Ein seltsamer Held - Robert Misik - E-Book

Ein seltsamer Held E-Book

Robert Misik

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Beschreibung

Victor Adler vereinigte die österreichische Arbeiterbewegung, er setzte in einem zähen Kampf das Wahlrecht und andere Freiheitsrechte durch, erkämpfte die demokratische Republik – und starb am Tag vor deren Proklamation. Aber "unser Doktor", wie er liebevoll in demokratischen und sozialistischen Kreisen genannt wurde, war mehr als das: ein sanfter Held, ein ironischer Revolutionär. Adler ist der bedeutendste Politiker in der Geschichte Österreichs, und doch auch ein halb vergessener Gigant. Alles, was von ihm geblieben ist, sind ein paar vergilbte Bilder. Robert Misik macht in einem biografischen Großessay diese zentrale Figur der österreichischen Geschichte an- und begreifbar, er lässt Person und Lebenswelt dieses zugleich sehr österreichischen und extrem unösterreichischen Politikers wieder aufleben. Eine historische Schlüsselfigur wird wiederentdeckt.

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Robert Misik

Ein seltsamer Held

Copyright © 2016 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehaltenGrafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Umschlagabbildung: © Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, Wien

Robert Misik, geboren 1966, ist Journalist und politischer Schriftsteller und schreibt regelmäßig für die Berliner »tageszeitung«, die »Berliner Zeitung«, die »Neue Zürcher Zeitung« und den Wiener »Falter«, außerdem produziert er die wöchentliche Videoshow »FS Misik« auf www.derstandard.at. Zahlreiche Preise, etwa der Bruno-Kreisky-Förderpreis, 2010 Journalist des Jahres in der Kategorie Online. 2009 Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik. Autor zahlreicher Bücher, zuletzt »Was Linke denken« (Picus, 2015) und » Kaputtalismus: Wird der Kapitalismus sterben, und wenn ja, würde uns das glücklich machen?« (Aufbau, 2016). www.misik.at

Robert Misik

Ein seltsamer Held

Der grandiose, unbekannte

Victor Adler

Picus Verlag Wien

Ich bin Optimist durch und durch, aus Temperament und aus Prinzip. Aus Temperament – dafür gibt es weder Vorwurf noch Entschuldigung, aus Prinzip, weil ich glaube, bemerkt zuhaben, dass nur der Optimismus … was zuwege bringt. Der Pessimismus ist seiner Natur nach impotent.

VICTOR ADLER

Inhalt

I. Wir wollen nicht gemütlich sein!

II. Der Zustand des Halbvergessens

III. »Das Strebertum des Doktor Adler«

IV. Der Adlerhorst

V. Im Gassenlokal

VI. Wie Victor Adler den 1. Mai zum Weltfeiertag der Arbeiterklasse machte

VII. Der sehnsüchtige Doktor Engels

VIII. Die Adlers – eine große, eine gebeutelte Familie

IX. Victor Adler und die Arbeiter

X. Wenn die Sozialisten den Job der liberalen Demokraten erledigen müssen

XI. »Man schleppt sich halt weiter.« Spaziergang mit Victor Adler

XII. Die Schlagworte totschlagen

XIII. Der Hofrat der Revolution

XIV. Adler, Bauer, Kreisky. Und dann?

Auswahl der verwendeten Literatur

I. Wir wollen nicht gemütlich sein!

»Das letzte Wort des gemütlichen Wienertums ist: ›Verkauft’s mei Gwand, i bin im Himmel!‹ Der grundlose Optimismus, wechselnd mit zu Exzessen neigender Aufgeregtheit, das ist die Stimmung, die durch den Alkohol gefördert wird und die niemand so gefährlich ist als den Österreichern, die ohnehin erblich belastet sind mit gemeingefährlicher Duselei. Wir wollen nicht gemütlich sein, sondern unsere ganze Arbeit will, dass die Arbeiter ungemütlich werden.« So schrieb Victor Adler 1902 in einem Aufsatz mit dem krachenden Titel »Nieder mit der Gemütlichkeit«. In ihm ging es vordergründig um den Kampf gegen den Alkoholismus, einen Kampf, von dessen Sinnhaftigkeit Adler sich übrigens erst lange überzeugen lassen musste. Sein erster Reflex war eher gewesen, dass das Verdammen des Alkohols bei den Arbeitern Abwehr auslösen würde, Ärger auf die, die ihnen etwas wegnehmen, verbieten wollen. Ein lustfeindlicher Verbotsonkel wollte Adler nicht sein.

Aber Adler ließ sich überzeugen, dass viel zu viele Arbeiterfamilien vom Alkohol zerstört werden und viele Arbeiter sich, anstatt für ihre Rechte zu kämpfen, in den Rausch flüchten. Freilich, dieser Text von Adler ist ohnehin nur vordergründig ein Text über den Alkohol und zugleich auch ein Text über das »Wienerische«. Wienerisch oder österreichisch, gemütlich, unernst, bier- und gefühlsselig, all das wollte Adler nicht sein. Er wollte wirken, handeln, eine Spur hinterlassen, etwas tun, dieses rückwärtsgewandte Österreich modernisieren. Adler wollte eine geradezu ortsuntypische Entschiedenheit verkörpern. »Was wir erzielt haben«, schrieb er schon 1893 an seinen Freund, den in London lebenden Marx-Mitstreiter Friedrich Engels, »erreichten wir dadurch, dass wir nicht Österreicher sind, oder vielmehr uns als Nichtösterreicher maskierten, dass wir nicht schlampert, nicht flackernd, nicht sprunghaft und schnell ermüdet waren«. Kurzum: Dass Adler und seine Mitstreiter einen Plan hatten und den energisch, aber auch mit Geduld verfolgten, etwas, was dem zugeschriebenen Nationalcharakter, der bis heute als leichterregbar, aber ebenso leicht wieder als ablenkbar gilt, so überhaupt nicht entsprach.

Adler war, schrieb der Schriftsteller Hermann Bahr einmal, »der erste wahrhaft kluge Mensch, dem ich auf meinem Weg begegnet bin. Nämlich einer mit einem stichhältigen Verstand, der sich durch keinen Affekt je verwirren ließ.« »Unsere Partei«, schrieb einer von Adlers Mitstreitern in einer Erinnerung an die frühen Zeiten, »war und ist eine unwienerische Partei … In dem Sinne, dass alles Sumperhafte, das Sich-Gehenlassen und jede falsche Sentimentalität abgelehnt wurde.« Mögen die herrschenden Eliten überall ein wenig dumm und kurzsichtig sein, so seien sie es in Österreich besonders, war Adler überzeugt. »In Österreich ist es nun einmal so, dass man die Dummheiten freiwillig macht; wenn aber etwas Vernünftiges geschehen soll, dann will man dazu gezwungen werden.«

II. Der Zustand des Halbvergessens

Die Figur Victor Adler interessiert mich seit einiger Zeit. Weil wir in diesem Land ohnehin zu wenige Helden haben. Helden im Sinne von: positiven, identitätsstiftenden historischen Figuren. Held in einem pathetischen Sinne war Adler ohnehin nicht, weder war er äußerlich ein Gigant, noch ein grandioser Volkstribun, noch hat er eine große Tat vollbracht im Sinne der einen, einzigartigen Großtat. Als Redner hat er eher durch seinen Ernst und seine Bedächtigkeit gewirkt als durch rhetorische Wucht. Er war auch von feiner Ironie, und wie jeder gute Ironiker hatte er immer auch einen ironischen Blick auf sich selbst, was erfahrungsgemäß ja keine gute Voraussetzung dafür ist, sich in die Superman-Pose zu werfen.

Aber trotz oder gerade wegen dieser Eigenschaften ist Adler wahrscheinlich der größte Österreicher der politischen Geschichte. Ja, das »wahrscheinlich« können wir gut und gerne weglassen. Der Superlativ ist schon richtig gewählt. In der Geschichte dieses Landes ist Adler die größte, wichtigste, bedeutendste Figur.

Und dennoch ist er irgendwie vergessen. Nicht in dem Sinne, dass man nichts über ihn wüsste oder völlig vergessen wäre, dass er existierte. Das nicht. Der Name ist so irgendwie bekannt. In Favoriten ist der Viktor-Adler-Markt nach ihm benannt, es gibt Denkmäler und auch einen Gemeindebau; nicht nur Eingeweihte wissen, dass Adler die Sozialdemokratie gegründet hat, und dass er als Armenarzt begann, ist auch nicht völlig unbekannt. Vielleicht gibt es heute einige Hunderttausend Österreicher und Österreicherinnen, denen der Name »irgendetwas« sagt. Aber der Punkt ist eben, dass es über das »irgendetwas« selten hinausgeht. Adler? »Das war doch irgend so ein Guter«, so ein Sozi aus einer Zeit, wo man noch Hochachtung vor Sozis haben konnte. Das ist so ziemlich das, was auch politisch und historisch informierte Leute über Adler wissen. Spezialisten wissen noch ein paar Details. Viel mehr ist es aber nicht. Das ist schon recht seltsam bei einem Mann, der eigentlich als der große Titan der österreichischen Geschichte gelten müsste.

Es ist aber noch etwas anderes, was mich beim Nachdenken über Adler immer wieder irritierte. Wir mögen das eine oder andere von ihm wissen, wir haben aber kein wirklich akkurates »Bild« von ihm – und zwar weder im metaphorischen noch im buchstäblichen Sinne. Adler wirkte in einer Zeit vor der totalen Durchmedialisierung. Wir wissen nicht, wie er war, oder wir haben kaum einen Zugang, uns selbst ein Bild zu machen. Wir haben keinen guten Eindruck von seiner Mentalität, von seinem Habitus. Es gibt eine Handvoll Bilder, und die zeigen praktisch alle einen alten Mann. Dann gibt es ganz wenige Jugendbilder, die aber auch mehr den Blick verstellen, als dass sie ihn eröffnen, da die Abgebildeten posieren, wie das üblich war zu einer Zeit, als die Technologie der Fotografie noch recht neu war und eine Aufnahme eine lange Prozedur mit Fotografen, Arrangement der Abgebildeten und langem Stillsitzen bedeutete. War der, der so fotografiert wird, tatsächlich »so«, wie er sich in dieser Pose gibt?

Adler wirkte schon im Alter von fünfzig Jahren alt und mit sechzig war er ein gebückter Mann, dem der Tod bereits im Gesicht stand. Er hat sich praktisch kaputtgearbeitet, und auch viele Sorgen und Schicksalsschläge haben seine Gesundheit früh ruiniert. Wir haben aber kaum ein Bild vor unserem inneren Auge von dem jungen Adler oder dem Adler in mittleren Jahren, dem, der die Herkulesarbeit auf sich nahm, der strotzte vor Energie, der mit ungeheurer Kraft die rebellischen, revolutionären und demokratischen Kräfte in Österreich sammelte, sie zu einer Partei formte, der diese Partei zur Massenpartei machte und von Sieg zu Sieg führte; der soziale Reformen erkämpfte, der die österreichische Despotie zurückdrängte, der das gleiche, demokratische Wahlrecht durchsetzte und der die Saat legte für die demokratische Republik und das »Rote Wien«, das nach seinem Tod Furore machen sollte. »Es gibt wohl nur noch wenige, die sich an den jungen oder doch jüngeren Victor Adler erinnern«, schrieb schon vor fast hundert Jahren Adelheid Popp, die als junge Frau zur Arbeiterbewegung stieß und eine legendäre Figur der sozialistischen Frauenbewegung werden sollte. »An Victor Adler als Tänzer, wenn er auf Arbeiterbällen beim Schwender mit den Genossinnen den ersten Tanz tanzte. Auch als Radfahrer habe ich ihn gekannt. Per Rad besuchte er uns … Per Rad kam er von Wien nach Mauerbach.«

Menschen fallen dem Vergessen anheim, wenn wir kein Bild von ihnen haben, und auch das, was nicht vergessen wird, wird überlagert von Fantasie, von einem inneren Bild, das wir uns selbst zurechtlegen, das aber oft mit der realen Figur – und noch dazu mit der realen Figur in ihren verschiedenen Lebensphasen – nicht übereinstimmt. Um es simpel zu sagen: Wir haben das spontane Bild im Kopf, selbst dann, wenn wir gut informiert sind, dass ein greiser alter Mann in den 1880er Jahren die demokratische und sozialistische Bewegung vereinigte. Aber das ist natürlich Unfug. Das hat ein junger Mann gemacht, der bloß hinterher älter wurde.

Der junge Mann voller Energie ist also »vergessen«, und mehr noch, für die Wiener unter uns ist es »emotional unbekannt«, dass Adler hier politisch aktiv war; dass viele von uns täglich die Wege gehen, die auch er ging. Die Windmühlgasse entlang, wo Adler wohnte, wo auch lange die Redaktion der Arbeiter-Zeitung war, durch die Schwarzspanierstraße, die Berggasse, die Mariahilfer Straße, oder von der Blümelgasse in Mariahilf, da, wo heute das Haus des Meeres steht, runter zur Wienzeile, wo in den späten Jahren die Redaktion der Arbeiter-Zeitung