den Typen mit hinunter, sie öffnet seinen Gürtel und zieht ihm die Jeans aus, er trägt Boxershorts, die halb mit runterrutschen, irgendwie sieht das schön aus, auch die Wölbung, wo man seinen Ständer sehen kann. Jameelah nimmt einen großen Schluck Tigermilch und lässt die ganze Suppe auf seinen Oberkörper tropfen. Sie beugt sich über ihn und schlürft langsam an ihm herum, er schlingt seine langen Beine um sie, und dann küssen sie sich, und ich nehme zwei von den Seidenschals und binde seine Arme an das Bettgestell. Wir knutschen abwechselnd mit ihm rum, und nach und nach ziehen wir uns alles aus, bis auf unsere Strümpfe. Jameelah fesselt seine Beine an das andere Ende vom Gitter, ihre Strümpfe sind ganz nach unten gerutscht, ich weiß nicht, wieso, ich möchte sie ihr hochziehen, aber sie macht genau das Gegenteil, sie zieht sich die Strümpfe aus, irgendwo darin hat sie das Kondom versteckt, sie reißt die Verpackung auf, es ist knallrot. Ich frage mich, wonach es wohl schmeckt, es muss nach was Rotem schmecken, denke ich noch, Erdbeer oder Kirsch, aber dann steckt Jameelah sich das Kondom mit dem Zipfel nach innen in den Mund, und es wird ernst. Wir nehmen das große weiße Laken, das zerknüddelt am anderen Ende des Betts liegt, und legen es so um den Typen herum, dass nur noch sein Ständer zu sehen ist, wie bei einer Operation, wo alles mit diesem grünen Stoff abgedeckt wird, nur nicht die Stelle, an der operiert wird, die ist ganz rosa. Der Typ liegt vollkommen still da, als hätten wir ihm eine Narkose verpasst.

Man kann etwas lernen von diesen Männern, Jameelah meint, es ist, wie wenn man Medizin studiert. Zuerst schneidet man Frösche auf, dann Tote und erst am Ende richtige lebende Menschen, so macht man das im Studium. Wir müssen üben, für später, für das echte Leben, irgendwann mal müssen wir ja wissen, wie alles geht. Wir müssen wissen, wie alles geht, damit uns keiner was kann.

Inhaltsverzeichnis

Es ist gerade mal Nachmittag, das heißt noch ein bisschen früh für den Planet, aber nach Hause gehen wär jetzt irgendwie komisch, also fahren wir zur Wilmersdorfer, wir laufen die Fußgängerzone runter, rein in die Arkaden und runter zum Kaufland. Wir kaufen jede Menge Yum Yum, Kuhfleckenkuchen, Schleckpulver, süße Milchmädchenmilch aus der Tube und außerdem Rumtrüffelcremeriesen, die mag Nico so gern. Wir zahlen mit Jameelahs Fünfziger, dann laufen wir rüber zum Planet.

Der Planet ist eine große, ziemlich hässliche Betonkugel, gleich neben den Arkaden an der Wilmersdorfer. Um den Planet herum stehen kleinere Planeten, alle aus Beton. Im Sommer, wenn es heiß ist, schießt aus den kleinen Planeten manchmal gelbes schäumendes Wasser heraus, meist liegt der Planet aber einfach nur trocken da. Keine Ahnung, wer sich das ausgedacht hat, den Planet dort hinzubauen. Soll vielleicht Kunst sein, sieht aber richtig scheiße aus. Ich glaube, die wollen eigentlich, dass sich Mütter mit Kindern an den Planet setzen und solche Sachen machen wie Eis essen und planschen. Am Planet sieht man aber nie Mütter mit Kindern, nur Alkis und Irre, und uns.

Nico sagt, die Stadt hat den Planet gar nicht für die Mütter gebaut, sondern für uns, denn nach der Schule und am Wochenende treffen wir uns dort immer alle. Neben dem Planet steht eine Telefonzelle. Sie ist ein gelber Dinosaurier, denn ich hab noch nie jemanden hineingehen sehen, außer Nico, wenn er sich einen durchzieht. Trotzdem steht die Telefonzelle da genau richtig. Sie ist von oben bis unten vollgemalt. Wir hinterlassen uns darauf Nachrichten, wann wir uns wo treffen, wo welche Konzerte oder Partys sind. Das ist vielleicht altmodisch, aber billiger, als sich anzurufen oder Nachrichten rumzuverschicken, denn auf die Telefonzelle schaut jeder drauf, der zum Planet kommt. Praktischerweise macht die Stadt die Telefonzelle immer sauber, wenn sie komplett vollgemalt ist.

Am Planet sitzen Kathi und Laura. Kathi ist immer noch mit der Rasierklinge an Lauras Pony dran, genau wie heute in der Schule, in der Zwanzigminutenpause bei den Fahrradkellern, wo wir immer rauchen, da hat Kathi auch schon an Lauras Haaren rumgemacht. Ganz gerade soll der Pony werden, gerade, aber von links nach rechts schräg, und gerade aber schräg ist zusammen nicht so einfach.

Was geht denn heute noch außer Haareschneiden, fragt Jameelah.

Bahnparty, glaube ich, sagt Kathi, Nico war gerade hier und hat so was gesagt.

Wo ist der überhaupt, frage ich.

An der Unterführung. Habt ihr was zu trinken?

Jameelah holt die Tigermilchflasche und die Rumcremeriesen aus ihrem Rucksack. Neben der Telefonzelle steht der Viovic. Der Viovic trägt immer die gleichen Klamotten, immer komplett in Schwarz, und die gleiche Frisur, schwarz gefärbt und bis zum Kinn, und wenn es regnet, den gleichen schwarzen Regenschirm, deswegen nennt man ihn auch einfach nur den Viovic, so als wären sie nur eine Person, dabei stimmt das nicht, sie sind zu zweit, sie sind Zwillinge. Nur auf der Bühne kann man sie unterscheiden, Viktoria spielt Bass und Violetta Gitarre. Die Band heißt auch Viovic und ist schlimm, das sagen alle, nicht nur ich. Ich verstehe gar nicht, warum, sie haben einen richtigen Proberaum im Keller von ihren Eltern, mit Eierkartons an den Wänden, sie proben fast jeden Tag, weil sie bei sich auf der Privatschule auch noch einen eigenen Musikraum haben, aber vielleicht proben sie ja auch gar nicht so viel, wie sie immer behaupten.

Nini, ruft Viktoria, hast du einen Edding?

Ich schüttle den Kopf.

Ich aber, sagt Kathi und wirft ihren Edding rüber.

Violetta kritzelt irgendwas an die Telefonzelle.

Kommt ihr mit auf die Bahnparty?

Victoria und Violetta schütteln den Kopf.

Wir gehen ins Rotor, sagen sie.

Ich frage mich, ob die das üben, alles so gleichzeitig zu machen, ist schon fast gruselig.

Da hinten kommt Nadja, sagt Laura mit vollem Mund und zeigt in Richtung S-Bahnhof.

Die sieht ja total fertig aus, flüstert Kathi.

Hat sie doch heute in der Schule auch schon, sagt Jameelah.

Hey, habt ihr Tobi gesehen, fragt Nadja, als sie sich zu uns stellt.

Ist alles gut bei dir, fragt Kathi.

Hab meine Tage. Wo ist Tobi?

Der ist mit den anderen zur Unterführung.

Ich schaue in die Rumcremeriesentüte, nur noch einer drin.

Der ist für Nico, sage ich.

 

Wir rennen am U-Bahnhof vorbei über den Stutti in Richtung S-Bahnhof. Vor der Unterführung hocken Apollo und Aslagon, sieht ganz so aus, als würde Apollo mit seinem Holzschwert irgendetwas auf den Boden zeichnen. Sein Wikingerhelm liegt achtlos im Dreck. Apollo glaubt, er ist ein Wikinger, während Aslagon fest davon überzeugt ist, dass die Menschheit sich in Flügelwesen und Reptilienwesen aufteilt. Ich bin ein Flügelwesen und Jameelah auch, sagt Aslagon, er aber ist ein Reptilienwesen, genauso wie die Königsfamilie in Saudi-Arabien. Apollo und Aslagon sind immer nur im Sommer bei uns am Planet, im Winter sitzen sie in der Auguste-Viktoria-Klinik.

Was soll das denn sein, fragt Jameelah.

Das ist Naglfar, sagt Apollo, das Schiff, das aus menschlichen Nägeln gebaut werden muss, damit das Ende der Welt endlich kommen kann.

Und deswegen könnt ihr jetzt nicht einfach so durch, sagt Aslagon und schaut uns aus seinen Kajalaugen an.

Warum nicht?

Jeder, der durch die Unterführung will, muss sich von Apollo die Nägel schneiden lassen, sagt er, damit wir das Schiff bauen können, damit das Ende der Welt endlich kommt.

Wieso soll denn das Ende der Welt überhaupt kommen, fragt Jameelah.

Genau, sagt Nadja, vielleicht wollen wir das ja gar nicht.

Gottes Welt ist verfault, sagt Apollo und hält uns einen verrosteten Nagelklipper entgegen, deswegen.

Weiß doch jeder, sagt Aslagon, schüttelt den Kopf und tippt sich an die Stirn.

Nadja verdreht die Augen.

Scheiß drauf, sagt sie und schneidet uns allen ein Stück Fingernagel ab.

Die Wände in der Unterführung sind von oben bis unten bemalt. Die schlechten Graffitis sind von Tobi. Tobi malt Animaux, das heißt Tiere auf Französisch. Für einen Malernamen ist Animaux zu lang, hat Nico mir mal erklärt, es sind die zwei letzten Buchstaben, die es zu lang machen, zu lang zum Abhauen. Vielleicht ist Tobi deswegen schon so oft erwischt worden, und vielleicht sieht man deswegen so oft Anima in der Stadt.

Die Guten sind von Nico. Sad, das ist sein Malername, so wie traurig auf Englisch. Manchmal schreibt er auch Sadist. Er malt es in ganz weichen, lustig aussehenden Buchstaben. Mich tröstet es immer, wenn ich im Bus sitze, durch die Stadt fahre und ein Sad von Nico an irgendeiner Wand sehe. Es ist so, wie mit dem Stein im Schuh, für den einen Moment, in dem der Bus an einem Sad von Nico vorbeifährt, bin ich einfach nicht alleine.

Am anderen Ende der Unterführung stehen Tobi und Nico, sie rauchen. Nico lehnt an der Wand. Er ist groß, eigentlich ist alles groß an ihm, seine Hände, seine blauen Augen, sein Mund, seine Füße, die immer in denselben Turnschuhen stecken und die er genauso regelmäßig wie seine Klamotten in die Wäsche stopft und zum Trocknen auf den Wäscheständer legt. Sogar sein kahl rasierter Schädel ist groß, nur der Kinderkoffer, den er immer mit sich herumträgt, ist klein. Er ist aus Plastik, bunt gestreift, und vorne drauf ist eine Uhr, die geht nie richtig, Batterie leer. Ich hatte mal den gleichen Koffer, da waren Nico und ich noch Kinder und auf dem Rummel. Die Koffer standen auf dem obersten Regal vom Losbudenstand. Wir wollten unbedingt einen Koffer haben, jeder einen, aber unsere Mütter wollten weiter. Nico und ich haben geweint, da hat Nicos Vater Lose gekauft, so viele wie kein anderer. Nicos Mutter hat geschimpft, aber der Mann von der Losbude hat gelacht, er hat Nicos Vater ein Los nach dem anderen hingehalten, er hat sie wie kleine Mehlwürmer aus dem durchsichtigen Behälter gepult und sie Nicos Vater gereicht, bis der genug Punkte für zwei von den Koffern zusammenhatte.

Dafür ist Geld da, oder wie, hat Nicos Mutter gesagt und auf die bunten Papierfetzen am Boden gezeigt, da war sie gerade mit Pepi schwanger, aber in Wirklichkeit war sie nur schlecht gelaunt, weil Nicos Vater total voll war und Mama und Papa auch und sie selbst nichts trinken durfte.

Ich find das auch nicht gut, hat Mama zu Papa gesagt, jetzt sag doch was, aber Papa hat nur die Augen verdreht.

Seitdem schleppt Nico diesen Koffer mit sich rum. Früher hat er seine Matchboxautos darin herumgetragen, immer zum Spielplatz und wieder nach Hause, heute trägt er sein Ott darin herum, und oben auf dem Plastik von der Uhr macht er Mischung, mischt da Tabak und sein Ott zusammen. Er nimmt den Koffer sogar mit zu Schulze-Sievert, wo er seine Ausbildung macht. Alle machen Witze über Nico und seinen Kinderkoffer, aber Nico lacht dann nur mit, ihm ist das egal, sein Koffer ist sein Koffer. Mein Koffer ist noch im selben Sommer Schrott gegangen. Dragan hat ihn gegen die Garagen geschleudert, nur weil ich behauptet habe, die Uhr auf dem Koffer wäre stoßfest.

Na, sagt Nico, habt ihr euch von Aslagon die Fingernägel schneiden lassen?

Ich nicke.

Der Arme, sagt Jameelah und greift nach dem Joint.

Warum?

Na hör mal, sagt sie, ich finde, Gottes Welt ist verfault, ist so ziemlich der traurigste Satz, den ich seit Langem gehört habe.

Nico spuckt auf den Boden.

Traurig vielleicht schon, sagt er und schaut rauf in den wolkigen Himmel, traurig, aber wahr.

 

Am Planet ist auf einmal ganz schön was los. Jede Menge Skater fahren am Springbrunnen mit ihren Boards entlang, klatschen, johlen, fallen hin und stehen wieder auf. Sieht aus wie das Bild, das der Wittner uns mal in Physik gezeigt hat, der Planet ist der Atomkern, und die Skater sind kleine Elektronen, die wie irre um den Kern kreisen, daraus ist alles gebaut, das ganze Universum, sagt der Wittner.

Es fängt ganz leicht an zu regnen. Wir setzen uns an den Springbrunnen. Kathi und Laura schnorren aus Spaß ein bisschen herum. Die fast leere Tigermilch steht zwischen Jameelah und mir. Ich ziehe meine Knie an, Sommerregentropfen fallen auf uns herab, versickern im ausgetrockneten Beton und hinterlassen diesen seltsamen Geruch.

Ich bin ganz schön voll, flüstere ich.

Jameelah nickt.

Ich auch, ich war schon bei dem Typen total voll, sagt sie, dann packt sie sich in den Schuh und steckt mir meinen Fünfziger zu.

Aber war ganz schön witzig heute, oder?

Ja, sage ich und stecke den Schein ein, war aber auch ganz schön kross.

Ich schaue zum Himmel, der schaut ganz gelbstichig auf uns herab, so als wollte er uns drohen.

Guck mal, sage ich, sieht wirklich aus wie das Ende der Welt.

Sieht aus, als ob das Schiff fertig ist, sagt Jameelah.

Dann ging das aber echt schnell.

Kann ja sein. Vielleicht ist Gottes Welt wirklich verfault. Vielleicht gibt es Gott, und vielleicht ist seine Welt auch wirklich verfault. Ich würde das sofort glauben.

Wieso, ich denke, das ist das Traurigste, das du jemals gehört hast?

Ja, aber traurig ist wirklich meistens wahr, sagt Jameelah, da hat Nico recht.

Sie schließt die Augen, öffnet den Mund und fängt die dicken Regentropfen auf. Hinterm S-Bahnhof zuckt ein Blitz, es donnert, und Sekunden später fängt es wie im Urwald an zu regnen. Laura und Kathi kommen rübergerannt und schnappen sich ihre Rucksäcke, die neben unseren liegen.

Scheißklimawandel, schreit Laura, wir fassen uns an den Händen und flüchten kreischend unter das Dach der Arkaden, aber als wir dort ankommen, sind wir schon klitschnass. Jameelah legt ihre Hand auf meine Schulter und zieht sich die nassen Strümpfe, die ihr an den Beinen kleben, runter. Ihre Hand ist ganz warm, ich schließe die Augen, und ich höre dem Regen zu, wie er vom Himmel fällt, wie er sich in die großen Pfützen stürzt und vom Arkadendach tropft, wie er in meinen Schuh sickert und sich zum Stein gesellt. Ich bin müde und besoffen, denke ich, und dass ich noch einkaufen gehen muss, Brot, Leberwurst, Nudeln, Ketchup, doch dann krallen sich Jameelahs lange Fingernägel in meine Schulter. Ich öffne die Augen und will gerade protestieren, da sehe ich ihn, wie er zu uns rübergelaufen kommt. Seine dunklen Haare sind nass, an seinen langen Wimpern hängen kleine Tropfen, dahinter die dunklen Bambiaugen und das blasse Gesicht, so blass, als hätte er irgendeine schlimme vornehme Krankheit. Das ist Lukas. In der rechten Hand hält er eine Flasche Wein, aus seiner Jackentasche schaut ein zerfleddertes Buch hervor, und das ist nur eine von den hunderttausend Millionen Sachen, die Jameelah so an ihm liebt. Ich kann das überhaupt nicht verstehen, jemand, der so viel liest, keine Ahnung, was daran so toll sein soll, finde ich irgendwie nicht normal.

Hallo, sagt er und starrt Jameelah an, wie sie da steht, barfuß mit ihren nassen Strümpfen in der Hand. Ich muss grinsen und denke, entweder er findet sie wundervoll oder er findet sie furchtbar, aber das ist immer so mit Jameelah. Wie in Zeitlupe stopft sie die Strümpfe in ihren Rucksack, sachte, jede Bewegung überlegt, wie eine Jägerin im Wald, so nach dem Motto, man darf das Wild nicht verschrecken. Sie schlüpft zurück in ihre roten Chucks und lächelt.

Ich muss dir was erzählen, sagt sie und schaut Lukas an, ich hab geträumt von dir, ich hab geträumt, du hättest ein ganz seltsames Tier gefangen, ein durchsichtiges mit zwei Köpfen. Es war eine Mischung aus einem Drachen und einem Känguru, aber es lebte im Wasser, und es konnte schnurren wie eine Katze.

Lukas lacht.

Das musst du aufschreiben, sagt er, das klingt richtig poetisch.

Hab ich schon längst, sagt Jameelah.

Irgendwie ist er doch ganz hübsch, denke ich, zumindest, wenn Jameelah ihm was erzählt, aber vielleicht sind wir einfach alle schön, wenn Jameelah uns was erzählt. Lukas will gerade was sagen, da legen sich von hinten zwei Hände vor seine Bambiaugen. Das sind Anna-Lenas Hände, Anna-Lena mit den immer frisch gewaschenen Haaren, nur frisch gewaschene Haare können so fliegen wie die von Anna-Lena.

Da bist du ja, sagt sie und küsst Lukas auf die Wange. Anna-Lena, die nach Blumenparfüm riecht und Lieb dich, mein Engel