Das große Beginnergefühl - Robert Misik - E-Book

Das große Beginnergefühl E-Book

Robert Misik

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Beschreibung

Konventionen zertrümmern, Wahrnehmung revolutionieren, Neues imaginieren – das war der Geist der radikalen Moderne. Bert Brecht sprach vom großen Beginnergefühl. Heute scheint jeder utopische Optimismus verflogen – ist es damit ein für alle Mal vorbei?

»Keineswegs!«, hält Robert Misik solchen Abgesängen entgegen. Er unternimmt einen Parforceritt durch 200 Jahre linke Kunst: von Heinrich Heine bis Elfriede Jelinek, von Patti Smith bis Soap & Skin, vom Bauhaus bis zum Gemeindebau. Das Aufbegehren gegen das Überholte und die Revolutionierung der Stile sind auch heute die große Aufgabe der Kunst, genauso wie Exzess und Intensität. »Ändere die Welt, sie braucht es«, sagt Misik mit dem alten BB. Er skizziert ein ästhetisches Programm jenseits von Kommerz, Entertainment und dem ewig schon Dagewesenen.

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Seitenzahl: 364

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Titel

3Robert Misik

Das große Beginnergefühl

Moderne, Zeitgeist, Revolution

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

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eISBN 978-3-518-77306-2

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung. Kunst und Revolution. Eine etwas andere Geschichte der Moderne

I

. Wie das Geld in die Literatur kommt. Honoré de Balzac liefert revolutionäre Zeitkritik – irgendwie, ohne es zu wollen

II

. »Ein neues Lied, ein besseres Lied!«. Heinrich Heine und die Erfindung der radikalen politischen Publizistik

III

. Der Hass auf den Bourgeois. Gustave Flaubert und die antibürgerliche Ästhetik

IV

. Das Ideal der Intensität. Vitalismus, Geschwindigkeit, nichts auslassen – die Romantizismen der Moderne

V

. Der Heroismus des modernen Lebens. Charles Baudelaire und die Poesie der großstädtischen Existenzweise

VI

. »Man muss ganz und gar modern sein«. Mallarmé, Verlaine, Rimbaud und eine Dichtung, die den Worten die Initiative überlässt

VII

. Hofräte der Revolution. Vom Ideengestöber des Fin de Siècle zum revolutionären Reformismus des Roten Wien

VIII

. Leben in der Abstraktion. Picasso, der Kubismus und der Funktionalismus klarer, geometrischer Formen in der Architektur

IX

. Kunst und Anti-Kunst. Marcel Duchamp und der Geist des Avantgardismus

X

. Profane Erleuchtung. Bertolt Brecht und ein Theater, das die Realität so darstellen will, »dass sie meisterbar wird«

XI

. Die Zerbrechlichkeit der Lebenden. Alberto Giacometti schafft fragile Gestalten und einen verstörenden Blick auf die menschliche Existenz

XII

. Die schnellen Jahre. André Breton trifft Trotzki in Mexiko, Jackson Pollock malt auf den Innenwänden seines Geistes, und Patti Smith singt

XIII

. Heroismus des Sehens. Susan Sontag, eine Ikone der Intensität

XIV

. Die jugendliche Kraft zur Empörung. Die sprachkomischen Litaneien der Elfriede Jelinek

XV

. All Art is Propaganda. Von René Polleschs Diskursgewitter zum »globalen Realismus« von Milo Rau

VXI

. Pessimismus ist konterrevolutionär. Gegenwartskunst oder: Auch gebrannte Kinder können Feuer legen

Anmerkungen

Einleitung

I

. Wie das Geld in die Literatur kommt

II

. »Ein neues Lied, ein besseres Lied!«

III

. Der Hass auf den Bourgeois

IV

. Das Ideal der Intensität

V

. Der Heroismus des modernen Lebens

VI

. »Man muss ganz und gar modern sein«

VII

. Hofräte der Revolution

VIII

. Leben in der Abstraktion

IX

. Kunst und Anti-Kunst

X

. Profane Erleuchtung

XI

. Die Zerbrechlichkeit der Lebenden

XII

. Die schnellen Jahre

XIII

. Heroismus des Sehens

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. Die jugendliche Kraft zur Empörung

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. All Art is Propaganda

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. Pessimismus ist konterrevolutionär

Ausgewählte Literatur

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9Einleitung

Kunst und Revolution. Eine etwas andere Geschichte der Moderne

»Die Moderne war immer noch eine lebenssprühende Idee«, schrieb Susan Sontag knapp vor der Jahrtausendwende im Rückblick auf die sechziger Jahre in einem leicht melancholischen, fast deprimierten Ton. »Wie sehr man sich wünschte, dass ein wenig von der Kühnheit, dem Optimismus, der Verachtung für den Kommerz überlebt hätte.«1 Diese Sätze der großen amerikanischen Essayistin, formuliert wenige Jahre vor ihrem Tod im Dezember 2004, haben etwas von einem Abgesang. Gleichsam negativ rauscht im Hintergrund noch das Pathos, das wir mit dem Begriff der Moderne verbinden: Optimismus, Fortschrittsgeist, Lebensappetit, die Gewissheit, dass die Welt sich nicht einfach zufällig und ziellos verändert, sondern verbessert, dass Grenzen dazu da sind, überschritten und geschliffen zu werden.

Diese Gewissheit prägte die Atmosphäre einer ganzen Epoche: Fortschritt im Wissen macht uns klüger. Der technische und ökonomische Fortschritt macht uns reicher. Der gesellschaftliche und soziale Fortschritt wird die Welt gerechter machen (oder hat zumindest das Potenzial dazu), er erweitert Radius und Horizont, reißt, wie Karl Marx und Friedrich Engels das formulierten, immer mehr Menschen aus der Borniertheit und dem »Idiotismus des Landlebens«.2 Modernes Denken unterminiert Engstirnigkeit und Kleingeistigkeit und setzt alle Konventionen der permanenten und wirkungsvollen Kritik aus. Alle lieb- und unliebgewonnene Tradition wird dem Röntgenblick scharfsinniger Analyse unterzogen und dekonstruiert. Was von gestern ist, wird dem Müllhaufen 10der Geschichte zugeführt. Die permanenten Revolutionen und Stilrevolutionen in den Künsten eröffnen dem Sehen, dem Empfinden, dem Hören, dem Leben neue Kontinente. Die ambitionierten Künste sickern in die Alltagskultur, aber beispielsweise auch in die Architektur ein, prägen und verändern – und verbessern! – Lebenswelten. In der Politik verbreitet sich ein Geist der Revolution oder zumindest der ambitionierten Reformen. Neue Generationen räumen kühn den Schutt und die Trümmer der Altvorderen beiseite. »Es braucht die große tabula rasa, auf der man spielt, das beginnergefühl«, notiert Bertolt Brecht 1941 in sein Arbeitstagebuch.3 Natürlich ist all das keine Einbahnstraße, es gibt Gegenwind, etwa den Widerstand des Konventionellen in den Künsten, Reaktion und Gegenrevolution in der Politik, Stockungen wegen erlahmenden Elans, neuer Routinen oder Enttäuschungen, Aufstände des Konservatismus in der Ideenwelt, also diese Kämpfe, das Wogen, die Pendelschläge hin und zurück, all dieses übliche und bekannte »Weltkuddelmuddel«, wie Heinrich Heine das nannte.

Genau das will dieses Buch sezieren: die Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen revolutionären Ideen und Theorien, dem neuen Wissen, dem »Zeitgeist« im Sinne von verdichteten Atmosphären und gesellschaftlichen Grundströmungen sowie der künstlerischen Produktion und den großen geschichtlichen Epochebrüchen. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf Kunst und Kultur, die immer wieder als Seismograf wirkten, Veränderungen vorwegnahmen, sie aber auch anstießen und beschleunigten.

Halb ist das eine Geschichte der modernen Kunst, halb ein tastender Essay, der die Frage stellt und diskutiert: Was waren eigentlich die einmal radikalen Thematiken der Kunst, die wir in der Rückschau fälschlicherweise fast schon für selbstverständlich und konventionell nehmen? Was ist radikale Kunst heute, was soll politische Kunst sein, was sind ihre Möglich11keiten, die Gesellschaft und die Diskurse zu beeinflussen und die Welt zu verändern? Denn das sind Fragen, die sich seit einigen Jahren die Künste selbst stellen: Wie kann man relevant sein? Dahinter lauert der Verdacht: Sind die Künste möglicherweise nur mehr Zerstreuung, Unterhaltung, ein Teil der Kommerzkultur? Ein Wirtschaftszweig unter anderen, gewissermaßen? Was kann noch kommen, wenn – jedenfalls gefühlt – alles schon einmal da war? Ist der Künstler, die Künstlerin letztlich auch nichts anderes als eine Figur der allgegenwärtigen Prominentenkultur mit ihren Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie?

Die moderne Kunst war immer Schrittmacherin des Fortschritts, weil sie neue Wahrnehmungsformen durchsetzte. Bisweilen etablierten Künstler und Künstlerinnen auch als direktes Vorbild einen Lebensstil der unkonventionellen Existenz. Formsprachen und Sprachformen setzten das Hergebrachte dem Säurebad der Subversion aus. Sehr oft wurden aber auch die herrschenden Verhältnisse direkt attackiert oder der beißenden Kritik unterzogen. Auf direkte oder indirekte, auf gewollte oder auch nicht intendierte Weise wurden damit vorherrschende Anschauungen und Lebensweisen delegitimiert, und neue Anschauungen wurden nach und nach hegemonial. Kultur und Künste tragen so, nicht selten sogar hinter dem Rücken der Akteure, zum Aufstieg eines neuen Sets an Haltungen, Meinungen, politischen Anschauungen bei, zu einem neuen Weltverständnis.

In der Geschichte der Moderne prägten die Künste auf vielfältige Weise die äußere Realität: Schonungslose Beschreibungen der Wirklichkeit lieferten das Rohmaterial für Gesellschaftskritik – selbst dann, wenn die betreffenden Künstler das gar nicht beabsichtigten. Literaten und Literatinnen fanden eine Sprache und Schreibweisen, die die politische Pamphletistik beeinflussten. Stilrevolutionen veränderten die Art, 12wie wir unsere Welt sehen, aber sie beeinflussten auch Menschenbilder. Die Introspektion, die Psyche und Gefühlswelten ergründete, brachte den modernen Individualismus hervor, entsprang aber selbst einem Zeitgeist, der die Selbstverwirklichung des Einzelnen, seine Freiheit und Emanzipation zu zentralen Themen machte. Sprachrevolutionen sickerten in den Alltag, beeinflussten die Medien, Bildsprachen breiteten sich von der Avantgarde ausgehend aus, wurden vom Überraschenden zum Gewohnten. Wo progressive politische Bewegungen an die Schaltstellen kamen, wie etwa im Roten Wien, wirkten die Künste über Architektur, Design, neue Stilsprachen direkt auf den Alltag ein und hatten ganz unmittelbar lebensweltliche Folgen. Die politische und radikale Kunst trug nicht nur dazu bei, Menschen für revolutionäre Bewegungen zu gewinnen, sie veränderte auch radikal die Auffassungen davon, was überhaupt Kunst sei. Die innere Logik der zeitgenössischen Kunst selbst trägt zur permanenten Veränderung bei, da nicht Wiederholung für Aufmerksamkeit auf dem Feld der Kunst und der Künste sorgt, sondern das Neue. Sie ist selbst ein wichtiger Motor von Erneuerung und revolutionärem Wandel, unterliegt aber zugleich einem gewissen Druck zu zwanghafter Originalität, was gelegentlich ermüdend ist. Dies nur als erste, skizzenhafte Andeutung.

Im Großen und Ganzen widmet sich dieses Buch den vergangenen zweihundert Jahren von Kunst, Kultur, Theorie, Ideengeschichte, Gesellschaft und Politik sowie den Wechselwirkungen zwischen ihnen, aber diese Periodisierung von »Moderne« ist prekär, wenn auch nicht völlig willkürlich. Den Beginn der philosophischen Moderne könnte man gut und gerne hundert Jahre früher veranschlagen, etwa mit dem Aufstieg der Aufklärung. Bei der literarischen Moderne liegt man sicherlich nicht gänzlich falsch, wenn man circa die Jahre um 1830 als Bezugspunkt nimmt, aber es ließe sich auch ein 13früherer Stichtermin argumentieren, genauso wie ein späterer. Leicht zu begründen wäre, die Moderne in der bildenden Kunst ein paar Jahrzehnte später beginnen zu lassen. Unter der Wiener Moderne, um nur ein Beispiel zu nennen, wird allgemein das Geschehen in Kunst und Geistesleben ab 1870 oder 1880 verstanden, und manche würden sie mit dem Ersten Weltkrieg enden lassen. Mit ebenso guten Argumenten können wir aber auch die Kunst und Gedankenwelt sowie die revolutionären Reformen des Roten Wien bis 1934 als integralen Bestandteil dieser Epoche ansehen. Die Moderne in der Architektur würden viele Fachleute eher erst mit der Zeit um 1890 beginnen lassen, also mit dem Jugendstil und nicht mit der Gründerzeitarchitektur, manche sogar noch später, mit dem Kampf der klaren Formen gegen das Ornament. Periodisierungsdebatten sind aber auch nicht so wichtig, sie tun wenig zur Sache, und wenn man im Kopf behält, dass solche Grenzziehungen eben unscharf sind und sein müssen, dann kann man diese Problematik auch sofort wieder vergessen.

Was ist »politische« Kunst, was »radikale« Kunst? Diese Frage stellt sich heute für viele Kunstschaffende auch deshalb, weil – anders als über weite Strecken der Moderne – kein »progressiver Zeitgeist« als Rückenwind weht. Es fehlt, jenseits der Künste, an wuchtigen gesellschaftlichen Bewegungen, die einen Fortschritt Richtung mehr Gerechtigkeit, mehr Emanzipation, mehr Humanität als selbstverständlich erscheinen lassen. Nun mag das eine politisch-gesellschaftliche Pathologie sein – nennen wir es einfach einmal Pessimismus, Verzagtheit und Zukunftslosigkeit –, aber sie hat Rückwirkungen auf die Künste selbst. Jedenfalls gilt das für die historischen Zentren des Modernismus, jene Weltgegenden, die man früher »den Westen« nannte. Welcher Künstler, welche Künstlerin kann sich noch als Teil einer breiteren Fortschrittsbewegung sehen, als Koakteurin einer revolutionären Be14wegung, als Beitragstäterin zu gesellschaftlicher Modernisierung?

Aber wie ist ein Künstler »politisch«? Indem er oder sie einfach Fragen aufwirft, sie in die Welt setzt und diese dann Kreise ziehen lässt? Insofern ist jeder und alles politisch, aber das ist zugleich eine etwas unbefriedigende Charakterisierung. Früher waren auch die selbstbezüglichsten Stilrevolutionen noch »politisch«, da sie sofort mit Reaktionen des Konventionellen zu rechnen hatten. Der Konservativismus drängte die zeitgenössische Kunst nahezu automatisch ins Lager des Rebellisch-Revolutionären. »Die Vorreiter der modernen Architektur, gleich welcher Richtung, waren von Anfang an der Kritik der konservativen Kreise ausgesetzt.«4

Ist Kunst dann politisch, wenn sie ein im weitesten Sinne politisches Thema hat? Oder erst, wenn die Künstlerin, der Künstler eine direkte politische Botschaft verfertigt? Brecht, die Futuristen, das Bauhaus, die Abstraktion, die Abkehr von der Gegenständlichkeit, Balzacs Beschreibung der Geldwelt, Flauberts Verhöhnung des Bourgeoisen – das war alles auf seine Weise politisch und gesellschaftsverändernd, nur eben auf jeweils sehr unterschiedliche Weise. Ein weiteres Problem: Die Provokation, das Radikale, dem ist schnell der Stachel gezogen, wenn im eng umgrenzten Feld von Kunst und Kultur alles erlaubt ist und wenn es vom saturierten Bürgertum beklatscht – oder sogar gekauft – wird. Noch das Kunstwerk, das den Kommerz anprangert, wird am Kunstmarkt sofort für Millionen umgesetzt. Die Inszenierung, die die Entfremdung in der spätkapitalistischen Dekadenz beklagt, wird vom Stadttheaterpublikum euphorisch gefeiert.

Die Kunst der Moderne ist radikal, wo (oder besser: weil) sie neue Fragen und neue Stile etabliert – das ist so ziemlich die Minimaldefinition, aber zugleich ein wichtiges, zentrales Kriterium. Das, was Brecht das »Beginnergefühl« nannte. Man lässt Altes zurück und begibt sich in unbekannte Gewässer, 15oft mit dem Pathos des Berserkers, der Grenzen niederreißt, oder auch tastend, versuchsweise. Der Künstler, die Künstlerin kann das als solitäres Genie tun, aber häufiger sind sie doch auch Teil eines breiteren Zeitstroms, ohne den dieses »Beginnergefühl« sich nicht recht einstellt. Die Künstler, sie sind sowohl Protokollführer des Zeitgeistes wie dessen Koautorinnen. Eine Revolution macht sowieso niemand allein. Ohnehin kann kein Künstler auf sich gestellt etwas »beginnen« – wenigstens ein Publikum braucht er, das ihn rezipiert und versteht oder zumindest auf produktive Weise missversteht (dass das Kunstwerk nicht vom Künstler allein geschaffen wird, sondern nur gemeinsam mit dem rezipierenden Publikum, ist auch so eine Erkenntnis, die erst im Lauf der Zeit zum Allgemeinplatz geworden ist). Ein »Beginner« ist nur ein halber, wenn niemand etwas davon merkt.

Der bürgerliche Roman und sein »Realismus«, wie er sich ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte, steht am Ausgang der hier gewählten Darstellung. Honoré de Balzac hat mit seiner Comédie Humaine ein Panorama der modernen bürgerlichen Gesellschaft schon im Moment ihres Ursprungs gezeichnet. Balzac war so ziemlich das Gegenteil eines sozialistischen Revolutionärs, er war ein reaktionärer Monarchist. Aber er hat die zeitgenössische Gesellschaft beschrieben, deren charakteristische Typen, die verwitternde Prunksucht der Aristokraten, die kriecherische Posiererei der Reichen, der bürgerlichen Geldleute, die um Anerkennung und Karrieren rangen, den lächerlichen Konkurrenzkampf aller gegen alle, das Elend der Armen. Spitze Zungen meinen, sein Panorama sei so überbevölkert, dass es vom Melderegister nur mehr schwer zu unterscheiden sei. Balzac hat das Geld in die Literatur eingeführt, das Geld, das allen fehlt (außer denen, die unendlich viel davon haben), den Wettlauf um monetären Wohlstand, der alles motiviert, selbst die Liebe, die Ehe. 16Und die Kunst übrigens, denn Balzac hätte niemals so viel geschrieben, wenn er nicht ständig auf der Flucht vor Gläubigern gewesen wäre.

Karl Marx pries den alten Reaktionär Balzac dafür, dass er »alle Schattierungen des Geizes so gründlich studiert« habe,5 bewunderte seine »tiefe Auffassung der realen Verhältnisse«,6 etwa wie die Armut demütig macht, wie jede soziale Beziehung von der Berechnung vergiftet wird. Friedrich Engels formulierte später, er habe von Balzac mehr gelernt »als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen«.7 Mode und Geld, beispielsweise, stehen in engem Verhältnis zueinander, nicht nur weil eine prächtige Hose Geld kostet, sondern auch, weil eine prächtige Hose eine Investition sein kann, die sich rechnet, da man in einer Welt der Eindruckskonkurrenz zum Aufbau einträglicher Netzwerke eine prächtige Hose braucht. Ein winziges Beispiel, das zeigt, dass alles mit allem zusammenhängt und die Dinge kompliziert sind.

Der Stil des bürgerlichen Romans von Balzac und seinen Nachfolgern war der des »Realismus«, was gerne als »naturgetreu« oder »zwanghaft wirklichkeitsnah« missverstanden wird. »Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen«, formulierte der bereits zitierte Friedrich Engels.8 Realismus meint folglich nicht notgedrungen die Verdoppelung von Wirklichkeit, sondern die Verdichtung von Charakteren, die Herausarbeitung von Problematiken, die Entwicklung eines Stils, der uns über die Wirklichkeit etwas zu sagen hat.

Oft grübelten Gesellschaftstheoretikerinnen und Kulturwissenschaftler, was denn das eine, charakteristische Merkmal der Moderne sei, neben den permanenten, beschleunigten Stilrevolutionen, dem steten Beginnen und Neuanfangen. Zentral und neu sei die Introspektion, meint etwa Peter Gay17in seiner großen Geschichte der Moderne, also der Psychologismus.9 In der Ideengeschichte komme das Individuum auf mit seinem Streben nach äußerer und innerer Erfüllung. Auch scheinbar kollektivistische Ideen wie die des Marxismus und Kommunismus betonen die Befreiung aller als Voraussetzung für die Befreiung und Emanzipation des Einzelnen, kanonisch geworden in der berühmten Wendung aus dem Manifest, dass »die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist«.10 Mit Sigmund Freud wird die Psychologie nicht nur zur Wissenschaft, sondern ganz schnell sogar zu einer Mode (das soll jetzt bitte nicht abschätzig klingen). Später einmal wird es nicht zufällig Denkschulen geben, die man als »Freudomarxismus« bezeichnet.

Der Impressionismus malt nicht die äußere Wirklichkeit in naturalistischer Strenge, sondern vielmehr deren Wirkung auf den Künstler, also dessen inneres Empfinden. Selbstverständlich, dass der Roman nicht mehr von fantastischen Geschichten lebt, sondern von der möglichst realistischen Beschreibung der psychischen Vorgänge, der inneren Konflikte der Subjekte. Aber das Innere ist nicht reines Inneres: In ihm kreuzen sich das geschichtlich Gewordene, Lebensweisen, gesellschaftliche Normen, die Sehnsüchte des modernen Selbst. Flaubert erlaubt den Leserinnen und Lesern, gewissermaßen durch die von Engstirnigkeit oder Beschränktheit gefärbte Brille der Protagonisten zu schauen, amalgamiert individuelles Empfinden und gesellschaftliche Konventionen und zeigt, wie fremdgesteuert die Figuren – aber letztlich wir alle – sind.

Gustave Flauberts Emma Bovary sehnt sich nach einem interessanten, intensiven Leben und zerbricht an den Hohlköpfen, von denen sie umgeben, und dem niedrigen Leben, in das sie gezwungen ist. Diese Sehnsucht kommt aus ihr selbst, aber zugleich auch nicht nur aus ihr allein, sondern aus der Gesellschaft. Flaubert, schon das ein Skandal, führt ein neues »The18ma« in die Literatur ein – die Frau, ihre Wünsche und ihre Unterdrückung. Selbst ein eher konservativer Bürgerlicher, ist er Bohemien genug, nicht nur das Ancien Régime einer Kritik zu unterziehen, sondern auch noch die routinierte Kritik an demselben. Die »antibourgeoise Ästhetik« (Dolf Oehler) ist ein wesentliches Charakteristikum der Moderne, der »Bürgerschreck« eine zur Gewohnheit werdende Figur, die verstörende Irritation ein gängiges Stilelement.

»Die Künstler, die Schriftsteller sind Seismographen gesellschaftlicher Veränderungen und Erschütterungen«, sollte später der große österreichische Kommunist Ernst Fischer schreiben, viele Werke »geben Auskunft über bedeutende Probleme eines Zeitalters und tragen dazu bei, die kapitalistische Welt zu unterminieren.«11

Impressionistisches »Flimmern«, Hass auf die Bourgeoisie, neue Begriffe wie »Nerven«, »Décadence«, »Tempo«, »Intensität« werden prägend – und, natürlich, »Modernité«. Nonkonformismus kommt auf und geht einher mit der Idee von der autonomen Künstlerpersönlichkeit. Vom »Heroismus des modernen Lebens« schreibt Baudelaire, der erste Dichter, der vom großstädtischen Leben etwas zu sagen hat. »Gegenwärtigkeit«, im Sinne von »absolute contemporary«, wird zu einem eigenen Wert. »Das Neue« ist nicht bloß ein Attribut, sondern spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein regelrechter Kampfruf. All das versteht sich fast von selbst. Denn rundherum hat die ganze Welt sich beschleunigt. Die Eisenbahnen brachten Tempo in die Welt, in den Fabriken griffen Zahnräder und Maschinen ineinander, angetrieben von Dampfmaschinen, gigantischen Apparaturen gleich, an die die Menschen förmlich angeschlossen waren. Feuer und Dampf speiende Ungeheuer, die die Menschen zappeln ließen, als wären sie nur mehr die belebten Fortsätze der Maschinerie, aber doch gaben sie auch utopische Ausblicke auf eine automatisierte Welt mit mehr Wohlstand, weniger Pla19ckerei und unermesslichen neuen Möglichkeiten. »Jedes Zeitalter bekommt neue Augen«, bekundete Heinrich Heine.12

Die Lyrik lieferte die radikalen Sprachrevolutionen mit Mallarmé, Verlaine und Rimbaud, eine Poesie, die von der Anspielung und Suggestion lebt, von einer neuen Musikalität und Rhythmik der Sprache auch, von Klangzauber, Wortkonstellationen, Vergeistigung. Die Künstlerperson selbst musste mindestens Teil des Kunstwerks sein, so mancher wurde mehr durch sein Leben berühmt als durch seine Werke, schon breitete sich allmählich und zunächst noch unbemerkt diese eigenartige Prominentenkultur in die Welt der Kunst aus. Das Leben selbst als Kunstwerk! Die Artifizialität der Sprache und der Darstellungsformen hält, aus der Poesie kommend, bald Einzug in die Prosa.

Die moderne Kunst braucht die Ideen des genialen Künstlers, der genialen Künstlerin, aber diese brauchen auch die Brutstätten der Kunst, den Sauerteig und die Kreativmilieus, in denen sie gedeihen. Die Ideen, die aufkommen, sind letztlich stets oder zumindest fast immer Ideen, die in der Luft liegen, was auch heißt, Ideen anderer Leute. Mit der Fotografie entsteht eine neue Technologie der naturalistischen Darstellung des »Realen«, und sogleich bewegt sich die Malerei vom klassisch Figuralen und ihren gewohnten Gegenständen weg. Das Gesehene ist schon Interpretation. Das Porträt nicht mehr primär oder gar allein Porträt des Porträtierten, sondern auf sichtbare Art auch des Porträtierenden. Man sieht nicht die »Wirklichkeit«, sondern das Bild, das der Maler gesehen hat, als er gemalt hat – was ein kleiner, aber entscheidender Unterschied ist. Nicht der Gegenstand wird gemalt, sondern die Wirkung, die er hervorruft. Mit der Verfremdung wird Neues sichtbar gemacht. Langsam entsteht eine Multiplizität der Stile, bis zum großen »Moment des Kubismus«, wie das der legendäre linke Kritiker und Essayist John Berger nannte, die vielleicht schnellste und radikalste Kunstrevolution der 20bisherigen Geschichte. In gerade einmal sechs Jahren entwickeln Pablo Picasso, Georges Braque und Künstlerfreunde eine neue Sehweise, die radikal mit der perspektivischen, dreidimensionalen Illusion bricht. Das Gemälde ist eine Fläche, bleibt aber noch irgendwie dem Figuralen nahe. Der junge Marcel Duchamp führt mit seinem »futuristisch-kubistischen« Gemälde Akt, eine Treppe herabsteigend II auch noch die Dimension der Zeit und Bewegung ein, für die herrschende Sehweise ein heute kaum mehr nachvollziehbarer Skandal, der ihn schlagartig berühmt machte – wenngleich er davon nicht sofort etwas mitbekam. All das geschieht in einer Beschleunigungszeit, in der revolutionäre, sozialistische Ideen Massenbewegungen hinter sich sammeln, in der sich die Elektrizität durchsetzt, die Soziologie zu einer Disziplin wird, die Medizin dramatische Fortschritte macht, die Massenmedien entstehen, das Auto, das Flugzeug …

Die bildende Kunst wird zu einer zunehmend »konzeptionellen« Tätigkeit, in deren Zentrum nicht ein Objekt steht, sondern eine Idee. Kubismus, Suprematismus, Konstruktivismus, Futurismus, an allen Ecken der Welt brechen sich, unabhängig voneinander und zugleich miteinander verbunden, Neuerungen Bahn, die schnell auch die Alltagsästhetik prägen. Die Kunst geometrischer Formen inspiriert eine Ästhetik klarer und nüchterner Linien und zieht über Bauhaus, Frankfurter Küche und Wiener Gemeindebauten in die Lebensreformkonzepte und -praktiken der Sozialisten ein, in die neue Baukultur, ins Design, in den Alltag. Bei Künstler-Communitys wie De Stijl ist das schon gar nicht mehr gut unterscheidbar. Die Bilder, die Mondrian malt, können mehr oder weniger bruchlos in Möbel übersetzt werden, und die ästhetischen Innovationen von Architekten wie Peter Behrens, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Le Corbusier, später Frank Lloyd Wright, Margarete Schütte-Lihotzky oder auch das vom Philosophen Ludwig Wittgenstein entworfene 21Wohnhaus in Wien-Erdberg sind praktischer Ausdruck einer Kunsttradition, die nach und nach sogar Stadtbilder prägt.

Wie überhaupt alles wechselseitig aufeinander einwirkt: In Wien steht Gustav Mahler noch als Hofoperndirektor im Dienste des Kaisers, als er die Musik revolutioniert und für den Sozialistenführer Victor Adler Wahlkampf macht (ein kleiner Skandal damals noch, aber nur mehr ein kleiner). Unter demselben Adler wiederum wird die Sozialdemokratie zur Massenbewegung, er legt den Grundstein zum »revolutionär-reformistischen« Gedankengebäude des Roten Wien und sitzt dabei buchstäblich unter einem gemeinsamen Ideendach mit Leuten wie Freud, Hofmannsthal, Bahr und Schnitzler.

Die Moderne ist »die Kunst von Morgen im Gegensatz zu den konservativen Geschmäckern von heute«, schrieb John Berger in einer schönen Wendung. »Es wäre absurd zu unterstellen, die großen Maler des letzten Jahrhunderts wären alle Sozialisten«, so Berger weiter, »aber was sicher wahr ist, ist, dass sie alle Erneuerungen brachten in der Hoffnung auf eine reichere Zukunft.«13

Eine Wahrheit darf hier nicht übergangen werden: Über weiteste Strecken – im Grunde bis in die jüngste Vergangenheit – ist der Kanon der Moderne und der progressiven Intelligenz erstens von Männern geschaffen worden und zweitens von solchen, die aus reichem Hause kamen. Denn für den Status des freien, wilden Künstlers oder des radikalen Gelehrten war es wenigstens bis vor hundert Jahren nahezu unumgänglich, ökonomisch durch die Familie abgesichert zu sein. Ein Vermögen war mindestens nützlich, eine kleine Erbschaft als Voraussetzung eine Erleichterung, und das Herkommen aus einer kunstaffinen Umgebung ein entscheidender Startvorteil. Karl Marx entstammte der gehobenen Mittelklasse, sein Buddy Friedrich Engels einer Industriellenfamilie, Heinrich 22Heine lebte lange von Zuwendungen eines reichen Onkels, Hofmannsthal war der Spross einer Großbürgerfamilie, selbst Baudelaire war erst bettelarm, als er sein Erbe durchgebracht hatte. Flaubert lebte zeitlebens von ererbtem Vermögen, die gesamte Frankfurter Schule, also die markant linke, zugleich radikal undogmatische Theoriegemeinde in Deutschland, hätte es nie gegeben, wären Friedrich Pollock, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno nicht aus gut situierten Industriellenfamilien oder Handelsdynastien gekommen. Wenigstens Pfarrerssohn und Gymnasiallehrer musste man sein, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, und Fälle wie er sind schon eher die Gegenbeispiele, die Ausnahmen. Ein familiärer Hintergrund, der erzwang, mit zwölf Jahren von der Schule abzugehen und sein Geld als Lehrbub oder Hilfsarbeiter zu verdienen, war einer künstlerischen Karriere oder einer Laufbahn als Intellektueller nicht eben förderlich, und die Zahl jener, die sich dennoch Gehör verschaffen konnten, blieb lange überschaubar.

Die Konventionen und Lebenspraktiken sowie die Regeln des Kunstfeldes hatten auch zur Folge, dass die Revolte gegen das Hergebrachte weitgehend ein Privileg der jungen Männer blieb. Der wilde Künstler, der radikale Privatgelehrte, das war nur bei den Männern akzeptiert. Die akademischen Tore waren für Frauen lange verschlossen, ebenso wie die entsprechenden Aufstiegskanäle. In den Familien wurden die Spleens der Jungs akzeptiert, nicht die der Mädels. Auch das Erbe ging in aller Regel an sie.

Virginia Woolf hat das in ihrem nüchtern-zornigen Buch Ein Zimmer für sich allein in der gesamten, simplen Drastik beschrieben: »Eine Frau braucht Geld und ein eigenes Zimmer, um schreiben zu können.«14 Und das waren genau die beiden Dinge, die Frauen üblicherweise nicht hatten. Den Frauen aus der Mittelschicht und dem Bürgertum fehlte aber noch etwas anderes im Vergleich zu den Männern: Sie saßen 23daheim, streunten nicht herum, hatten seltener wüste Liebschaften, tranken nicht in verrauchten Kaschemmen, zogen nicht mit achtzehn Jahren in Universitätsstädte, machten keine großen Reisen, und wenn, dann erlebten sie weniger als ihre Brüder. Männerliteratur handelte von Krieg, von Erfahrungsreichtum, Frauenliteratur von »Gefühlen von Frauen im Salon«.15 Frauen waren aufgrund dieser Umstände viel seltener in der Lage, Werke der Kunst oder der gesellschaftskritischen Theorie zu verfertigen, und wenn sie es schafften, wurden sie auch noch abgewertet. Frauenliteratur wurde von den allermeisten instinktiv als »weniger wert« angesehen als Männerliteratur, Maler können doch nur Männer sein, wenn Frauen auch malen, na ja, dann ist das doch bestimmt eher zweite Liga. All das heißt nicht, dass Frauen in der Moderne überhaupt keine Rolle spielten. Sie waren Netzwerkerinnen, Förderinnen, Schrittmacherinnen wie Rahel Varnhagen oder mehr als hundert Jahre später Peggy Guggenheim, Organisatorinnen von Künstlerzirkeln, Sammlerinnen und selbst grandiose Autorinnen, wie die fantastische Gertrude Stein. Mit Jane Austen, George Eliot oder George Sand gab es eine kleine Handvoll weiblicher literarischer Stimmen (von denen sich aber zwei nicht zufällig uneindeutige Künstlernamen gaben), auch im weiteren Kreis der Wiener Moderne brillierten erste Frauen, wie etwa Berta Zuckerkandl, und in der bildenden Kunst wurden allmählich Frauen stilbildend, zum Beispiel Gabriele Münter oder Marianne Werefkin, die aber doch vergleichsweise unbekannt blieben. Erstere beeinflusste ihren Mann, Wassily Kandinsky, der aus dem Kanon der radikalen Erneuerer nicht wegzudenken ist, während von ihr nur Spezialisten wissen. Frauen brauchten noch mehr Eigensinn und Durchsetzungskraft, um Anerkennung zu erlangen, wie das Beispiel der brillant-starrsinnigen und mutigen Lou Andreas-Salomé zeigt, der Autorin, Wegbegleiterin und faszinierenden Zeitgenossin von Nietzsche, Rilke, dem Sozialistenführer 24Georg Ledebour und späteren Vertrauten von Sigmund Freud. Anerkannte Zentralfiguren in den Künsten, das konnten Frauen über lange Jahrzehnte auch in der Moderne nur als Schauspielerinnen oder Tänzerinnen werden. So darf eine Geschichtsschreibung der Moderne über diesen Sachverhalt heute nicht mehr schweigend hinweggehen, kann sich aber auch nicht einen neuen, einen anderen Kanon herbeizaubern. Die Männer prägten die Moderne weitgehend, weil die Frauen dazu in aller Regel überhaupt nicht die Chance hatten. Sogar dann, wenn Frauen sich durchsetzten, blieben sie als Referenz eher die zweite Geige, weil sich die »bedeutenden Männer« wie selbstverständlich an ihresgleichen orientierten. Frauen konnten den Hauptteil eines Werkes schaffen und wurden gerade einmal als Mitarbeiterinnen angeführt, und auch das nur, wenn sie Glück hatten. Frauen mussten dafür nicht einmal brutal an den Rand und den Katzentisch gedrängt werden, die subtilen Ordnungen der Kunst und ihrer Diskurse reichten da völlig aus. An dieser Stelle ist das Imperfekt wahrscheinlich unangebracht, so gänzlich anders ist das nämlich bis heute nicht.

Die Motive der Kunst sind: Nicht das »falsche Leben« führen, sondern das »Eigentliche«, was immer das ist. Nicht in Konventionen und nicht im Konventionellen verharren, sondern neue Bildsprachen, Sprachformen, Erzählformen entwickeln. Auch, die Wut rauslassen. »Leben« ist ein großes Schlagwort. Der Erste Weltkrieg und die Jahre, die vorangingen und ihm folgten, radikalisieren den Traditionsbruch. Die bildenden Künste wenden sich völlig vom Figuralen ab, Kandinsky, Malewitsch, El Lissitzky treiben auf die Spitze, was die Kubisten begonnen haben. Allesamt Spezialisten des Von-vorn-Anfangens. Das Ende des Weltkrieges brachte welthistorische Umbrüche wie den Untergang von Kaiserreichen – etwa in Deutschland und Österreich –, die Entstehung wackeliger 25Demokratien, den Aufstieg revolutionärer Massenbewegungen, die Geburt neuer Nationalstaaten, die bolschewistische Revolution in Russland oder zumindest die völlige Entwertung der alten Establishment-Kulturen. Der Krieg hat die Jugend geprägt, verwundet, traumatisiert, die sich danach von den Alten noch weniger sagen lassen will als vorher schon. James Joyce erzählt Geschichten aus zehn Perspektiven in zehn verschiedenen Sprachen und multiplem Duktus, jeder Satz hat eine zweite Bedeutung, und so wichtig wie das Gesagte sind Rhythmik, Sound, Musikalität; Textflächen, hermetisch bisweilen, mit einem spezifischen, bisher unbekannten Sog. Franz Kafka evoziert mit seinen wunderlichen Parabeln Assoziationen über die Geworfenheit des entfremdeten Subjektes in die absurde, verwaltete Welt oder seine Gefangenheit in totalitären Systemen (so haben das viele gelesen, andere auch anders). André Gide erzählt aus wechselnden Positionen und erfindet die literarische Figur des rebel without a cause. Egon Schiele entwickelt einen bildnerischen »Existenzialismus« avant la lettre, voller Figuren in verletzlicher Schönheit, zeittypischer Kränklichkeit und androgyner Erotik und provoziert die üblichen »Pornografie«-Skandale.16 Kunst kommt plötzlich nicht mehr ohne Interpretation aus, da rätselhafte Werke danach rufen, erklärt oder wenigstens irgendwie gedanklich umkreist und beschnuppert zu werden.

Der Expressionismus schreit heraus. Sprengt Wort- und Bildsprachen, macht gefühlsbetonte Mitteilungen (Wolfgang Becker),17 manchmal wütend, manchmal anklagend oder umstürzlerisch, manchmal in gefühlskaltem Realismus, verkündet den Untergang des Alten und den Anbruch des Neuen, Rausch, Gefühlssteigerung. »Vatermord« wird ein geflügeltes Wort. Was genau »Expressionismus« sein mag, bleibt irgendwie im Dunkeln, alles und nichts gehört dazu, es ist kein Stil, keine darstellerische Technik oder literarische Form, die diese Werke miteinander verbindet. Er hat keine große Botschaft, 26zumindest keine positive. Irgendwas mit Intensität, irgendwas mit »spüren«, und davon gibt es ja alle denkbaren Spielarten. Umso unschärfer ist der Begriff, echte Schule wird keine daraus. Zur Idee des Kommunismus mit seinem Zukunftsoptimismus und gesellschaftsformierenden Gewissheiten passt er nicht so recht, aber das macht manchen expressionistischen Kommunisten nicht viel aus. »Dieser Expressionismus ist furchtbar«, schrieb Brecht, als man ihn demselben noch zurechnete.18 Pathos der Weltveränderung, Pathos der Kunst, Pathos von »Kraftgenies« und von »Kunstreligion«, das geht oft Hand in Hand. Nicht wenige rasen erst auf der gleichen Fahrbahn, biegen dann aber scharf ab. Die Futuristen singen das Lied auf die Geschwindigkeit, auf Tempo und Maschinerie: »Wir wollen den Krieg verherrlichen.«19 Und: »Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken […], ist schöner als die Nike von Samothrake. […] Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein.«20

Einige führt das in eine ästhetisch begründete Kameraderie mit dem Faschismus. Teile der deutschen Intelligenz erhoffen sich schon im Ersten Weltkrieg eine Art Reinigungsgewitter, klingen, als führten sie den Krieg weniger gegen »feindliche« Armeen, sondern mehr gegen ihre eigene Langeweile, und futuristische Motive hallen auch bei Wegbereitern späterer Nazi-Motive nach, etwa bei Ernst Jünger. Manche wechseln von ganz links nach ganz rechts oder auch wieder retour, ohne die kalt-zynische Kriegs- und Gewaltästhetik aufzugeben. »Knabenhafte Verschwärmtheit«, »rabiateste Dekadenz«, diagnostizierte Walter Benjamin, die die »Thesen des l'art pour l'art auf den Krieg« überträgt.21 Einher geht das häufig mit elitärem Ekel vor der Massendemokratie und deren verachteter Nivellierung, auch mit Anti-Rationalismus und spiritistischer Mystik bei Dichtern wie Stefan George, William Butler Yeats, T. ‌S. Eliot oder Ezra Pound, die, was immer sie auch unter27schied, als Nachgänger der symbolistischen Tradition gelten und durch eine kulturkonservative, »pessimistische Haltung« (George Orwell) verbunden waren und eine »tragische Einstellung zum Leben« teilten. »Die geistige Verwandtschaft zwischen Pessimismus und Reaktion liegt zweifellos offen zutage.«22 Ist die radikale Moderne von einem Tiefenstrom des Optimismus getragen, so hat sie doch auch einen pessimistischen, kulturkonservativen und damit bald reaktionären und konterrevolutionären Nebenarm.

Marcel Duchamp gibt das Malen auf, weil es ihn langweilt, arbeitet an Werken, die nie jemand sehen wird, und macht sich einen Spaß daraus, ein Pissoir um neunzig Grad zu kippen, es Fontaine – also »Springbrunnen« – zu nennen und mit dem Namen »R. Mutt« zu signieren. Die Kunstausstellung, bei der er das Werk einreicht und bei der eigentlich alle Stilrebellen Platz haben sollten, lehnt die Präsentation empört ab. Es ist ein kleiner Kunstskandal, aber Duchamps Pissoir wird doch eines der paradigmatischen Werke der »Interventionskunst«. Denn es stellt sich auf provozierende Weise der Frage, was eigentlich Kunst sei, wenn Regeln und der Kanon des »Könnens« umgeworfen werden. Ist dann nicht alles Kunst? Duchamps Produkte zeigen, »dass der Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst auf Konventionen beruht, nicht auf gesicherter Erfahrung«.23 Das Readymade ist geboren, und es ist auf brillante und lakonische Weise genau die Art von Provokation, die kurz darauf mit dem Dadaismus auf den Plan tritt. Das Ding verändert seine Identität durch symbolische Verrückung. Duchamp richtet unsere Konzentration »auf die Instabilität unserer Definitionen und Maßstäbe« (Jasper Johns).24

Hat die künstlerische Avantgarde bis dahin die Kunst revolutioniert, indem sie mit neuen Stilen alte Konventionen herausforderte, so wird ab jetzt nicht mehr nur Kritik an den vo28rangegangenen Kunstrichtungen geübt, »sondern an der Institution Kunst« selbst, wie das Peter Bürger in seiner Theorie der Avantgarde nennt.25 Mit Duchamp und später mit Dada wird die radikale Provokation eingeführt, aber zugleich ein Problem etabliert: Was moderne Kunst macht, kann man nur einmal tun. Konventionell klassische oder auch kubistische Gemälde konnte man unzählige malen, jedes einzelne musste – und konnte – ästhetisch bestehen, man konnte Kategorien oder auch nur Geschmackskriterien entwickeln, mit denen man sie beurteilt. Ein Pissoir zum Kunstwerk ernennen ist einmal provokativ und radikal, jede Wiederholung ist dann redundant. Der Akt brilliert durch Konzept und Intellekt, er verstört vielleicht auch, wie Jahrzehnte später die Happenings der Wiener Aktionisten, handwerkliche Fertigkeit ist nicht unbedingt ein Schaden, aber nicht wesentlich, denn zentral ist die »Idee«. Was sofort mit der Gefahr einhergeht, verkopft zu werden, weil man das Werk begreifen, also diskutieren und erklären und interpretieren muss und im Extremfall davorsteht und sich wie ein Trottel vorkommt, weil man denkt, da müsse doch irgendeine Bedeutung sein, die jeder erkennt, nur man selbst nicht. »Ist das Kunst oder kann das weg?«, wird zu einem Bonmot, gemünzt auf die Schwierigkeiten des Putzpersonals in Museen, die Kunst vom Müll von der Vernissage zu unterscheiden.

Die großen Brutplätze moderner Künste, an denen sich über jeweils einige Jahrzehnte die kreative Radikalität ballt und wechselseitig befruchtet, sind erst Paris, dann Wien und Berlin, später New York. Brecht zieht in die deutsche Hauptstadt, triumphiert als junger Mann, kurvt im geschenkten Steyr-Coupé durch die Straßen, bis er es auf einer Überlandpartie unweit von Fulda an einen Baum fährt. Er bekommt ein Neues von der Firma gratis gestellt, entwickelt vitale Figuren wie den »Baal«, revolutioniert das Volksstück, prägt eine neue Art des Volksliedes, den Song, und entwirft seine Theo29rie vom Verfremdungstheater, das der Forderung gehorchen möchte, die Realität so darzustellen, dass sie meisterbar wird. Brecht klaut, wo nur möglich, von der griechischen Theatertradition sowieso, auch Elemente der chinesischen Bühnenkunst. Das Publikum wird einbezogen und in die Pflicht genommen: »Verändere die Welt, sie braucht es.« Während ein Teil der literarischen Moderne eine immer hermetischere und artifiziellere Sprache sucht, möchte Brecht das »plumpe Denken«26 perfektionieren, die möglichst einfache Sprache, den »lapidaren Stil« (Benjamin).27 Ganz ähnlich George Orwell, der von der »Politik des einfachen Stils« schreibt,28 weil es einfach sei, kompliziert zu formulieren, aber schwierig und eine harte Arbeit, klar zu schreiben.

Die abstrakte Malerei, die vom Figuralen völlig weggeht, bewegt sich in Richtung »reiner«, »absoluter« Malerei, in der geometrische Formen und nur mehr Farben miteinander kommunizieren. Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat (1915) ist eines der definitiven Werke dieser »Kunst und Anti-Kunst« (Susan Sontag), ein Nullpunkt, durchaus von ähnlicher Natur wie Duchamps Readymades, denn immerhin »das erste gegenstandslose Bild überhaupt«.29

Wie immer in der wirklichen Welt diffundieren die »reinen« Formen in die Alltagsanwendung, die weniger kompromisslos ist, dafür undogmatisch zusammenmixt. Zur ästhetischen Dimension kommt die Forderung des Funktionalen hinzu, Kunst dringt tatsächlich ins Leben ein und wird zur lebensreformerischen Praxis, die raumsparenden, schönen, zeitgenössischen und bezahlbaren Wohnraum für die breiten Massen schaffen will. Bisweilen klappt dieser Anspruch, sozialistische Reformziele und ästhetisch-funktionalen Minimalismus unter einen Hut zu bringen, etwa bei den Gemeindebauten des Roten Wien und der federführend von Adolf Loos entwickelten Heubergsiedlung in Wien, oft genug sind es freilich die Reichen und ästhetisch avancierten Vermögen30den, die sich kantige Villen mit fantastischen Glasfronten bauen lassen, wohlgemerkt oft von den Architekten, die sich eigentlich in den Dienst des einfachen Volkes stellen wollten. Ein Denkmal dieser Architektur ist Mies' Villa Tugendhat in Brünn, und die Weißenhofsiedlung in Stuttgart, an der Mies van der Rohe, Gropius, Le Corbusier und viele andere mitbauten, war letztendlich nicht gerade eine Sozialbausiedlung, sondern Architektur für die Mittel- und Oberschicht. Zu den paradoxen Ironien der Kunst gehört dabei auch, »dass fortgeschrittene Künstler mit ihrem Versuch, die traditionellen Barrieren zwischen Künstler und Betrachter einzureißen […], einen Großteil der Öffentlichkeit vor den Kopf stießen«.30 Es ist das ewige Dilemma moderner Kunst, dass sie mit egalitärem Pathos ein Massenpublikum gewinnen will, aber dabei eine Hermetik und Esoterik entwickeln kann, die genau das Gegenteil bewirkt. Mit freundlicher Zuneigung zur Arbeiterklasse wollten kommunistische und sozialistische Künstler die konventionellen Geschmäcker revolutionieren. Die zärtlich betrachtete Arbeiterklasse entwickelte aber selbst konventionelle Geschmäcker und überlud die funktionalistische Bauhaus-Einrichtung mit Nippes und Häkeldeckchen.

Indessen sucht Alberto Giacometti in Paris und in den Schweizer Bergen im Anschluss an seine surrealistische Periode wieder nach einer zeitgemäßen Form des Realistisch-Figuralen. Er modelliert Figur um Figur aus Gips, scheitert, zerstört sie, unternimmt täglich neue Versuche. Er vollbringt eine »tastende Annäherung an das Rätsel der menschlichen Erscheinung«, beweist die »Erneuerungsfähigkeit des Schauens«.31 Es braucht gut fünfzehn Jahre, bis er seinen Stil findet, der ihn zu einem Giganten des Jahrhunderts macht, diese schlanken, dünnen, hohen Figuren, die sich der Hinfälligkeit lebender Wesen bewusst zu sein scheinen, die es in jedem Augenblick eine ungeheure Energie kostet, sich aufrecht zu 31halten, zerbrechlich, allein, isoliert, entfremdet. So wurden diese Skulpturen gelesen, sie eröffneten Sensationen des neuen Blickens, wurden als paradigmatische Form einer »Kunst des Existenzialismus« rezipiert. Jean-Paul Sartre sollte später sagen, Giacometti markiere eine »kopernikanische Wendung« in der Bildhauerkunst. Die scheinbar »lebensechte« Plastik habe nur »versteinerte« Menschen produziert. Giacometti dagegen liefere »uns bereits gesehene Männer und Frauen«.32 Wie Picasso, Fernand Léger, Sartre und viele andere wird Giacometti zum Kommunisten, bleibt aber Solitär. Als Simone de Beauvoir, die wie Sartre und der Rest der Pariser Boheme zunächst in heruntergekommenen Hotels wohnte, ihre erste eigene Wohnung bezog, entwarf ihr Giacometti Lampen aus Bronze mit grünlicher Patina, Léger und Picasso schenkten ihr Bilder und Drucke. Beauvoir macht in einem Brief auf den Schweizer aufmerksam:

[E]r heißt Giacometti, und nächsten Monat gibt er in New York eine große Ausstellung. Vor zwanzig Jahren war er sehr erfolgreich und machte mit einer Art surrealistischer Skulpturen eine Menge Geld. Reiche Snobs zahlten hohe Summen, wie für Picasso. Aber dann fühlte er, dass es zu nichts führte […]. [E]r fing an, für sich zu arbeiten, verkaufte fast nichts mehr außer für den notwendigen Lebensunterhalt. […] Nun, ich glaube, dass er jetzt wirklich etwas erreicht hat, ich war tief beeindruckt von dem, was ich gestern sah.33

Marcel Duchamp sitzt in dieser Zeit schon in New York. Hier entsteht ein neues Zentrum der Moderne, langsam in den zwanziger Jahren, rasant beschleunigt dann durch Nazi-Diktatur, Krieg, Verheerung in Europa, durch die Vertreibung der Juden und der kritischen Intelligenz. Paris bleibt zwar trotz Besatzung und erst recht nach der Befreiung ein Magnet und Brutplatz für Erneuerungsschulen, aber New York wird immer mehr zu einer Rivalin. Das ist vor allem eine gegenseitige 32Befruchtung: Avancierte (Exil-)Künstler aus Europa bringen ihre Stilrevolutionen mit, die in den USA neu zusammengesetzt werden. Während eines ersten langen Aufenthalts in New York hatte Marcel Duchamp schon viel Aufmerksamkeit erregt, wurde von Kunstzeitungen, aber auch von der Tribune und von Vanity Fair zu großen Interviews gebeten, in denen er 1915 Amerikas Zukunft als Zentrum der Kunst vorhersagte: »Wenn Amerika doch nur einsähe, dass Europas Kunst fertig ist … Sehen Sie sich die Wolkenkratzer an! Hat Europa etwas vorzuweisen, was schöner wäre als sie?« Die Stadt, so Duchamp, »ist selbst ein Kunstwerk. […] Ich glaube, dass die Idee, alte Gebäude, alte Erinnerungen einzureißen, gut ist […]. Den Toten sollte nicht erlaubt sein, so viel stärker zu sein als die Lebenden.«34

Duchamp